Reform oder Irrelevanz Die strategische Verteidigungssouveränität der EU bleibt ein Fernziel. Die Mitgliedstaaten aber klammern sich verzweifelt ...
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Titelthema Selber machen Reform oder Irrelevanz Die strategische Verteidigungssouveränität der EU bleibt ein Fernziel. Die Mitgliedstaaten aber klammern sich verzweifelt an ein nationa- les Gestern. So kann das nichts werden. Von Sophia Becker und Torben Schütz S trategische Souveränität nimmt im ropäer immer weiter geschrumpft. Vom Koalitionsvertrag der Ampelregie- ursprünglichen Headline Goal, 60 000 Sol- rung einen prominenten Platz ein. datinnen und Soldaten binnen 60 Tagen Bereits in der Präambel bekennt sich die einsatzfähig haben zu wollen, bleibt laut Koalition zum Ziel, die strategische Sou- Medienberichten im neuen Strategischen veränität Europas ausbauen zu wollen. Kompass nur noch eine Abwandlung der Damit trägt das Bündnis den immer lauter EU-Battlegroup übrig: eine modulare werdenden Rufen der vergangenen Jahre schnelle Eingreiftruppe von 5000 Köpfen. nach mehr europäischer Autonomie oder An optimistischen Initiativen mangelt strategischer Souveränität Rechnung (die es nicht. Zuletzt galten der Europäische Begriffe werden heute nahezu synonym Verteidigungsfonds (EDF), die Ständige verwendet). Das Sicherheitsumfeld ver- Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) schlechtert sich zusehends, gleichzeitig und die Koordinierte Verteidigungspla- können die Europäer die geopolitische nung (CARD) als Hoffnungsträger für Priorisierung des Indo-Pazifiks der USA eine bessere Zusammenarbeit in der eu- nicht länger ignorieren. Dass die Europäer ropäischen Verteidigung. Diese Initiativen in der Verteidigung mehr gemeinsam tun sorgten auch zeitweise für neuen Schwung müssen, ist heute Konsens. und verbesserten die Zusammenarbeit. Obwohl das Ziel der strategischen Doch einer tatsächlichen strategischen Sophia Becker ist Research Souveränität älter ist als die Gemeinsa- Souveränität ist Europa nicht näherge- Fellow für US- me Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommen – guter Wille kann über die poli- Sicherheits- und (GSVP) selbst, hat sich seit der Festlegung tischen Realitäten nicht hinwegtäuschen. Verteidigungspo- litik im Programm des Helsinki Headline Goal im Jahr 1999 Im Oktober 2021 schlussfolgerte ein Zwi- Sicherheit und erstaunlich wenig getan, um eine effektive schenbericht über die Entwicklung der mi- Verteidigung bei verteidigungspolitische Integration in der litärischen Fähigkeiten, dass die EU ihre der Deutschen Gesellschaft für EU zu erreichen. Militärisch sind sowohl Ambitionen zumindest für den Moment Auswärtige Politik. Fähigkeiten als auch Ambitionen der Eu- nicht werde erreichen können. 42 | IP • Januar / Februar 2022
Reform oder Irrelevanz Titelthema Für die Zukunft der europäischen Ver- Nun stehen die europäischen Staaten teidigung gibt es drei Wege: vor einer grundlegenden Frage: Welche 1. Europa macht weiter wie bisher und han- Art von Streitkräften wollen sie aufstellen? gelt sich von großen Versprechungen Ein Konflikt unter gleichrangigen Militär- zu kleinen Init iativen. Dies ließe die mächten ist heute wahrscheinlicher als Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit Anfang der 2000er, die Mittel der Kriegs- Europas weiter schrumpfen; die Euro- führung sind technologisch komplexer. päer blieben bei einer Ansammlung Gleichzeitig sind auch nichtstaatliche militärisch nutzloser „Bonsai-Armeen“. Akteure besser ausgestattet, was selbst In- 2. Die EU wählt den pragmatischen Weg terventionen und Stabilisierungseinsätze und setzt sich für eine Stärkung der eu- anspruchsvoller macht. Historisch haben ropäischen Säule in der NATO ein. Dies militärische Innovationen und Komplexi- würde zwar europäische Fähigkeiten tätssteigerungen dazu geführt, dass nicht stärken, stellt aber nicht unbedingt ei- mehr alle Staaten modernstes Material be- genständige Handlungsfähigkeit her. reitstellen und moderne Kriegsführung 3. Die EU nimmt ihre Forderungen nach durchführen konnten. Machtasymmetri- Souveränität ernst. Das erfordert aber en zwischen großen und kleinen Staaten Vertragsänderungen und macht signi- haben sich dabei stets vergrößert. „Die fikante Mehrinvestitionen in die Vertei- Europäer“ stehen mittlerweile für eher digung notwendig. kleine Staaten, egal ob nach Größe der Streitkräfte oder Verteidigungsausgaben Weg 1: Die „Bonsai-Armeen“ (wenn die Daten kaufkraftbereinigt sind). Das stark zusammengestrichene Ambi- In Zeiten knapper oder gar weiter reduzier- tionsniveau der Europäer kommt nicht ter Mittel ergibt sich für alle Europäer ein von ungefähr. Seit 1999 haben sie ihre mehrfaches Investitionsdilemma. militärischen Fähigkeiten radikal redu- Kein europäisches Land hat den poli- ziert. Dafür gibt es vier Gründe: Erstens tischen Willen, genügend Ressourcen zu war das europäische Sicherheitsumfeld mobilisieren, um gleichzeitig in künftige zwischen 1991 und 2014 nicht von militä- militärische Fähigkeitsbereiche zu inves- risch existenziell bedrohlichen Gefahren tieren, bestehende Lücken zu schließen, geprägt. Zweitens führte die Finanzkrise vorhandenes Material zu modernisieren 2008/09 zu einer Beschleunigung des Ab- und die Einsatzbereitschaft zu erhöhen. baus von Verteidigungshaushalten und Ähnlich wie in den frühen 2010er Jahren -fähigkeiten; dabei haben die Europäer verfolgen die Europäer nun unkoordiniert seit 1999 ca. 35 Prozent ihrer militärischen eigene Wege – und verursachen damit gro- Fähigkeiten verloren und einen enormen ße Fähigkeitslücken aus Sicht einer über- Investitionsrückstau angehäuft. Drittens geordneten NATO- oder EU-Perspektive. Torben Schütz ist Doktorand macht es eine Reihe schwer veränderli- In Frankreich und Großbritannien fressen an der Helmut- cher verteidigungsökonomischer Prozes- die Nuklearfähigkeiten das Budget für die Schmidt-Univer- se immer teurer und schwieriger, in allen konventionellen Kräfte. Großbritannien sität / Universität der Bundeswehr Fähigkeiten ausgestattete Streitkräfte auf- reagiert, indem es zukünftige Fähigkeits- Hamburg sowie rechtzuerhalten. Viertens waren die meis- bereiche sowie Prestigeobjekte priorisiert Research Fellow ten der vielbeschworenen Kooperationen, und die Wünsche der NATO in Sachen Bei- beim Defense AI Observatory und die genau diesen Entwicklungen entge- trag zur europäischen Verteidigung weit- Associate Fellow genwirken sollten, schlicht Fehlschläge. gehend ignoriert. Deutschland setzt hin- der DGAP. IP • Januar / Februar 2022 | 43
Titelthema Selber machen gegen vor allem auf die Modernisierung Europäische Souveränität in der Vertei- bestehender Fähigkeiten – trotz großer digung ist auf diesem Weg unmöglich. entsprechender Lücken und mangelnder Einsatzbereitschaft der Truppe. Weg 2: Starke europäische NATO-Säule Die bisherigen militärischen und rüs- Sollten die Europäer der eigenen Ver- tungsindustriellen Kooperationen in zwergung nicht tatenlos zusehen, sich Europa haben nicht zu nennenswerten aber nicht zu den ganz großen Verände- Skaleneffekten geführt. Diese sind aber rungen bereiterklären wollen, bleibt die notwendig, will man immer komplexe- Flucht in eine stärkere europäische Säule re Streitkräfte und Waffensysteme her- der NATO. Doch auch dafür müssten vor- vorbringen. Die nationale Politisierung handene Instrumente zur Kooperation von Kooperationen, Rüstungsindustri- intensiver genutzt werden. Den Anstieg en, Streitkräften, Streitkräfteplanungen der Verteidigungsausgaben seit 2014 zu und Souveränitätsgedanken verhindert verstetigen, ist die erste Aufgabe der eu- Skaleneffekte auf allen Ebenen. Klauseln ropäischen NATO-Mitglieder. Dies bleibt in gemeinsamen R üstungsprojekten, unabhängig von jeder Diskussion um das 2-Prozent-Ziel richtig, frisst doch sonst u.a. die Inflation kleine Erhöhungen direkt auf; Notwendig ist ein starkes real entsteht so keine zusätzliche Kaufkraft Eingreifen in nationale für Modernisierung. Damit einher geht der Fokus, die zusätzlichen Ressourcen auch Anforderungen an Beschaf- wirklich für Investitionen – Forschung und Entwicklung sowie Beschaffung fung und Standards – auszugeben, was die NATO in ihrem 20-Prozent-Investitionsziel manifestiert nationale Einsatzdoktrinen, die die Zu- hat. Doch eingedenk der geschilderten sammenarbeit „integrierter“ multinati- Probleme, in Zukunft auch für kleine und onaler Einheiten limitieren, oder inkom- mittlere Bedarfe rundum ausgestattete patible Kommunikationsgeräte sind nur Streitkräfte bereitzustellen, kehrt eine die auffälligsten Beispiele. Wer nun die weitere ewige Diskussion zurück: die ar- Hoffnung auf Instrumente wie Interope- beitsteilige Organisation militärischer Fä- rabilität und NATO-Standardisierung higkeiten durch nationale Spezialisierung. setzt, wird enttäuscht. Dieses System Anstatt dass alle Verbündeten sich reichte im Kalten Krieg, weil nur nati- bemühen, ein möglichst breites Fähig- onale Großformationen wie Korps oder keitsspektrum zu erhalten, gilt es durch Divisionen transnational kooperieren Spezialisierung zumindest auf nationaler mussten. Heute soll auf niedriger Ebene Ebene, Skaleneffekte zu generieren – auch (Kompanie oder Bataillon) militärisch in- wenn das die gegenseitige Abhängigkeit tegriert werden. Das erfordert ein starkes erhöht. Eine engere Bindung nationaler Eingreifen in nationale Beschaffungsan- Fähigkeitsplanungen an den NATO Defen- forderungen und -standards; dies ist bis- ce Planning Process (NDPP) wird deshalb lang nicht gelungen. notwendig. Das gilt vor allem für Staaten Wer diesen Weg der vergangenen wie Großbritannien und Frankreich, die 30 Jahre weitergeht, endet bei nutzlosen eher nationale Pläne verfolgen; oder auch „Bonsai-Armeen“ (Christian Mölling). für Deutschland, das im NDPP viel ver- 44 | IP • Januar / Februar 2022
Reform oder Irrelevanz Titelthema Bild nur in Printausgabe verfügbar Eine starke europäische Säule der NATO wäre ein Weg – dafür aber müssten die Instrumente der Kooperation stärker genutzt werden. Hier die Übung Falcon Leap zur Integration von Luftlandeoperationen. spricht und wenig hält. Gleichzeitig sollte Für die EU hieße das ein stark reduziertes der NDPP mehr multinationale Formatio- Ambitionsniveau, in dem aktuelle Initiati- nen einplanen und so eine bereits begon- ven wie CARD, PESCO und EDF vor allem nene interne Planungsreform fortsetzen. für ihre finanzielle, aber nicht so sehr Ein ambitioniertes Beispiel für eine solche für ihre organisatorisch-koordinierende Formation wäre die European Joint Force Funktion geschätzt und genutzt würden. (Christian Mölling/Heinrich Brauß). Das sogenannte Framework Nation Weg 3: Strategische Souveränität Concept, und die dadurch begonnene hori- Um wirklich strategische Souveränität zu zontale Integration spezieller Fähigkeiten erreichen, also unabhängig von den USA und größerer Truppenverbände, ist eines und der NATO entscheidungs- und hand- der Instrumente, solche Formationen lungsfähig zu sein, müssten die Europäer umzusetzen. Sowohl der wechselseitige viel weiter gehen. Im allgemeinen Diskurs Nutzen von Gerät als auch die Standardi- in Deutschland wird gerne suggeriert, es sierung technischer Anforderungen und gäbe keinen Widerspruch zwischen Sou- Doktrinen müssen darin allerdings we- veränitätsbestrebungen und einer engen sentlich konsequenter und auf niedrige- Integration in der NATO. Doch historisch ren Ebenen umgesetzt werden. Bestenfalls diente der Begriff sehr wohl der Abgren- schlägt sich dies dann in multinationalen zung von den USA und betonte die Eigen- standardisierten Beschaffungen nieder. ständigkeit Europas in der Sicherheitspoli- Auch wenn diese Schritte pragma- tik. Das hat seit jeher zu transatlantischen tisch klingen, sind sie in Anbetracht der Konflikten geführt. Erfahrungen der vergangenen Jahre ambi- US-Präsident Joe Biden drückte zwar tioniert. Zudem bringt ein solcher Ansatz seine Unterstützung für den Ausbau eu- eine stärkere europäische Säule in der ropäischer Verteidigungsfähigkeiten aus, NATO, aber kaum europäische Souverä- die Komplementarität mit der NATO wird nität. Gerade was wichtige Nischen- und aber bei jeder Gelegenheit unterstrichen. Führungsfähigkeiten anginge, wären die Die Europäer sollten sich daher nichts vor- Europäer genauso abhängig von der NATO machen: Die USA möchten einen starken und den USA, wie sie es jetzt schon sind. europäischen Partner an ihrer Seite, jedoch IP • Januar / Februar 2022 | 45
Titelthema Selber machen einen, der sich anpasst und unterordnet. schreibt sie, dass solche Reflektionen im Will man tatsächlich mehr Souveränität, Rahmen der Konferenz zur Zukunft Eu- ist ein Streit mit den USA vorprogram- ropas „zur Weiterentwicklung zu einem miert. Wer eigenständig handlungsfähig föderalen europäischen Bundesstaat sein will, wird Dopplungen mit der NATO führen“ sollen. In diesem Kontext müsste nicht vermeiden können. Ein Beispiel wird auch die europäische Verteidigung strin- von den Koalitionären in ihrem Vertrag gent weitergedacht werden. angesprochen: gemeinsame europäische Kommandostrukturen und ein zivil-mili- Nationale Souveränität abgeben tärisches Hauptquartier der EU. Vor dem Hintergrund limitierter Ausga- Auch die Frage nach supranationalen ben für Verteidigung in ganz Europa, ei- Streitkräften gehört wieder auf den Tisch, ner sich ändernden Bedrohungslage und wenn es den Europäern mit der Souverä- dem Wandel der Kriegsführung werden nität ernst ist. Aus Angst, nationale Sou- die Europäer in Sachen Verteidigung einen veränität aufzugeben, wird diese Idee im- (Souveränitäts-)Tod sterben müssen. Noch mer wieder als utopisch verworfen. Doch können sie selbst entscheiden, welchen. mindestens genauso illusorisch ist die Sie können nationale Souveränität Vorstellung, EU-Mitgliedstaaten agierten verlieren, indem sie in der Verteidigung heute noch aufgrund ... weitermachen wie bisher. Dann werden nationaler Souveränität. Siehe oben: Die sie bald kaum mehr abschreckende und meisten nationalen Streitkräfte sind so funktionale Streitkräfte haben und sich klein, dass sie nur noch im Verbund hand- immer mehr in die Abhängigkeit von lungsfähig sind. den USA begeben. Um tatsächlich als Europäer souve- ... die militärische Integration der NATO rän handeln zu können, reicht es nicht, vertiefen und ihre nationalen Präferen- zwischenstaatlich zu kooperieren. Die zen zurückstellen. Die Folgen wären EU-Staaten müssen ihre Streitkräfte ver- eine stärkere europäische Säule der tikal auf EU-Ebene integrieren. Nur so NATO, aber mehr gegenseitige Abhän- können langfristig Dopplungen vermie- gigkeit und kein selbstständig hand- den werden, Schwierigkeiten der Inter lungsfähiges Europa. operabilität und die Investitionsdilemma- ... ihre zunehmend dysfunktionalen ta bewältigt werden. Wie ein Weg dorthin Streitkräfte an eine vertikal integrierte aussehen könnte, hat die Arbeitsgruppe EU-Armee abgeben. Diese würde Euro- der Sicherheits- und Verteidigungspolitik pas strategische Souveränität steigern der SPD-Bundestagsfraktion 2020 mit dem und – zusammen mit den anderen Vorschlag zur 28. Armee aufgezeichnet. NATO-Verbündeten – die Erfüllung Ohne Vertragsänderungen ist dieser eines sicherheitspolitischen 360-Grad- Weg nicht realisierbar. Es müssten neue Ansatzes für die Süd- und Ostflanke exekutive Strukturen sowie ein eigenes Europas wahrscheinlicher machen. Verteidigungsbudget der EU geschaffen Im Moment versuchen die meisten EU- werden. Das Europäische Parlament müss- Staaten, sich rhetorisch und operativ zwi- te erweiterte Kontrollfunktionen erhalten. schen allen Stühlen zu platzieren. Das ist Die Ampelkoalition hat sich prinzipiell keine kohärente Strategie für mehr Souve- offen für europäische Vertragsänderun- ränität. Ohne grundlegende Entscheidun- gen gezeigt. In ihrem Koalitionsvertrag gen wird das nicht funktionieren. 46 | IP • Januar / Februar 2022
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