Salafiyya, Salafismus und Islamismus - Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale
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Salafiyya, Salafismus und Islamismus Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale Mahmud El-Wereny S 1 Einleitung einem nicht immer zutreffenden Verständnis dieser islamischen Religionsbewegungen, die owohl in zahlreichen Berich- als Bedrohung für eine pluralistische, multire- ten des Niedersächsischen ligiöse Gesellschaft eingeschätzt werden. Die Verfassungsschutzes als auch Bezeichnungen implizieren jedoch komplexe im medialen Diskurs wer- Phänomene, die ganz unterschiedliche Ideolo- den Begriffe wie „Salafiyya“, gien, Strukturen und Erscheinungsformen auf- „Salafismus“, „Wahhabismus“ weisen; die Übergänge zwischen den einzelnen und „Islamismus“ häufig Konzepten sind fließend. Zwar teilen radikale synonym verwendet und im und gemäßigte Vertreter dieser Gruppen viele Bewusstsein der westlichen Gesellschaft nicht ideologische Grundannahmen; zugleich unter- selten mit einer gewalttätigen, antiwestlichen scheiden sie sich jedoch im Hinblick auf ihre Gesinnung gleichgesetzt.1 So kommt es zu Einstellungen zu Demokratie und Menschen- rechten sowie in der Frage, ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele darstellt. Der vorliegende Beitrag stellt diese 1 Vgl. z. B. Niedersächsisches Ministerium für In- neres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2016, Begriffe vor und grenzt sie vor dem Hinter- Vorabfassung. Hannover 2017, S. 83 und dass.: grund folgender Fragen voneinander ab: Unter- Salafismus – Erscheinungsformen und aktu- scheidet sich die „Salafiyya“ vom „Salafismus“ elle Entwicklungen, Hannover 2017, S. 8. und der „Salafismus“ vom „Islamismus“? Wenn El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 32
Mahmud El-Wereny | Salafiyya, Salafismus und Islamismus ja, inwiefern? Kann man Salafisten ohne Spe- Muḥammad Rašīd Riḍā (gest. 1935) nahmen an, zifizierung und nähere Prüfung dem islamisti- dass sich die islamische Welt in einer Krise schen Milieu zuordnen? befände: Auf der einen Seite moderne christ- liche Gesellschaften, geprägt von kulturellem, wissenschaftlichem, technologischem und politischem Fortschritt; auf der anderen Seite 2 Salafiyya islamische Gesellschaften, geprägt von sozio- politischer und wirtschaftlicher Dekadenz und Die Bezeichnung salafiyya ist ein arabischer Rückständigkeit. Jene Reformdenker machten Ausdruck, der auf den Wortstamm salaf zu- nicht den Islam selbst für die vermeintliche rückgeht. Salaf, so viel wie „Altvorderer“ oder Misere verantwortlich. Vielmehr führten sie „Vorfahren“, bezieht sich auf die sogenannten diese auf dessen vorherrschendes tradiertes „rechtschaffenen Altvorderen“ (as-salaf aṣ- Verständnis und verkrustetes Normensystem ṣāliḥ) der ersten drei Generationen islamischer zurück. Sie monierten die akritische Orientie- Zeitrechnung, etwa zwischen dem sechsten rung am überholten Islamverständnis früherer und dem neunten Jahrhundert n. Chr. Da sie Autoritäten, lehnten die blinde Übernah- entweder in unmittelbarem Kontakt mit dem me herkömmlicher Rechtsansichten ab und Propheten Muḥammad (gest. 632) standen, wandten sich stattdessen der „selbstständigen dessen „Gefährten“ (ṣaḥāba), Nachfolger (tā- Normenfindung“ (iğtihād) zu. Durch rationale biʿūn) oder Nachfolger der Nachfolger (tābiʿū Neubetrachtung der islamischen Quellentexte at-tābiʿīn) sie waren, wird ihr Handeln und (Koran und die Aussprüche und Handlungen Islamverständnis von vielen Muslimen als Ide- des Propheten Muḥammad – sogenannte Sun- alzustand der Rechtschaffenheit und Frömmig- na) und unter Rückgriff auf die frühislamische keit sowie als zentrale Referenz für Fragen des Praxis der Salaf strebten sie eine freiere, der Lebens angesehen.2 Zeit angepasste Auslegung der koranischen und prophetischen Aussagen an, um den Islam Die Begegnung mit der Moderne im Zuge der mit der Moderne in Einklang zu bringen. Ihre westlichen Kolonialisierung weiter Teile der Rückbesinnung auf die Salaf erklärten sie da- muslimischen Welt markiert den entscheiden- mit, dass der „reine“ und „authentische“ Islam den Wendepunkt in der Entstehung zahlreicher Antworten auf alle Fragen und Herausforderun- islamischer Reformbewegungen in nahezu gen der Moderne gebe.3 allen islamischen Gebieten um die Wende des 20. Jahrhunderts. Trotz der mannigfaltigen und Neben der Salafiyya sind viele weitere islami- zum Teil gegensätzlichen Strategien dieser Be- sche Bewegungen im 20. Jahrhundert entstan- wegungen hatten sie ein gemeinsames Anlie- den.4 Trotz in vielerlei Hinsicht gegensätzlicher gen, und zwar, den Islam gegen die Übermacht Positionen stellt Bernard Haykel, Professor für westlicher Zivilisation zu behaupten und mit der Technologie und weiteren Errungenschaf- ten des Westens zu versöhnen. Reformdenker 3 Siehe ausführlich z. B. Conermann, Stephan: wie etwa Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905) und Reformislam, in: Elger, Ralf/Stolleis, Friederike (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – All- tag – Kultur, München 2008, S. 271–273. Iğ- tihād ist ein Mittel zur Gewinnung von Normen 2 Vgl. ausführlich dazu Ceylan, Rauf/Kiefer, Micha- aus den Rechtsquellen, Koran und Sunna. el: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Wiesbaden 2013, 4 Vgl. ausführlich dazu z. B. Krämer, Gudrun: Ge- S. 77 f. und ders./Jokisch, Benjamin (Hrsg.): Sala- schichte des Islam, München 2011, S. 245 ff.; Soage, fismus in Deutschland. Entstehung, Radikalisierung Ana Belén: Introduction to Political Islam, in: und Prävention, Frankfurt a. M. 2014, insb. S. 37 ff. Religion Compass, Jg. 3 (2009), H. 5, S. 887–896. El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 33
Demokratie-Dialog 1-2017 Nahoststudien, folgende Aspekte als ideo- im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs logische Gemeinsamkeiten zwischen diesen verwendet. Eine saubere Trennung zwischen Massenbewegungen heraus: Der Berührungs- „Salafismus“ und „Salafiyya“ wird dabei nicht punkt aller islamischen Reformbemühungen immer vorgenommen. Beim Salafismus han- sei die Frage, weshalb sich Muslime im Ver- delt es sich um ein Phänomen, das unter- gleich zum Westen in einer Krise befänden. schiedliche Kategorien und Ideologiemerkmale, Das Abweichen vom „ursprünglichen, reinen“ zugleich aber auch Gemeinsamkeiten mit der Islam sei für diese Misere verantwortlich, so Salafiyya aufweist. Zur klaren Differenzierung die Antwort. Daher werde die Rückkehr zu der zwischen der oben dargestellten „modernen“ für authentisch gehaltenen Form und Lehre Salafiyya und der „zeitgenössischen“ Salafiyya der ersten drei Generationen von Muslimen schlägt die Islamwissenschaftlerin Justyna als Lösung für diesen Missstand angestrebt. Nedza die Verwendung des Begriffs „Salafis- Dadurch würden die Muslime auf den rech- mus“ als Idealtypus für Letztgenannte vor. Dies ten Weg zurückgebracht und die muslimische begründet sie zu Recht wie folgt: „Der Vorteil Gemeinschaft nähme wieder die ihr zugedach- eines Idealtypus ist, dass er eine Reinform von te führende Rolle in der Weltgeschichte ein. ‚Salafismus‘ schafft, eine Idealform, in der seine Dabei werde insbesondere dem Koran und der wesentlichen Merkmale festgelegt werden. An Sunna als autoritativen rechtleitenden Quellen dieser Messlatte kann dann gemessen werden, für alle Zeiten und an allen Orten eine zentrale wer – unabhängig der Selbstbezeichnung – ein Rolle zugesprochen. Zudem werde der Einheits- Vertreter des ‚Salafismus‘ ist und wer nicht.“6 gedanke mit seinen verschiedenen religiösen und politischen Implikationen mit Nachdruck Wenngleich es in der Geschichte des Islam im- hervorgehoben. Die Zersplitterung der isla- mer wieder Persönlichkeiten und Bewegungen mischen Welt in verschiedene Königreiche, gab, die den gegenwärtigen Salafismus geprägt Republiken, Sultanate usw. werde als einer der haben und gewisse Gemeinsamkeiten bezüg- entscheidenden Gründe für den angenomme- lich des Islamverständnisses aufweisen,7 ist er nen Niedergang muslimischer Gesellschaften laut dem Islamwissenschaftler und Terroris- aufgefasst und daher zur Wiedererrichtung musexperten Guido Steinberg maßgeblich von einer „islamischen Einheit“ (waḥda islāmiyya) der Wahhabiyya-Bewegung beeinflusst worden. aufgerufen.5 Die im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel aufgetretene Wahhabiyya, die auf das Wirken des saudischen Predigers Muḥam- mad ibn ʿAbd al-Wahhāb (gest. 1792) zurück- 3 Salafismus als Teil geht, stellt eine puristisch-traditionalistische der Wahhabiyya-Bewegung Richtung des sunnitischen Islam dar. Im Fokus ihrer Lehre stand vor allem die Einheit Gottes Der Terminus „Salafismus“ geht auf das ara- bische Wort „Salafiyya“ zurück. Er wird seit einigen Jahren in Medien und Politik sowie 6 Dazu ausführlich Nedza, Justyna: „Salafismus“ – Überlegungen zur Schärfung einer Analyseka- tegorie, in: Said, Behnam T./Hazim, Fouad (Hrsg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren 5 Siehe weiterführend dazu Haykel, Bernard: Salafī Islam, Freiburg i. Br. 2014, S. 80–106, hier S. 85. Groups, in: Esposito, John L. (Hrsg.): The Ox- ford Encyclopaedia of the Islamic World, New 7 Zu nennen sind hier neben Aḥmad Ibn Ḥanbal York 2009, Bd. 5, S. 26–28, hier S. 27 f.; Heine, (gest. 855) insbesondere die Gelehrten Ibn Ḥazm Peter: Islamismus – Ein ideologiegeschichtli- (gest. 1064) und Ibn Taimiyya (gest. 1328); vgl. u. a. cher Überblick, in: Islamismus. Bundesministe- Kozalı, Abdurrahim: Zur Bedeutung von salaf und rium des Innern (Hrsg.), S. 5–20, hier S. 10 ff. „Salafismus“, in: Ceylan/Jokisch, S. 37–47, hier S. 41. El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 34
Mahmud El-Wereny | Salafiyya, Salafismus und Islamismus (tauḥīd). ʿAbd al-Wahhāb forderte die Reini- größte Antriebsfeder für den gegenwärtigen gung des Islam von allen „unislamischen Neu- Salafismus“ erachtet.10 Während die Anhänger erungen“ (bidʿa) und erachtete den seinerzeit von ʿAbd al-Wahhāb ihre Benennung als Wah- weitverbreiteten Gräberkult, die Heiligenvereh- habiiten als abwertende Fremdbezeichnung rung sowie die Feier des Prophetengeburtstags interpretieren und sich selbst ahl at-tauḥīd als „Vielgötterei“ bzw. „Beigesellung Gottes“ („Leute des Einheitsbekenntnisses“) bzw. (širk) – das Gegenteil von tauḥīd. Glaubensauf- al-Muwaḥḥidūn („Bekenner der Einheit Gottes“) fassungen, die mit den Lehren der Wahhabiyya oder einfach ahl as-sunna („Sunniten“) nen- nicht übereinstimmen, werden von deren An- nen, werden heutige Salafisten als Salafiyya, hängern als unislamisch deklariert. So lehnen Ahl al-Ḥadīṯ („Leute der Prophetenüberliefe- die Wahhabiyya-Anhänger bspw. den Sufismus rung“) oder Ahl al-aṯar („Leute, die sich auf sowie viele der schiitischen Glaubenslehrsätze die überlieferten Berichte aus der Frühzeit des ab.8 Islam berufen“) bezeichnet oder auch schlicht Muslime genannt. Dies variiert von Land zu Theologisch richten sich Anhänger der Wah- Land. Der Osnabrücker Religionssoziologe Rauf habiyya in erster Linie, ähnlich wie die Sala- Ceylan merkt in diesem Zusammenhang an, fiyya, nach den Lehren des Korans, der Sunna dass es im Hinblick auf die Akzeptanz und und der Lebensweise der „frommen Altvorde- Ablehnung des Begriffs Salafi als Selbstbe- ren“ (as-salaf as-salih). Sie lehnen die blinde zeichnung unterschiedliche Meinungen gibt. Übernahme tradierter Lehrmeinungen früherer Während einige daran festhalten, als Muslime Gelehrter ab und wenden sich den Quellen- tituliert zu werden, akzeptieren andere, Salafi texten zu, um im Wege der selbstständigen genannt zu werden.11 Normenfindung ihre Überzeugungen allein auf Grundlage der autoritativen Texte zu begrün- Trotz unterschiedlicher Bezeichnungen zielen den. Dabei wird dennoch, im Gegenteil zur Sa- salafistische Gruppierungen allesamt auf die lafiyya, ein buchstabengetreues Abbild aus der Errichtung bzw. Wiedererrichtung eines auf der Frühzeit vertreten und unerbittlich versucht, Scharia basierenden Ordnungssystems ab, das die vermeintlich aus dem Wortlaut des Koran sämtliche Lebensbereiche abdeckt. Über die folgenden Gebote in die Tat umzusetzen.9 Frage, mit welchen Mitteln sie ihr Ziel durch- setzen wollen, sind sie indes geteilter Meinung. Das wahhabitische Islamverständnis wurde von In diesem Kontext wird zwischen drei Typen zeitgenössischen salafistischen Gelehrten und von Salafisten unterschieden, die spezifische Autoritäten Saudi-Arabiens in unterschied- Herausforderungen für die Politik und westli- licher Ausprägung übernommen. Folgerichtig che Gesellschaften mit sich bringen: erstens wird die Wahhabiyya-Bewegung als „die wohl die Puristen, zweitens die politischen Salafis- ten und drittens die salafistischen Dschihadis- ten.12 8 Vgl. z. B. Steinberg, Guido: Wer sind die Salafisten? Zum Umgang mit einer schnell wachsenden und 10 Vgl. Said/Hazim: „Einleitung“, in: dies., S. 30, Anm. 21. sich politisierenden Bewegung, in: SWP-Aktuell 28.05.2012, URL: https://www.swp-berlin.org/ 11 Vgl. Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 79 und mehr fileadmin/contents/products/aktuell/2012A28_ dazu bei Steinberg, Guido: Religion und Staat sbg.pdf [eingesehen am 21.05.2017], S. 5 und in Saudi-Arabien – Die wahhabitischen Ge- ders: Saudi-Arabien: Der Salafismus in sei- lehrten 1902–1953, Würzburg 2002, S. 28. nem Mutterland, in: Said/Hazim, S. 265–297. 12 Vgl. Wiktorowicz, Quintan: Anatomy of the Salafi 9 Vgl. Steinberg: Wer sind die Salafisten?, S. 5 f. Movement, in: Studies in Conflict & Terrorism, Jg. 29 und Conermann, Stephan: Wahhabiten, in: Ralf/ (2006), H. 3, S. 207–239, hier S. 208 und weiter- Stolleis: Kleines Islam-Lexikon, S. 339–340. führend dazu Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 82 ff. El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 35
Demokratie-Dialog 1-2017 (1) Die Strategie der Puristen manifestiert Ihre Zielsetzung verfolgen sie auf parlamen- sich darin, die Gesellschaft durch persönliche tarischem oder auch außerparlamentarischem Frömmigkeit und individuelles frommes Han- Wege. Durch Partizipation an Wahlen, Demons- deln zu verändern, ohne sich politisch zu en- trationen, Bildungsarbeit, medienwirksame gagieren oder Gewalt anzuwenden. Es handelt Auftritte und soziale Initiative bieten sie sich sich also um einen sukzessiven Prozess von als Interessenvertreter und „Verteidiger“ der unten nach oben. Erst wenn sich die Individu- Muslime gegenüber der Mehrheitsgesellschaft en, Familien und Gruppen ändern, werde sich an. Anhänger dieser Gruppe in Deutschland per se ein islamisches Gemeinwesen etablie- propagieren verfassungsfeindliche Inhalte wie ren. Um dieses langfristige Ziel zu erreichen, die Ablehnung des politischen Systems und richten sie ihr Augenmerk insbesondere auf fordern die Einführung der Scharia als holis- Erziehung und religiöse Bildung. Nichtmuslime tisches Ordnungssystem. Für sie ist die daʿwa, wollen sie mittels Missionierung (daʿwa) für wie bei den Puristen auch, von zentraler Be- den Islam gewinnen. Nichtsdestotrotz vertre- deutung. Durch sie zielen sie darauf ab, neue ten sie eine distanzierte Haltung im Umgang Anhänger zu gewinnen und Jugendliche den mit Andersdenkenden im Generellen. Nur – ihrer Auffassung nach – verderblichen Ein- wenn es darum geht, sie zum Islam einzula- flüssen der westlichen Kultur zu entziehen. Aus den, wird eine Kontaktaufnahme für statthaft Sicht der politischen Salafisten soll die Reform erklärt. Saudi-Arabien wird in diesem Kontext von oben nach unten erfolgen. Das heißt, die als das Mutterland und seit fünfzig Jahren als Etablierung eines islamischen Staatssystems Hauptexporteur dieser salafistischen Strömung würde eine schariakonforme Lebensführung angesehen.13 In Deutschland sei die puristische auf individueller und gesellschaftlicher Ebene Ausprägung des Salafismus, so der Politik- und garantieren. Hinsichtlich der politischen Par- Islamwissenschaftler Klaus Hummel, noch nicht tizipation innerhalb eines Systems sind sich besonders stark etabliert. In den Nachbarlän- Anhänger dieser Strömung gleichwohl uneinig dern Frankreich, England und den Niederlan- und werden dementsprechend in zwei Frakti- den, wo viele Menschen mit arabischem Migra- onen aufgeteilt: Während die eine einer politi- tionshintergrund leben, existiert indes bereits schen Partizipation innerhalb eines säkularen seit den 1990er Jahren eine salafistische Szene politischen Systems ablehnend gegenübersteht mit puristischen Moscheen und Imamen.14 und ausschließlich außerhalb dieser Ordnung politisch agiert, wird jedwede politische Teil- (2) Die politischen Salafisten bringen sich im nahme für die andere Fraktion als akzeptables Unterschied zu den puristischen aktiv in die Mittel zur Erreichung ihres Zieles angesehen. Politik ein und wollen ihre Vision einer scharia In Deutschland sind beide Gruppen vertreten, konformen Gesellschaftsordnung, ebenso wie wobei nach Ceylan anzunehmen ist, dass sich die Puristen, ohne Gewaltanwendung verwirkli- die meisten Anhänger eher aus der ersten chen. Die politischen Salafisten sind eine breite Kategorie rekrutieren.15 heterogene Sammelbewegung und der politi- schen Ideologie des Islamismus zuzuordnen. (3) Im Gegensatz zu den beiden bereits genannten Typen befürwortet die dritte, zahlenmäßig kleinere Gruppe der sogenann- 13 Vgl. Steinberg: Saudi-Arabien, S. 265–297; Wagemakers, Joas: Salafistische Strömun- gen und ihre Sicht auf al-wala‘ wa-l-ba- 15 Vgl. Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 86 f. und wei- ra, in: Said/Fouad, S. 55–80, hier S. 58 ff. terführend dazu Farschid, Olaf: Salafismus als 14 Vgl. Hummel, Klaus: Salafismus in Deutschland politische Ideologie, in: Said/Hazim, S. 160–193, – Eine Gefahrenperspektive, in: Totalitarianism and hier S. 165. Zum Begriff „Islamismus“ siehe den Democracy, Jg. 11 (2014), H. 1, S. 95–122, hier S. 109. nächsten Abschnitt des vorliegenden Beitrags. El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 36
Mahmud El-Wereny | Salafiyya, Salafismus und Islamismus ten Dschihadisten die Gewaltanwendung im Ideologie beruft sich auf die Quellen des Islam Namen Gottes. Sie lehnt sowohl Missionsarbeit und erhebt einen umfassenden politischen als auch politische Aktivitäten als Strategie Gestaltungsanspruch. Die noch heute unter für die Wiedererrichtung eines islamischen Islamisten verbreiteten Slogans al-islām dīn Gemeinwesens ab und sieht in der Gewal- wa-daula („der Islam ist Religion und Staat“) tanwendung den einzigen Weg zu dem ihnen und al-islām huwa l-ḥall („der Islam ist die vorschwebenden Staatswesen. Ihre Ideologie Lösung“) bringen diese Vorstellung auf den basiert in erster Linie auf dem ewigen Kampf Punkt. Während der ideologische Ursprung zwischen dem Glauben an den einen Gott, des Islamismus in erster Linie auf die Re- tauḥīd, und sündhafter Götzendienerei, dem formbewegungen des 19. Jahrhunderts in der širk. Militant orientierte Gelehrte betrachten Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus den Kampf als sechste Säule des Islam16 und zurückgeführt wird, gilt die Muslimbruderschaft somit als Glaubenspflicht und Gottesdienst. Ägyptens (gegr. 1928) als Mutterbewegung Als zentrales Instrument in der Konstruktion und als organisatorische Wurzel des Islamis- von Feindbildern und der Rechtfertigung des mus. Strategisch und methodisch arbeiten die Kampfes gegen sie nimmt das Konzept der Islamisten unterschiedlich, weshalb wichtig ist, „Exkommunikation“ (takfīr) derjenigen, die ihre zwischen moderatem und radikalem, gewaltbe- Ideologie nicht teilen, einen zentralen Platz reitem Islamismus zu unterscheiden – wenn- ein.17 gleich die Übergänge fließend sind: Die von der Ideologie der Salafiyya inspirierte islamis- tische Bewegung der Muslimbruderschaft bspw. zeichnet sich durch eine straff organisierte 4 Islamismus Struktur aus, nimmt am politischen Leben teil und ist stark auf Sozialarbeit ausgerichtet, Die Bezeichnung „Islamismus“ ist ein Sam- um Anhänger durch Präsenz im Alltagsleben melbegriff, der den politischen Islam bzw. alle zu gewinnen. Von den Muslimbrüdern führt politischen Auffassungen und Handlungen wiederum über Sayyid Quṭb (gest. 1966) ein ra- von Muslimen umfasst, die direkten Einfluss dikalisierter Strang zum sogenannten dschiha- auf das politische System einer Gesellschaft distischen Islamismus, der für den revolutionä- nehmen wollen, um im Namen des Islam eine ren Umsturz „unislamischer“ Regimes sowie für auf der Scharia basierende Gesellschafts- und die Umsetzung weiterer Ziele den Einsatz von Staatsordnung zu errichten.18 Diese politische Gewalt befürwortet. Gruppen wie Ḥamās par- tizipieren einerseits seit Jahren und mitunter sehr erfolgreich am politischen Prozess ihres jeweiligen Landes und unterhalten andererseits 16 Die Säulen des Islam sind nach der Mehr- bewaffnete Milizen.19 Demnach umfasst der heitsmeinung muslimischer Gelehrter in- des: Glaubensbekenntnis, Gebet, Almo- sensteuer, Fasten und Pilgerwallfahrt. 17 Vgl. Armborst, Andreas/Attia, Ashraf: Die Politi- [eingesehen am 25.05.2017]. Für einen Überblick sierung des Salafismus“, in: Schneiders, Thorsten über verschiedene islamistische Gruppierungen Gerald (Hrsg.): Salafismus in Deutschland Ursprün- vgl. Steinberg, Guido/Hartung Jan-Peter: Isla- ge und Gefahren einer islamisch-fundamenta- mistische Gruppen und Bewegungen, in: Wer- listischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 217–231, ner Ende/Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in hier S. 226; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 86 f. der Gegenwart, München 2005, S. 681–695. 18 Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: „Islamismus – Was ist 19 Vgl. Riexinger, Martin: Islamismus und das überhaupt? Definition – Merkmale – Zuordnun- Fundamentalismus, URL: http://www.bpb.de/politik/ gen“, URL: http://www.bpb.de/politik/extremismus/ extremismus/islamismus/36341/begriffs islamismus/36339/islamismus-was-ist-das-ueberhaupt bestimmung [eingesehen am 27.05.2017]. El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 37
Demokratie-Dialog 1-2017 Begriff Islamismus sowohl friedlich-politisch etwa die namhaften Politiker Rašid al-Ġannūšī wirkende Gruppen als auch gewaltgeneigte (geb. 1941)23 und Ḥasan at-Turābī (gest. 2016),24 bis terroristische Gruppen. Im Unterschied zu die zum islamistischen Spektrum gezählt anderen salafistischen Gruppierungen ist der werden und die Auffassung vertreten, dass Islamismus in toto politisch ausgerichtet und Demokratie und Islam kompatibel seien. Diese stellt eine besondere Lesart des Islam als po- Position wird u. a. mit Belegen aus dem Koran litisches Programm dar. Eine verallgemeinern- und der Sunna gerechtfertigt, wobei die Islam- de Verwendung des Begriffs Islamismus als quellen zeitgemäß interpretiert werden.25 Oberbegriff sowohl für sunnitische Phänomene wie etwa Salafismus, Wahhabismus, Muslim- bruderschaft und Ḥizb at-Taḥrīr als auch für schiitische Phänomene wie etwa Hisbollah, wie 5 Fazit sie vom Niedersächsischen Verfassungsschutz vorgenommen wird, ist daher unpräzise und Das in Medien und Wissenschaft erzeugte Bild nicht immer zutreffend.20 der im Rahmen dieses Beitrags erläuterten Begriffe ist äußerst vielfältig, oft zerrissen und Die wesentliche ideologische Gemeinsamkeit teilweise sogar widersprüchlich. Dass Salafis- islamistischer Gruppierungen besteht vor allem ten undifferenziert als Islamisten bezeichnet im Willen zur Umformung der politischen und werden, soll in Anbetracht obiger Darstellung gesellschaftlichen Ordnung nach einer strengen nicht unwidersprochen bleiben; denn ohne Interpretation der islamischen Schriften. Aus nähere Prüfung kann man Salafisten nicht diesen Quellen werden politische Forderungen pauschal dem islamistischen Milieu zuord- abgeleitet und die Scharia wird als holistisches nen – gibt es doch innerhalb der salafisti- System angesehen, das immer und überall schen Bewegung bedeutende Teile, welche die anwendbar sei und alle Fragen des Lebens ab- Partizipation am politischen Leben ablehnen decke, sowohl was das soziale Miteinander als und fast ausschließlich auf Missionsarbeit auch die Rechts- oder Staatsordnung anbe- fokussiert sind. Ein grundlegender gemeinsa- langt. Nach dieser Auffassung sollen Scharia mer Berührungspunkt zwischen allen islami- regelungen institutionell verankert und Staat schen Ausprägungen ist der Rückgriff auf die und Religion nicht getrennt sein. In einem sol- Offenbarungsquellen sowie das Nacheifern der chen System besteht die oberste Legitimation Lebensweise der ersten drei Generationen. In in der Souveränität Gottes, aber nicht in der Bezug auf die Lesart dieser Traditionen, die des Volkes.21 Nichtsdestoweniger kann nicht Ziele, Strategien und Organisationsformen der pauschal gesagt werden, dass die Ideologie einzelnen Bewegung lassen sich indes erheb- aller Islamisten bzw. islamistischen Bewegun- gen mit dem demokratischen Verfassungsstaat nur schwer vereinbar sei, weil „der alleinige 23 Al-Ġannūšī ist ein tunesischer Politiker und Vor- Geltungsanspruch des ‚göttlichen‘ Rechts dem sitzender der islamistischen Nahḍa-Bewegung; vgl. Prinzip der Volkssouveränität“ widerspreche, mehr dazu z. B. bei Tamimi, Azzam: Rachid Ghan- wie der Islamwissenschaftler Martin Riexinger nouchi: A Democrat Within Islamism, New York 2001. darstellt.22 Denn es gibt viele Stimmen, wie 24 At-Turābī ist ein sudanesischer Politiker, der zur Muslimbruderschaft gezählt wird; vgl. ausführlich dazu z. B. Burr, Millard: Revolu- tionary Sudan: Hasan al-Turabi and the Is- 20 Vgl. Niedersächsisches Ministeri- lamist State, 1989–2000, Leiden 2003. um für Inneres und Sport. 25 Vgl. u. a. al-Ġannūšī: ad-Dīmūqrātiyya wa-hu- 21 Vgl. Riexinger. quq al-insān [Demokratie und Menschenrech- 22 Vgl. ebd. te im Islam], Beirut 2012 und Tamimi, passim. El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 38
Mahmud El-Wereny | Salafiyya, Salafismus und Islamismus liche Unterschiede feststellen, etwa bei dem puristischen Salafismus, dem politischen Sala- fismus und dem militanten Salafismus. Der Be- griff Islamismus, der weitgehend synonym mit dem politischen Islam verwendet wird, weist Ähnlichkeiten mit dem politischen Salafismus auf. Mit beiden Begriffen werden Ideologien bezeichnet, deren Kerngedanke darin besteht, den Islam als politisches Ordnungsmodell nach den Regeln der Scharia weltweit zu etablieren. Die von Nedza vorgeschlagene begriffliche Un- terscheidung zwischen der heutigen Salafiyya und der Salafiyya des 19. Jahrhunderts durch die Bezeichnung Salafismus scheint letztlich zweckdienlich zu sein. Der Gebrauch des Ter- minus „Salafismus“ für die heutige Salafiyya entspricht dem terminologischen Konsens der Wissenschaft – das gilt insbesondere für den englischsprachigen wissenschaftlichen Diskurs. Viele Wissenschaftler bezeichnen besagtes Phänomen auf Englisch als Salafism. Termi- nologien, wie etwa Neo-Salafismus oder auch Salafiten, waren indes nur von kurzer Dauer Dr. Mahmud El-Wereny, und konnten sich nicht etablieren.26 geb. 1984, ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitar- Abschließend sei hervorgehoben, dass eine beiter der Forschungsstelle bewusste differenzierte Verwendung der oben zur Analyse politischer und dargestellten Begriffe in Medien, Politik und religiöser Extremismen in dem wissenschaftlichen Diskurs wünschenswert Niedersachsen am Institut für Demokratieforschung und notwendig ist – vermag sie doch dazu der Universität Göttingen. beizutragen, Vorurteile und Misstrauen gegen- Er lehrt und forscht zu über den muslimischen Mitbürgern abzubauen folgenden Schwerpunkten: und einem kooperativen und vertrauensvol- Politischer Islam, Salafis- len Zusammenleben zwischen Muslimen und mus, islamisches Recht Nichtmuslimen den Weg zu ebnen. und schiitischer Islam. 26 Siehe auch Said/Hazim: Einleitung, S. 29. El-Wereny, Mahmud (2017): Salafiyya, Salafismus und Islamismus. Verhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale. In: Demokratie Dialog 1 (2017), S. 32-39. 39
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