RUSSLAND: VERFASSUNGSREFORM 2020 - Internationale ...

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RUSSLAND: VERFASSUNGSREFORM 2020

Insgesamt waren 110 Millionen Menschen ab 18 Jahren in der Russischen
Föderation berechtigt bei dem Referendum im Juni 2020 über die neue Verfassung
abzustimmen. Beim Referendum sollen nach offiziellen Angaben 65 % ihre Stimme
abgegeben haben, das heißt weit über 70 Millionen Stimmberechtigte. Für die
Verfassungsreform sollen 78 % der Wählerinnen und Wähler und damit die
deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten gestimmt haben. Wenn also ca. 80 % der
Wahlbeteiligten beim Referendum mit „Ja“ gestimmt haben, sind das knapp 60
Millionen Stimmen, in etwa so viele Wahlberechtigte gibt es in Deutschland. Die
unabhängige Wahlbeobachtungsgruppe Golos berichtet von hunderten
Beschwerden über Verstöße gegen die Wahlfreiheit. Unabhängige Umfragen deuten
außerdem darauf hin, wie zweigeteilt die Bevölkerung ist. Der russische
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verurteilte das Referendum als „riesige Lüge“
und erklärte, dass „die Ergebnisse“, die verkündet wurden, gefälscht seien und
nichts mit der Meinung der russischen Bürger zu tun hätten.

 Corona und Putins neuester Staats-Streich – Moderne
         Autokraten genießen Legitimation

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Dr. phil. Carmen
Krusch-Grün
Osteuropaabteilung
der Internationalen
Gesellschaft für
Menschenrechte

Ein Kommentar von Dr. Carmen Krusch-Gruen:

Man muss kein Verfassungsrechtler, keine
Verfassungsrechtlerin sein, um zu verstehen, dass
eine Pandemie einen guten Nährboden zur
Festigung von autoritären Staatsregimen schafft.
Wenn ein Orkan bevorsteht, so braucht es eine
starke Hand zur Abwehr. Verängstigte und
unsichere Menschen möchten klare Ansagen,
suchen nach Führung heraus aus der
Gefahrensituation. Genau diese Situation hat so
beispielsweise der ungarische Präsident Viktor
Orban genutzt, sein Parlament hat noch am
30.3.2020 ein „Ermächtigungsgesetz“
angenommen, das in “Gefahrensituationen”
umfangreiche Machtbefugnisse für den
Ministerpräsidenten vorsieht. Während Orban so
anscheinend noch den richtigen Moment vor dem
Orkan erwischt hat, sah es in Russland
zwischenzeitig so aus, dass Präsident Vladimir
Putin diesmal innerhalb des schon tobenden
Orkans den Moment für sein zweites
„Ermächtigungsgesetz“ verspielt hätte. Denn viele
autokratische Staatsregenten sind bemüht ihre
Regentschaft nach außen hin als demokratisch
gewählt, als verfassungskonform zu legitimieren.
Das ist heutzutage auf Dauer eine stabilere
innerstaatliche Lösung und lässt sich auch nach
außen hin besser verkaufen.

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Dieses war der erste Streich…
Laut russischer Verfassung, die 1993 nach dem
Zerfall der Sowjetunion angenommen wurde,
durfte ein russischer Präsident nicht mehr als
zwei Amtszeiten von 4 Jahren infolge innehaben.
Vladimir Putin wurde im Jahre 2000 erstmals zum
Präsidenten der Russischen Föderation gewählt.
Insofern hätte seine maximal
verfassungsrechtliche Amtszeit 2008 enden
müssen. Wir wissen, dass dies nicht geschehen ist,
denn wir befinden uns im Jahre 2020 und kennen
heute keinen anderen russischen Präsidenten als
Vladimir Putin mehr. In Deutschland gibt es im
Übrigen ein solch „widriges“ Verfassungsproblem
nicht, bei uns kann ein Bundeskanzler oder eine
Bundeskanzlerin ohne zeitliche Begrenzung
regieren. Bundeskanzler Kohl tat das 16 Jahre
lang. Aber zurück zu Putin, was geschah dann
2008? Staatsstreich Nummer 1 zur Verlängerung
seiner Regentschaft. Er verlieh seine kaiserliche
Robe an seinen Vize-Ministerpräsidenten Dimitrij
Medwedjew, der ihm am Ende seiner Amtszeit die
reingewaschene Robe mitsamt der Leihgebühr
zurückgab. Denn noch kurz vor Ende
seiner „Amtszeit“ als legitimer Präsident der
Russischen Föderation hatte er eine
Gesetzesänderung zu nunmehr zweimal sechs-,
anstatt vierjährigen Amtszeit eines russischen
Präsidenten erlassen. Sprich, Putin hatte hiermit
erst einmal Ruhe bis 2024. Also im Grunde
genommen noch ganze vier Jahre Zeit, um sich
Sorgen um die weitere Regentschaft zu machen,
zumal er fest auf seinem selbst geschaffenen
goldenen Thron sitzt.

…und der zweite folgt zum Neuen Jahr 2020
Was war also los in Russland, warum eine
Verfassungsänderung, warum die heiße
Diskussion um die Präsidentschaft? Nun man kann

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dem russischen Präsidenten sicher vieles
absprechen, nicht aber seine Cleverness, sein
geschicktes Händchen dafür, an den richtigen
Schrauben zu drehen, um die größte
Staatenmaschinerie der Welt in die von ihm
gewünschte Richtung schnurren zu lassen. Eine
Cleverness, Feinmotorik und Staatsgewandtheit,
die dem US-amerikanischen Gegenüber völlig
abgeht. Insofern wird es sicherlich viele Gründe
dafür geben, darunter auch, dass je näher der
Versuch der Verlängerung der Regentschaft dem
tatsächlichen Problemzeitpunkt rückt, desto
offensichtlicher die „geheime Operation“ gewesen
wäre.

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Moskauer Kreml – Wikimedia Commons

Putin der Märtyrer
Weit entfernt also von der Diskussion um die
Präsidentschaft, war dann auch der
Zusammenhang der plötzlich so dringenden
Notwendigkeit einer Novelle der “alten
postsowjetischen Verfassung“, die der russische
Präsident in seiner Neujahrsansprache zur Lage
der Nation ankündigte. Und wer sah diese

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dringende Notwendigkeit sofort ein? Ja, richtig
geraten, kein anderer als Ministerpräsident
Dimitrij Medwedjew, der umgehend mitsamt
seiner Regierung den Rücktritt erklärte, da der
russische Präsident bei einer solch dringlichen
und existenziellen Angelegenheit „freie Hand“
benötige. „Notorische Putinkritiker“ wurden
zusätzlich verwirrt, da Putin selbst eine
Einschränkung der Präsidentschaftszeit auf nun
wieder zweimal vier Jahre vorschlug, gar mehr
noch, eine dritte Amtszeit generell auszuschließen
sei und damit sogar andeutete, dass er selbst
bereit sei, im Glanz der polierten und
aufgefrischten Verfassung von seinem goldenen
Thron zu steigen. Bereit, sich altruistisch für das
Wohl des russischen Volkes zu opfern.

Und dem ganzen Prozess wurde noch die Krone
damit aufgesetzt, dass obwohl rechtlich nicht von
Belang, das Volk aus moralischen Gründen per
Abstimmung am 22. April 2020 um sein Ja-Wort
gebeten werden sollte. Auch wurden plötzlich
vielerlei gesellschaftliche Gruppierungen und
bekannte Persönlichkeiten in den „kreativen“
Prozess der Änderung der alten Verfassung
eingebunden. Sie durften sozusagen um die
Kernpunkte der Novellierung herum ihre eigenen
Schnörkel setzen. In den Medien wurde scheinbar
breit diskutiert, es schien als fiele es nun jedem,
der sich mit dem Thema beschäftigte, wie
Schuppen von den Augen, wie wichtig so eine
Verfassung doch sei und wie dringend sie „der
jetzigen Zeit“ angepasst werden
müsse: „Natürlich brauchen wir Neuerungen in
der Verfassung, der Westen versteht uns nicht,
sanktioniert uns, versteht nicht, dass die Krim uns
gehört, dass wir an gottgegebenen Werten wie
der Ehe zwischen Mann und Frau festhalten…“.
Und selbstverständlich leuchtete auch ein, dass

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ein Mindestlohn oder die Anpassung von Renten
verfassungsrechtlich zu verankern seien.

Die Rettung des Märtyrers buchstäblich aus dem
Weltall
Innerhalb dieses so energetischen, kreativen
Prozesses in der gesellschaftlichen Partizipation
für Neuerungen der eigenen staatlichen
Verfassung, war es dann keine geringere als die
erste weibliche Astronautin im Weltall, Valentina
Tereschkova, die ob ihrer außerirdischen
Erfahrung eine Lösung dafür fand, dass der
russische Präsident Vladimir Putin nicht zum
Märtyrer seiner eigenen Volksrettungsaktion
werde. In letzter Sekunde sozusagen wurde sie
zum James Bond des russischen
Verfassungsthrillers. Denn am 10. März 2020 fiel
es auch ihr wie Schuppen von den Augen. Mit der
erneuerten Verfassung beginne eine neue Ära,
sozusagen „die Stunde Null“, insofern müssten
folgerichtig auch die vorherigen Amtszeiten des
russischen Präsidenten auf „Null“ gesetzt werden.
Ja, klar, logisch, was sonst?

Von Null auf Hundert – in Rekordzeit gegen die
Menschenrechte
So billigte dann die Staatsduma auch sogleich am
Tag drauf das „jetzt komplette“
Verfassungsänderungsgesetz, noch am selben Tag
stimmte der Föderationsrat zu, am Tag darauf die
85 regionalen Parlamente, drei Tage später
erklärte das Verfassungsgericht „zufällig ohne
seinen durch Krankheit entschuldigten“ kritischen
Verfassungsrichter Konstantin Aranowskij, die
Rechtmäßigkeit des Komplettpakets und schon
zwei Tage später „zufällig am sechsten Jahrestag

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der Heimholung der Krim“, setzte der russische
Präsident seine Unterschrift auf das glorreiche
Dokument. Was für grundlegende Veränderungen
hat die Verfassungsänderung nun nach fast
Tausend Änderungsvorschlägen und rund 100
Überholungen alter Gesetze gebracht. Das
Problem ist, dass sie keine sichtbaren
Veränderungen mit sich bringt, sondern die von
Putin über die vielen Jahre seiner Regentschaft
geschickt gedrehten Schräubchen im
Staatsapparat jetzt festzurrt.

Nationales Recht vor Internationalem

Neben der Kodifizierung von o.g. Triggerpunkten
der russischen Gesellschaft wie Gottesfurcht, der
Ehe zwischen Mann und Frau, Mindestlohn und
Rentenanpassung, dient die Verfassungsänderung
vor allem der legitimierten Stärkung der Position
des Präsidenten, der mit den Änderungen so
ziemlich alle wichtigen Träger eines Staatsamtes
ernennen und entlassen kann. Zudem der
Stärkung der russischen Staatlichkeit sowohl
territorial als auch rechtlich. Die Krim bleibt
danach ganz offiziell und verfassungsrechtlich Teil
der Russischen Föderation und nationales Recht
gilt zukünftig vor internationalem Recht. Was sich
die USA als Weltmacht vorbehält, das darf auch
eine Weltmacht Russland. Was interessieren
schon eine Weltmacht die Urteile eines
europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte?

Volksabstimmung wegen Corona verschoben
War also jetzt Putins autokratische Herrschaft
endgültig verfassungsrechtlich in trockenen
Tüchern? Nein, noch nicht. Er selbst war es, der
in dieser Inszenierung auch noch den Applaus des
Publikums einplante: Das Ja-Wort der
Bevölkerung in einer Volksabstimmung am 22.

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April. Hier hatte er jedoch die Rechnung ohne den
Wirt des Covid-19-Virus gemacht. Sprich, die
Abstimmung musste auf unbekannte Zeit
verschoben werden. Diese Zeit hätte ein wichtiger
Faktor werden können. Nach der Zeit der
Überrumpelung, der Empathie durch interaktives
Theater, hin zu Zeit für Fragen, Zeit für Zweifel,
Zeit für Gegenargumente, Zeit für Konsolidierung
von demokratischen Kräften. Zeit, um „Nein“ zu
sagen zur eigenen Beschneidung seiner
Grundrechte und –freiheiten.

Anfang Juli dann stand das Ergebnis fest. Trotz
Corona und den damit verbundenen
Verzögerungen stimmten circa 77,9 Prozent der
russischen Wähler für die
Verfassungsänderungen. Putin kann damit über
das Jahr 2024 hinaus Präsident bleiben.

Weitere Informationen zur Menschenrechtslage in
                      Osteuropa und Mittelasien

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