Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit - eine Literaturbesprechung
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L e b e n s m i t t e l Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung Hans-Peter Bachmann, Marie-Therese Fröhlich und Walter Bisig Agroscope, Liebefeld, 3003 Bern Auskünfte: Hans-Peter Bachmann, E-Mail: hans-peter.bachmann@agroscope.admin.ch https://doi.org/10.34776/afs11-124 Publikationsdatum: 19. Juni 2020 Abb. 1 | Rund 400 sogenannte «Milchautomaten» stehen in der ganzen Schweiz. Hier können die Konsumentinnen und Konsumenten während 24 Stunden auf Knopfdruck Rohmilch beziehen. Zusammenfassung Rohmilch und Rohmilchprodukte können unsere wie eine Vielzahl von epidemiologischen Studien ge- Gesundheit in positiver und negativer Hinsicht beein- zeigt haben. Wegen der grossen mikrobiellen Diversi- flussen. Es ist wichtig, die negativen Auswirkungen tät wirken sich Rohmilch und Rohmilchprodukte positiv nicht zu überschätzen und die positiven Effekte nicht auf die Vielfalt des Darmmikrobioms aus. Die Mikroben zu unterschätzen. Das Wissen über die sichere Roh- im Darm haben viele Wirkungen auf den Menschen: milchproduktion hat sich in den letzten Jahren stark zusätzlich zu den immunologischen Funktionen, der verbessert, und die für den Rohmilch-Verkauf zerti- Produktion von Vitaminen und dem Abbau von Nah- fizierten Bauern produzieren heute eine Rohmilch mit rungsfasern besitzen sie metabolische Eigenschaften, einer hygienischen Qualität, die der pasteurisierten die an der Prävention von Fettleibigkeit und Herz-Kreis- Milch nahekommt. Auch bestehen heute genügend Er- lauf-Erkrankungen beteiligt sind und sie können sogar kenntnisse um Rohmilchkäse herzustellen, die eine mit unsere psychische Gesundheit positiv beeinflussen. Für Käse aus pasteurisierter Milch vergleichbare Lebens- all diese Funktionen ist eine möglichst hohe Vielfalt des mittelsicherheit aufweisen. Der Verzehr von Rohmilch im Darm vorhandenen Mikrobioms unerlässlich. und Rohmilchprodukten in der Kindheit reduziert das Risiko für Asthma, Heuschnupfen und Allergien und Key words: raw milk, raw milk cheese, protective schützt vor Nasen-, Ohren- und Atemwegsinfektionen, effects, nutritional quality, risks and benefits. Agrarforschung Schweiz 11: 124–130, 2020 124
Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung | Lebensmittel Einleitung ten. Speziell das Leben auf Bauernhöfen mit Tierhal- tung kann ein hochwirksamer Schutz vor Allergien sein, In den letzten Jahrzehnten ist ein starker Wunsch nach welcher mit der hohen mikrobiellen Diversität und dem Natürlichkeit entstanden, und viele Konsumentinnen Lebensstil erklärt wird (Schröder, Li et al. 2015). Eine und Konsumenten zeigen eine zunehmende Vorliebe Gruppe am Universitätsspital Genf zeigte in einer Stu- für natürliche Lebensmittel. Die Natürlichkeit von Le- die, dass eine Bauernhofumgebung im Vergleich zum bensmitteln ist ein abstraktes Konstrukt, das schwer zu Labor den Mäusen einen viel besseren Schutz vor All- definieren und zu messen ist. Für viele Konsumentinnen ergien verlieh. Die durch die Tierhaltung geschaffene und Konsumenten ist es gleichbedeutend mit dem Ein- mikrobiologische Vielfalt war ausschlaggebend für die kaufen auf Bauernmärkten, dem Kauf von Bio-Lebens- Entwicklung dieses Schutzes (Frossard, Lazarevic et al. mitteln sowie dem Verzehr von saisonalen und minimal 2017). Mehrere Studien, welche die Auswirkungen eines verarbeiteten Lebensmitteln. Die Nachfrage nach Roh- diversen Mikrobioms auf die Modulation des Immun- milch und Rohmilchprodukten folgt diesem Trend (Ro- systems untersuchten, unterstützen die Hypothese, dass mán, Sánchez-Siles et al. 2017). Aus wissenschaftlicher die mikrobielle Vielfalt wichtig für eine angemessene Sicht impliziert die Natürlichkeit von Lebensmitteln nicht Reaktion des Immunsystems ist (Schröder, Li et al. 2015). ohne weiteres deren hygienische Sicherheit, eine positi- ve Wirkung auf die Gesundheit und einen angenehmen Regulation des Immunsystems Geschmack (Melini, Melini et al. 2017). Neben dem regelmässigen Kontakt mit einem diversen Bei der Abwägung von negativen und positiven Aus- Mikrobiom kann auch der Verzehr von Rohmilch in der wirkungen des Konsums von Rohmilch und Rohmilch- frühen Kindheit das Risiko für Asthma, Heuschnupfen produkten auf die menschliche Gesundheit besteht die und Allergien reduzieren und zudem vor Nasen-, Ohren- Schwierigkeit darin, dass es bei den Risiken häufig um und Atemwegsinfektionen schützen, wie eine Vielzahl eher kurzfristige Wirkungen mit einer klaren Ursache von epidemiologischen Studien gezeigt haben (Waser, geht, wie z.B. mikrobielle Lebensmittelvergiftungen. Michels et al. 2007, Braun-Fahrländer und von M utius Die positiven Wirkungen sind zumeist langfristiger und 2011, Stallmach 2017). Schröder et al. (2015) haben multifaktorieller Natur, was wesentlich schwieriger zu die wichtigsten Ergebnisse vor 2015 zusammengefasst dokumentieren und zu quantifizieren ist (Bachmann, (Tab. 1). Eine aktuellere Studie mit mehr als 8000 schul- Lüscher Bertocco et al. 2019). pflichtigen Kindern in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigte, dass der Konsum von Rohmilch das Risiko Zunahme von Allergien von Asthma, Heuschnupfen und Atopien um 30 bis 50 % Asthma und Allergien haben in den letzten Jahrzehn- reduziert (Loss, Depner et al. 2015). Der Verzehr von ten stark zugenommen, insbesondere in den westlichen Rohmilch wird als eigenständiger einzelner Schutzfaktor Ländern (Brooks, Pearce et al. 2013). Der beobachtete gegen immunbedingte Erkrankungen bei Kleinkindern Anstieg der Inzidenz (Neuerkrankungsrate in einem angesehen (Sozanska 2019). Epidemiologische Ergebnis- definierten Zeitraum) und Prävalenz (Häufigkeit einer se, welche eine Schutzwirkung der Rohmilch vor Aller- Krankheit in einer Bevölkerung zu einem gegebenen gien und Asthma bei Kindern zeigten, konnten auch in Zeitpunkt) atopischer Störungen (Überempfindlich- Tierversuchen bestätigt werden (Abbring, Verheijden keitsreaktionen) ist innerhalb einer zu kurzen Zeitspan- -3- Fettsäuren et al. 2017, Abbring, Kusche et al. 2019). ne eingetreten, um mit einer genetischen Veränderung verstärken die protektive Wirkung von Rohmilch. Sie in der Bevölkerung erklärt werden zu können. Daher kommen in Milch von Kühen, die mit Wiesenfutter ge- ist davon auszugehen, dass Umwelt- und/oder Lebens- füttert werden, in höheren Mengen vor als in der Milch stiländerungen wesentlich zu diesem Trend beigetra- von Kühen, die vor allem mit Kraftfutter und Silomais gen haben. Die «Hygiene-Hypothese» postuliert, dass versorgt werden (Brick, Schober et al. 2016). eine geringere Inzidenz von Infektionen als Folge von Rohmilch hat eine präventive Wirkung bei Überemp- mangelndem Kontakt mit infektiösem Material in der findlichkeit der Atemwege und reduziert die Gesamt- Kindheit den Anstieg allergischer Erkrankungen fördern zahl der Entzündungszellen wie Eosinophile, Lympho- könnte (Strachan 1989). zyten, Neutrophile und Makrophagen in der broncho- Einer der konsistentesten epidemiologischen Befunde alveolären Flüssigkeit (Abbring, Verheijden et al. 2017). ist, dass in ländlichen oder landwirtschaftlichen Gebie- Die schützende Wirkung von Rohmilch wird teilweise ten lebende Probanden eine geringere Prävalenz von durch regulatorische T-Zellen vermittelt. Diese Zellen Allergien aufweisen als solche aus städtischen Gebie- haben die Funktion, die Aktivierung des Immunsystems Agrarforschung Schweiz 11: 124–130, 2020 125
Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung | Lebensmittel Tab. 1 | Vergleichende Studien über Kinder aus landwirtschaftlicher und nicht-landwirtschaftlicher Umgebung (nach Schröder et al. 2015) Studienregion Anzahl Kinder Wichtigste Ergebnisse Schweiz 1620 Die atopische Sensibilisierung war bei Kindern von hauptberuflichen Landwirten geringer. Kinder von Bauern haben geringere Prävalenzraten von Heuschnupfen, Asthma und Keuchen. Die Exposition in Deutschland 10 163 der Tierhaltung war ein signifikanter Schutzfaktor. China 7077 Kinder aus ländlichen Regionen haben eine deutlich geringere Prävalenz von Asthma und Keuchen. Äthiopien 12 876 Keuchen war bei Kindern auf dem Land viel weniger verbreitet. Neuseeland 293 Der Konsum von unpasteurisierter Milch war mit einem geringeren Risiko für atopische Dermatitis verbunden. Exposition in Ställen und der Konsum von Rohmilch wurden mit einer geringeren Prävalenz von Asthma, Heu- Österreich, Deutschland, Schweiz 2618 schnupfen und atopischer Sensibilisierung in Verbindung gebracht. Kinder, die auf Bauernhöfen lebten, waren einer grösseren Diversität von Bakterien und Pilzen ausgesetzt. Diese Österreich, Deutschland, Schweiz 16 511 Exposition war mit dem Schutz vor Asthma und damit verbundenen Allergien verbunden. Österreich, Finnland, Frankreich, Die pränatale Exposition in einer landwirtschaftlichen Umgebung war mit einer Reduktion des Nabelschnurblut- 922 Deutschland, Schweiz IgE gegen saisonale Allergene verbunden. zu unterdrücken und dadurch die Selbsttoleranz des Im- sundheitliche Befinden bei Erwachsenen verbesserte, in munsystems zu regulieren (Schröder, Illi et al. 2017). Dem Veränderungen der Zusammensetzung und Funktions- Rohmilchkonsum wird auch eine Schutzwirkung bei lak- weise des Darmmikrobioms sowie in der Integrität der toseintoleranten Personen zugeschrieben. Es braucht je- Darmwand. Eine weitere Studie mit 390 Erwachsenen doch noch mehr und grössere Studien, um diesen Effekt in Holland zeigte nach deren Umstellung auf Rohmilch- zu erhärten und den Wirkungsmechanismus zu verste- produkte nahezu identische positive Auswirkungen auf hen (Melini, Melini et al. 2017). die Gesundheit und die Stimmung (Baars, Berge et al. In einer aktuellen Kohorten-Studie hatte der Konsum 2019). Der Einfluss der Darmgesundheit auf das psychi- von Käse bei Kleinkindern eine schützende Wirkung vor sche Wohlbefinden konnte in vielen Studien gezeigt Neurodermitis und Nahrungsmittelallergien. Die Auto- werden (Gonzalez, Stombaugh et al. 2011, Mayer 2011). ren schlugen zwei mögliche Erklärungen vor: (1) ein po- sitiver Effekt der mikrobiellen Vielfalt von Käse auf das Bedenken bei der Lebensmittelsicherheit Darmmikrobiom oder (2) ein potenzieller entzündungs- Trotz wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Wirkung hemmender Effekt durch die Hemmung der Produktion von Rohmilch auf unsere Gesundheit raten Behörden von Zytokinen und intestinalen Metaboliten (Nicklaus, und manche Experten wegen Bedenken hinsichtlich der Divaret-Chauveau et al. 2019). Die entzündungshem- Lebensmittelsicherheit noch immer vom Konsum von mende Wirkung kann über die zugesetzten Kulturen Rohmilch ab (Claeys, Cardoen et al. 2013, Melini, Melini gesteigert werden, z. B. mit ausgewählten Stämmen et al. 2017). Gemäss der schweizerischen Lebensmittel- von Propionibacterium freudenreichii und Lactobacillus gesetzgebung darf Rohmilch nicht zum unmittelbaren delbrueckii ssp. (Ple, Breton et al. 2016). Konsum angepriesen oder angeboten werden. Die Ab- gabestelle ist verpflichtet, über Haltbarkeit, Aufbewah- Gesteigertes Wohlbefinden rungsbedingungen und Behandlung von Rohmilch zu In einer retrospektiven Online-Umfrage in den USA be- informieren (Abb. 2): werteten 327 Erwachsene die gesundheitlichen Auswir- kungen, nachdem sie ihre Ernährung von pasteurisierter •• Bei 5 °C oder weniger aufbewahren Milch und Milchprodukten auf Rohmilch und Rohmilch- •• Vor dem Konsum auf mindestens 70 °C erhitzen produkte (Rohmilchkäse, Rohmilch-Joghurt) umgestellt •• Innerhalb von drei Tagen konsumieren hatten. Der Genuss von Rohmilch und Rohmilchproduk- ten führte zu statistisch hochsignifikant weniger Durch- Ein Verzicht auf die Hitzebehandlung liegt in der fall, weniger Verstopfung, gesünderer Haut, höherer Schweiz demnach in der Eigenverantwortung der Kon- Abwehrkraft und besserer Stimmung. Am stärksten wa- sumierenden. ren die Effekte bei Menschen mit einem selbst diagnos- Das Wissen über die sichere Rohmilchproduktion hat tizierten fragilen Gesundheitszustand und bei Frauen sich in den letzten zehn Jahren jedoch stark verbessert, (Baars, Berge et al. 2019). Die Autoren vermuteten den und die für den Rohmilch-Verkauf zertifizierten Bauern Grund, warum Rohmilch und Rohmilchprodukte das ge- produzieren heute eine Rohmilch mit einer hygienischen Agrarforschung Schweiz 11: 124–130, 2020 126
Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung | Lebensmittel In jüngerer Zeit wurden auch vereinzelte Fälle der para- sitären Cryptosporidiose mit dem Konsum von Rohmilch in Zusammenhang gebracht (Ursini, Moro et al. 2020). Berge und Baars (2020) zeigen auf, dass diese Risiken bei der deutschen Vorzugsmilch und ähnlichen Syste- men in den USA (The Raw Milk Institute) und Kanada (British Columbia Herdshare Association) durch gut ge- schulte Produzenten, gesunde infektionsfreie Herden, das HACCP-Konzept und strikte behördliche oder privat- rechtliche Kontrollen beherrscht werden. Es ist möglich, Rohmilchkäse herzustellen, die eine ver- gleichbare Lebensmittelsicherheit wie Käse aus pas- teurisierter Milch aufweisen (Bachmann, Fröhlich et al. 2011). Dazu müssen Hygiene und Prozess bei der Milch- Abb. 2 | Die Vereinigung der Schweizer Milchproduzenten (SMP) produktion und der Käseherstellung ständig überwacht bietet interessierten Milchproduzenten Kleber für die Abgabestelle werden. Die Rohmilchflora kann die Vermehrung von der Rohmilch und ein Merkblatt an. potenziell pathogenen Bakterien durch Konkurrenz um Nährstoffe hemmen, durch Veränderung der Bedingun- Qualität, die der pasteurisierten Milch nahekommt gen (z. B. pH oder Redoxpotenzial) oder mittels der Pro- (Whitehead und Lake 2018). Eine neue Untersuchung duktion von Substanzen mit einer Hemmwirkung (z.B. über die deutsche Vorzugsmilch kommt zum Schluss, Bacteriocine, organische Säuren oder Wasserstoffper- dass Rohmilch von diesen zertifizierten Betrieben die oxid) (Yoon, Lee et al. 2016). gleiche Lebensmittelsicherheit aufweist wie pasteuri- Die hohe Qualität der Rohmilch und der Rohmilchkäse sierte Milch. Dies wird durch die Anwendung einer guten und die dadurch bedingte hohe Lebensmittelsicherheit Hygienepraxis und des in der Lebensmittelherstellung stehen der tieferen Biodiversität im Produkt gegenüber. üblichen HACCP-Konzeptes erreicht. Das beinhaltet eine Dennoch kann von einer positiven Wirkung auf unser Risikoanalyse bezüglich der Konsumenten-Gesundheit Immunsystem ausgegangen werden (Slack, Hapfelmeier und daraus abgeleiteten Kontrollpunkten und Beherr- et al. 2009). schungsmassnahmen (Berge und Baars 2020). In den USA wurden ab 2005 die Trends bei lebensmittelbedingten Vielfältige Effekte der Pasteurisation Krankheiten analysiert. Seit 2010 ist ein stetiger Rück- Die Pasteurisation von Milch bei 72 °C für 15 s oder 63 °C gang der Rohmilch-bedingten Ausbrüche zu verzeich- während 30 min wurde in den 1880-er Jahren einge- nen, obwohl der Verbrauch von Rohmilch gestiegen ist. führt, um die Haltbarkeit von gekühlter Milch von ca. In der EU gab es von 2007 bis 2012 insgesamt 27 do- drei auf ca. zehn Tage zu verlängern. Später wurde er- kumentierte Ausbrüche von durch Milch übertragenen kannt, dass mit der Pasteurisation auch pathogene Kei- Krankheiten, bei welchen ein Zusammenhang mit dem me inaktiviert werden und so der Schutz vor Infektions- Konsum von roher Konsummilch aufgezeigt werden krankheiten wie z. B. Tuberkulose verbessert werden konnte. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsi- konnte (Jordan, Smithers et al. 2019). Sie ist ausgelegt cherheit (EFSA) veröffentlichte deshalb für die öffent- auf eine Reduktion der pathogenen Keime auf ein ak- liche Gesundheit ein wissenschaftliches Gutachten über zeptables Niveau in unter schlechten hygienischen Be- die Risiken zum Konsum von roher Milch (EFSA 2015). dingungen gewonnener Milch von infizierten Tieren. Das Hauptrisiko sei, dass Rohmilch die pathogenen Bak- Die hitzeresistentesten pathogenen Keime Mycobacte- terien Campylobacter spp., Salmonella spp., Shigatoxin- rium tuberculosis und Coxiella burnetti müssen um min- bildende Escherichia coli (STEC), Brucella melitensis, My- destens fünf 10-er Potenzen reduziert werden (Jordan, cobacterium bovis und den Frühsommer-Meningoenze- Smithers et al. 2019). phalitis-Virus enthalten, und auch die entsprechenden Epidemiologische Studien bestätigen, dass die schützen- Erkrankungen auslösen könne. Eine Risikoabschätzung de Wirkung vor immunbedingten Erkrankungen durch sei aber wegen ungenügender Datenlage nicht möglich. die Erhitzung vermindert wird oder sogar vollständig Kontaminationen könnten durch Infektionen im Tierbe- verloren geht (Loss, Apprich et al. 2011). Wie eine op- stand oder im Euter erfolgen, sowie durch Fäkalkonta- timierte schonende Pasteurisation bei 72 °C und genau minationen und Kontaminationen aus der Umgebung. 15 s mit rascher Aufwärm- und Abkühlphase die schüt- Agrarforschung Schweiz 11: 124–130, 2020 127
Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung | Lebensmittel zende Wirkung beeinträchtigt, müsste noch genauer halt von Vitamin B6 und bei Vitamin A wurde sogar eine untersucht werden. Sehr schonend pasteurisierte Milch Zunahme festgestellt. Für die Vitaminversorgung von enthält noch Mikroorganismen, zudem sind die Proteine Bedeutung ist nur die Abnahme des Vitamin B2 (Macdo- und Enzyme weniger stark denaturiert. Die Schweiz ist nald, Brett et al. 2011). eines der wenigen Länder, in welchem die Erhitzungs- Trinkmilch, mit Ausnahme der Demeter-Bio-Produkte, intensität bei der Pasteurisation rechtlich begrenzt ist: wird bei der Pasteurisation praktisch immer homogeni- das milchoriginäre Enzym Lactoperoxidase muss noch siert. Bei der Homogenisierung werden die Fettkügel- eine Restaktivität aufweisen. Doch auch bei diesen Vor- chen unter Druck stark verkleinert, um das Aufrahmen schriften kann 1/3 des hitzeempfindlichen Molkenprote- zu verhindern. Dieser Prozess verändert die physikali- ins -Laktoglobulin denaturiert sein (Bisig 2019). sche Struktur des Milchfettes, aber auch der Kasein- und Molkenproteine sind sehr hitzeempfindlich. Sie verlieren Molkenproteine. Die Aufteilung grosser Fettkügelchen beim Erhitzen ihre biologische Funktion durch Denatu- in viele kleine erhöht die Gesamtoberfläche, auf welcher rierung, Aggregation und Glykosylierung (Brick, Ege et v.a. Kaseinproteine adsorbiert werden. Sie stabilisieren al. 2017). Die Denaturierung beginnt bei ca. 54 °C (Wals- so das homogenisierte Milchfett und bilden die sekun- tra, Wouters et al. 2006). Die Pasteurisierung denaturiert däre Fettkügelchenmembran. In einer experimentellen einen Teil der bovinen Immunglobuline. Beim Laktofer- Studie mit sensibilisierten Mäusen führte nur homogeni- rin wird die Struktur verändert und der Gehalt an ak- sierte Milch zu einer allergischen Reaktion in der Darm- tivem Laktoferrin gesenkt. In pasteurisierter Milch ist wand, was darauf hindeutet, dass eine solche Milchver- im Vergleich zu Rohmilch der Gehalt an aktivem Wachs- arbeitung zu einer allergischen Reaktion führen kann tumsfaktor TGF-1 (TGF = Transforming Growth Factor) (Poulsen, Nielsen et al. 1990). Beide Prozess-Schritte, reduziert (Peroni, Piacentini et al. 2009). Erhitzung und Homogenisation, verändern die Struktur Die alkalische Phosphatase hat eine wichtige entzün- von Milch derart, dass sie weniger lange im Magen ver- dungshemmende Wirkung im Darm. Die milchoriginäre bleibt und damit weniger Sättigung bewirkt (Mulet-Ca- alkalische Phosphatase wird bei der Pasteurisation in- bero, Mackie et al. 2019). aktiviert, weshalb sie auch als Indikator für die Pasteu- risation genutzt wird (Lallès 2016). Schlussfolgerungen Rohmilch enthält verschiedene Systeme mit antimikro- biellen Eigenschaften, die das Wachstum von Mikro Heute wissen wir, dass die Mikroben im Darm viele Wir- organismen hemmen und/oder zur Immunität bei kungen auf den Menschen haben: Zusätzlich zu den im- Kleinkindern und beim Nachwuchs von Säugetieren munologischen Funktionen, der Produktion von Vitami- beitragen, darunter Enzyme (Lactoperoxidase, Lysozym, nen und dem Abbau von Nahrungsfasern besitzen sie Xanthinoxidase) und Proteine (Lactoferrin, Immunglo- metabolische Eigenschaften, die an der Prävention von buline, Bakteriocine). Die Pasteurisierung führt zu einer Fettleibigkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen betei- deutlichen Abnahme der antimikrobiellen Eigenschaf- ligt sind; sie vermögen sogar unsere psychische Gesund- ten (Claeys, Cardoen et al. 2013). Keime, die die Pasteu- heit positiv zu beeinflussen. Für all diese Funktionen ist risation überleben oder nach der Pasteurisation in die eine möglichst hohe Vielfalt des im Darm vorhandenen Milch gelangen, können sich entsprechend schneller Mikrobioms unerlässlich. Jede Ernährung, die diese Viel- vermehren. Dieser Effekt wird durch die fehlende Kon- falt begünstigt, fördert damit auch einen ausgewoge- kurrenzflora zusätzlich verstärkt. nen Gesundheitszustand. Wegen der grossen mikrobi- Pasteurisation führt zu Abnahmen bei den Vitaminen B1, ellen Diversität wirken sich Rohmilch und Rohmilchpro- B2, B12, C, E und Folsäure. Unbeeinflusst bleibt der Ge- dukte positiv auf die Vielfalt des Darmmikrobioms aus. Faktoren Wirkungen auf Gesundheit Mikrobielle Diversität Schutz vor immunbedingten Erkrankungen Wärmeempfindliche Milchbestandteile Rohmilch Höhere Diversität beim Mikrobiom im Darm Produktionssystembedingte Unterschiede Gesteigertes Wohlbefinden Abb. 3 | Faktoren und gesundheitliche Wirkungen von Rohmilch. Agrarforschung Schweiz 11: 124–130, 2020 128
Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung | Lebensmittel Das Hauptziel der Milcherhitzung besteht darin, den die Lebensmittelsicherheit gerecht zu werden. Wichtig Bakteriengehalt zu reduzieren und die mikrobiologi- ist dabei zu verstehen, dass es bei der Herstellung von sche Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten. Zusätz- Rohmilchkäse um viel mehr geht als um den Verzicht auf lich werden auch wärmeempfindliche Milchbestandteile die Pasteurisation. Die Herstellung von Rohmilchkäse ist mannigfaltig verändert. Wegen der Reduktion der mik- ein komplexes Produktionssystem und bedingt unter an- robiellen Diversität und den Veränderungen von wärme- derem gut geschulte Fachleute, gesunde infektionsfreie empfindlichen Milchbestandteilen werden verschiedene Herden, ein glaubwürdiges HACCP-Konzept, eine vali- positive Wirkungen der Rohmilch auf unsere Gesundheit dierte Hürdentechnologie und strikte behördliche oder abgeschwächt oder gehen gar vollständig verloren. Be- privatrechtliche Kontrollen. deutsam sind auch produktionsbedingte Unterschiede, Louis Pasteur selbst – der Namensgeber für die Pasteuri- wie z. B. der höhere Gehalt an -3- Fettsäuren. Die Wir- sation – verbrachte die meiste Zeit seines Lebens mit der kungen auf unsere Gesundheit sind langfristiger und Untersuchung, wie die Qualität von Weinen und Bieren multifaktorieller Natur, was sehr schwierig zu dokumen- durch komplexe mikrobielle Stoffwechsel beeinflusst tieren und zu quantifizieren ist (Abb. 3). wird. Es ist ein grosser Fortschritt, dass neue Methoden Rohmilchkäse ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, um für die genomische Charakterisierung des Mikrobioms viele wertvolle Eigenschaften der Rohmilch zu erhalten nun ermöglichen, die Komplexität von rohen Lebens- und dennoch den aktuellen hohen Anforderungen an mitteln zu erkennen und zu verstehen. n Literatur ▪▪ Abbring S., Kusche D., Roos T. C., Diks M. A. P., Hols G., Garssen J., Baars T. & ▪▪ Brooks C., Pearce N., & Douwes J., 2013. ‚The hygiene hypothesis in allergy van Esch B.C.A.M., 2019. ‚Milk processing increases the allergenicity of cow‘s and asthma: an update‘, Curr Opin Allergy Clin Immunol, 13: 70-7. milk-Preclinical evidence supported by a human proof-of-concept provocation ▪▪ Claeys L., Cardoen S., Daube G., De Block J., Dewettinck K., Dierick K., De pilot‘, Clin Exp Allergy, 49, 1013-25. Zutter L., Huyghebaert A., Imberechts H., Thiange P., Vandenplas Y., & Herman ▪▪ Abbring S., Verheijden K. A. T., Diks M. A. 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