Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel zum Europäischen Rat am 28. und 29. Juni 2012 in Brüssel - EURACTIV.com

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Regierungserklärung von Bundeskanzlerin
Merkel zum Europäischen Rat am 28. und
29. Juni 2012 in Brüssel
Datum: 27.06.2012

in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Vorläufiges Protokoll des Deutschen Bundestages)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise bestimmt seit mehr als zwei Jahren die
Agenda der Europäischen Räte. Dies gilt auch für den morgen beginnenden Gipfel.

Weil ich die Erwartungen und Hoffnungen kenne, die sich auch auf diesen Gipfel richten,
wiederhole ich gleich zu Beginn noch einmal, was nicht oft genug gesagt werden kann: Es
gibt keine schnellen, und es gibt keine einfachen Lösungen. Es gibt nicht die eine
Zauberformel oder den einen Befreiungsschlag, mit dem die Staatsschuldenkrise ein für alle
Mal überwunden werden kann. Nein, wenn es uns gelingen soll, die Krise dauerhaft zu
überwinden, dann gibt es nur die Möglichkeit, diese Herausforderungen als einen Prozess
aufeinanderfolgender Schritte und Maßnahmen zu verstehen, der das Problem im Übrigen an
der Wurzel packt. Alles andere ist von vornherein zum Scheitern verurteilt; bestenfalls ist es
Augenwischerei.

Unser Wegweiser aus der Krise kann deshalb unverändert einzig die schonungslose Analyse
ihrer Ursachen sein: Das ist die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einiger Euro-Staaten, das
sind grundlegende Fehler in der Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion, und das
ist natürlich die massive Staatsverschuldung. Diese Probleme sind hausgemacht, und diese
hausgemachten Probleme müssen wir lösen, ohne Wenn und Aber. Dazu ist es unumgänglich,
nichts zu versprechen, was wir nicht halten können, und konsequent das umzusetzen, was wir
beschlossen haben.

Das Ergebnis eines solchen Handelns ist Verlässlichkeit, und Verlässlichkeit ist die
Voraussetzung für Vertrauen. Dieses hohe Gut „Vertrauen“ ist seit Gründung der Wirtschafts-
und Währungsunion nur zu oft mit Füßen getreten worden. Um dieses Vertrauen
wiederzugewinnen oder überhaupt erst zu schaffen, hat die Bundesregierung von Anfang an
dafür gearbeitet, die Wirtschafts- und Währungsunion stark und dauerhaft tragfähig zu
machen.

Erstens. Wir arbeiten dafür, den Teufelskreis aus Schuldenmachen und Regelverstößen zu
durchbrechen und einen Rechtsrahmen zu schaffen, der die Mitgliedstaaten der Euro-Zone
dauerhaft zu soliden Staatsfinanzen verpflichtet. Dazu wurde der Stabilitäts- und
Wachstumspakt gestärkt. Der Fiskalvertrag wurde im März dieses Jahres unterzeichnet.
Übermorgen steht er hier und im Bundesrat zur Abstimmung.

Zweitens. Die Bundesregierung hat sich dafür eingesetzt, einen permanenten
Krisenbewältigungsmechanismus zu schaffen, um zukünftige Gefahren für die Stabilität der
Euro-Zone wirksam abwehren zu können. Auch über den Europäischen
Stabilitätsmechanismus ESM, der so bald wie möglich an die Stelle des temporären
Rettungsschirms treten soll, wird übermorgen im Bundestag und im Bundesrat abgestimmt.
Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ein. Die
Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, das ist die Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum.
Diesem Ziel diente bereits der im März letzten Jahres beschlossene Euro-Plus-Pakt, und
diesem Ziel dienten die Beratungen bei allen Europäischen Räten in diesem Jahr über die
Frage, wie wir Wachstum und vor allen Dingen Arbeitsplätze schaffen können, ohne dass dies
auf Pump geschieht.

Konsolidierung und nachhaltiges Wachstum bedingen einander. Auf Dauer ist das eine nicht
ohne das andere zu haben.

Es ging und es geht also nicht um Sparen um des Sparens willen, sondern darum, Spielräume
für eine nachhaltige Haushaltspolitik zurückzugewinnen, für eine Haushaltspolitik, die nicht
auf Kosten kommender Generationen gemacht wird. Darüber - das haben die intensiven und
konstruktiven Gespräche der letzten Wochen gezeigt - besteht inzwischen auch breiter und
fraktionsübergreifender Konsens in diesem Hause. Dafür danke ich Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.

Deutschland gibt sowohl mit einer am Ergebnis orientierten Diskussionskultur als auch mit
dem Inhalt der Beschlüsse, die wir vorhin im Kabinett verabschiedet haben und die wir am
Freitag im Bundestag und im Bundesrat beschließen werden, ein starkes Signal nach innen
wie nach außen.

Es ist ein Signal der Entschlossenheit und der Geschlossenheit, die europäische
Staatsschuldenkrise zu überwinden, und zwar nachhaltig. Genau darum, um Nachhaltigkeit,
hat es zu gehen, nicht um Strohfeuer.

Wenn wir morgen in Brüssel dem Fiskalvertrag einen kraftvollen Pakt für Wachstum und
Beschäftigung an die Seite stellen, dann werden deshalb ganz oben auf der Wachstumsagenda
auch weiterhin die Strukturreformen der Mitgliedstaaten für mehr Wettbewerbsfähigkeit
stehen. Sie sind der Schlüssel zu nachhaltigem Wachstum.

Vieles ist schon auf den Weg gebracht worden. Erste Erfolge sind in einer Reihe von
Mitgliedstaaten zu verzeichnen. Dies gilt insbesondere für die Programmländer Irland und
Portugal, die eindrucksvoll bestätigen, wie der Ansatz aus Konsolidierung und
Strukturreformen, flankiert durch solidarische europäische Unterstützung, gelingen kann.

Italien hat mit Mario Monti den Weg hin zu soliden öffentlichen Finanzen, Wachstum,
Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit eingeschlagen. Spanien hat mit Mariano Rajoy und
seiner Regierung im letzten halben Jahr wichtige Reformen auf den Weg gebracht. Es ist
richtig, dass er für die Herausforderungen im Bankensektor, die im Übrigen auf
Fehlentwicklungen im Immobilienbereich in den letzten 10 bis 15 Jahren beruhen, jetzt auf
die europäischen Hilfsinstrumente zurückgreift, die ja genau für diesen Zweck geschaffen
wurden.

Meine Damen und Herren, es steht völlig außer Zweifel: Alle Mitgliedstaaten, auch
Deutschland, müssen ihre Hausaufgaben machen, die ihnen die Europäische Kommission -
zum ersten Mal im Übrigen im Rahmen des neuen Stabilitätspakts - in ihren Länderberichten
aufgegeben hat. Dies werden wir beim Europäischen Rat zusammen mit den Partnern noch
einmal bekräftigen. Ich möchte der Kommission ausdrücklich für die sehr ehrlichen und sehr
spezifischen Berichte danken. Auf dieser Grundlage kann die gezielte europäische
Unterstützung und Förderung nationaler Maßnahmen erfolgen.
Ein gutes Beispiel dafür, wie beides ineinandergreifen kann, ist die Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit.

Ich werde auf dem Rat dafür eintreten, dass sich alle Mitgliedstaaten verbindlich verpflichten,
jedem Jugendlichen binnen weniger Monate nach Schulabschluss oder Jobverlust ein
hochwertiges Angebot für eine neue Arbeitsstelle, eine Aus- oder Weiterbildung oder ein
Praktikum zu machen.

Zudem sollen befristete Einstellungszuschüsse aus dem Europäischen Sozialfonds finanziert
werden können. Damit sollen für Unternehmen Anreize gesetzt werden, Jugendliche
auszubilden oder einzustellen.

Darüber hinaus sollten wir junge Menschen bei der Arbeitsuche in anderen EU-
Mitgliedstaaten unterstützen. „Dein erster EURES-Arbeitsplatz“ - so heißt die Initiative des
Europäischen Portals für berufliche Mobilität, die genau das leisten will und die wir erweitern
und finanziell aufstocken sollten. Die Bundesarbeitsministerin wird sich auf europäischer
Ebene intensiv dafür einsetzen, dass wir neben dem Binnenmarkt auch mehr Mobilität auf den
Arbeitsmärkten bekommen.

Außerdem werde ich mich beim Europäischen Rat weiterhin dafür starkmachen, EU-
Finanzmittel insgesamt stärker zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum
einzusetzen.
Dazu gehört zum einen, noch nicht abgerufene Mittel aus den europäischen Strukturfonds -
das könnten noch etwa 65 Milliarden Euro sein - rasch und gezielt für Investitionen
einzusetzen, die ganz besonders Wachstum und Beschäftigung fördern. Laut Kommission
konnten bis Mai bereits circa 7,3 Milliarden Euro für die Verbesserung von
Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendliche und für einen verbesserten Zugang kleinerer
und mittlerer Unternehmen zu Finanzmitteln mobilisiert werden. Die Kommission schätzt,
dass davon mindestens 460 000 Jugendliche und 56 000 kleinere und mittlere Unternehmen
profitieren würden.

Um EU-Finanzmittel stärker zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum
einzusetzen, gehört zum anderen auch, das Eigenkapital der Europäischen Investitionsbank
um 10 Milliarden Euro aufzustocken. Damit könnten, so die Europäische Kommission, in den
nächsten vier Jahren Kredite in Höhe von insgesamt 60 Milliarden Euro zusätzlich gewährt
werden.

Schließlich gehört auch die Pilotphase zu der Projektanleiheninitiative dazu. Sie muss zügig
begonnen werden. Wenn es geeignete Projekte gibt, können wir sie bis 2013 aufstocken. Mit
einer Absicherung von 1 Milliarde Euro aus dem EU-Haushalt könnten, so die Kommission,
Investitionen in Höhe von bis zu 5 Milliarden Euro mobilisiert werden.

Insgesamt geht es bei den von mir dargestellten Maßnahmen um 1 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union oder, anders gesagt, um etwa 130 Milliarden
Euro, die wir zusätzlich in Wachstum investieren können. Das ist ein starkes Signal.

Der Gedanke von Wachstum und Beschäftigung muss uns darüber hinaus in den
Verhandlungen über den nächsten EU-Finanzrahmen leiten; denn auch auf europäischer
Ebene müssen wir dazu kommen, Wege zu finden, wie begrenzte Ressourcen am sinnvollsten
eingesetzt werden können. Dazu hat Deutschland zusammen mit gleichgesinnten
Mitgliedstaaten eine Debatte unter der Überschrift „Better spending“ eingefordert. Ziel ist es
also, den EU-Haushalt 2014 bis 2020, der immerhin ein Volumen von rund 1 000 Milliarden
Euro haben wird, eindeutig auf die Förderung von Wachstum und Beschäftigung
auszurichten.

Meine Damen und Herren, neben dem Pakt für Wachstum und Beschäftigung wird ein
weiterer Schwerpunkt des Europäischen Rates die Finanzstabilität im Euro-Raum sein. Die
Ratifikation des ESM-Vertrages in den Euro-Staaten ist weit fortgeschritten. Die Situation in
Spanien zeigt, wie wichtig es ist, auch den Bankensektor verstärkt in den Blick zu nehmen
und Ansteckungsgefahren zwischen Banken und Staatsfinanzen zu verringern. Zu diesem
Zweck brauchen wir eine glaubwürdige europäische Bankenaufsicht, die objektiv agiert und
auf nationale Belange keine Rücksicht nimmt. Zumindest die systemrelevanten Banken
sollten künftig einer verstärkten gemeinsamen Aufsicht unterliegen. Hierzu müssen wir einen
konkreten Fahrplan entwickeln und bald die ersten Schritte gehen.

Die Verhandlungen über europäische Gesetzgebungsvorhaben, die bereits auf dem Tisch
liegen, sollten beschleunigt werden. Diese betreffen die Sanierung und die geordnete
Abwicklung von Kreditinstituten und die Verbesserung der nationalen Einlagensicherung
zugunsten von Kleinanlegern und Sparern.

Die Bundesregierung wird sich darüber hinaus für weitere Schritte der
Finanzmarktregulierung einsetzen, unter anderem zur Reduzierung der Systemrelevanz großer
Finanzmarktakteure und zur Regulierung der Schattenbanken; das war auch Thema auf dem
G-20-Gipfel in Los Cabos.

Wir sind uns darüber hinaus fraktionsübergreifend einig, die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer weiter voranzutreiben. Ich freue mich, dass beim Finanzministerrat in
der letzten Woche die nötige Zahl von mindestens neun Mitgliedstaaten erreicht wurde

- der Beifall gilt dem Finanzminister; ich bedanke mich in seinem Namen -,

um für dieses Anliegen eine sogenannte verstärkte Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen.
Heute haben wir im Kabinett beschlossen, den dazu erforderlichen Antrag zu stellen. Wir
erwarten, dass die Europäische Kommission die erforderlichen Schritte einleitet, damit das
europäische Gesetzgebungsverfahren möglichst bis Ende dieses Jahres abgeschlossen werden
kann. Uns leitet die Überzeugung, dass der Finanzsektor einen angemessenen Anteil zur
Bewältigung der Kosten der Finanzkrise leisten muss. Die Finanztransaktionsteuer wird genau
zu diesem Zwecke erhoben werden.

Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt des Rates wird die Entwicklung der
Wirtschafts- und Währungsunion sein. Die Staatsschuldenkrise zeigt uns täglich, dass
Fehlentwicklungen in einem Land der Euro-Zone die Euro-Zone als Ganzes in
Schwierigkeiten bringen können. Sie zeigt uns auch, dass nationale Antworten nicht
ausreichen, um die Stabilität des Euro-Raums zu sichern. Länder eines gemeinsamen
Währungsraumes müssen fest entschlossen sein, gemeinsam vereinbarte Regeln einzuhalten
und darauf hinzuarbeiten, ihre jeweilige Wettbewerbsfähigkeit schrittweise anzugleichen, und
zwar nicht am Mittelmaß ausgerichtet, sondern an den jeweils Besten in Europa oder im
weltweiten Maßstab.

Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt: Es geht dabei um etwas sehr, sehr
Grundsätzliches. Wir leben in sehr entscheidenden Monaten für die Zukunft Europas. In
dieser Krise geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, ob wir auch in
Zukunft in Europa in Wohlstand leben können - angesichts eines sich weltweit völlig
verändernden Wettbewerbs. Die Schwellenländer sind motiviert. Wie wir diese Frage im
Zusammenhang mit der Lösung der Staatsschuldenkrise beantworten, davon hängt das Leben
künftiger Generationen in ganz entscheidendem Maße ab.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns anschauen, was seit der Einführung des Euros
geschehen ist. Die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten der Euro-
Zone haben sich zum Teil über viele Jahre vergrößert, und die Kriterien, die wir uns mit dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt selbst gegeben haben, wurden immer wieder aufgeweicht. Es
zeigte und zeigt sich immer wieder, dass es bislang keinerlei Möglichkeiten in der
Währungsunion gibt, durch Eingriffe in nationales Handeln die Einhaltung der selbst
gesetzten Maßstäbe durchzusetzen. Das genau sind die Fehler, die bei der Einführung des
Euro gemacht wurden, weil die Wirtschafts- und Währungsunion nicht, wie ursprünglich
geplant, mit einer politischen Union kombiniert wurde. Das hat uns inzwischen weltweit viel
Vertrauen gekostet, Vertrauen von Investoren, die in europäische Staatsanleihen investieren
sollten. Dieses Vertrauen muss jetzt mühsam wiedergewonnen werden, und dies geht nur,
wenn wir die Versäumnisse der Vergangenheit beheben und so die Nachhaltigkeit und
Funktionsfähigkeit der Währungsunion sichern. Die Wirtschafts- und Währungsunion muss
eine Stabilitätsunion werden.

Wir werden beim Europäischen Rat einen Arbeitsplan aufstellen und eine Arbeitsmethode
entwickeln, wie wir die Versäumnisse der Vergangenheit überwinden können. Ausgangspunkt
unserer Diskussion wird ein Bericht sein, den der Präsident des Rates zusammen mit dem
Präsidenten der Kommission, dem Vorsitzenden der Euro-Gruppe und dem Präsidenten der
Europäischen Zentralbank den Staats- und Regierungschefs übersandt hat. Dem Parlament
liegt dieser Bericht vor.

Um es klar zu sagen: Ich teile die in diesem Bericht niedergelegte Auffassung, dass vier
Bausteine für eine zukünftige Zusammenarbeit in einer stabilen Währungsunion wesentlich
sind: erstens die integrierte Zusammenarbeit der systemrelevanten Finanzinstitute, zweitens
eine integrierte Fiskalpolitik, drittens ein Rahmen für eine integrierte Wirtschafts- und
Wettbewerbspolitik und viertens die demokratische Legitimation einer solchen verstärkten
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Euro-Zone, was ja bekanntlich im Augenblick nur
17 von 27 sind.

Ich sage auch: Diese vier Bausteine gehören eng zusammen. Sie entfalten nur gemeinsam ihre
Wirkung. Aber ebenso klar sage ich: Ich widerspreche entschieden, dass im Bericht vorrangig
der Vergemeinschaftung das Wort geredet wird und erst an zweiter Stelle - und das auch noch
sehr unpräzise - mehr Kontrolle und einklagbare Verpflichtungen genannt werden.

Somit stehen Haftung und Kontrolle in diesem Bericht in einem klaren Missverhältnis.
Damit, so fürchte ich, wird auf dem Rat insgesamt wieder viel zu viel über alle möglichen
Ideen für eine gemeinschaftliche Haftung und viel zu wenig über verbesserte Kontrollen und
Strukturmaßnahmen gesprochen.

Ganz abgesehen davon, dass Instrumente wie Euro-Bonds, Euro-Bills, Schuldentilgungsfonds
und vieles mehr in Deutschland schon verfassungsrechtlich nicht gehen, halte ich sie auch
ökonomisch für falsch und kontraproduktiv.

Kontrolle und Haftung dürfen nicht in einem Missverhältnis zueinander stehen. Kontrolle und
Haftung müssen Hand in Hand gehen. Gemeinsame Haftung kann erst dann stattfinden, wenn
ausreichende Kontrolle gesichert ist. Ich erinnere nur daran, dass weder Bund und Länder in
Deutschland noch Staaten wie Amerika oder Kanada eine gesamtschuldnerische Haftung für
ihre aufgenommenen Anleihen kennen. Vielmehr brauchen wir, um eine Stabilitätsunion zu
entwickeln, mehr Durchgriffsrechte der europäischen Ebene, wenn Haushaltsregeln verletzt
werden. Dazu verabschieden wir als ersten Schritt am Freitag den Fiskalpakt.

Ich habe es hier schon früher gesagt und wiederhole es noch einmal: Ich hätte mir gewünscht,
dass schon früher bei Nichteinhaltung des Stabilitätspakts ein Eingriff in nationale Haushalte
möglich ist. Auch brauchen wir eine größere Verbindlichkeit in den Bereichen, die im Euro-
Plus-Pakt und in der Agenda 2020 angesprochen sind, angefangen bei den schon oft
versprochenen Ausgaben für Forschung und Innovation aller Mitgliedstaaten bis hin zu einer
Angleichung der Lohnstückkosten. Ich werde deshalb in Brüssel ausloten, ob andere
Mitgliedstaaten bereit sind, einen solchen Weg inklusive notwendiger Vertragsänderungen zu
gehen.

Ich werde aber auch deutlich machen: Die Zeit drängt. Die Welt wartet auf unsere
Entscheidungen.

Die Welt will verstehen - ich habe das in Los Cabos immer wieder gemerkt -: Wohin geht
diese Europäische Union, insbesondere die Euro-Gruppe? Was ist die Struktur, in der sie
verlässlich arbeiten kann?

Dabei steht für mich im Übrigen außer Frage, dass es zur Angleichung der
Wettbewerbsfähigkeit im Euro-Raum über die bekannten Struktur- und Kohäsionsfonds der
27 Mitgliedstaaten hinaus sicher auch unter den 17 noch stärkerer Mittel der Solidarität
bedarf. Zum Beispiel könnte man sich vorstellen, dass Einnahmen aus der
Finanztransaktionsteuer genau dafür verwendet werden. Euro-Bonds oder, wie es im Bericht
heißt, die Emission gemeinsamer Schuldtitel halte ich jedoch für den falschen Weg.

Es bedarf anderer Mechanismen, die an die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit streng
gekoppelt sein müssen.

Eine Währungsunion wird den Menschen in Europa nur dann dienen, wenn wirklich alle
Kräfte dafür eingesetzt werden, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Nur wenn wir die
besten Produkte herstellen und die besten Dienstleistungen anbieten, werden wir auch
dauerhafte Arbeitsplätze für die Menschen schaffen können. Davon bin ich zutiefst überzeugt.

Meine Damen und Herren, ich mache mir keine Illusionen. Ich erwarte in Brüssel kontroverse
Diskussionen. Einmal mehr werden sich dabei viele Augen auf Deutschland richten. Doch ich
wiederhole hier und heute das, was ich in diesem Haus zuletzt am 14. Juni 2012 gesagt habe:

… Deutschland ist Wirtschaftsmotor, und … Stabilitätsanker in Europa. …

Auch Deutschlands Stärke ist nicht unendlich; auch Deutschlands Kräfte sind nicht
unbegrenzt.

Auch Deutschlands Kräfte dürfen wir nicht überschätzen.

Wenn wir das beherzigen, dann können Deutschlands Kräfte für unser Land und für Europa
ihre volle Wirkung entfalten.
Beherzigen wir das nicht, dann wäre alles, was wir planen, verabreden, umsetzen, am Ende
nichts wert, weil klar wäre, dass es Deutschland überforderte, und das wiederum hätte
unabsehbare Folgen für Deutschland und Europa. Das werden wir nicht zulassen.

Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, dass wir der Währungsunion ein stabiles Fundament
geben. Die Fehler der Vergangenheit dürfen auf keinen Fall wiederholt werden. Gleiche
Zinssätze durch Euro-Bonds politisch zu erzwingen, nachdem sie schon bei den Märkten nicht
gut gewirkt haben, das wäre die Wiederholung eines alten Fehlers und nicht die richtige Lehre
aus den Erfahrungen.

Stattdessen werde ich mich auf dem Rat dafür einsetzen, dass wir einen Zeitplan und eine
Arbeitsmethode für die aufgeworfenen Fragestellungen verabschieden. Dies sollte angesichts
der schwierigen Situation so anspruchsvoll wie glaubwürdig sein. Unsere Arbeiten müssen
diejenigen überzeugen, die das Vertrauen in die Euro-Zone verloren haben - nicht durch
Augenwischerei und Scheinlösungen, sondern indem wir die Ursachen der Krise bekämpfen.
Das meine ich, wenn ich von mehr Europa spreche.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass mehr Europa, so
verstanden, eine zwingende Voraussetzung ist, um unser europäisches Wirtschafts- und
Gesellschaftsmodell zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger im globalen Wettbewerb
auf Dauer zu behaupten. Wir müssen uns jetzt aufmachen, das nachzuholen, was vor 20
Jahren bei der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion durch den Vertrag von
Maastricht noch nicht möglich war: die Wirtschafts- und Währungsunion politisch zu
vollenden. Dafür wird die ganze Bundesregierung, dafür werde ich aus Überzeugung arbeiten,
auch auf dem morgigen Europäischen Rat. Ich lade Sie ein, dabei mitzutun.

Herzlichen Dank.
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