Steuerveranlagung unter dem Zwang steuerlicher Mehrergebnisse - NET

Die Seite wird erstellt Dastin Stoll
 
WEITER LESEN
Steuerveranlagung unter dem Zwang
steuerlicher Mehrergebnisse
Erfahrungen eines Steuerzahlers

         Steuerhinterziehung wird als Betrug geahndet, Staatsanwalt und Fi­
         nanzgerichte folgen zusammen mit der Finanzverwaltung hierbei kla­
         ren steuer- und strafrechtlichen Vorgaben. Was aber ist mit den Fehl­
         handlungen – oder sind es bereits Vergehen – der Steuerbehörde ge­
         genüber ihren Steuerzahlern? Die Fachliteratur berichtete schon vor
         Jahren über vielfältige Verstöße: Derogation und Nichtanwendungs­
         erlasse1, Eingriffsverwaltung2, Vertragsbrüche3 – euphemistisch als
         Treaty Overrides bezeichnet –, Fehlinformation, Widersprüche und
         Trugschlüsse4. Die Fokussierung der Finanzverwaltung auf Steuer­
         hinterziehung, der ständige Umgang mit »Selbstanzeigern« und die
         Verwendung gestohlener Bankdaten beeinflussen doch nicht nur das
         Steueraufkommen, sondern wirken auch auf Rechtsempfinden und
         Lauterkeit in der Behörde ein. Die Methode »kreativer Steuerver­
         längerung« durch die Hessische Finanzverwaltung wird in ihren Aus­
         wirkungen beschrieben.

         Einführung
             Die Strafgesetze wurden 1871 zum Reichsstrafgesetzbuch zusam­
         mengefasst. Damals gehörten klassische Bildung, Latein und römi­
         sches Recht zum juristischen Rüstzeug. Man wusste noch, dass in
         den römischen Provinzen, wie etwa Judaea, finanzstarke Personen
         »mit der errechneten Steuerabgabe in Vorleistung gingen«, um dann
         als Pächter in ihren Steuerbezirken zum eigenen Vorteil überhöhte

50       Wulf Dahlke                                             myops 44 / 2022
Abgaben einzutreiben.5 Im Neuen Testament (z. B. Luk 19,1-10) wer­
den die Steuereinnehmer als Zöllner bezeichnet, ihre Nähe zu den
heidnischen Römern machte sie in jüdischen Augen »unrein« und
darüber hinaus durch die Übervorteilung der Steuerzahler zu Sün­
dern schlechthin. Die Ausnutzung der Steuerpflicht zum persönlichen
Vorteil des Zöllners folgte aus dem Erhebungssystem und menschli­
chem Gewinnstreben. Heute sind hingegen »Steuermehrergebnisse«
zur Deckung des ständig steigenden Finanzbedarfs der öffentlichen
Hand staatliches Ziel. Es wird, gesetzlich privilegiert und systema­
tisch institutionalisiert, zweckbestimmt und eventuell auch außer­
halb als hinderlich empfundener Vorschriften verfolgt. Der ständig
wachsende Finanzbedarf des Staates erfordert – zumal bei Verzicht
auf Steuererhöhungen – die Erschließung alternativer Quellen.
    Besonderer Handlungsbedarf ergab sich in Hessen, nachdem wich­
tige Einnahmequellen weggebrochen waren. Das Land hatte seiner
Steuerfahndung die Flügel gestutzt, wie Wehrheim und Gösele in ei­
nem Buch darlegen.6 Eine 2001 nur für den Dienstgebrauch erlassene
Amtsverfügung schränkte demnach die Ermittlungen der Frankfurter
Steuerfahnder in Banken bei Kapitaltransfers stark ein. Die illega-
len Parteispendenpraktiken der 1980er Jahre, von den Banken – vor
allem der Commerzbank – vermittelte Geldtransfers in Steueroasen
und Fahndungen nach Ankauf sogenannter »Steuersünder-CDs«, er­
innerten die Autoren »an die politischen Strukturen einer Bananen­
republik«. Sie zeigen, wie sich mit dem Wechsel von Opposition
zu Regierungsverantwortung die Interessenlage der Parteien ändert,
ohne Verzicht auf persönliche und parteipolitische Vorteilsnahme. In
Bedrängnis geraten, aber gestützt auf Mehrheiten, ändern sie selbst
unbequem gewordene Gesetze. Die Autoren fragen, »was die Macht
aus Menschen gemacht hat«.
    Die Finanzkrise von 2008 wurde zwar überwunden, hinterließ je­
doch enorme Schulden. Zu ihrer langfristigen Zinssicherung haben
sich damals mehrere Bundesländer einer Strategie mit sogenannten
Forward-Payer-Swaps verschrieben. Abgeschlossen im Jahre 2011,
starteten sie in Hessen 2017 mit einer Laufzeit von 40 Jahren. Trotz
anhaltend negativer Zinsen ist das Land den Gläubigern mit dem ver­
einbarten positiven Zinssatz verpflichtet. Nicht nur Mutmaßungen
sprechen von riskanten finanziellen Spekulationen, sondern selbst
der Hessische Rechnungshof empfahl bereits in seinem 67. Schulden­
bericht (Prüfung der Schulden im Haushaltsjahr 2017), auf den Ein­
satz von Derivaten zu verzichten.7

myops 44 / 2022                                      Fiskalisierung    51
Die erheblichen, dem Lande Hessen entgehenden Einnahmen
     werden allerdings durch den Länderfinanzausgleich abgefedert.

     Sachverhalt
         2012 aus Niedersachsen nach Wiesbaden zugezogen, wurde die
     Einkommensteuererklärung für das Vorjahr mit wenigen Tagen Ver­
     spätung im Finanzamt Wiesbaden persönlich abgegeben. Vier Mo­
     nate später traf als erste Mitteilung des Finanzamtes Wiesbaden eine
     Mahnung über vorauszuzahlende Steuern zuzüglich einer Mahnungs­
     gebühr ein, alles zugunsten einer unbekannten Steuernummer. Auf
     Nachfrage hieß es, die Datenübernahme zwischen einzelnen Bundes­
     ländern habe durch unterschiedliche Systeme ihre Tücken, doch:
     »Normalerweise ergeht eine Zahlungserinnerung vor dem Mahnungs­
     bescheid, normalerweise werden Lastschrift-Ermächtigungen über­
     nommen, normalerweise wird die Steuernummer schriftlich mitge­
     teilt.« Zum Ausdruck der zugeteilten Steuernummer bedurfte es
     einer ausdrücklichen Bitte. Die Mahnung konnte erst nach Beglei­
     chung der Gebühr storniert werden. Das Datenverarbeitungssystem
     der Hessischen Steuerverwaltung verwehrte wohl eine Korrektur und
     führte nun den Steuerzahler als säumigen Steuersünder. Neun Jahre
     später wurde allerdings eine neue Steuernummer zugeteilt, aus nicht
     weiter erläuterten »organisatorischen Gründen«.
         Nach weiteren vier Wochen schickte das Finanzamt eine Erin­
     nerung an die noch ausstehende Steuererklärung 2010, obwohl der
     Bescheid schon vor über einem Jahr ergangen war und die entspre­
     chenden Daten des Niedersächsischen Finanzamtes nachweislich im
     System der Hessischen Steuerbehörde abgespeichert waren. Die aus­
     drücklichen Hinweise auf »Verspätungszuschlag« und »Auferlegung
     eines Zwangsgeldes« machten ebenso betroffen wie zuvor die Mah­
     nung mit der Androhung von Vollstreckungsmaßnahmen nach nur
     einwöchiger Frist.
         Aber damit noch nicht genug. Der Einkommensteuerbescheid für
     2011 lehnte wenige Wochen später den Sonderausgabenabzug von
     »Ausgleichszahlungen im Rahmen des schuldrechtlichen Versorgungs­
     ausgleichs« an die in den USA lebende geschiedene Ehefrau ab. Fehl­
     informationen, unstatthafte, aus dem Internet ohne Quellenangabe
     übernommene Angaben zu US-amerikanischem Steuerrecht und in
     dem »Hessischen Zirkelschluss« gipfelnde Trugschlüsse wollten die
     Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens mit den USA (DBA-
     USA) ausschließen.8

52   Wulf Dahlke                                            myops 44 / 2022
Die Bitten um Rechtssicherheit und die Fragen zu den Beweg­
gründen für das dem Steuerzahler entgegengebrachte Verhalten über­
gingen örtliches Finanzamt und Amtsleitung mit Stillschweigen. Die
um Klärung im Rahmen ihrer Dienst- und Fachaufsicht gebetene
Oberfinanzdirektion in Frankfurt am Main (OFD) relativierte ihre
diesbezügliche Funktion, bestätigte materiell-rechtlich das Wiesba­
dener Vorgehen, erwähnte das DBA-USA – trotz der Akteneinsicht –
mit keinem Wort und bemängelte schließlich aus verfahrensrecht­
licher Sicht, dass nur ein Teilabhilfebescheid ergangen sei, wo eine
Einspruchsentscheidung oder Rücknahme des Einspruchs erforder­
lich waren.
    Der hinzugezogene Fachanwalt für Steuerrecht beeindruckte die
Finanzbehörde nur wenig. Ihre Herangehensweise, stets neue Verwal­
tungsakte zu erlassen, denen der Steuerzahler widersprechen konnte,
wenn er denn das erforderliche, bislang dort aber fehlende Fachwis­
sen beisteuerte, änderte sich nicht. Es folgten immer neue dieser
gewissermaßen »probatorischen« Verwaltungsakte, welche mit aus­
ufernden Rechtsbezügen, Fehlinformationen, bewusster Verwendung
unlogischer Argumente den Steuerzahler offensichtlich hinhalten
und zur Aufgabe zwingen sollten. Jeder Verwaltungsakt wurde zwar
entsprechend § 121 Abgabenordnung (AO) begründet, nicht aber hin­
sichtlich des vorausgegangenen und vom Steuerzahler mittels Ein­
spruchs zurückgewiesenen gerechtfertigt. Die AO in Verbindung
mit den entsprechenden Abschnitten des Anwendungserlasses zu
ihr (AEAO) gehen von einer sachkundigen und korrekten Beratung
des Steuerzahlers durch das Finanzamt aus – aber keineswegs vom
Umgekehrten – und von Prüfung und Fürsorge zugunsten des Steu­
erpflichtigen.9 Die Rechtsprechung setzt voraus, dass die Finanzver­
waltungen fachkundig sind oder sich die notwendigen Sachkennt­
nisse aneignen, bevor sie »vollstreckbare Titel schaffen«.10 Doch das
Wiesbadener Finanzamt ging nach der Devise vor, ist es nicht diese
Vorschrift, dann trifft bestimmt irgendeine andere aus dem uner­
schöpflichen Vorrat des Steuerrechts zu. Die Behörde setzte dem
Steuerzahler jeweils eine 30-tägige Beantwortungsfrist, ohne sich
selbst daran zu halten, blieb allerdings in der ihr zugestandenen Frist
nach § 46 Untätigkeitsklage Finanzgerichtsordnung.
    Mit den Verwaltungsakten wurden Abhilfe- oder Änderungs­
bescheide umgangen. Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren
zog sich ergebnislos in die Länge, eine Einspruchsentscheidung nach
§ 367 (1) Satz 1 AO unterblieb. Eine Klage vor dem Finanzgericht

myops 44 / 2022                                         Fiskalisierung    53
(§ 40 FGO) war dem Steuerzahler somit trotz des in der Verfassung
     gewährten Anspruches auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs.1 GG)
     nicht möglich.
         Der als Steuersünder desavouierte Steuerzahler stieß beim Ein­
     holen von Rat und Hilfe Dritter auf entsprechende Vorbehalte, denn
     semper aliquid haeret.11 Die Staatsanwaltschaft, mit einer Anzeige
     um Prüfung auf strafrechtliche Relevanz gebeten, lehnte die Einlei­
     tung eines Ermittlungsverfahrens ab. Sie sah keine »konkreten An­
     haltspunkte auf das Vorliegen einer Straftat« und verwies auf die
     Zuständigkeit der Finanzgerichte, obwohl der Steuerzahler die Un­
     möglichkeit ihrer Anrufung dargelegt hatte. Der »Hessische Zirkel­
     schluss« lasse keine »absichtliche Schädigung« erkennen, zumal die
     OFD diesem ebenfalls »erlegen« sei. Ein Anfangsverdacht nach § 263
     Betrug StGB bestehe nicht, auch könne »ein Finanzbeamter nicht
     tauglicher Täter einer Rechtsbeugung nach § 339 StGB sein (Fischer,
     StGB, 61. Auflage, mit zahlreichen weiteren Nachweisen12)«, obwohl
     der Steuerzahler zu bedenken gab, dass sehr wohl »sein kann, was
     nicht sein darf«. Zur Redlichkeit der Finanzverwaltung, denn »Sinn
     und Zweck der §§ 331 – 339 StGB ist es, die Lauterkeit der Amtsaus­
     übung und das öffentliche Vertrauen in diese zu schützen«,13 äußerte
     sich die Staatsanwaltschaft nicht.
         Eingeschüchtert durch die angedrohten Zwangsmaßnahmen, er­
     schöpft von wiederholten Fehlinformationen in den Verwaltungs­
     akten mit immer neuen Hürden, verunsichert und verhöhnt durch
     das Beharren auf Trugschlüssen, wollte er – an seinem Verstand zwei­
     felnd – nach Jahren ergebnisloser Auseinandersetzungen resignieren,
     wurde depressiv und des Lebens überdrüssig. Die Hilflosigkeit und
     erschreckende Ohnmacht vor in undurchschaubarer Weise angewen­
     deten Gesetzen, Gesetzen, denen sich der juristische Laie schon von
     Natur aus nur mit ehrfürchtiger Scheu zögernd zu nahen wagt und
     deren Macht ausstrahlende Undurchdringlichkeit und Allgegenwart
     ihn sich auch ohne Vergehen schuldig fühlen und bereitwillig Strafe
     annehmen lassen, hat Franz Kafka eingehend beschrieben.14 Alles
     durch den nicht nachvollziehbaren Umgang der Finanzverwaltung
     mit der chaotischen Vielfalt deutscher Steuergesetze und Vorschrif­
     ten in seiner Auswirkung noch potenziert.
         In dieser kafkaesken Situation wuchs die Empörung über un­
     begreifliche Ausweglosigkeit und Behördenwillkür zunehmend und
     beflügelte schließlich, nach neuen Wegen in der steuerlichen Ausein­
     andersetzung zu suchen. Damals ermunterte der greise Stéphane

54   Wulf Dahlke                                            myops 44 / 2022
Hessel (1917 – 2013) mit seinem Buch »Empört Euch!«, der Ungerech­
tigkeit mit Zorn zu begegnen.15
    Nach eingehender Beschäftigung mit dem DBA-USA anhand der
einschlägigen Kommentare wurde – im Vertrauen auf Rechtsstaat­
lichkeit – das Vorgehen der Finanzverwaltung der Fachöffentlichkeit
unterbreitet und bei dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) direkt
die Einleitung eines Verständigungsverfahrens nach Art. 25 DBA-USA
beantragt.16 Es führte nach jahrelangem Gezerre 2018 zum Erfolg.
Die US-amerikanische Finanzverwaltung (IRS) sah allerdings die Vor­
aussetzungen für ein Verständigungsverfahren nicht gegeben. Trug­
schluss und Fehlinformation müssen doch zu einer Korrektur in der
Hessischen Finanzverwaltung veranlassen, eventuell muss die norm­
gerechte Veranlagung über deutsche innerstaatliche Maßnahmen er­
zwungen werden. Für ein entsprechendes Abhilfeverfahren17 stellte
der IRS im Rahmen der Amtshilfe die notwendigen Informationen
zur Verfügung. Die Verhandlungen zwischen Bundes- und Landesbe­
hörde, BZSt und OFD, waren anscheinend mühselig, ohne dass der
Steuerzahler die Einzelheiten erfuhr. Das BZSt folgte mit nüchter­
nem Sachverstand dem BMF-Schreiben vom 13. Juli 200618 und be­
richtete bei Bedarf über den Sachstand. Einblick in den amtlichen
Schriftwechsel erhielt der Steuerzahler nicht, die OFD verhielt sich
dem Steuerzahler gegenüber völlig schweigsam. Das BZSt verhan­
delte schließlich direkt mit dem Hessischen Finanzministerium und
unterrichtete abschließend den Steuerzahler.
    Tatsächlich erfolgte 2018 eine Korrektur der Steuerbescheide
2012 – 2016 nach Nr. 15 des Protokolls zu Art. 18 Abs. 3 DBA-USA in
Verbindung mit § 10 Abs. 1a Nr. 4 EStG (§ 10 Abs. 1 Nr. 1b EStG a.F.)
mit Erstattung der entsprechenden abzugsfähigen Ausgleichszahlun­
gen. Im Januar 2020 entsprach schließlich die Oberfinanzdirektion
auf Vermittlung des Finanzamtes Wiesbaden dem Antrag auf Ersatz
der Rechtsanwaltsgebühren im Wege der Amtshaftung, ohne dass
erneut ein Anwalt bemüht werden musste. Fragen nach den Beweg­
gründen für die jahrelange Bedrückung wurden allerdings wiederum
mit Stillschweigen übergangen. Immerhin gab es eine Entschuldi­
gung für das »Missverständnis«, und die »fehlerhafte Beurteilung«
wurde bedauert, sie entspreche nicht den Bearbeitungsgrundsätzen
des Hauses. Und doch hat die OFD jene mit der bewussten Unter­
schlagung des DBA-USA gedeckt, Einreden ignoriert, sich nicht spon­
tan korrigiert, sondern sich erst Jahre später den von der BZSt ein­
geleiteten deutschen innerstaatlichen Abhilfemaßnahmen gefügt.

myops 44 / 2022                                       Fiskalisierung    55
Ein Auskunftsantrag nach der Datenschutz-Grundverordnung in der
     Steuerverwaltung führte zur Zusendung umfangreicher Unterlagen,
     die trotz der Präzisierung der Fragestellung auf die Beweggründe der
     Behörde keinen diesbezüglichen Hinweis enthielten. Was steht ihrer
     Darlegung entgegen?

     Ende März 2020 wurde in den Medien vom unerwarteten Tod des
     Hessischen Finanzministers berichtet. Dem Verzweifeln an den aus
     der Coronapandemie folgenden Schulden als auslösender Ursache
     wurde jedoch mit der Mahnung widersprochen, »dem Politiker und
     Amtsträger […] gerecht zu werden« und nicht seine Fähigkeit zur
     Bewältigung der Corona-Krise anzuzweifeln.19 Schließlich hatte der
     Hessische Landtag nur wenige Tage zuvor seinen milliardenschweren
     Corona-Nachtragshaushalt einstimmig gebilligt,20 während das Co­
     rona-Sondervermögen seines Nachfolgers nur von der Regierungs­
     mehrheit getragen und vom Staatsgerichtshof Hessen gut ein Jahr
     später (Urteil vom 27.10.2021 – P.St. 2783, P.St. 2827) als verfassungs­
     widrig eingestuft wurde. Mitte April 2020 bestürzte eine weitere Nach­
     richt, im Finanzministerium sei ein ranghoher Beamter (Justiziar)
     unvermittelt verstorben.21 Nietzsches Zarathustra lehrt: »Manchem
     mißrät das Leben: ein Giftwurm frißt sich ihm ans Herz. [… Doch] in
     eurem Sterben soll noch euer Geist und eure Tugend glühn, gleich
     einem Abendrot um die Erde«.22
         Karlheinz Weimar (geb. 1950) war von 1999 bis 2010 Finanz­
     minister in der CDU/FDP-Regierung Roland Kochs (geb. 1958), je­
     nem folgte Dr. Thomas Schäfer (1966 – 2020, 1998/99 Syndikus bei
     der Commerzbank AG in Frankfurt am Main, seit 1999 für und in der
     Hessischen Landesregierung tätig) in einem Kabinett von CDU und
     Bündnis 90/Die Grünen unter Volker Bouffier (geb. 1951). Die ge­
     nannten Ministerpräsidenten und ihre Finanzminister gehörten der
     CDU an und waren ausnahmslos Rechtsanwälte.

     Die Methode
         Es wurde vom Steuerzahler und nicht in der Ichform berichtet,
     denn »hinter ihm, in wesenlosem Scheine, lag, was uns alle bändigt,
     das Gemeine«.23 Hinter dem subjektiv leidvoll erlebten Ablauf, dem
     Festhalten an Trugschlüssen und beharrlichen Stillschweigen über
     die Beweggründe zeichnet sich ein allgemeines Konzept exzessiver
     Besteuerung höherer Einkünfte ab. Der unglaubliche Arbeitsaufwand
     der Behörde wäre für nur einen Steuerzahler auch kaum vertretbar.

56   Wulf Dahlke                                               myops 44 / 2022
Der Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) spricht neben »gleichmäßi­
ger und gesetzmäßiger Festsetzung von Steuern« auch die Zweck­
mäßigkeit von Maßnahmen und die »Wirtschaftlichkeit der Verwal­
tung« an. Es handelte sich also nicht um Willkür auf der Ebene der
Steuersachbearbeiterinnen, sie wurden vielmehr mittels interner Ver­
fügungen angewiesen, höhere Einkünfte zur Mehrung der Steuer­
einnahmen möglichst hoch abzuschöpfen. Diese internen Verfügun­
gen und Erlasse der übergeordneten Behörden oder eigene vertrau­
liche Amtsverfügungen des örtlichen Finanzamtes enthalten dem
Steuerzahler nicht zugängliche, seine Rechte eventuell schmälernde
Weisungen, die nach § 88 AO nicht veröffentlicht werden dürfen und
nach § 32c AO nicht von seinem Auskunftsrecht erfasst werden. Wie
die in der Fachliteratur beklagten Treaty Overrides, Derogationen,
Missachtung von Vorschriften und Gerichtsurteilen, Verwendung lo­
gischer Fehlschlüsse bewegt sich die Finanzverwaltung am Rande der
Legalität, nämlich in einer ihn begleitenden Grauzone, noch inner-
und bereits etwas außerhalb der Gesetzmäßigkeit. Mit juristischem
Sachverstand wird der gesetzlich gewährte Spielraum nach einseitiger
Ausdeutung der Vorschriften und mit dem Ziel von Steuermehr­
ergebnissen ausgedehnt, die Spuren verlieren sich schemenhaft in
der genannten Grauzone. So befreit sich die Finanzverwaltung zu­
nehmend aus der Enge ihres gesetzlichen Korsetts, zumal sich das
Steuerrecht »immer mehr von klaren, widerspruchsfreien und prak­
tisch rechtssicher zu handhabenden Regelungen verabschiedet«, mit
der Folge von Rechtsunsicherheit und für alle Beteiligten unnötigen
Rechtsverfolgungskosten.24 Das Steuerrecht geht von einem even­
tuellen Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten (§ 42 AO)
durch den Steuerpflichtigen aus, nie aber von einer gezielten Steuer­
verlängerung – als Gegenstück zu der wohlbekannten Steuerverkür­
zung – durch die Finanzverwaltung, diese Möglichkeit zieht es nicht
einmal in Betracht.
    Es erschließt sich eine mit viel Menschenkenntnis erstellte und
juristischer Durchdringung konzipierte Methode aufeinanderfolgen­
der Stufen, die zu dem angestrebten, im Steuerrecht nicht genann­
ten, doch dort keineswegs untersagten Steuermehrergebnis führen
soll:
–		Um Personen mit höheren Einkünften und damit anzunehmen­
    der hoher, noch vermehrungsfähiger Steuerschuld entsprechend
    gewissenhaft veranlagen zu können, werden sie im Datenverar­
    beitungssystem markiert.

myops 44 / 2022                                       Fiskalisierung    57
–		Durch Mahnungen mit eventuellen unbilligen Fristverkürzungen,
        Fehl- oder ungenügenden Informationen, Androhung nicht ge­
        rechtfertigter Zwangsmaßnahmen stellt die Behörde das Verhält­
        nis zu diesen Steuerzahlern als Gegnerschaft klar und umgibt es
        gleichzeitig mit Rechtsunsicherheit. Ziel sind Einschüchterung
        und Verunsicherung des Steuerzahlers, bis er sich selbst und an­
        deren als Steuersünder erscheint, den man besser meidet oder der
        schließlich ermattet resigniert, überleben wird er das Finanzamt
        ohnehin nicht.
     –		Das Rechtsbehelfsverfahren wird mit sich nach der Kehrseiten­
        theorie ablösenden, immer neuen Verwaltungsakten, von Fall zu
        Fall mit ausufernden Rechtsbezügen, Fehlinformationen, bewuss­
        ter Verwendung unlogischer Argumente, allfälligen Verknüpfun­
        gen nach einem zirkelschlüssigen Korrespondenzprinzip, in die
        Länge gezogen.
     –		§ 130 AO Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts wird
        vermieden. Zugunsten des Steuerzahlers lautende Bestimmungen
        werden eventuell unterdrückt, eigenwillig ausgelegt oder gar in
        ihr Gegenteil verkehrt. § 88 AO Untersuchungsgrundsatz und sein
        Anwendungserlass bieten zum Beispiel korrespondierende An­
        sätze. Subsumtionsketten, geschickt zusammengesetzt, eventuell
        mit eingefügten, verschleiernden, unvollständigen oder Fehlinfor­
        mationen und logischen Fehlern, führen zur Problemkonfusion
        und verwehren sich in ihrer Verschachtelung einer Lösung.
     –		Eine Einspruchsentscheidung unterbleibt, und somit ist der Zu­
        gang zum Finanzgericht verwehrt; Rechtsweggarantie und Justiz­
        gewährungsanspruch (Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 2 Abs. 3 Hess. Ver­
        fassung) werden unterlaufen.

     Schlussfolgerung
         Die vielfältigen Erfahrungen mit Selbstanzeigern und ihren Steuer­
     vergehen beeinflussen wohl auch das Rechtsempfinden bei der Be­
     hörde, so dass man den unbescholtenen Steuerzahlern ebenfalls ent­
     sprechendes Handeln nachweisen möchte, natürlich für den löbli­
     chen Zweck von Steuermehreinnahmen. Hat man ein Opfer erst
     ausgeguckt, lässt man nicht locker, ein Vergehen wird sich schon
     finden, ganz im Sinne der Knarrpanti-Episode im Meister Floh des
     Berliner Kammergerichtsrates E.T.A. Hoffmann aus dem Jahre 1822;
     gemeint ist der preußische Polizeidirektor v. Kamptz, berüchtigt we­
     gen seiner Demagogenriecherei, dem als Geheimer Hofrat Knarrpanti

58   Wulf Dahlke                                              myops 44 / 2022
ein Tatbestand überflüssig scheint, denn, »sei erst der Verbrecher
    ausgemittelt, sich das begangene Verbrechen von selbst finde«, ein
    fähiger Richter werde schon »dies und das hineinzuinquirieren« wis­
    sen.25 Die düpierten Steuerzahler fühlen sich angesichts der ihnen
    unterstellten Vergehen der Behördenwillkür und der offensichtlichen
    »Fiskalisierung von Recht und Gesetz« schutzlos und ohne Zugang
    zum Finanzgericht ausgeliefert. Das Konzept erscheint nur im wört­
    lichen Sinne ungesetzlich, schließlich ist es im Steuerrecht und nicht
    nur in seiner Grauzone vielfach verankert, ohne allerdings als solches
    genannt zu sein und nur als Schemen sichtbar. Im 2017 erschienenen
    Faktenblatt der Hessischen Finanzverwaltung heißt es: »Unser Motto
    lautet Gegen Betrüger. Gegen Trickser. Einfach gerecht. Dem fühlen wir
    uns verpflichtet. Hessen führt den Kampf gegen Steuerkriminalität
    und für mehr Steuergerechtigkeit offensiv und von vorne: mit erst­
    klassigem und wachsendem Personal, mit guter Ausstattung.«26 Wie
    ist das zu verstehen?
        Ihre Datenverarbeitungssysteme und der Einsatz künstlicher In­
    telligenz27 sind von den verwendeten Algorithmen und den einge­
    gebenen Daten abhängig. Da Algorithmen viel mit magischen Illu­
    sionen gemeinsam haben, empfiehlt es sich, den logischen Ablauf zu
    überprüfen, denn sie und maschinelle Verfahren empfinden keine
    Verantwortung für ihr Tun und womöglich sind nicht alle Probleme
    in mathematische Formeln zu fassen.28 Die Mathematikerin Fry weist
    außerdem darauf hin, dass eingebaute Vorurteile zu Verzerrungen
    führen können und die mehr oder weniger unsichere statistische
    Basis entsprechende, systematische Fehler bedingt. Abläufe und Ver­
    fahren müssen – ganz allgemein – nach Qualitätsstandards überprüft
    und eventuell korrigiert werden. In einem Rechtsstaat kann und
    muss man unredlichen Verfügungen und Maßnahmen wehren.

                                                                    Wulf Dahlke

    Anmerkungen
1   Kramer, IStR 2015, 669 – 671; Haase, IStR 2015, 313 – 318.
2   Beusch und Raas, IStR 2015, 575 – 579.
3   Gosch, IStR 2014, 698 – 704; Jochimsen und Gradl, IStR 2015, 236 – 242.
4   Dahlke, IStR 2015, 823 – 827.
5   Ingemar König, Der römische Staat. Ein Handbuch, Stuttgart 2007, S. 94.
6   Wehrheim und Gösele, Inside Steuerfahndung. Ein Steuerfahnder verrät erstmals die
    Methoden und Geheimnisse der Behörde, München 2020, 1. Auflage 2011.

    myops 44 / 2022                                                 Fiskalisierung      59
7 http://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/3/01113.pdf, am 22.4.2020.
      8 Dahlke IStR 2015, 823 – 827.
      9 § 85 Besteuerungsgrundsätze AO, § 88 Untersuchungsgrundsatz AO, § 89 Beratung,
        Auskunft AO / Abschnitte 73, 76 und 77 Anwendungserlass zur Abgabenordnung
        (AEAO).
     10 OLG Koblenz am 17.7.2002 – 1 U 1588/01, BeckRS 2002, 30273256.
     11 Die alte Weisheit: »Audacter calumniare, semper aliquid haeret / Verleumde dreist,
        es bleibt immer etwas hängen« soll auf Plutarch zurückgehen.
     12 gemeint ist: Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, C.H. Beck München 2014,
        S. 2494/§ 339 8b/C.
     13 Zenke, Schäfer, Brocke, Risikomanagement, Organisation, Compliance für Unterneh­
        mer, E-Book, DeGruyter 2015, S. 522, Rz 5. Ähnlich BGH vom 12. Juli 2000, Az. 2
        StR43/00.
     14 Franz Kafka, Romane und Erzählungen, Köln 1996, S. 431 – 707 Der Prozess, darin
        enthalten, S. 689 – 691, die von dem Gefängniskaplan erzählte Episode ›Vor dem Ge­
        setz‹.
     15 Stéphane Hessel, Indignez-vous!, Montpellier 2013, S. 1 – 32.
     16 Eimermann in Wassermeyer, DBA, 7. EL Mai 2009, Art. 25 DBA-USA; Oestreicher in
        Endres / Jacob / Gohr / Klein, DBA Deutschland / USA, München 2009, Art. 25.
     17 Oestreicher in Endres / Jacob / Gohr / Klein, DBA Deutschland / USA, München 2009,
        Art. 25 Rz. 23, S. 520.
     18 Bundesministerium der Finanzen, Merkblatt zum internationalen Verständigungs-
        und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Ver­
        mögen, GZ: IV B 6 – S 1300 – 340/06, Berlin 13. Juli 2006.
     19 FAZ.NET vom 2.4.2020, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/zum-tod-thomas-
        schaefers-von-den-sorgen-erdrueckt-16708665.html, am 3.4.2020.
     20 Frankfurter Rundschau vom 26.3.2021, Thomas Schäfer fehlt | Landespolitik (fr.de),
        am 29.10. 2021.
     21 https://www.merkur.de/politik/hessen-finanzministerium-selbstmord-suizid-thomas-
        schaefer-tod-abschiedsbrief-coronavirus-todesursache-nachfolger-bouffier-zr-13631
        954.html, am 22.4.2020.
     22 Friedrich Nietzsche, Vom freien Tode, in: Also sprach Zarathustra.
     23 Goethe, Epilog zu Schillers »Glocke«.
     24 Haase, IStR 2015, 313 – 318.
     25 E.T.A. Hoffmann, Hoffmanns Werke in drei Bänden, Berlin und Weimar 1976, Bd. 2,
        S. 211.
     26 Hess. Ministerium der Finanzen, Faktenblatt – Was wir für Steuergerechtigkeit und
        ausgeglichene Haushalte in Hessen tun – und manches mehr …, Dez. 2017, S. 7, 8;
        https://finanzen.hessen.de/sites/default/files/media/hmdf/bilanz_koa._faktenblatt._
        was_wir_fuer_steuergerechtigkeit_und_ausgeglichene_haushalte_in_hessen_tun.
        pdf, am 28.9.2021.
     27 https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/hessisches-finanzamt-setzt-kuenstliche-intel
        ligenz-zur-steuerfahndung-ein-15931459.html, am 9.1.2020.
     28 Hannah Fry, Hello World, Was Algorithmen können und wie sie unser Leben verän­
        dern, C.H.Beck, München 2019, S. 31 ff.

60      Wulf Dahlke                                                        myops 44 / 2022
myops 44 / 2022   Der Schalk im Nacken   61
Sie können auch lesen