Steuerveranlagung unter dem Zwang steuerlicher Mehrergebnisse - NET
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Steuerveranlagung unter dem Zwang steuerlicher Mehrergebnisse Erfahrungen eines Steuerzahlers Steuerhinterziehung wird als Betrug geahndet, Staatsanwalt und Fi nanzgerichte folgen zusammen mit der Finanzverwaltung hierbei kla ren steuer- und strafrechtlichen Vorgaben. Was aber ist mit den Fehl handlungen – oder sind es bereits Vergehen – der Steuerbehörde ge genüber ihren Steuerzahlern? Die Fachliteratur berichtete schon vor Jahren über vielfältige Verstöße: Derogation und Nichtanwendungs erlasse1, Eingriffsverwaltung2, Vertragsbrüche3 – euphemistisch als Treaty Overrides bezeichnet –, Fehlinformation, Widersprüche und Trugschlüsse4. Die Fokussierung der Finanzverwaltung auf Steuer hinterziehung, der ständige Umgang mit »Selbstanzeigern« und die Verwendung gestohlener Bankdaten beeinflussen doch nicht nur das Steueraufkommen, sondern wirken auch auf Rechtsempfinden und Lauterkeit in der Behörde ein. Die Methode »kreativer Steuerver längerung« durch die Hessische Finanzverwaltung wird in ihren Aus wirkungen beschrieben. Einführung Die Strafgesetze wurden 1871 zum Reichsstrafgesetzbuch zusam mengefasst. Damals gehörten klassische Bildung, Latein und römi sches Recht zum juristischen Rüstzeug. Man wusste noch, dass in den römischen Provinzen, wie etwa Judaea, finanzstarke Personen »mit der errechneten Steuerabgabe in Vorleistung gingen«, um dann als Pächter in ihren Steuerbezirken zum eigenen Vorteil überhöhte 50 Wulf Dahlke myops 44 / 2022
Abgaben einzutreiben.5 Im Neuen Testament (z. B. Luk 19,1-10) wer den die Steuereinnehmer als Zöllner bezeichnet, ihre Nähe zu den heidnischen Römern machte sie in jüdischen Augen »unrein« und darüber hinaus durch die Übervorteilung der Steuerzahler zu Sün dern schlechthin. Die Ausnutzung der Steuerpflicht zum persönlichen Vorteil des Zöllners folgte aus dem Erhebungssystem und menschli chem Gewinnstreben. Heute sind hingegen »Steuermehrergebnisse« zur Deckung des ständig steigenden Finanzbedarfs der öffentlichen Hand staatliches Ziel. Es wird, gesetzlich privilegiert und systema tisch institutionalisiert, zweckbestimmt und eventuell auch außer halb als hinderlich empfundener Vorschriften verfolgt. Der ständig wachsende Finanzbedarf des Staates erfordert – zumal bei Verzicht auf Steuererhöhungen – die Erschließung alternativer Quellen. Besonderer Handlungsbedarf ergab sich in Hessen, nachdem wich tige Einnahmequellen weggebrochen waren. Das Land hatte seiner Steuerfahndung die Flügel gestutzt, wie Wehrheim und Gösele in ei nem Buch darlegen.6 Eine 2001 nur für den Dienstgebrauch erlassene Amtsverfügung schränkte demnach die Ermittlungen der Frankfurter Steuerfahnder in Banken bei Kapitaltransfers stark ein. Die illega- len Parteispendenpraktiken der 1980er Jahre, von den Banken – vor allem der Commerzbank – vermittelte Geldtransfers in Steueroasen und Fahndungen nach Ankauf sogenannter »Steuersünder-CDs«, er innerten die Autoren »an die politischen Strukturen einer Bananen republik«. Sie zeigen, wie sich mit dem Wechsel von Opposition zu Regierungsverantwortung die Interessenlage der Parteien ändert, ohne Verzicht auf persönliche und parteipolitische Vorteilsnahme. In Bedrängnis geraten, aber gestützt auf Mehrheiten, ändern sie selbst unbequem gewordene Gesetze. Die Autoren fragen, »was die Macht aus Menschen gemacht hat«. Die Finanzkrise von 2008 wurde zwar überwunden, hinterließ je doch enorme Schulden. Zu ihrer langfristigen Zinssicherung haben sich damals mehrere Bundesländer einer Strategie mit sogenannten Forward-Payer-Swaps verschrieben. Abgeschlossen im Jahre 2011, starteten sie in Hessen 2017 mit einer Laufzeit von 40 Jahren. Trotz anhaltend negativer Zinsen ist das Land den Gläubigern mit dem ver einbarten positiven Zinssatz verpflichtet. Nicht nur Mutmaßungen sprechen von riskanten finanziellen Spekulationen, sondern selbst der Hessische Rechnungshof empfahl bereits in seinem 67. Schulden bericht (Prüfung der Schulden im Haushaltsjahr 2017), auf den Ein satz von Derivaten zu verzichten.7 myops 44 / 2022 Fiskalisierung 51
Die erheblichen, dem Lande Hessen entgehenden Einnahmen werden allerdings durch den Länderfinanzausgleich abgefedert. Sachverhalt 2012 aus Niedersachsen nach Wiesbaden zugezogen, wurde die Einkommensteuererklärung für das Vorjahr mit wenigen Tagen Ver spätung im Finanzamt Wiesbaden persönlich abgegeben. Vier Mo nate später traf als erste Mitteilung des Finanzamtes Wiesbaden eine Mahnung über vorauszuzahlende Steuern zuzüglich einer Mahnungs gebühr ein, alles zugunsten einer unbekannten Steuernummer. Auf Nachfrage hieß es, die Datenübernahme zwischen einzelnen Bundes ländern habe durch unterschiedliche Systeme ihre Tücken, doch: »Normalerweise ergeht eine Zahlungserinnerung vor dem Mahnungs bescheid, normalerweise werden Lastschrift-Ermächtigungen über nommen, normalerweise wird die Steuernummer schriftlich mitge teilt.« Zum Ausdruck der zugeteilten Steuernummer bedurfte es einer ausdrücklichen Bitte. Die Mahnung konnte erst nach Beglei chung der Gebühr storniert werden. Das Datenverarbeitungssystem der Hessischen Steuerverwaltung verwehrte wohl eine Korrektur und führte nun den Steuerzahler als säumigen Steuersünder. Neun Jahre später wurde allerdings eine neue Steuernummer zugeteilt, aus nicht weiter erläuterten »organisatorischen Gründen«. Nach weiteren vier Wochen schickte das Finanzamt eine Erin nerung an die noch ausstehende Steuererklärung 2010, obwohl der Bescheid schon vor über einem Jahr ergangen war und die entspre chenden Daten des Niedersächsischen Finanzamtes nachweislich im System der Hessischen Steuerbehörde abgespeichert waren. Die aus drücklichen Hinweise auf »Verspätungszuschlag« und »Auferlegung eines Zwangsgeldes« machten ebenso betroffen wie zuvor die Mah nung mit der Androhung von Vollstreckungsmaßnahmen nach nur einwöchiger Frist. Aber damit noch nicht genug. Der Einkommensteuerbescheid für 2011 lehnte wenige Wochen später den Sonderausgabenabzug von »Ausgleichszahlungen im Rahmen des schuldrechtlichen Versorgungs ausgleichs« an die in den USA lebende geschiedene Ehefrau ab. Fehl informationen, unstatthafte, aus dem Internet ohne Quellenangabe übernommene Angaben zu US-amerikanischem Steuerrecht und in dem »Hessischen Zirkelschluss« gipfelnde Trugschlüsse wollten die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens mit den USA (DBA- USA) ausschließen.8 52 Wulf Dahlke myops 44 / 2022
Die Bitten um Rechtssicherheit und die Fragen zu den Beweg gründen für das dem Steuerzahler entgegengebrachte Verhalten über gingen örtliches Finanzamt und Amtsleitung mit Stillschweigen. Die um Klärung im Rahmen ihrer Dienst- und Fachaufsicht gebetene Oberfinanzdirektion in Frankfurt am Main (OFD) relativierte ihre diesbezügliche Funktion, bestätigte materiell-rechtlich das Wiesba dener Vorgehen, erwähnte das DBA-USA – trotz der Akteneinsicht – mit keinem Wort und bemängelte schließlich aus verfahrensrecht licher Sicht, dass nur ein Teilabhilfebescheid ergangen sei, wo eine Einspruchsentscheidung oder Rücknahme des Einspruchs erforder lich waren. Der hinzugezogene Fachanwalt für Steuerrecht beeindruckte die Finanzbehörde nur wenig. Ihre Herangehensweise, stets neue Verwal tungsakte zu erlassen, denen der Steuerzahler widersprechen konnte, wenn er denn das erforderliche, bislang dort aber fehlende Fachwis sen beisteuerte, änderte sich nicht. Es folgten immer neue dieser gewissermaßen »probatorischen« Verwaltungsakte, welche mit aus ufernden Rechtsbezügen, Fehlinformationen, bewusster Verwendung unlogischer Argumente den Steuerzahler offensichtlich hinhalten und zur Aufgabe zwingen sollten. Jeder Verwaltungsakt wurde zwar entsprechend § 121 Abgabenordnung (AO) begründet, nicht aber hin sichtlich des vorausgegangenen und vom Steuerzahler mittels Ein spruchs zurückgewiesenen gerechtfertigt. Die AO in Verbindung mit den entsprechenden Abschnitten des Anwendungserlasses zu ihr (AEAO) gehen von einer sachkundigen und korrekten Beratung des Steuerzahlers durch das Finanzamt aus – aber keineswegs vom Umgekehrten – und von Prüfung und Fürsorge zugunsten des Steu erpflichtigen.9 Die Rechtsprechung setzt voraus, dass die Finanzver waltungen fachkundig sind oder sich die notwendigen Sachkennt nisse aneignen, bevor sie »vollstreckbare Titel schaffen«.10 Doch das Wiesbadener Finanzamt ging nach der Devise vor, ist es nicht diese Vorschrift, dann trifft bestimmt irgendeine andere aus dem uner schöpflichen Vorrat des Steuerrechts zu. Die Behörde setzte dem Steuerzahler jeweils eine 30-tägige Beantwortungsfrist, ohne sich selbst daran zu halten, blieb allerdings in der ihr zugestandenen Frist nach § 46 Untätigkeitsklage Finanzgerichtsordnung. Mit den Verwaltungsakten wurden Abhilfe- oder Änderungs bescheide umgangen. Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren zog sich ergebnislos in die Länge, eine Einspruchsentscheidung nach § 367 (1) Satz 1 AO unterblieb. Eine Klage vor dem Finanzgericht myops 44 / 2022 Fiskalisierung 53
(§ 40 FGO) war dem Steuerzahler somit trotz des in der Verfassung gewährten Anspruches auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs.1 GG) nicht möglich. Der als Steuersünder desavouierte Steuerzahler stieß beim Ein holen von Rat und Hilfe Dritter auf entsprechende Vorbehalte, denn semper aliquid haeret.11 Die Staatsanwaltschaft, mit einer Anzeige um Prüfung auf strafrechtliche Relevanz gebeten, lehnte die Einlei tung eines Ermittlungsverfahrens ab. Sie sah keine »konkreten An haltspunkte auf das Vorliegen einer Straftat« und verwies auf die Zuständigkeit der Finanzgerichte, obwohl der Steuerzahler die Un möglichkeit ihrer Anrufung dargelegt hatte. Der »Hessische Zirkel schluss« lasse keine »absichtliche Schädigung« erkennen, zumal die OFD diesem ebenfalls »erlegen« sei. Ein Anfangsverdacht nach § 263 Betrug StGB bestehe nicht, auch könne »ein Finanzbeamter nicht tauglicher Täter einer Rechtsbeugung nach § 339 StGB sein (Fischer, StGB, 61. Auflage, mit zahlreichen weiteren Nachweisen12)«, obwohl der Steuerzahler zu bedenken gab, dass sehr wohl »sein kann, was nicht sein darf«. Zur Redlichkeit der Finanzverwaltung, denn »Sinn und Zweck der §§ 331 – 339 StGB ist es, die Lauterkeit der Amtsaus übung und das öffentliche Vertrauen in diese zu schützen«,13 äußerte sich die Staatsanwaltschaft nicht. Eingeschüchtert durch die angedrohten Zwangsmaßnahmen, er schöpft von wiederholten Fehlinformationen in den Verwaltungs akten mit immer neuen Hürden, verunsichert und verhöhnt durch das Beharren auf Trugschlüssen, wollte er – an seinem Verstand zwei felnd – nach Jahren ergebnisloser Auseinandersetzungen resignieren, wurde depressiv und des Lebens überdrüssig. Die Hilflosigkeit und erschreckende Ohnmacht vor in undurchschaubarer Weise angewen deten Gesetzen, Gesetzen, denen sich der juristische Laie schon von Natur aus nur mit ehrfürchtiger Scheu zögernd zu nahen wagt und deren Macht ausstrahlende Undurchdringlichkeit und Allgegenwart ihn sich auch ohne Vergehen schuldig fühlen und bereitwillig Strafe annehmen lassen, hat Franz Kafka eingehend beschrieben.14 Alles durch den nicht nachvollziehbaren Umgang der Finanzverwaltung mit der chaotischen Vielfalt deutscher Steuergesetze und Vorschrif ten in seiner Auswirkung noch potenziert. In dieser kafkaesken Situation wuchs die Empörung über un begreifliche Ausweglosigkeit und Behördenwillkür zunehmend und beflügelte schließlich, nach neuen Wegen in der steuerlichen Ausein andersetzung zu suchen. Damals ermunterte der greise Stéphane 54 Wulf Dahlke myops 44 / 2022
Hessel (1917 – 2013) mit seinem Buch »Empört Euch!«, der Ungerech tigkeit mit Zorn zu begegnen.15 Nach eingehender Beschäftigung mit dem DBA-USA anhand der einschlägigen Kommentare wurde – im Vertrauen auf Rechtsstaat lichkeit – das Vorgehen der Finanzverwaltung der Fachöffentlichkeit unterbreitet und bei dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) direkt die Einleitung eines Verständigungsverfahrens nach Art. 25 DBA-USA beantragt.16 Es führte nach jahrelangem Gezerre 2018 zum Erfolg. Die US-amerikanische Finanzverwaltung (IRS) sah allerdings die Vor aussetzungen für ein Verständigungsverfahren nicht gegeben. Trug schluss und Fehlinformation müssen doch zu einer Korrektur in der Hessischen Finanzverwaltung veranlassen, eventuell muss die norm gerechte Veranlagung über deutsche innerstaatliche Maßnahmen er zwungen werden. Für ein entsprechendes Abhilfeverfahren17 stellte der IRS im Rahmen der Amtshilfe die notwendigen Informationen zur Verfügung. Die Verhandlungen zwischen Bundes- und Landesbe hörde, BZSt und OFD, waren anscheinend mühselig, ohne dass der Steuerzahler die Einzelheiten erfuhr. Das BZSt folgte mit nüchter nem Sachverstand dem BMF-Schreiben vom 13. Juli 200618 und be richtete bei Bedarf über den Sachstand. Einblick in den amtlichen Schriftwechsel erhielt der Steuerzahler nicht, die OFD verhielt sich dem Steuerzahler gegenüber völlig schweigsam. Das BZSt verhan delte schließlich direkt mit dem Hessischen Finanzministerium und unterrichtete abschließend den Steuerzahler. Tatsächlich erfolgte 2018 eine Korrektur der Steuerbescheide 2012 – 2016 nach Nr. 15 des Protokolls zu Art. 18 Abs. 3 DBA-USA in Verbindung mit § 10 Abs. 1a Nr. 4 EStG (§ 10 Abs. 1 Nr. 1b EStG a.F.) mit Erstattung der entsprechenden abzugsfähigen Ausgleichszahlun gen. Im Januar 2020 entsprach schließlich die Oberfinanzdirektion auf Vermittlung des Finanzamtes Wiesbaden dem Antrag auf Ersatz der Rechtsanwaltsgebühren im Wege der Amtshaftung, ohne dass erneut ein Anwalt bemüht werden musste. Fragen nach den Beweg gründen für die jahrelange Bedrückung wurden allerdings wiederum mit Stillschweigen übergangen. Immerhin gab es eine Entschuldi gung für das »Missverständnis«, und die »fehlerhafte Beurteilung« wurde bedauert, sie entspreche nicht den Bearbeitungsgrundsätzen des Hauses. Und doch hat die OFD jene mit der bewussten Unter schlagung des DBA-USA gedeckt, Einreden ignoriert, sich nicht spon tan korrigiert, sondern sich erst Jahre später den von der BZSt ein geleiteten deutschen innerstaatlichen Abhilfemaßnahmen gefügt. myops 44 / 2022 Fiskalisierung 55
Ein Auskunftsantrag nach der Datenschutz-Grundverordnung in der Steuerverwaltung führte zur Zusendung umfangreicher Unterlagen, die trotz der Präzisierung der Fragestellung auf die Beweggründe der Behörde keinen diesbezüglichen Hinweis enthielten. Was steht ihrer Darlegung entgegen? Ende März 2020 wurde in den Medien vom unerwarteten Tod des Hessischen Finanzministers berichtet. Dem Verzweifeln an den aus der Coronapandemie folgenden Schulden als auslösender Ursache wurde jedoch mit der Mahnung widersprochen, »dem Politiker und Amtsträger […] gerecht zu werden« und nicht seine Fähigkeit zur Bewältigung der Corona-Krise anzuzweifeln.19 Schließlich hatte der Hessische Landtag nur wenige Tage zuvor seinen milliardenschweren Corona-Nachtragshaushalt einstimmig gebilligt,20 während das Co rona-Sondervermögen seines Nachfolgers nur von der Regierungs mehrheit getragen und vom Staatsgerichtshof Hessen gut ein Jahr später (Urteil vom 27.10.2021 – P.St. 2783, P.St. 2827) als verfassungs widrig eingestuft wurde. Mitte April 2020 bestürzte eine weitere Nach richt, im Finanzministerium sei ein ranghoher Beamter (Justiziar) unvermittelt verstorben.21 Nietzsches Zarathustra lehrt: »Manchem mißrät das Leben: ein Giftwurm frißt sich ihm ans Herz. [… Doch] in eurem Sterben soll noch euer Geist und eure Tugend glühn, gleich einem Abendrot um die Erde«.22 Karlheinz Weimar (geb. 1950) war von 1999 bis 2010 Finanz minister in der CDU/FDP-Regierung Roland Kochs (geb. 1958), je nem folgte Dr. Thomas Schäfer (1966 – 2020, 1998/99 Syndikus bei der Commerzbank AG in Frankfurt am Main, seit 1999 für und in der Hessischen Landesregierung tätig) in einem Kabinett von CDU und Bündnis 90/Die Grünen unter Volker Bouffier (geb. 1951). Die ge nannten Ministerpräsidenten und ihre Finanzminister gehörten der CDU an und waren ausnahmslos Rechtsanwälte. Die Methode Es wurde vom Steuerzahler und nicht in der Ichform berichtet, denn »hinter ihm, in wesenlosem Scheine, lag, was uns alle bändigt, das Gemeine«.23 Hinter dem subjektiv leidvoll erlebten Ablauf, dem Festhalten an Trugschlüssen und beharrlichen Stillschweigen über die Beweggründe zeichnet sich ein allgemeines Konzept exzessiver Besteuerung höherer Einkünfte ab. Der unglaubliche Arbeitsaufwand der Behörde wäre für nur einen Steuerzahler auch kaum vertretbar. 56 Wulf Dahlke myops 44 / 2022
Der Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) spricht neben »gleichmäßi ger und gesetzmäßiger Festsetzung von Steuern« auch die Zweck mäßigkeit von Maßnahmen und die »Wirtschaftlichkeit der Verwal tung« an. Es handelte sich also nicht um Willkür auf der Ebene der Steuersachbearbeiterinnen, sie wurden vielmehr mittels interner Ver fügungen angewiesen, höhere Einkünfte zur Mehrung der Steuer einnahmen möglichst hoch abzuschöpfen. Diese internen Verfügun gen und Erlasse der übergeordneten Behörden oder eigene vertrau liche Amtsverfügungen des örtlichen Finanzamtes enthalten dem Steuerzahler nicht zugängliche, seine Rechte eventuell schmälernde Weisungen, die nach § 88 AO nicht veröffentlicht werden dürfen und nach § 32c AO nicht von seinem Auskunftsrecht erfasst werden. Wie die in der Fachliteratur beklagten Treaty Overrides, Derogationen, Missachtung von Vorschriften und Gerichtsurteilen, Verwendung lo gischer Fehlschlüsse bewegt sich die Finanzverwaltung am Rande der Legalität, nämlich in einer ihn begleitenden Grauzone, noch inner- und bereits etwas außerhalb der Gesetzmäßigkeit. Mit juristischem Sachverstand wird der gesetzlich gewährte Spielraum nach einseitiger Ausdeutung der Vorschriften und mit dem Ziel von Steuermehr ergebnissen ausgedehnt, die Spuren verlieren sich schemenhaft in der genannten Grauzone. So befreit sich die Finanzverwaltung zu nehmend aus der Enge ihres gesetzlichen Korsetts, zumal sich das Steuerrecht »immer mehr von klaren, widerspruchsfreien und prak tisch rechtssicher zu handhabenden Regelungen verabschiedet«, mit der Folge von Rechtsunsicherheit und für alle Beteiligten unnötigen Rechtsverfolgungskosten.24 Das Steuerrecht geht von einem even tuellen Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten (§ 42 AO) durch den Steuerpflichtigen aus, nie aber von einer gezielten Steuer verlängerung – als Gegenstück zu der wohlbekannten Steuerverkür zung – durch die Finanzverwaltung, diese Möglichkeit zieht es nicht einmal in Betracht. Es erschließt sich eine mit viel Menschenkenntnis erstellte und juristischer Durchdringung konzipierte Methode aufeinanderfolgen der Stufen, die zu dem angestrebten, im Steuerrecht nicht genann ten, doch dort keineswegs untersagten Steuermehrergebnis führen soll: – Um Personen mit höheren Einkünften und damit anzunehmen der hoher, noch vermehrungsfähiger Steuerschuld entsprechend gewissenhaft veranlagen zu können, werden sie im Datenverar beitungssystem markiert. myops 44 / 2022 Fiskalisierung 57
– Durch Mahnungen mit eventuellen unbilligen Fristverkürzungen, Fehl- oder ungenügenden Informationen, Androhung nicht ge rechtfertigter Zwangsmaßnahmen stellt die Behörde das Verhält nis zu diesen Steuerzahlern als Gegnerschaft klar und umgibt es gleichzeitig mit Rechtsunsicherheit. Ziel sind Einschüchterung und Verunsicherung des Steuerzahlers, bis er sich selbst und an deren als Steuersünder erscheint, den man besser meidet oder der schließlich ermattet resigniert, überleben wird er das Finanzamt ohnehin nicht. – Das Rechtsbehelfsverfahren wird mit sich nach der Kehrseiten theorie ablösenden, immer neuen Verwaltungsakten, von Fall zu Fall mit ausufernden Rechtsbezügen, Fehlinformationen, bewuss ter Verwendung unlogischer Argumente, allfälligen Verknüpfun gen nach einem zirkelschlüssigen Korrespondenzprinzip, in die Länge gezogen. – § 130 AO Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts wird vermieden. Zugunsten des Steuerzahlers lautende Bestimmungen werden eventuell unterdrückt, eigenwillig ausgelegt oder gar in ihr Gegenteil verkehrt. § 88 AO Untersuchungsgrundsatz und sein Anwendungserlass bieten zum Beispiel korrespondierende An sätze. Subsumtionsketten, geschickt zusammengesetzt, eventuell mit eingefügten, verschleiernden, unvollständigen oder Fehlinfor mationen und logischen Fehlern, führen zur Problemkonfusion und verwehren sich in ihrer Verschachtelung einer Lösung. – Eine Einspruchsentscheidung unterbleibt, und somit ist der Zu gang zum Finanzgericht verwehrt; Rechtsweggarantie und Justiz gewährungsanspruch (Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 2 Abs. 3 Hess. Ver fassung) werden unterlaufen. Schlussfolgerung Die vielfältigen Erfahrungen mit Selbstanzeigern und ihren Steuer vergehen beeinflussen wohl auch das Rechtsempfinden bei der Be hörde, so dass man den unbescholtenen Steuerzahlern ebenfalls ent sprechendes Handeln nachweisen möchte, natürlich für den löbli chen Zweck von Steuermehreinnahmen. Hat man ein Opfer erst ausgeguckt, lässt man nicht locker, ein Vergehen wird sich schon finden, ganz im Sinne der Knarrpanti-Episode im Meister Floh des Berliner Kammergerichtsrates E.T.A. Hoffmann aus dem Jahre 1822; gemeint ist der preußische Polizeidirektor v. Kamptz, berüchtigt we gen seiner Demagogenriecherei, dem als Geheimer Hofrat Knarrpanti 58 Wulf Dahlke myops 44 / 2022
ein Tatbestand überflüssig scheint, denn, »sei erst der Verbrecher ausgemittelt, sich das begangene Verbrechen von selbst finde«, ein fähiger Richter werde schon »dies und das hineinzuinquirieren« wis sen.25 Die düpierten Steuerzahler fühlen sich angesichts der ihnen unterstellten Vergehen der Behördenwillkür und der offensichtlichen »Fiskalisierung von Recht und Gesetz« schutzlos und ohne Zugang zum Finanzgericht ausgeliefert. Das Konzept erscheint nur im wört lichen Sinne ungesetzlich, schließlich ist es im Steuerrecht und nicht nur in seiner Grauzone vielfach verankert, ohne allerdings als solches genannt zu sein und nur als Schemen sichtbar. Im 2017 erschienenen Faktenblatt der Hessischen Finanzverwaltung heißt es: »Unser Motto lautet Gegen Betrüger. Gegen Trickser. Einfach gerecht. Dem fühlen wir uns verpflichtet. Hessen führt den Kampf gegen Steuerkriminalität und für mehr Steuergerechtigkeit offensiv und von vorne: mit erst klassigem und wachsendem Personal, mit guter Ausstattung.«26 Wie ist das zu verstehen? Ihre Datenverarbeitungssysteme und der Einsatz künstlicher In telligenz27 sind von den verwendeten Algorithmen und den einge gebenen Daten abhängig. Da Algorithmen viel mit magischen Illu sionen gemeinsam haben, empfiehlt es sich, den logischen Ablauf zu überprüfen, denn sie und maschinelle Verfahren empfinden keine Verantwortung für ihr Tun und womöglich sind nicht alle Probleme in mathematische Formeln zu fassen.28 Die Mathematikerin Fry weist außerdem darauf hin, dass eingebaute Vorurteile zu Verzerrungen führen können und die mehr oder weniger unsichere statistische Basis entsprechende, systematische Fehler bedingt. Abläufe und Ver fahren müssen – ganz allgemein – nach Qualitätsstandards überprüft und eventuell korrigiert werden. In einem Rechtsstaat kann und muss man unredlichen Verfügungen und Maßnahmen wehren. Wulf Dahlke Anmerkungen 1 Kramer, IStR 2015, 669 – 671; Haase, IStR 2015, 313 – 318. 2 Beusch und Raas, IStR 2015, 575 – 579. 3 Gosch, IStR 2014, 698 – 704; Jochimsen und Gradl, IStR 2015, 236 – 242. 4 Dahlke, IStR 2015, 823 – 827. 5 Ingemar König, Der römische Staat. Ein Handbuch, Stuttgart 2007, S. 94. 6 Wehrheim und Gösele, Inside Steuerfahndung. Ein Steuerfahnder verrät erstmals die Methoden und Geheimnisse der Behörde, München 2020, 1. Auflage 2011. myops 44 / 2022 Fiskalisierung 59
7 http://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/3/01113.pdf, am 22.4.2020. 8 Dahlke IStR 2015, 823 – 827. 9 § 85 Besteuerungsgrundsätze AO, § 88 Untersuchungsgrundsatz AO, § 89 Beratung, Auskunft AO / Abschnitte 73, 76 und 77 Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO). 10 OLG Koblenz am 17.7.2002 – 1 U 1588/01, BeckRS 2002, 30273256. 11 Die alte Weisheit: »Audacter calumniare, semper aliquid haeret / Verleumde dreist, es bleibt immer etwas hängen« soll auf Plutarch zurückgehen. 12 gemeint ist: Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, C.H. Beck München 2014, S. 2494/§ 339 8b/C. 13 Zenke, Schäfer, Brocke, Risikomanagement, Organisation, Compliance für Unterneh mer, E-Book, DeGruyter 2015, S. 522, Rz 5. Ähnlich BGH vom 12. Juli 2000, Az. 2 StR43/00. 14 Franz Kafka, Romane und Erzählungen, Köln 1996, S. 431 – 707 Der Prozess, darin enthalten, S. 689 – 691, die von dem Gefängniskaplan erzählte Episode ›Vor dem Ge setz‹. 15 Stéphane Hessel, Indignez-vous!, Montpellier 2013, S. 1 – 32. 16 Eimermann in Wassermeyer, DBA, 7. EL Mai 2009, Art. 25 DBA-USA; Oestreicher in Endres / Jacob / Gohr / Klein, DBA Deutschland / USA, München 2009, Art. 25. 17 Oestreicher in Endres / Jacob / Gohr / Klein, DBA Deutschland / USA, München 2009, Art. 25 Rz. 23, S. 520. 18 Bundesministerium der Finanzen, Merkblatt zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Ver mögen, GZ: IV B 6 – S 1300 – 340/06, Berlin 13. Juli 2006. 19 FAZ.NET vom 2.4.2020, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/zum-tod-thomas- schaefers-von-den-sorgen-erdrueckt-16708665.html, am 3.4.2020. 20 Frankfurter Rundschau vom 26.3.2021, Thomas Schäfer fehlt | Landespolitik (fr.de), am 29.10. 2021. 21 https://www.merkur.de/politik/hessen-finanzministerium-selbstmord-suizid-thomas- schaefer-tod-abschiedsbrief-coronavirus-todesursache-nachfolger-bouffier-zr-13631 954.html, am 22.4.2020. 22 Friedrich Nietzsche, Vom freien Tode, in: Also sprach Zarathustra. 23 Goethe, Epilog zu Schillers »Glocke«. 24 Haase, IStR 2015, 313 – 318. 25 E.T.A. Hoffmann, Hoffmanns Werke in drei Bänden, Berlin und Weimar 1976, Bd. 2, S. 211. 26 Hess. Ministerium der Finanzen, Faktenblatt – Was wir für Steuergerechtigkeit und ausgeglichene Haushalte in Hessen tun – und manches mehr …, Dez. 2017, S. 7, 8; https://finanzen.hessen.de/sites/default/files/media/hmdf/bilanz_koa._faktenblatt._ was_wir_fuer_steuergerechtigkeit_und_ausgeglichene_haushalte_in_hessen_tun. pdf, am 28.9.2021. 27 https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/hessisches-finanzamt-setzt-kuenstliche-intel ligenz-zur-steuerfahndung-ein-15931459.html, am 9.1.2020. 28 Hannah Fry, Hello World, Was Algorithmen können und wie sie unser Leben verän dern, C.H.Beck, München 2019, S. 31 ff. 60 Wulf Dahlke myops 44 / 2022
myops 44 / 2022 Der Schalk im Nacken 61
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