Rolfing und Osteopathie Form und Funktion aus der Sicht des Rolfing

Die Seite wird erstellt Hermine Binder
 
WEITER LESEN
Rolfing und Osteopathie Form und Funktion aus der Sicht des Rolfing
Osteopathische Medizin
                                                        WEITERE THERAPIEMETHODEN

                            Rolfing und Osteopathie
Form und Funktion aus der Sicht des Rolfing
Hans Flury*                                                          vage formuliert sind, denn es existiert kein System, mit
                                                                     dem man Bewegung präzise beschreiben könnte.
Abstract                                                             Im Gegensatz zur Bewegung des Körpers als Ganzes
Ida Rolf's method is based on the observation that every             kann die Gelenkfunktion ziemlich genau beschrieben
human body possesses its own individual form. The concept
                                                                     werden, und es besteht ein Konsens darüber, wie diese
of Structural Integration differentiates between two levels of
                                                                     physiologisch auszusehen hat.
form: one is its deeper and constant aspect called structure,
the other the visible and vastly varying form living human
bodies present. Movement is defined as a functional change           Ida Rolf hat weitere zwei Faktoren entdeckt, die eine
superimposed on the underlying structural form. The arm is           Rolle spielen. Erstens behauptet sie, jeder Körper habe
used as an example to indicate some of the viewpoints                eine eigene individuelle Form, die sie Struktur nennt.
which are relevant to manual treatment if the focus is on            Zweitens besteht sie darauf, dass bei allen Fragen der
form.                                                                Bewegung die Schwerkraft berücksichtigt werden
                                                                     muss.
Keywords                                                             Therapeutische Interventionen sind auf allen drei Ebe-
Rolfing, osteopathy, form, structure, gravity, fascia                nen möglich: derjenigen der Gelenkfunktion, derjeni-
                                                                     gen der Bewegung des Körpers und derjenigen der
                                                                     Struktur. Hier soll der Zugang über die Ebene der
Zusammenfassung
                                                                     Form, also über das, was Ida Rolf Struktur nennt,
Ida Rolfs Methode basiert auf der Beobachtung, dass jeder
Körper eine individuelle Form besitzt. Das Konzept der Struk-        dargestellt werden. Zuerst werden einige theoretische
turellen Integration unterscheidet einen tieferliegenden,            Fragen behandelt, dann wird ein praktisches Beispiel
konstanten Aspekt der Form, der hier Struktur genannt wird,          beschrieben.
von der manifesten Form, wie sie sich beim lebenden, sich
bewegenden Menschen zeigt. Bewegung wird als funktionelle
Veränderung der strukturell gegebenen Form aufgefasst. Am
                                                                     Struktur, Faszien, Funktion
Beispiel des Arms wird gezeigt, welche Gesichtspunkte für die        Mit "Struktur" ist nach Duden die "Anordnung der
manuelle Behandlung relevant sind, wenn man den Zugang               Teile eines Ganzen zueinander" gemeint. Ida Rolf
über die Form wählt.
                                                                     suchte nach derjenigen Anordnung, die möglichst
Schlüsselwörter                                                      wenig Anstrengung erfordert. Dafür musste sie die
                                                                     Definition so erweitern, dass nicht nur die "Teile zu-
Rolfing, Osteopathie, Form, Struktur, Schwerkraft, Faszien
                                                                     einander", sondern auch ihr Verhältnis zum Schwer-
                                                                     kraftfeld der Erde berücksichtigt werden. Natürlich
                                                                     müssen dann die Teile zentriert übereinander stehen.
Normale Gelenkmobilität bildet eine Voraussetzung für                Allerdings bleibt diese Anordnung nur erhalten, wenn
freie Bewegung. Wenn die Gelenkmobilität gestört ist,                sie nicht gestört wird. Nach Ida Rolf sind die Teile in
ist Bewegung behindert; Beschwerden, Schmerzen,                      "elastische Säcke" gepackt. Sie stören die ideale Anord-
Krankheiten können die Folge sein. Allerdings ist sie                nung nur dann nicht, wenn ihre Spannung rundherum
nur eine unter anderen Voraussetzungen, denn nicht                   im Gleichgewicht ist. Gleichzeitig stabilisiert der ideale
jede Dysfunktion des Bewegungsapparats ist in Be-                    Sack die Anordnung, weil er sie bei einer Verschiebung
wegungseinschränkungen verwurzelt. Deutlich wird                     mit den induzierten elastischen Kräften wiederher-
dies, wenn wir uns vor Augen halten, dass sich die                   stellt.
Menschen auch bei allseits normaler Gelenkmobilität                  Der elastische Sack steht für das "Fasziennetz". Faszien
ganz verschieden bewegen. Dies wird gemeinhin damit                  funktionieren nach Ida Rolf als "Container". Diese sind
erklärt, dass Menschen ihre Muskeln ganz verschieden                 schon deshalb nötig, weil der Körper zu ca. 70 % aus
gebrauchen. In Bezug auf die Bewegung des Körpers                    Wasser besteht. Vom Rest setzen die Fette und die
besteht eine verwirrende Vielfalt von Ansichten, Mei-                meisten Eiweiße einer Deformierung ebenfalls kaum
nungen und Schulen, wie Bewegung auszusehen hätte.                   Widerstand entgegen. Allein die Knochen sind form-
Hinzu kommt, dass die meisten Beschreibungen äußerst                 stabil.

* Dr. med. Hans Flury, geb. 1945 in Zürich, war 1973-1978 als Arzt tätig, seit 1979 als Rolfer. Interessenschwerpunkt Theorie der
  Strukturellen Integration (Herausgeber und maßgeblicher Autor der "Notes of Structural Integration", 7 Ausgaben, Zürich 1986–1993.)
  1995 Buchveröffentlichung zum Thema "Normale Bewegung" (Flury H: Die neue Leichtigkeit der Bewegung. dtv, Deutscher Taschen-
  buchverlag, München, 1995).

6. Jahrg., Heft 1/2005, S. 24–32, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.osteopathische-medizin.de
                                                                                                                                27
Osteopathische Medizin
 WEITERE THERAPIEMETHODEN

Wenn man sich die Knochen wegdenkt, ergibt sich eine                 Dies führt zu einer völlig neuen Einteilung des Kör-
Art "hydrostatischer Ballon", dessen Form allein von                 pers. Es wird nicht einem tragenden Skelett eine
den Eigenschaften der Container abhängt. Ein solches                 Muskulatur entgegengestellt, die hält und bewegt.
Modell hat gravierende Konsequenzen für unsere Sicht                 Auch kommen Haltung und Bewegung nicht als
des Körpers und seine Funktion. Container halten ihren               Gegensatzpaar vor. Das Modell konstituiert einen
Inhalt deshalb zusammen, weil sie den Innendruck auf-                "strukturellen Körper" ohne Muskelaktivität, der eine
nehmen und mit ihrer passiven elastischen Spannung                   individuelle Form besitzt. Knochen lassen sich in dieses
neutralisieren. Dem System kommt also eine tragende                  Modell nun auch einfügen, jedoch hauptsächlich als
Funktion zu. Allerdings ist dafür eine gute strukturelle             Spacers, die "Gewicht verteilen, statt es zu tragen"
Ordnung Voraussetzung: Der Körper sollte weder kol-                  (Rolf)4. Dazu kommt nun als funktionelles Element das
labiert noch durch zu zähe Faszien eingeengt sein.                   immer vorhandene Muster der aktiven Muskelspan-
Deutlich spürbar wird diese Funktion, wenn die Bewe-                 nung, das beim ruhigen Stehen annähernd konstant ist,
gung normal istA (Flury)3.                                           sich bei Bewegungen aber schnell und weitgehend
                                                                     verändert. Funktion ist dann die Kombination beider
                                                                     Elemente. Die Struktur ist das darunterliegende Kon-
Analyse der Körperstruktur:                                          stante aller Formen, die ein Körper annehmen kann.
Struktureller und anatomischer                                       Struktur können wir nie direkt sehen, weil sie immer
                                                                     auf vielfältigste Weise vom Muster aktiver Spannung
Faszienbegriff                                                       überlagert wird. Innerhalb dieser Modellvorstellung
Das Modell erfordert bei der Analyse der Körperstruk-                lässt sich Bewegung als Formveränderung des struk-
tur eine Vorgehensweise, die derjenigen der Anatomie                 turellen Körpers definieren.
entgegengesetzt ist. Dort werden diskrete, definierte
Teile nach bestimmten Regeln zusammengesetzt. Bei
der Beschreibung der Form gehen wir wie bei jeder
                                                                     Beispiel Arm
Formdarstellung von den Konturen des Ganzen aus                      Im Mittelpunkt der strukturellen Sicht steht zunächst
und von dort zu den Teilen.                                          die Form des Armes. Es fällt auf, dass er im Querschnitt
Das Skelett konstruieren wir in diesem Sinn strukturell              elliptisch ist. Die flachen, breiten Seiten finden ich an
so, dass wir in der Vorstellung alle Knochenhäute und                der Außen- und Innenseite des Oberarms und an der
Gelenkkapseln betrachten. Wir erhalten einen weit                    Vorder- und Rückseite des Unterarms.
verzweigten geschlossenen Schlauch. Diesen füllen wir                Bei der üblichen Referenzposition des Klienten in
mit Flüssigkeit. Bei einem leichten Überdruck entfaltet              Rückenlage liegt der Arm neben dem Körper, die
sich das "Skelett" von selbst. Es steht zwar nicht alleine,          Handfläche nach unten, also nach dorsal, der Ellbogen
aber es würde sogar etwas Gewicht tragen. In einem                   zeigt nach außen. Die Position ist etwas willkürlich, sie
letzten Schritt ersetzen wir die Flüssigkeit an den                  entspricht nicht der normalen Art, wie der Arm im
richtigen Orten durch formstabile Elemente, Knochen.                 Stehen hängt. Er sollte flach auf der einen breiten Seite
Dieses Modell liefert nebenbei einen passiven Grund-                 liegen können; die andere breite Seite liegt oben. Diese
mechanismus als eine elegante Lösung für das Pro-                    oberen Seiten von Oberarm und Unterarm sollten in
blem, dass die Gelenkflächen auch unter starker Kraft-               einer Ebene liegen, d. h. sie sollten sich tangential an
einwirkung zentriert bleiben sollten, die Knochen sich               eine darüber gedachte Horizontalebene schmiegen. Die
gleichzeitig aber in geführten Bahnen möglichst frei                 leichte Konvexität sollte innen und außen symmetrisch
bewegen sollten.                                                     sein. Allerdings trifft man diese normale Form so gut
                                                                     wie nie an. Die häufigste, fast konstante Abweichung
Der formbezogene, strukturelle Faszienbegriff weicht                 ist die, dass die Extensorenfaszie zum Ellbogen hinauf
auf mindestens zweierlei Art vom anatomischen ab.                    "zu rund" gerollt und zur Seite verlagert ist.
Erstens können Faszien nur als geschlossene, an-                     Wenn wir die äußere Form des Arms betrachten, heißt
nähernd wasserundurchlässige Flächen gedacht wer-                    dies nicht immer, dass die Abweichungen auch dort
den. Zweitens bestehen sie als "gewobenes Gewebe"                    lokalisiert sind. Trotzdem machen sich häufig tiefere
ausschließlich aus kollagenen und elastischen Fasern,                Störungen der Form in der Verformung der äußeren
weil nur diese passiv Spannung aufnehmen können.                     Faszie bemerkbar. Der ganze "Armschlauch" ist durch
Faszien besitzen dann keine logische Verbindung mehr                 eine Art "Septum" in zwei Logen geteilt (Abb. 1;
mit den Muskeln. Sie befinden sich überall im Körper:                Schwind)5. Am Oberarm liegt dieses "Septum" im
als Körperfaszie, als Muskelfaszien, Pleura, Dura,                   kurzen Durchmesser; man kann sich vorstellen, es
Leberkapsel usw. Sehnen und Bänder stellt man sich als               bestehe aus den beiden Septa intermuscularia und dem
eingeflochtene Verstärkungen vor.                                    Periost des Humerus. Am Unterarm liegt das "Septum"

A "Normale Bewegung" ist definiert als die jeweils ökonomischste Form einer gegebenen Bewegung. Diese Art Bewegung benützt exten-

 siv die Schwerkraft und die elastischen Kräfte des gedehnten Fasziennetzes, die einen Teil der Muskelkraft ersetzen. Voraussetzung
 ist ein Körper, und vor allem der Rumpf, der locker gestreckt ist. Beim Gehen ist zum Beispiel der Schwerpunkt etwas weiter vorn als
 üblich, so dass das Gewicht auf das mediale Längsgewölbe des Fußes des Standbeins und nicht auf das Fersenbein kommt. Die Hüft-
 achse befindet sich etwas hinter dem Körperschwerpunkt, der gestreckte Rumpf ist dadurch minimal nach vorn geneigt.

 28                          6. Jahrg., Heft 1/20054, S. 24-32, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.osteopathische-medizin.de
Osteopathische Medizin
                                                   WEITERE THERAPIEMETHODEN

                                                                 "Nähte" des Oberarms an Ort und Stelle bleiben, sich
                                                                 nur verlängern, und weil das "Innere" der Ellenbeuge
                                                                 nach außen weicht, sinkt das Gewebe um die "Nähte"
                                                                 wie zwei Falten etwas nach innen und aufeinander zu.
                                                                 Unmittelbar zu Beginn der Bewegung werden sie sogar
                                                                 etwas gerader gestreckt. Dieser Effekt hängt ganz
                                                                 davon ab, dass sich das Gewebe der Ellenbeuge, ins-
                                                                 besondere der Strang der Bizepssehne, verlängern und
                                                                 in die Tiefe sinken kann.

                                                                 Zwar ist "Struktur" ein statisches Konzept, doch sehen
                                                                 wir sie nur richtig, wenn sich der Körper bewegt. Das
                                                                 Atmen, eine wellenartige leichte Dehnung des Rump-
                                                                 fes, lässt uns erst seine Form erkennen.

                                                                 Etwas Ähnliches gibt es im Unterarm. Am einfachsten
Abb. 1 Querschnitt auf Höhe der Oberarmmitte.                    zeigt sich dies, wenn die Hand passiv dorsalflektiert
Der Armschlauch ist durch eine Art "Septum" in                   wird. Die Finger einer Hand des Behandlers gehen dor-
zwei Logen geteilt. Mit freundlicher Genehmigung                 sal ins Handgelenk und halten die Hand vom Unter-
des Autors aus: Schwind P: Faszien- und Membran-                 arm weg. Dann wird die Hand des Klienten hoch-
technik. Elsevier GmbH – Urban & Fischer, München,               genommen. Dadurch "öffnet" sich das Handgelenk und
2003.                                                            es entsteht ein starker Zug auf der Flexorenseite des
                                                                 Unterarms. Die Faszien werden dort weiter, weil vor
                                                                 allem die Sehnenstränge der Karpalflexoren eine "Ab-
im langen Durchmesser, es besteht aus dem Periost von            kürzung" zur Seite nehmen; Ulna und Radius weichen
Radius und Ulna sowie der Membrana interossea. Vor               dadurch auseinander. Das "Atmen" des Unterarms
allem am Oberarm bildet das "Septum" mit der Ober-               hängt mit Sicherheit vom Zustand der Membrana inter-
flächenfaszie zwei "Nähte". Diese sollten gerade sein            ossea ab.
und in der Mitte der breiten Flächen liegen. Meist sind          Bei dieser Bewegung realisiert sich deutlich das alte
sie verzogen, vor allem nach lateral, und manchmal               Bild des Rolfing, dass Knochen im Gewebe schwim-
sind sie zu tief eingezogen. Verdickungen, Verklebun-            men sollten. Das heißt, dass am Anfang der Bewegung
gen und Verkürzungen finden sich oft am Übergang                 das Fasziennetz zu "fließen" beginnt, es geht in die
der Septen zum Periost. Das "Septum" des Oberarms                Länge und behält seine Orientierung, während die
geht distal über die von den Epicondylen des Humerus             Knochen vorerst liegen bleiben und erst später mit-
hinten weit gespreizte Oberamhülle um 90° gedreht in             gezogen werden.
diejenige des Unterarms über.                                    Wenn man mit dem formbezogenen Strukturbegriff
                                                                 arbeitet, geht man von Biegen und Strecken des Armes
Störungen der Form des Armes zeigen sich deutlich bei            aus, also von der normalen Formveränderung. Ihre
Bewegungen. Der Arm wird unter leichtem Zug lang-                Störung zeigt meist auch die Stellen auf, die detail-
sam etwas gebeugt und wieder gestreckt und dabei                 liertere Behandlung benötigen. Im Gegensatz dazu
ohne zu forcieren nahe an der normalen Form gehalten.            geht die anatomische Betrachtung von Beugung und
Bei der Beugung sollte sich zuerst die Außenseite des            Streckung des Ellbogens aus. Dieses erfolgreiche Kon-
ganzen Arms gleichmäßig verlängern. Am häufigsten                zept des Gelenks kann dann logisch ausgedehnt wer-
wird das dadurch gestört, dass das Gewebe an der                 den bis zu einem "viszeralen Gelenk", das "Gleit-
Hinterkante der Ulna zu stark verklebt ist. Die innere           flächen" und "Anheftungen" besitzt, jedoch keine
und die äußere "Naht" am Oberarm sollten sich eben-              "motorischen Muskeln" (Barral)2.
falls gleichmäßig verlängern, sie sollten gerade bleiben
und nicht verzogen werden. Das Olecranon sollte                  Es stellt sich die Frage, ob die verschiedenen Aus-
weder spitz durch die Faszie nach außen stechen – was            gangspunkte jemals zu deckungsgleichen Sichtweisen
eine allgemeine starke Verkürzung aller Faszien anzeigt          der Bewegung führen werden. Derzeit kann die Frage
– noch sollte sie eingezogen bleiben, was auf tiefe Ver-         nicht endgültig beantwortet werden, weil die struk-
klebungen in der Ellenbeuge hindeutet.                           turelle Sicht in vielerlei Hinsicht noch in ihren An-
Die unten aufliegende und die obere breite Fläche des            fängen steht, noch weiter entwickelt werden muss. Es
Armes bleiben bei der Beugung möglichst lange in                 kann aber vermutet werden, dass das nicht der Fall sein
derselben Ebene. Obwohl der Arm durch den Zug                    wird, sofern Ida Rolfs Behauptung zutrifft, dass sich
etwas länger wird, wird er nicht schmaler, eher flacht er        beide Ansätze auf verschiedenen Ebenen von Bache-
etwas ab. In der Ellenbeuge führt dies zu einer be-              lards1 epistemologischem Profil befinden. Die Sichtwei-
sonderen Erscheinung, die ziemlich spezifisch für                sen wären und blieben dann "entgegengesetzt, aber
normale Struktur und Bewegung erscheint. Weil die                nicht widersprüchlich".

6. Jahrg., Heft 1/2005, S. 24–32, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.osteopathische-medizin.de
                                                                                                                    29
Osteopathische Medizin
 WEITERE THERAPIEMETHODEN

                                                                                              Korrespondenzadresse:
Fazit
Das Behandlungsziel der Osteopathie ist die Beweg-                                            Dr. med. Hans Flury
lichkeit klar abgrenzbarer anatomischer Einheiten im                                          Badenerstrasse 21
                                                                                              CH – 8004 Zürich
Verhältnis zueinander. Für die Diagnose und Behand-
                                                                                              E-Mail: fluport@bluewin.ch,
lung des Gelenks geht es deshalb in erster Linie um die
                                                                                              Internet: www.sgsi.ch
Beweglichkeit der Gelenkflächen. Beim Rolfing geht es
demgegenüber um die Gleitfähigkeit des ganzen
Knochens innerhalb der Vielfalt der Gewebe. Nach
Ida Rolfs Auffassung hat der Knochen die Aufgabe,
Gewicht zu verteilen, ohne es primär zu tragen.
Diese Auffassung ist nicht nur für die Untersuchung              Literatur
der langen Röhrenknochen der Extremitäten sondern                1 Bachelard G: Die Philosophie des Nein. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1980.
auch für die funktionelle Analyse der Wirbelsäule                2 Barral JP, Mercier P: Lehrbuch der viszeralen Osteopathie, Bd. I, Urban &
                                                                   Fischer, München, 2002.
relevant.                                                        3 Flury H: Die neue Leichtigkeit des Körpers. Grundlagen der normalen Be-
                                                                   wegung. dtv, München, 1995.
                                                                 4 Rolf I: Rolfing. Strukturelle Integration. Hugendubel, München, 1989.
                                                                 5 Schwind P: Faszien- und Membrantechnik. Urban & Fischer, München, 2003.

Interview: Peter Schwind
             Peter Schwind ist Advanced Instructor am            klassische Rolfing konzentriert sich vor allem auf die manuel-
             von Ida Rolf begründeten Rolf Institute in          le Behandlung der Faszien des Muskelapparats, der
             Boulder (Colorado) und bei der European             Zwischenknochenmembranen der großen Längsknochen und
             Rolfing Association in München. Zusammen            die großen Bänder des Beckens und der Extremitäten. Die
             mit seinem Münchner Kollegen Christoph              Behandlung erfolgt aber mit einer ganz eigentümlichen Ziel-
             Sommer und Jean-Pierre Barral hat er die
                                                                 setzung.
             MÜNCHNER GRUPPE als interdisziplinäre
             Fortbildungsinstitution für manuelle Behand-
             lungsverfahren begründet. Sein Lehrbuch zur         Schmidt: Wo liegt hier der Unterschied zur Osteopathie?
             Faszien- und Membrantechnik ist 2003 bei            Schwind: Ich sehe die Stärke der Osteopathie darin, mit klein-
             Elsevier – Urban & Fischer erschienen.              stem Aufwand Bewegungseinschränkungen auszuräumen
                                                                 und damit den Organismus innerhalb seiner Eigendynamik
                                                                 zu einer effektiveren Selbstregulation zu führen. Beim Rolfing
                                                                 geht es um etwas anderes. Die im Körper wirkenden Kräfte
                                                                 werden in ihrer Wechselwirkung mit der von außen wirken-
Schmidt: Herr Schwind, wie kommt es, dass Sie sich für die       den Schwerkraft betrachtet.
Osteopathie fast genauso interessieren, wie für Ihr eigenes
Arbeitsgebiet, die Rolfingmethode?                               Schmidt: Was bedeutet das denn für den praktischen Ablauf
Schwind: Das hat einen persönlichen Grund. Als ich vor           einer Behandlung?
einem Vierteljahrhundert von meiner Ausbildung an Ida Rolfs      Schwind: Seit Ida Rolf entwickeln die Rolfer ihre Behand-
Institut nach Europa zurückkehrte, organisierte ich zusammen     lungsstrategie, indem sie die Statik des Gesamtsystems im
mit meinem Kollegen Michel Ginoulhac die erste Rolfing-          Stehen und im Sitzen beurteilen und indem sie ihre Patienten
ausbildung auf europäischem Boden. Mein Kollege hatte sein       beim Gehen und anderen signifikanten Bewegungsabläufen
Medizinstudium abgeschlossen, hatte dann wie ich in den          beurteilen. Erst im Anschluss daran erfolgt die manuelle
USA Rolfing gelernt und anschließend mit der Osteopathie-        Untersuchung.
ausbildung an einer der ersten französischen Schulen be-
gonnen. Mit Michel Ginoulhac verband mich schon damals           Schmidt: Ist das dann die manuelle Untersuchung, die wir aus
die Begeisterung für beide Methoden.                             der Osteopathie und zum Teil auch aus der manuellen Medi-
                                                                 zin kennen?
Schmidt: Wie würden Sie einem Osteopathen das Konzept der        Schwind: Nein, der Rolfer geht von der Gesamtform des
Rolfingmethode erklären?                                         Organismus aus. Der Osteopath lässt sich – jedenfalls wie ich
Schwind: Das ist gar nicht so einfach weil ein Osteopath das,    das verstehe – von der Modellvorstellung des Gelenks leiten.
was ich über das Fasziensystem sagen möchte, natürlich mit       Diese Modellvorstellung prägt zum erheblichen Teil sogar die
den Ohren eines Osteopathen hört und im Rahmen seines            Untersuchungstechnik im craniosacralen und viszeralen Be-
Konzepts versteht. Ich will es trotzdem versuchen. Das           reich. Während ein Osteopath beispielsweise die Fixierung

 30                         6. Jahrg., Heft 1/20054, S. 24-32, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.osteopathische-medizin.de
Osteopathische Medizin
                                                        WEITERE THERAPIEMETHODEN

eines Rippenwirbelgelenks behandelt, beschäftigt sich der            Nach der zehnten Behandlung sollte aber auf jeden Fall
Rolfer mit der Krümmung eines ganzen Rückenabschnitts,               Schluss sein. Nach sechs oder acht Monaten lassen sich dann
oder mit der Art, wie sich eine Körperhöhlung mit einer              ein oder drei Folgebehandlungen anschließen. Die strikte
angrenzenden Körperhöhlung unter dem Einfluss der Schwer-            Begrenzung der Sitzungszahl ist die Essenz der Methode. Ich
kraft aufrichtet. Noch klarer treten die Unterschiede zutage,        sehe die Rolfingmethode nicht als Instrument der Symptom-
wenn wir die Behandlung der Extremitäten ansehen. Der                linderung, sondern – wenn ich das so kompliziert ausdrücken
Osteopath konzentriert sich meist auf die Bewegungs-                 darf – als Neuorientierung des Organismus innerhalb seiner
einschränkungen zwischen einzelnen anatomisch genau defi-            sehr individuellen biomechanischen Konstitution. Natürlich
nierten Elementen, so beurteilt er beispielsweise die Beweg-         kommt dann häufig, falls diese Neuorientierung gelingt, ein
lichkeit zwischen den Knochen des Fußes. Der Rolfer beurteilt        Prozess der Symptomlinderung in Gang.
dagegen die Dynamik der Fußgewölbe untereinander und
versucht diese Dynamik mit der ganzen Extremität und dem             Schmidt: Gibt es denn Neuentwicklungen innerhalb des Rol-
Rumpf in Beziehung zu setzen. Osteopathie ist die Behand-            fings?
lung der Dysfunktion, Rolfing die Behandlung der Form, bzw.          Schwind: Es gibt ernstzunehmende konzeptuelle Neuansätze,
des Formkontexts.                                                    die in verschiedene Richtungen gehen. In vielerlei Hinsicht
                                                                     stehen wir erst am Anfang. Ich persönlich bewundere immer
Schmidt: Wie kann man sich das praktisch vorstellen?                 wieder, mit welcher Konsequenz mein Schweizer Kollege,
Schwind: Die Fußgewölbe werden von der Hüfte her be-                 Hans Flury, bei der Sache bleibt und die Grundannahmen
handelt und die Hüften werden beispielweise von den Fuß-             Ida Rolfs durchdenkt aber auch hinterfragt. Und ich be-
gelenken her behandelt. Ich weiß, das klingt ziemlich global         wundere ebenso die Arbeit meines französischen Kollegen
oder sogar vage.                                                     Hubert Godard, die in eine ganz andere Richtung geht. Er
                                                                     ist Professor für die Erforschung der menschlichen Bewegung
Schmidt: Liegt darin nicht eine Schwäche Ihrer Methode?              an der Universität VII in Paris. Godard eröffnet unserem
Schwind: Sicherlich, der globale Ansatz ist die Schwäche des         ursprünglich recht "statischen" Konzept ganz neue Dimen-
Rolfings. Aber in mancherlei Hinsicht ist der globale Ansatz         sionen, indem er die Bedeutung der Koordination und der
auch für die Leistungsfähigkeit der Grundbehandlung mit              sensorischen Orientierung in die Behandlung des Faszien-
zehn Sitzungen verantwortlich.                                       systems mit einbezieht. Und auch auf empirisch wissenschaft-
                                                                     licher Seite bewegt sich einiges, seit mein Kollege Robert
Schmidt: Gibt es für diese zehn Sitzungen denn einen klaren          Schleip seine Forschungen über das Fasziensystem begonnen
Behandlungsplan?                                                     hat.
Schwind: Es gibt für jede der zehn Sitzungen ganz klar defi-         In meiner eigenen Praxis habe ich in den letzten Jahren ver-
nierte Analyseschritte und eine Zielvorstellung des Behand-          sucht, sowohl konzeptuell wie technisch neue Wege zu gehen.
lungsresultats. Dies entspricht jedoch keinem Behandlungs-           Das klassische Konzept orientiert sich vor allem an den
schema. Wir arbeiten beispielsweise in der ersten Sitzung            Faszien, die die Muskulatur umhüllen und untergliedern. Der
immer am Bewegungsmuster der Atmung. Die einzelnen                   Körper hat sich aber seit den Tagen von Ida Rolf drastisch
Techniken, die zur Anwendung kommen werden dabei stets               verändert, indem sich unsere Alltagsgewohnheiten und Be-
der individuellen Gewebetypik und der persönlichen Gram-             wegungsmuster durch eine neue Arbeitswelt wandelten. Ich
matik der Spannungen angepasst. Jean-Pierre Barral hat ein-          denke, dass wir deshalb die Bindegewebsschichten, die sich
mal gesagt, wir wissen nicht wirklich, was Ida Rolf gemacht          nicht direkt der Muskulatur zuordnen lassen, verstärkt behan-
hat, wir haben nur Interpretationen davon, wie sie behandelt         deln müssen. Dass ich in diese Richtung suchen und denken
hat. Ich denke, er trifft damit den Nagel auf den Kopf. Für          konnte verdanke ich den französischen Osteopathen Jean
mich steht außer Zweifel, dass Ida Rolf eine grandiose Pionie-       Pierre Barral, Didier Prat, Jean Arlot und Alain Croibier, die
rin war, aber heute kommt es darauf an, wie man die Pionier-         ihr Wissen immer bereitwillig mit mir teilten, aber auch zu
leistung weiterführt.                                                sehr kritischem Dialog bereit waren. Damit wären wir wieder
                                                                     bei der Osteopathie.
Schmidt: Was machen Sie denn, wenn sich nach den zehn
Sitzungen der Behandlungserfolg nicht einstellt? Behandeln           Schmidt: Herr Schwind, Sie haben im letzten Jahr ein neues
Sie dann einfach weiter?                                             Buch zum Thema "Faszien- und Membrantechnik" veröffent-
Schwind: Die beste Lösung ist meines Erachtens, schon nach           licht. Sind Sie damit näher am Rolfing oder näher an der
der dritten Behandlung zu klären, ob die Behandlung erfolg-          Osteopathie?
versprechend verläuft. Wenn sich nach drei Behandlungen              Schwind: Ich hoffe, ich bin weder der einen noch der anderen
keine Positiventwicklung abzeichnet, ist es sinnvoll, zunächst       Methode näher. Es gibt zwischen Ida Rolfs Struktureller Inte-
einmal abzuwarten und dann eine andere Behandlungs-                  gration und der Osteopathie ein Niemandsland. Dort dürfen
methode zu wählen. In meiner eigenen Praxis ist es mir wich-         wir die Konzepte für einen Augenblick vergessen und mit
tig, die effizienteste Methode zur Problemlösung zu finden,          dem Organismus noch mal von vorne anfangen, ohne eine
und das ist nicht immer meine Methode. Wir tun den Patien-           bestimmte Brille zu tragen. Mein Buch handelt von diesem
ten und uns selbst keinen Gefallen, wenn wir sie "zu halten"         Niemandsland. Methoden sollen in sich konsistent sein, aber
versuchen, während wir praktisch nicht weiterkommen. Mir             gegensätzliche Ansätze können sich auch befruchten. Und
fällt allerdings auch ein Fall ein, bei dem sich erst in der neun-   gelegentlich ist es doch erfrischend über die Grenzen hinaus-
ten Behandlung der entscheidende, in diesem Fall dauerhafte          zudenken.
Erfolg einstellte. Ich hatte die zunächst völlig erfolglose
Behandlung nur weitergeführt, weil der Patient Manualmedi-           Schmidt: : Herzlichen Dank für das Gespräch.
ziner war und aus Neugierde und technischem Interesse wei-
ter behandelt werden wollte.                                         Das Interview führte Dr. med. Sabine Schmidt, München.

6. Jahrg., Heft 1/2005, S. 24–32, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.osteopathische-medizin.de
                                                                                                                              31
Osteopathische Medizin
 WEITERE THERAPIEMETHODEN

Wie ein Osteopath
die Rolfingmethode sieht
Jocelyn Proby*                                                  klebt haben, oder durch Degeneration, Überspannung
                                                                oder Unterspannung charakterisierbar sind, beseitigt
Man hat mich gebeten, einen Artikel zum Thema, wie              oder soweit als möglich korrigiert werden. Niemand,
ein Osteopath die Rolf-Methode sieht, zu schreiben. Ich         der Ida Rolf hat arbeiten sehen, kann bezweifeln, dass
bin bereit diesen Versuch zu unternehmen und mög-               ihre Technik hocheffektiv im Erreichen der genannten
licherweise bin ich dafür besser qualifiziert, als manch        Ziele ist, dass sie erstaunlich schnell zum Ziel gelangt
anderer, weil ich nun schon um die vierzig Jahre Osteo-         und das in einer Art und Weise, deren Wirkung sofort
path bin und immer ein Anhänger von Dr. Rolf war,               einsetzt, spektakulär ist und essentiell dauerhafte
seit ich sie getroffen habe und seit ich vor etwa acht          Ergebnisse liefert.
oder neun Jahren angefangen habe, einige ihrer Ideen            …
und Methoden zu erlernen.                                       Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich diese
…                                                               Technik nun mehr als jede andere verwende, und ich
Die Arbeit, die Dr. Rolf mit den Geweben des Körpers            erreiche damit Ergebnisse, die sich schneller einstellen,
leistet, ist, nach meinem Kenntnisstand, von einzig-            stabiler und dauerhafter sind, wie alles, was ich vorher
artiger Qualität. Diese Arbeit unterscheidet sich grund-        erreichen konnte oder nur hoffen konnte zu erreichen.
legend von der verbreiteten Form der osteopathischen            Ich will damit allerdings nicht sagen, dass ich diese
Manipulation. Und sie unterscheidet sich ebenso                 Technik ausschließlich verwende, weil ich meine, dass
davon, wie Massage oder Physiotherapie praktiziert              jede noch so gute Technik nicht in sich selbst endet, und
und verstanden werden.                                          dass sie nicht immer der einzige und beste Weg zum
…                                                               Erreichen eines gewünschten Resultats ist.
Das Ziel des Rolfings ist zunächst, die Faszien besser zu
                                                                Zitate aus dem erstmals im Bulletin of Structural Integration
"organisieren", die Faszien, die den ganzen Körper und
                                                                III (1): 25–32, 1971 veröffentlichten Artikel "How an osteopath
die Muskelstrukturen mehr oder weniger umhüllen. In
                                                                sees the Rolf Method". Er findet sich in voller Länge auf
zweiter Linie geht es darum, die Muskeln und Sehnen             Robert Schleips web-site www.somatics.de
zu behandeln, vor allem im Bereich der Ursprünge und
Ansätze. Das Geheimnis der Aufrechterhaltung oder               Zusammenstellung und Übersetzung aus dem Englischen:
Wiederherstellung von guter Haltung und Mechanik                Peter Schwind, München.
ist, dass die entscheidenden Strukturen frei sein sollten,
dass sie Elastizität aufweisen, dass sie in jenem Gleich-
gewichtszustand sein sollen, der zwischen den beiden            * Jocelyn Proby, D.O., ist seit mehr als einem halben Jahrhundert
Körperhälften genauso wie zwischen Beugern und                    als Osteopath tätig. Lange bevor Ida Rolf ihr eigenes Institut in
                                                                  den USA gründete, bildete sie in England eine Gruppe von
Streckern bestehen soll. Das Ziel der Behandlung ist              Osteopathen in ihrer Technik der Strukturellen Integration aus,
auch, dass fibrotische Schichten, Gewebe, die sich ver-           zu denen er gehörte.

 32                        6. Jahrg., Heft 1/20054, S. 24-32, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.osteopathische-medizin.de
Sie können auch lesen