Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
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1.2016 2 € ISSN 1433-349X www.museumsmagazin.com Sammeln für die Zukunft Objekte im Museum Zuhause ist ein fernes Land Fotografien von Gundula Schulze Eldowy
intro Griechenland-Rettung, Flüchtlingsdrama, NSA-Skandal, frem- denfeindliche Demonstrationen und IS-Terror – wie lassen sich Ereignisse unserer Gegenwart im Museum abbilden und wie können wir sie für die Nachwelt erhalten? Als Museum für Zeitgeschichte erweitert die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stetig ihre Sammlungsbestände und sammelt auch aus der unmittel- baren Gegenwart. So bieten Führungsunterlagen der Schutz- kompanie Kunduz oder die Einsatzmarke eines Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 313 aus Afghanistan einen aussage- kräftigen Zugang zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Mehr dazu lesen Sie im aktuellen Magazin. Mehr als 800.000 Objekte umfassen die Sammlungen der Stiftung an den drei Standorten in Bonn, Leipzig und Berlin. Museumsobjekte sind verknüpft mit Erinnerungen und zeugen von großen historischen Ereignissen ebenso wie von kleinen Begebenheiten des Alltags. Die faszinierenden Geschichten, die hinter all diesen Objekten stecken, bewahren wir auf, um auch in Zukunft Fragen an die Vergangenheit beantworten zu können. Besonderheiten aus den Sammlungen zeigen wir auch in zwei neuen Wechselausstellungen in Leipzig und Berlin. Fotografien von Gundula Schulze Eldowy dokumentieren im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig das Leben in der DDR und blicken in eine Welt hinter der Propaganda-Fassade der SED- Diktatur. Ausgewählte Beispiele von Alltagsgegenständen und Industriedesign aus der DDR veranschaulichen ab dem 8. April 2016 im Museum in der Kulturbrauerei die umfassende Einflussnahme des SED-Regimes auf alle Bereiche des täg- lichen Lebens und führen uns sogleich die große Bandbreite der Formgestaltung in der DDR eindrucksvoll vor Augen. Sie sind herzlich eingeladen, uns in Bonn, Leipzig und Berlin zu besuchen! Dr. Hans Walter Hütter Präsident und Professor Der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte Hans Walter Hütter (li.) und Sammlungsdirektor Typisch für die 1950er Jahre: Dietmar Preißler (re.) bei der Anlieferung neuer Objekte: Innenausstattung des „Lichtspielhauses“ Leuchtreklame „Film Bühne“ des Petershofs in Leipzig im Haus der Geschichte in Bonn aus den 1960er Jahren
inhalt inaussicht 30 Wir müssen reden! inbonn inleipzig inberlin n t e r atelier42 visuelle kommunikation, halle U ! Dr u c k Medien tik Unter Druck! Zuhause ist ein fernes Land GrenzErfahrungen und Pog li Medien und Politik Fotografien von Gundula Schulze Eldowy Alltag der deutschen Teilung Haus der Geschichte, Bonn Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Tränenpalast, Berlin 3.10.2015 – 17.4.2016 26.11.2015 – 14.8.2016 Di – Fr 9 – 19 Uhr, Sa / So / Feiertag 10 – 18 Uhr un Ausstell 9. 8. 2015 01 4 – 5.12. 2 6 36 Grimmaische Str. 6 Di–Fr 9 –18 Uhr 04109 Leipzig Sa/So 10–18 Uhr www.hdg.de Eintritt frei Sammeln für die Zukunft „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ Museum in der Kulturbrauerei imfokus inleipzig Traum und Tristesse Flucht, Asyl, Protest? Alles nach Plan? Öffnungszeiten: Di – So: 10 – 18 Uhr / Do: 10 – 20 Uhr 6 Sammeln für die Zukunft 28 Jenseits der Propaganda Vom Leben in der Platte Fotografien von Harald Kirschner Wir müssen reden! Formgestaltung in der DDR Museum in der Kulturbrauerei, Berlin Foto- und Textprojekt von Bettina Flitner Objekte im Museum Zuhause ist ein fernes Land. Haus der Geschichte, Bonn Zeitgeschichtliches Forum Leipzig 8.4.2016 – März 2017 Fotografien von Gundula Schulze Eldowy 29.1.– 22.5.2016 9.2. – 20.3.2016 7.4.2016, 19:30 Uhr, Eröffnung 12 Der leere Rucksack Blick in die Sammlungen 30 Flucht, Asyl, Protest? Wir müssen reden! Medien und Politik. Die 22.5. Öffentliche Begleitungen Foto- und Textprojekt von Bettina Flitner im Eintritt frei. 16 Spurensuche Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Bundespressekonferenz –2015 Leipziger Buchmesse 6.9. an den Ostertagen Bundeswehreinsatz in Afghanistan Podiumsgespräch unter anderen mit Lesungen, Vorträge und Podiumsdiskussionen Termine unter www.hdg.de imblick 18 Mit offenen Augen Traum und Tristesse Bundesminister a.D. Franz Müntefering U. a. mit Heinz Bude, Friedrich Schorlemmer, Vom Leben in der Platte Anmeldung unter acri@hdg.de erforderlich Düzen Tekkal und Heinrich August Winkler Kinderfest Fotograf Stanislav Krupar mit Syrern auf der Flucht 36 „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ Fotografien von Harald Kirschner Historischer Saal der Bundespresse- Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Museum in der Kulturbrauerei, Berlin nach Europa Deutsche Filmpremiere vor 60 Jahren konferenz, Tulpenfeld 7, Bonn 17. – 19.3.2016 4.6.2016, 12 – 18 Uhr 3.3.2016, 19:30 Uhr inbonn 23. Leipziger Europaforum Schaffen wir das, Europa? 22 Histocamp Der Fall Meursault – Die EU und die Flüchtlingsfrage Erstes Barcamp für Historiker Eine Gegendarstellung Podiumsdiskussion Lesung und Gespräch mit Kamel Daoud Moderation: Eckart Stratenschulte 24 Unruhige Zeiten 32 inkürze In Kooperation mit dem Literaturhaus (Direktor der Europäischen Akademie Berlin) Lebendiges „Rückblende 2015“ in Bonn und Leipzig Bonn und der Deutsch-Maghrebinischen Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Museum Online 38 inzukunft / impressum Gesellschaft e.V., Karten über Bonnticket 19.3.2016, 17 Uhr www.hdg.de/lemo 26 Nicht ohne die Wissenschaft Haus der Geschichte, Bonn Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition 39 imbilde 14.3.2016, 19:30 Uhr Alles andere zeigt die Zeit Dokumentarfilm (Deutschland 2015) Filmvorführung und Gespräch mit dem Frau Höpker Filmemacher Andreas Voigt und Grit Lemke Besuchen Sie uns bittet zum Gesang (Leiterin Filmprogramm DOK Leipzig) auf Facebook! Mitsingkonzert mit Katrin Höpker Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Haus der Geschichte, Bonn 14.4.2016, 19 Uhr 28.5.2016, 19:30 Uhr Veranstaltungen in Bonn: Veranstaltungen in Leipzig: Veranstaltungen in Berlin: www.hdg.de / bonn / www.hdg.de / leipzig / www.hdg.de / berlin veranstaltungen veranstaltungen
imfokus Objekte im Museum Sammeln für die Zu kunft von Dietmar Preißler Am 30. März 1984 gelangte das Schild „OSRAM-Verkaufsstelle“ als erstes Objekt in die Sammlungen der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Deren Geschichte begann bereits am 13. Oktober 1982 um 12:10 Uhr im Plenarsaal des Deutschen Bundestages: „Wir wollen darauf hinwirken, dass möglichst bald in der Bundeshauptstadt Bonn eine Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945 entsteht, gewidmet der Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation“. Karteikarten in alten Pappkartons zeugen von einer großen Aufgabe der Nachkriegszeit: Menschen suchen nach ihren engsten Angehörigen. Die Suchdienstkartei des Deutschen Roten Kreuzes erinnert an über 300.000 Einzelschicksale. 6 museumsmagazin 1.2016
Objekte aus der Arbeitswelt: Wichtiges Zeitzeugnis: Die Dolmetscherin Mit diesen Worten gab Bundeskanzler Helmut Kohl in sei ner ersten Regierungserklärung den Startschuss für ein Einspindel-Drehautomaten fertigen in hoher Stückzahl Werkteile für die Ruth Levy-Berlowitz übergab der Stiftung Haus der Geschichte am 25. Mai 2012 ihr Arbeits- Zwischen banal und auratisch völlig neuartiges Geschichtsprojekt: ein Museum für Zeit Metallindustrie. exemplar des Eichmann-Urteils in der von ihr geschichte sollte entstehen. Besonders der zeithistorische vorgenommenen deutschen Übersetzung. Da alle musealen Objekte potentielle Ausstellungsexponate Bezug stellte eine neue Herausforderung dar, denn die sind, ist die mit den Gegenständen verbundene Vermitt Zeitgeschichte unterscheidet sich stark von der Geschichte lungsqualität, die Besucher anzieht, fesselt und bindet, ein der Neuzeit, des Mittelalters und der Antike: Sie „qualmt Zeitgeschichtliche Sammlungen Die Zeitgeschichtsforschung liefert die sammlungs wichtiges Auswahlkriterium. So steht der Seesack von Elvis noch“, führt direkt in die Gegenwart und produziert eine würdigen Themen. Unbestritten ist, dass sich Objekte zur Presley in der Dauerausstellung zum einen als Zeuge für nicht überschaubare Menge an Relikten. Gerade das zuletzt Auf Bundesebene legten die Deutsche Nationalbibliothek Grundgesetzentstehung, zum Links- und Rechtsterrorismus die Popkultur, zum anderen für das militärische Engage genannte Phänomen ist ein Hauptproblem der zur Zeitge (DNB) und das Bundesarchiv Sammlungen zur Jetztzeit und zum Mauerfall in den Sammlungen befinden sollten. ment der Amerikaner in Deutschland: Presley benutzte schichte sammelnden Museen. Kam der Höhlenmensch an, die jedoch keinen musealen Charakter haben. Das Was aber ist mit Objekten zur „Lindenstraße“, zu Schön den Seesack während seiner Wehrdienstzeit von 1958 bis noch mit etwa 150 Gegenständen aus, um sein Leben zu Haus der Geschichte komplettiert seit dem Stiftungserlass heitsköniginnen oder zu Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll? 1960 in Hessen und schenkte ihn später Regisseur Norman meistern, stehen dem Menschen der 1970er Jahre allein vom 1. März 1986 und dem folgenden Stiftungsgesetz vom Die „Material-Culture-Forschung“ setzt sich mit der Taurog zum Dank für die gemeinsamen Dreharbeiten zum in einem Versandhauskatalog dieser Jahre etwa 25.000 28. Februar 1990 diese zur Zeitgeschichte sammeln Bedeutung und Geschichte von Objekten und Objektgat Film „G.I. Blues“. Gegenstände zur Bewältigung des Alltags zur Verfügung. de Troika durch den Erwerb von musealen Objekten zur tungen auseinander, also: Welche Bedeutung haben Karika Objekte sind auch als Spurenträger zu betrachten. Welche der unzähligen verfügbaren Objekte sollen in die materiellen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Zur turen, was ist das Geheimnis von Plakaten, wie beeinflusst Die Unterschrift des Widerstandskämpfers Carl Friedrich musealen Sammlungen eines zeithistorischen Museums Konkretisierung wurden seit 1987 mehrfach die Samm der Fernsehapparat oder das Mobiltelefon unseren Alltag Goerdeler im Kammerbuch der Justizvollzugsanstalt Eingang finden? Welches Objekt verdient es, in das kul lungsüberlegungen weiterentwickelt. Zu und warum provozierte ein Minirock in den 1960er Jahren? Plötzensee vom 2. Februar 1945 kurz vor seiner Hinrich turelle Gedächtnis einer Gesellschaft übernommen letzt stimmten die Gremien der Stiftung Besonders „Story Telling Objects“ stehen im Fokus einer tung durch die nationalsozialistischen Schergen bringt uns zu werden, Vergangenheit mit Gegenwart und im Herbst 2014 einem grundlegend zeithistorischen Museumssammlung: zum Beispiel ein Tra den Schrecken der Terrorherrschaft nahe. Weiterhin gehen Zukunft zu verbinden? Allein der hohe Relikt überarbeiteten Sammlungskonzept bi, in dem im September 1989 eine Familie aus der DDR massenhaft hergestellte und verbreitete, scheinbar banale anfall verlangte, dass das in den 1980er Jah zu, das für die nächsten Jahre die über Ungarn in die Bundesrepublik flüchtete. Gegenstände wie Plattenspieler, Einrichtungsgegenstände, ren entstehende Haus der Geschichte ganz Sammlungspolitik des Hauses Die „Visual History“ gibt uns Methoden an die Hand, Telefone mit Wählscheiben oder Mobiltelefone als Stellver neuartige Überlegungen anstellen musste, der Geschichte bestimmt. Eine die Bedeutung des „Bildlichen“ für die Geschichte zu ver treter alltagsgegenständlicher Phänomene in die Samm was, wie und zu welchem Zweck gesam wichtige Strategie zur Umset stehen. Warum spricht uns ein Plakatmotiv an, welche lungen ein. melt werden soll. Vorbilder gab es nicht. zung – gerade im Kontrast Bilder sind auf Briefmarken und Münzen zu erkennen Eine typisch museale Sammlungsbesonderheit stellen Zwar existierten eine Reihe von Mu zum Vollständigkeitsprinzip und wie gelangen sie darauf, warum und wie malte Andy Objekt-Ensembles dar. Sie können aus einer Gattung be seen zur zeitgenössischen Kunst, doch des Sammlungskonzeptes der Warhol Willy Brandt, obwohl er ihm nie persönlich begeg stehen wie zum Beispiel bestimmte Karikaturen berühmter Sammlungsüberlegungen zur Kunstge Deutschen Nationalbibliothek – net ist? Alle Objekte durchlaufen vor einer Übernahme in Zeichner oder etwa 30.000 Dias, die eine typische Famili schichte sind nur sehr bedingt auf his ist das selektive Sammeln. Eine die Sammlungen dieses Prüfraster von inhaltlicher Bedeu engeschichte in Deutschland von 1938 bis 2004 erzählen. torische Museen übertragbar. Gleiches Orientierung geben zumindest tung, Aussagekraft und Visualität. Darüber hinaus sollen Ensembles können auch aus unterschiedlichen Objekten gilt auch für technische Museen. drei Wissenschaften: diese Objekte weitere museale Eigenschaften besitzen. zusammengesetzt sein, wie der Nachlass von Toby E. Rodes, Das Schild „OSRAM-Verkaufsstelle“ von 1950 wurde 1984 als erstes Objekt in die Sammlungen der Stiftung aufgenommen. 8 museumsmagazin 1.2016 museumsmagazin 1.2016 9
Ein Telefon mit Wählscheibe gehört zum Objekt- Das Mobiliar aus dem Notaufnahmelager Ensemble „Schreibtisch eines Planungsfunktionärs“, mien diskutiert, sodass die Auswahl der Themen als rele Marienfelde in West-Berlin ist im Zeitge- der im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin für die vant für unsere Zeitgeschichte betrachtet werden kann. schichtlichen Forum Leipzig zu sehen. „Sozialistische Zentralplanwirtschaft“ steht. Neben diesen stark inhaltlich ausgerichteten Recher chen werden Überlegungen zu einzelnen Objektgruppen Die Gebetskette von Enver Ş imş ek, der im der Sammlungssystematik angestellt. So muss das Haus der September 2000 das erste Opfer der Mitglieder US-Informationschef für den Marshallplan von 1951 bis Geschichte nicht alle Automarken sammeln, die in der Bun des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) 1955, der Fotoalben, seine Uniform, Ausweise und Aus desrepublik hergestellt werden. Dies wird bereits von den wurde, bringt dem Ausstellungsbesucher die neueste Geschichte näher. zeichnungen enthält. Herstellern und den zugehörigen Museen geleistet. Samm Eine museale Besonderheit sind Bildikonen und aura lungsrelevant sind vielmehr Autos mit einer Geschichte, tische Objekte. Bildikonen halten historische Momente fest, wie der Dienstwagen des ersten deutschen Bundeskanzlers born objects“ umzugehen? War früher das die stark in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt sind, oder der Ford Transit eines türkischen Gastarbeiters. analoge Flugblatt Ausdruck von Protest, fin so zum Beispiel das Originalfoto „Guerrillero heroico“ mit Ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal eines zeithis- den heute politische Auseinandersetzungen dem Porträt Che Guevaras von Alberto Korda, das in den torischen Museums ist es, zu aktuellen Themen sammeln über Websites, Blogs oder soziale Netzwerke 1970er Jahren viele Studentenbuden schmückte. Aura be zu können. So hat das Haus der Geschichte zum Beispiel statt. Auch dieses Phänomen findet Eingang sitzen einmalige, authentische Objekte, von denen eine be bereits Kontakte zur Bundesanwaltschaft, zum Bundeskri in die Sammlungsüberlegungen. Die Stiftung sondere Faszination ausgeht und in denen eine verborgene minalamt und zum Oberlandesgericht München aufgenom arbeitet kontinuierlich daran, ihre Bestände Geschichte ruht: Die Gebetskette von Enver Şimş ek, dem men, um Objekte zu gewinnen, die den Prozess gegen Beate digital nach modernsten informations- und ersten Opfer des NSU, bringt uns über dieses Glaubens- Zschäpe museal dokumentieren können. Auf Basis der wis dokumentationstechnischen Standards auf symbol sein Schicksal näher. senschaftlichen Konzeption entstand eine Sammlung, die zubereiten und über die Datenbank „Samm inzwischen über 800.000 Objekte an den Standorten Bonn, lungen im Internet“ ins Netz zu bringen. Wege ins Museum Leipzig und Berlin umfasst. Über 60.000 Objekte sind bereits abrufbar. Die digitale Aufbereitung wie auch die Fort Das Haus der Geschichte hat drei Sammlungsstrategien Netzwerke setzung des klassischen Erwerbs tragen dazu entwickelt: Das Sammeln entlang der Ausstellungsthemen, bei, unser kulturelles Gedächtnis zu erhalten die systematische Erweiterung der Sammlungsgruppen Zukünftig ist neben der Erweiterung der klassischen Ob und zugänglich zu machen. Wenn der Philo und die aktuelle Dimension „von der Straße ins Museum“. jektsammlung der Blick auf die digitale Welt zu lenken. Be soph Johann Gottfried Herder Angst vor dem Die Themen der Dauer- und Wechselausstellungen geben reits heute kommen Plakate, Karikaturen, Fotografien und „Furor des Verschwindens“ hatte, so ist das Orientierungen, zu welchen Inhalten recherchiert werden AV-Medien auch auf digitalen Trägern ins Haus. Hierauf ist Haus der Geschichte eine klare Antwort da soll. Diese Inhalte werden intensiv mit den Stiftungsgre die Stiftung technisch vorbereitet. Doch wie ist mit „digital rauf, dieser Furcht zu begegnen. Sammlungsobjekte im Depot in Berlin-Spandau > http://www.hdg.de/fileadmin/Sammlungen/ Sammlungskonzept-Stiftung-Haus-der-Geschichte.pdf > htpp://sint.hdg.de:8080/SINT5/SINT 10 museumsmagazin 1.2016
imfokus Blick in die Sammlungen Der leere Rucksack von Tuya Roth 54 kleingeschnittene Negative mit Eindrücken aus dem Gefangenenlager „7150 Grjasowez“ – als streng verbotene Bilddokumente waren sie eingenäht in den Riemen eines leeren Rucksacks und so unter Lebensgefahr nach Hause geschmuggelt worden: von der Entdeckung, Sicherung und Zugänglichmachung eines seltenen Bilderschatzes. Zeitzeugenberichte aus den rund 3.000 Kriegsgefangenenlagern auf sowjetischem Boden gibt es zahl reiche. Fotografien dieser Lager sind dagegen äußerst selten. Das hat seinen Grund: Es war nicht nur verboten, Fotografien vom Lagerleben und den schweren Arbeitseinsätzen zu machen, es war den entlas senen Häftlingen auch strengstens untersagt, schriftliche Notizen, Zeichnungen oder gar Fotos aus dem Lager mit in die Heimat zu nehmen. Nach bisherigen Erkenntnissen gelang dies nur zwei Fotografen: dem Hamburger Klaus Sasse, der zwischen 1945 und 1947 heimlich das Offizierslager „Jelabuga“ doku mentierte und Willy Steinberg aus München. Im Zuge der Objektrecherchen für die als deutsch-russisches Kooperationsprojekt entstandene Aus stellung „Kriegsgefangene. Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland – Deutsche Kriegsgefangene in Die Negative ohne Perforation der Sowjetunion“ (1995) im Haus der Geschichte entdeckte ein Mitarbeiter Motive, die in verschiedenen von Willy Steinberg gehören Alben von ehemaligen Kriegsgefangenen immer wieder auftauchten. Es gelang ihm, Willy Steinberg als seit 1993 der Stiftung. Urheber zu identifizieren und ihn in München ausfindig zu machen. 1993 kaufte die Stiftung Haus der Geschichte die Negative von Willy Steinberg an und nahm sie in ihre fotografischen Sammlungen auf. Entstehung Willy Steinberg geriet im Mai 1944 auf der Krim in Gefangenschaft und war bis Frühjahr 1949 im Offi zierslager „7150 Grjasowez“ rund 450 Kilometer nordöstlich von Moskau interniert. Im November 1946 erhielt der gelernte Fotograf von der Lagerleitung eine Kamera mit dem Auftrag, innerhalb von sechs Wochen Porträtfotos von allen rund 4.500 Lagerinsassen anzufertigen: Jeder konnte ein Passbild be kommen und, angeheftet an die Rote-Kreuz-Karte, nach Hause schicken. Auf diese Weise erfuhren viele Familien um Weihnachten 1946 erstmals, dass ihre Angehörigen noch lebten. In den Sammlungen des Hauses der Geschichte findet sich auch eine dieser Karten: Karl-Heinz Quade hat sie am 17. Februar 1947 an seine Verlobte Evi geschrieben. Das von Steinberg angefertigte Foto ist ordentlich mit etwas Zwirn an die Karte genäht. So sollte verhindert werden, dass unter dem Foto verbotenerweise mehr als die erlaubten unverfänglichen 25 Wörter geschrieben wurde. Die meisten überlieferten Auf nahmen zeigen die von der Lagerlei tung geförderten und propagandistisch genutzten Theateraufführungen und Sportveranstaltungen, die unter den Die Kriegsgefangenenpostkarte von Karl-Heinz Quade, die er am 17. Februar 1947 an seine Verlobte schrieb, zeigt ein Porträt Quades, das von Willy Steinberg angefertigt wurde. 12 museumsmagazin 1.2016 museumsmagazin 1.2016 13
imfokus Gefangenen als besondere Anlässe galten und die Monotonie des Lageralltags un terbrachen. Andere Fotografien vermitteln, auch mit ausdrücklicher Genehmigung der Lagerleitung, einen Eindruck vom alltäglichen Leben im Lager. Dies war, so Karl-Heinz Quade, „dank relativ guter Organisation wohl eines der am humansten geführten Lager der über 3.000 Lager in der Sowjetunion“. Die fast pittoresk anmu tenden Motive stehen im krassen Gegensatz zu den drei Aufnahmen, die Steinberg heimlich und unter Lebensgefahr von den Holzfällerarbeiten im Wald bei Panowka machte: Männer, die bei eisiger Kälte im tiefen Schnee mit primitivsten Werkzeu gen riesige Bäume fällen, zerlegen und abtransportieren. Sie zeigen eindrücklich das von ehemaligen Kriegsgefangenen immer wieder erinnerte Bild von Hunger, schwerer Arbeit und Kälte. Vor seiner Entlassung im Frühjahr 1949 hatte Willy Steinberg aus den Klein bildfilmrollen 54 Negative in Einzelbilder geschnitten und zusätzlich die Perforation Weihnachten im Lager 7150 (l.u.): der Rollfilme entfernt, um sie weiter zu verkleinern. Dann nähte er die Negative sorgfältig in die Trag Wir suchen zur Ergänzung dieses Die Kriegsgefangenen Hans Primus aus riemen seines ansonsten leeren Rucksacks ein. So konnte er sie durch alle Kontrollen nach Deutschland Bestandes weitere Fotoalben, in denen Herne und Heinz Kirschnick aus Düsseldorf schmuggeln. Bereits im Dezember 1949 veröffentlichte die Zeitschrift Heute unter dem Titel „Kriegsge sich Abzüge aus dem Kriegsgefange- feiern in einem Werkstattraum Heiligabend. fangenen-Lager 7150“ einige der Motive – allerdings ohne Nennung des Fotografen. Steinberg eröffnete nenlager „7150 Grjasowez“ befinden, Willy Steinberg fotografierte weiterhin nach seiner Rückkehr in München ein Fotogeschäft. Dieses wurde schon bald ein wichtiger Anlaufpunkt die auf die Negative von Willy Steinberg die Wäscherei (l.o.), Turmspringer (Mitte) für ehemalige Mitgefangene, denen er Abzüge von den geretteten Negativen fertigte. So finden sich die zurückgehen. Bitte melden Sie sich und die Blaskapelle im Gefangenenlager äußerst seltenen Aufnahmen aus Grjasowez in Alben und Nachlässen zahlreicher ehemaliger Mitgefan bei Dr. Tuya Roth (roth@hdg.de oder „7150 Grjasowez“. gener und erfahren dadurch eine gewisse Verbreitung. Häufig gehen die Angehörigen davon aus, dass 0228-9165 233). die Fotos von den Gefangenen selbst angefertigt wurden. Dies ist nicht der Fall. Sie alle gehen auf die Negative von Willy Steinberg zurück. Zugänglichmachung Seit 1993 liegen die originalen Negative bei optimaler Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit im Fotode pot der Stiftung Haus der Geschichte, um sie konservatorisch möglichst lange zu sichern. Im Rahmen der Langzeitarchivierung wurde diese zeitgeschichtliche Dokumentation von kaum zu schätzendem Wert im Jahr 2014 hochauflösend digitalisiert. Eine erweiterte Rechteklärung mit den Nachkommen von Steinberg, der 2009 verstarb, ermöglicht es heute, diese seltenen Motive über die Objektdatenbank der Stiftung im Internet für alle Nutzer öffentlich zugänglich und einsehbar zu machen. > www.hdg.de/sint Holzfällerarbeiten gehörten zu den gefürchtetsten Außenkommandos im Kriegsgefangenenlager 7150: Der tägliche Anmarsch betrug acht Kilometer, dann folgte pausenloses Baumfällen bei 30–40 Grad Kälte. Viele starben bei dieser schweren Arbeit. 14 museumsmagazin 1.2016 museumsmagazin 1.2016 15
imfokus Bundeswehrsoldaten der ISAF auf Patrouille in der Provinz Faisabad, Afghanistan 2005 Aktuell zeugen über 500 Objekte in den Sammlungen des Hauses der Geschichte von den Aufgaben und Gefahren, dem Lebens- und Arbeitsalltag der deutschen Truppen am Hindukusch, den Leistungen der Bundeswehr, der Interaktion mit der afghanischen Bevölkerung und auch von der öffentlich geführten Auseinan dersetzung über den ISAF-Einsatz. Ein Operationsplan, der die taktischen Vorbereitungen zur Einnahme der militärisch bedeutsamen Anhöhe 431 im nordafghanischen Distrikt Chahar Darreh aufzeigt, ist Bestandteil der Dauerausstellung des Hauses der Geschich te. In den Sammlungen dokumentieren Teile eines Tornados der Bundeswehr mit dem Emblem „Einsatzgeschwader Mazar-e Sharif“ die Beteiligung deutscher Streitkräfte, wie auch die Erkennungsmarke einer Offizierin, die als erste Frau einen Infanteriezug im Gefecht befehligte. Der Nachbau einer von Taliban ge bauten Sprengfalle, wie sie in Afghanistan gegen die ISAF-Truppen eingesetzt wurde, diente den Soldaten zur Vorbereitung auf den Einsatz und führt dem Mu seumsbesucher vor Augen, welchen Gefahren die Soldaten ausgesetzt sind. Als Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung ausgetauschte Münzen, sogenannte Einsatzcoins, symbolisieren die Zusammenarbeit der verbündeten Streitkräfte. Zeugen der Zeitgeschichte Von dem Fallschirmjägerbataillon 313 im niedersächsischen Seedorf erhielt die Stiftung Objekte, denen die Soldaten selbst einen besonderen Wert beimessen: Flaggen und Solidaritätsschleifen der benachbarten Gemeinden sollten den Soldaten Glück bringen und waren als „ein Stück Heimat“ nach Afghanistan mitgeführt worden. Ein Bettlaken, das am deutschen Standort von Angehöri gen und Freunden mit Grüßen für die Soldaten im Einsatz beschrieben wurde, gelangte mit der Feldpost nach Afghanistan und wurde in der dortigen Betreu ungseinrichtung aufgehängt. Während seiner Stationierung, so berichtete später ein Oberstabsfeldwebel, habe er viele Soldaten gesehen, die sich immer wieder die an sie gerichteten Grüße angesehen haben. Mit diesen Objekten, die ganz persönliche Geschichten erzählen, wurde ein für die Soldaten wichtiger Aspekt aufgegriffen, der bislang in den Sammlungen des Hauses der Geschichte fehlte: Bundeswehreinsatz in Afghanistan die Verbundenheit der Bevölkerung mit den Truppen im Einsatz. Die Stiftung erhielt für ihre Sammlungen zudem Unterlagen zur Trauer Spurensuche feier eines bei einem Selbstmordanschlag in Afghanistan getöteten Oberfeldwe bels und eine Patrone aus seinem Patronengurt, in die ein Schrapnell aus der Sprengstoffweste des Selbstmordattentäters eingedrungen war. Ein Kamerad von Judith Koberstein hatte sie zur Erinnerung an den gefallenen Soldaten an sich genommen. Als stumme Zeugen der Geschichte halten auch diese Objekte die Erinnerung an das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan wach. Einen hohen Stellenwert für die Sammlungen der Stiftung Haus der Geschichte haben Ereignisse Ein gepanzertes Bundeswehrfahrzeug Das Bettlaken wurde im Standort Seedorf von den der unmittelbaren Gegenwart, die die deutsche Geschichte prägen und nicht in Vergessenheit gerät im Frühjahr 2010 nahe Kunduz in eine Angehörigen und Freunden der Soldaten im Einsatz be- geraten dürfen – so auch die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Die Anschläge des Sprengfalle und wird anschließend von den schrieben, mit der Feldpost verschickt und im Bereich Taliban unter Beschuss genommen. der Betreuungseinrichtung in Kunduz aufgehängt. 11. September 2001 hatten schlagartig eine neue Gefahrenlage in der Welt offenbart und rückten Afghanistan in den Fokus der internationalen Staatengemeinschaft. Im Rahmen der „International Security Assistance Force“ (ISAF) der Vereinten Nationen trafen im Januar 2002 die ersten deutschen Soldaten in Afghanistan ein, nachdem der Deutsche Bundestag auf Antrag der rot-grünen Regierung das erste Afghanistan-Mandat am 22. Dezember 2001 verabschiedet hatte. Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung: Einsatzcoins Das Feldtagebuch des Oberstleutnant Boris Barschow umspannt den Zeit- raum vom 19. Mai bis zum 19. August 2009. Barschow war während dieser Zeit „Interkultureller Einsatzberater“ im Stab des Regional Command North in Mazar-e Sharif. 16 museumsmagazin 1.2016 museumsmagazin 1.2016 17
imfokus Fotograf Stanislav Krupar mit Syrern auf der Flucht nach Europa Mit offenen Augen von Ulrike Zander Im Frühjahr 2014 begleiteten der Journalist Wolfgang Bauer und der Fotograf Stanislav Krupar für das Zeitmagazin zwei syrische Brüder auf ihrer Flucht von Ägypten über das Mittelmeer nach Europa. Krupar hat auf dieser Reise außergewöhnliche Fotografien von dem angefertigt, was er sah: eine humanitäre Katastrophe. Die Stiftung Haus der Geschichte hat diese Bilder für ihre Sammlungen erworben. Das museumsmagazin sprach mit dem Fotografen über die Amar und weitere Flüchtlinge Geschichten, die seine Bilder erzählen. mm Was war das Ziel Ihrer Aktion, im Boot auf der Flucht bei der Sie sich syrischen Flüchtlingen nach Europa anschlossen? Krupar Die Reise war von Wolfgang organisiert worden – meinem guten Freund. Wir wollten zunächst den mm Welche Momente und Erlebnisse Mann finden, der von Ägypten nach waren für Sie besonders hart, aufre Europa, genauer gesagt Italien, ge gend oder berührend? hen wollte und ihn davon überzeu Krupar Ein schreckliches Erlebnis war gen, uns mitzunehmen. Wir fanden die Entführung unseres Minibusses. ihn und begleiteten diesen Mann aus Mitten in der Nacht übernahmen in Syrien. Niemand außer ihm wusste den Außenbezirken von Alexandria von unserer Identität. Wir gaben vor, höchstwahrscheinlich bewaffnete Flüchtlinge aus dem Kaukasus zu Männer unseren Bus, der uns Flücht sein, weil wir kein Arabisch sprechen linge zum Meer bringen sollte – das können und auch nicht wie Araber war sehr gefährlich. Es war der Mo aussehen. Alle anderen Flüchtlinge, ment, als ein böser Kampf zwischen die wir später trafen – unsere Gruppe unseren Schleppern und den Kidnap wuchs auf 19 Personen an – wussten pern stattfand. Letztlich ging es gut bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir aus, aber ein paar Minuten lang hatte verhaftet wurden, nicht, wer wir wa ich richtig Angst. ren. Ziel der Reise war eine Reportage Der wahrscheinlich bewegendste Mo für das Zeitmagazin über eines der ment war, als wir die Boote sahen. wichtigsten Themen unserer Zeit: die Wir waren endlich aus Alexandria Flüchtlingskrise. Zu Beginn des Jah herausgekommen und wollten die res 2014 war sie noch nicht so massiv Boote besteigen, die uns nach Euro wie heute, aber sie stellte bereits ein pa bringen sollten. Der Strand ist der großes Problem dar. gefährlichste Abschnitt auf der Flucht nach Europa, weil die Flüchtlinge dort mm Da sie verdeckt arbeiteten und re Banditen, Schmugglern und der Küs- cherchierten, war es ein gefährliches tenwache ausgeliefert sind. Die jun Projekt. gen Männer liefen als Erste los, denn Krupar In diesem Fall gab es nur eine die Letzten werden oft am Strand Möglichkeit, diese Geschichte zu be zurückgelassen. Bis zur Brust mus kommen, weil uns niemand auf der sten wir ins Wasser waten, um den Flucht mitgenommen hätte, wenn er Kahn zu erreichen. Ein 13-jähriges gewusst hätte, dass wir ein westli Mädchen weinte und schrie die gan cher Journalist und Fotograf sind. Die ze Zeit auf dem Deck, weil ihre Mutter Wahl war sehr einfach: diese Reise noch am Ufer stand. Oft werden Fa nicht zu unternehmen oder vorzuge milien beim Einschiffen getrennt. Die ben, dass wir keine Journalisten sind. Menschen kämpften um ihr Leben. Die Flüchtlinge werden von der ägyptischen Küstenwache auf Nelson Island verhaftet und müssen ein Schlauchboot besteigen. 18 museumsmagazin 1.2016 museumsmagazin 1.2016 19
Vor der Flucht: Amar mit seiner Familie Die Flüchtlinge im Boot der Schmuggler, in ihrem Wohnzimmer in Kairo kurz vor ihrer Verhaftung auf Nelson Island Das Mädchen Bissan inmitten schlafender Flüchtlinge im Gefängnis in Alexandria (oben) Ich hatte das Gefühl, eine Szene aus kei ausgeflogen wurden und wussten, ge Fotos von den intensiven Momenten Amar mit syrischen Pässen und einem Auschwitz zu erleben. Das war der dass wir frei waren, aber alle ande auf Nelson Island gemacht und später deutschen Visum (Mitte li.) schlimmste Augenblick in meinem ren Flüchtlinge, die inzwischen un von der Gefängniszelle, als wir ver Leben. Doch in diesem Fall schrie das sere Freunde geworden waren, im haftet worden waren. Im Gefängnis Im Sommer 2014 erreicht er Frankfurt Kind so laut, dass die Männer um Gefängnis bleiben mussten. Nur weil ging es besser, weil inzwischen alle am Main und lässt seine Familie kehrten, die Mutter ins Boot zogen wir einen deutschen und tschechi Flüchtlinge wussten, wer wir waren. nachkommen (Mitte re. und unten). und dann auf das Meer hinausjagten. schen Pass hatten, durften wir gehen. Ich glaube sogar, dass die Menschen Wir wurden danach auf der Insel Nel Sehr wahrscheinlich würden unse froh darüber waren, dass jemand die son Island abgesetzt, wo wir uns ver re Freunde eines Tages freikommen, se schreckliche Situation dokumen mm Sind Ihre Fotografien eine Art steckten und stundenlang warteten, aber die Zukunft, die sie erwartete, tierte und nach außen bringen wollte. Geschichtenerzähler? bis die Küstenwache kam und uns war dunkel. Das war sehr deprimie Die Polizeiwachen hatten mich direkt Krupar Das würde ich mir wünschen. entdeckte. Es war eine sowohl fürch rend für mich. gefragt: „Wo ist Deine Kamera?“ Ich Doch gerade bei dieser Geschich terliche als auch intensive Erfahrung. hatte noch eine klassische Spiegel- te habe ich meine größten Zweifel. Die Soldaten traten und schlugen uns, mm Sind in diesen intensiven Momen reflexkamera in meinem Rucksack, Wenn ich die Möglichkeit gehabt hät bis wir in den Dreck fielen, wir muss- ten die besten Fotos entstanden? die ich zuvor nicht benutzt hatte und te, wie ein professioneller Fotograf ten im Wasser in einer Reihe knien – Krupar Zum Teil. Wenn ich fotogra ich hatte Filme. Als mich also der Po mit der Ausrüstung zu arbeiten, die das war der Moment, als wir zuga fierte, habe ich die Bilder in gewisser lizist fragte, wo meine Kamera sei, ich ich normalerweise zur Verfügung ben, Journalist und Fotograf zu sein. Weise gestohlen. Zu Beginn habe ich sei doch ein Fotograf, ich solle sie ihm habe, hätte ich großartige Bilder her Danach wurden wir in ein Gefängnis mein iPhone benutzt, um unbemerkt sofort aushändigen, gab ich ihm eine vorbringen können. Daher mag ich in Alexandria gebracht. Am Anfang zu fotografieren. Niemand durfte wis Kamera, ohne dass er wusste, dass meine Bilder nicht besonders. Sie ha dachten wir noch, dass wir innerhalb sen, wer wir waren, sonst hätten wir ich eine weitere im Rucksack hatte. ben keine Schärfe, keine Komposition. einiger Stunden befreit werden wür riesigen Ärger bekommen. Ich gab Sie nahmen keine weitere Durchsu Dennoch sind es die einzigen Fotos, den, aber das war nicht der Fall. Die vor, abhängig von meinem iPhone zu chung vor. die aus den Fluchtbooten der Schlep Deutsche Botschaft war zu Beginn sein und zu spielen – zum Beispiel auf per in Nordafrika existieren. Ich habe noch sehr optimistisch, wurde Tag Nelson Island – und dabei versuchte mm Was genau wollten Sie mit Ihren bisher keine Bilder dieser Art gese für Tag aber immer pessimistischer, ich, Fotos zu machen. Ich verstand, Fotos festhalten? hen. Meine Arbeit ist demnach pure bis sie uns mitteilten: „Hey, Männer, dass die Situation so dramatisch war, Krupar Ich möchte zeigen, was in die Dokumentation, leider konnte ich den wir tun unser Bestes, aber es scheint, dass ich verhaftet worden wäre, wenn ser Welt passiert. Dabei möchte ich künstlerischen Anspruch nicht erfül als würdet Ihr noch für eine ganze ich meine kleine Fuji-Kompaktkamera keine Politik machen und niemanden len. Weile hier bleiben müssen.“ Wir frag aus meinem Rucksack geholt hätte, mit meinen Bildern dazu bringen, die ten: „Was heißt ‚eine ganze Weile‘?“ wo sie tief unten versteckt war. Ich Welt zu retten. Ich bin Fotograf, weil mm Wie haben sich Ihre Ansichten Sie antworteten: „Vielleicht einige Mo begann also, Fotos zu machen, aber es aufregend ist, die Dinge um mich nach dieser Reise bezüglich der aktu nate, vielleicht noch länger.“ Das war es war extrem schwierig: Es war Mit herum zu dokumentieren. Ich war ellen Flüchtlingspolitik verändert? sehr deprimierend. ternacht, die Kamera konnte kaum Zeuge des Geschehens. Ich konnte zei Krupar Es war für mich eine Aktion, Sehr intensiv haben wir auch den scharf stellen, ich fror so stark, dass gen, was sonst verborgen geblieben die mir die Augen geöffnet hat. Es hat letzten Moment am Flughafen von ich mein Gerät kaum in den Händen und niemals ans Tageslicht gekom mein Leben in vielerlei Hinsicht ver Alexandria erlebt, als wir in die Tür halten konnte. Dennoch habe ich eini men wäre. ändert. 20 museumsmagazin 1.2016 museumsmagazin 1.2016 21
inbonn Erstes Barcamp für Historiker Tweetup im Haus der Geschichte Histocamp „Das ist schon ziemlich gut gemacht!“, twitterte ein Teilnehmer bei der großen Abendveranstaltung im Haus der Geschichte in Bonn am ersten Histocamp-Tag. Bei einem großen Tweetup von Stefanie Eisenhuth und Tim Köhler durch die Dauerausstellung bekamen die rund 120 Mitwirkenden einen Blick hinter die Kulissen und erfuhren in thematisch unter- schiedlichen Gruppen, wie die Ausstellung konzipiert ist. So wur- de bei einer Twitter-Begleitung das Augenmerk auf den Einsatz von Objekten gelegt, während eine andere Gruppe mehr über „Wir sind der akademischen Konferenzen überdrüssig“, klagte Christy Wampole von der Princeton „So einen hatten wir auch“ – Fotografien in der Dauerausstellung erfuhr. Auch der Einsatz von University im Mai 2015 in der New York Times. Ihre Kritik am herkömmlichen Format wissenschaftlicher Zeitzeugen-Beiträgen und Medien war ein Themenschwerpunkt. Veranstaltungen – monotone Vorträge, geringer Unterhaltungswert, ritualisierte Diskussionen – sprach Museumsobjekte im digitalen Raum Besonders beliebt war die Gruppe „Gestaltung“, in der die Ge- schichtsbegeisterten Sichtachsen in der Dauerausstellung und vielen Kollegen aus der Seele. Ihr Fazit: Dieses Veranstaltungsformat gehört der Vergangenheit an. Beim ersten Barcamp für Geschichtsinteressierte wollte die On- andere architektonische Besonderheiten des Ausstellungsauf- Wampoles Conference Manifesto erregte viel Aufmerksamkeit und hat wohl auch die Organisatoren line-Redaktion der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn nicht baus entdeckten. Der Hashtag #HausDerGeschichte schaffte es des Histocamps inspiriert. Gemeinsam mit der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik nur dabei sein, sondern auch einen eigenen Workshop anbieten. an diesem Abend trotz gleichzeitiger Bundesliga-Spiele prompt Rund 25 Teilnehmer des Histocamps entschieden sich für die auf Platz 1 der Trending Topics auf Twitter. Abschließend konnten Deutschland, dem Archiv der sozialen Demokratie und der Friedrich-Ebert-Stiftung lud der neu Session „Museumsobjekte im digitalen Raum“ und diskutierten sich die Teilnehmer im Foyer des Hauses der Geschichte im ge- gegründete Open History e.V. am 27. und 28. November 2015 nach Bonn ein. darüber, wie die Stiftung Objekte aus ihren Sammlungen online mütlichen Rahmen austauschen. Veronica Vargas Gonzalez präsentiert: in Apps, auf den Social-Media-Kanälen und natürlich Die Organisatoren beschrieben ihre Veranstaltung als „das zur Pflicht, ein gewisser Enthusiasmus vorausgesetzt. Das im Lebendigen Museum Online (LeMO). „Objekte haben für uns erste Barcamp für alle, die an und mit Geschichte arbeiten“ Ziel ist ein Austausch auf Augenhöhe unter Interessierten. eine zentrale Bedeutung, weil sie einen emotionalen, intellektu- Das Haus der Geschichte in Bonn veranstal- und setzten sich zum Ziel, die bestehenden Forschungs-, ellen und nachhaltigen Zugang zur Geschichte ermöglichen“, er- tete einen Tweetup sowie den Workshop Tagungs- und Netzwerkgepflogenheiten in der Geschichts- Das erste Histocamp läuterte Johanna Volkwein und hob gleichzeitig die wichtige Rolle „Museumsobjekte im digitalen Raum“. wissenschaft aufzulockern und diese zu bereichern. des digitalen Besuchers für die Stiftung hervor. Im Gespräch mit Neben Studierenden und Wissenschaftlern kamen Mitarbei- den Teilnehmern ging es um die Frage, wie sich die bisherigen Barcamp ter von Gedenkstätten, Museen und Archiven sowie Fach- Angebote spannend und zielgruppengerecht weiterentwickeln fremde und Laien zum ersten Histocamp nach Bonn. Alle An- lassen – etwa mit einem stärkeren Fokus auf Videoinhalte. Am Barcamps sind „Un-Konferenzen“, deren Charakter zwar wesenden stellten sich zu Beginn kurz vor und beschrieben Ende nahm jeder neue Impulse für die Redaktionsarbeit und Pra- strukturiert, dennoch von Spontaneität und Improvisations- sich mit Hilfe von drei Hashtags, also Twitter-Schlagwörtern, xistipps anderer Museumskollegen mit in seinen Arbeitsalltag. freude geprägt ist. Die vorangestellte Silbe „Bar“ wird von was auch als Verweis auf die überaus präsente Medienbe- Maren Walther Programmierern als eine Art Blindtext oder Platzhalter in gleitung der Veranstaltung zu verstehen war. Anschließend ihren Quellcodes verwendet. Inzwischen haben viele Bran- ging es in die Planung der jeweils 45-minütigen Sessions: chen weltweit dieses Veranstaltungsformat aufgegriffen. Themenvorschläge wurden präsentiert, auf Kärtchen ge- Als intensiv und inspirierend empfinden die Teilnehmer die schrieben und Räumen zugewiesen. Die Inhalte der Sessions „Sessions“, deren Themen und Formate sie erst während waren sehr breit aufgestellt: Sie reichten von aktuellen und des Camps vorstellen, um dann die Anwesenden über das relevanten Fragen wie „Ist der Geschichtsverein tot?“ und Ob und Wie abstimmen zu lassen. Aktive Teilhabe wird hier „Berlin – ein ‚Disneyland‘ der Zeitgeschichte?“ über „Kir- chenbau + Blog = Erfolg?“ hin zu Themen wie „Historische Unternehmensberatung“. Sämtliche Sessions wurden proto- In der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn kolliert, einige auch als Film bei YouTube veröffentlicht. Viele fanden zahlreiche Veranstaltungen Teilnehmer kommunizierten ihre Eindrücke, Gedanken und des Histocamps statt. Fragen zusätzlich per Twitter.
inbonn „Rückblende 2015“ in Bonn und Leipzig Bilder, die an die unmittelbare Nachkriegszeit Die Sieger der 32. Rückblende haben sich dem Thema ge- widmet, welches das letzte Jahr wie kein zweites prägte: die erinnern, hinter denen Krieg, Terror und Angst Unruhige Zeiten Flüchtlingskrise. Der freie Fotojournalist Christian Mang stehen, aber auch Solidarität und Hoffnung: aus Berlin erhielt für das Bild eines improvisierten Flücht- Das Jahr 2015 war vor allem von dramatischen lingslagers nahe der slowenisch-österreichischen Grenze Ereignissen geprägt. Entsprechend spiegeln die den ersten Preis in der Kategorie Fotografie und damit 7.000 Euro. Der Karikaturist Thomas Plaßmann überzeug- Fotografien und Karikaturen der „Rückblende te die Jury mit seiner Karikatur über Flüchtlinge, die sich von Ulrike Zander 2015“ – dem Wettbewerb zum deutschen Preis beim Sprachunterricht über die Korruptionsvorwürfe beim für politische Fotografie und Karikatur – ein DFB, die Verspätungen der Bahn und den VW-Abgas-Skan- dal als „Deutsche Leitkultur“ amüsieren. Sean Gallup von schwieriges und unruhiges Jahr in Politik und getty images fotografierte Flüchtlinge, die am Hauptbahn- Gesellschaft. hof in München im November 2015 ankommen und ein Bild von Bundeskanzlerin Angela Merkel an sich drücken. Für diese Fotografie erhielt Gallup den dritten Fotopreis. Den zweiten Platz belegte John MacDougall von AFP mit ei- nem Thema, das zu Beginn des Jahres die Welt erschreckte und im November 2015 durch neue Terrorangriffe in Paris wiederum für Aufregung sorgte: Menschen zeigen sich im Januar 2015 vor der französischen Botschaft in Berlin solidarisch mit den ermordeten Journalisten des Maga- zins Charlie Hebdo und halten Schilder mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ hoch. Ausstellung „Rückblende“ Die Teilnehmerzahlen der „Rückblende 2015“ erreichten mit 216 Fotografen und 59 Karikaturisten wieder Rekord- niveau. Über 1.000 Arbeiten wurden für den Wettbewerb zum deutschen Preis für politische Fotografie und Kari- katur eingereicht. Die Landesvertretung Rheinland-Pfalz veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger auch die Ausstellung „Rück- blende 2015“, die vom 11. Mai bis zum 5. Juni 2016 im Haus der Geschichte in Bonn und vom 13. Juli bis zum 28. August 2016 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu sehen sein wird. In der Jury für den Karikaturenpreis der Deutschen Tageszeitungen wählten auch der wissenschaft- liche Mitarbeiter der Stiftung Haus der Geschichte Ulrich Op de Hipt sowie der Karikaturist Klaus Stuttmann mit, der im vergangenen Jahr zu den Preisträgern zählte. Flüchtlinge warten im November 2015 am Grenzübergang Die Ausstellung präsentiert 100 Fotografien und 50 Spielfeld (Slowenien) im sogenannten Niemandsland, um ausgewählte Karikaturen, die für die Besucher nicht nur nach Österreich eingelassen zu werden. Diese Fotografie eine spannende Rückschau auf das vergangene Jahr dar- von Christian Mang wurde mit dem ersten Preis der Rück- blende ausgezeichnet. stellen, sondern durch die jeweils gewählte Perspektive auf die Ereignisse einen neuen Zugang zur neuesten Zeitge- schichte anbieten. Der freie Fotograf Paul Langrock erhielt für sein Bild „Zugreisende vor Riesenbanner an der VW-Firmenzentrale, Wolfsburg 2015“ den Sonderpreis „Das scharfe Sehen“. (li.) Der dritte Fotopreis der Rückblende ging an Sean Gallup für sein Bild „Ein Flüchtling bei der Ankunft am Hauptbahnhof“, München im Oktober 2015. (Mitte) Der erste Karikaturenpreis ging an Thomas Plaßmann für seine Karikatur „Deutsche Leitkultur“, Frankfurter Rundschau, 27. Oktober 2015. (re.) 24 museumsmagazin 1.2016 museumsmagazin 1.2016 25
1 2 3 4 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition Nicht ohne die Wissensc haft von Ulrike Zander Ist die Herausgabe einer kritischen Edition von Mein Kampf notwendig? Eindeutig ja, so die Herausgeber, die ihre zweibändige Edition am 26. Januar 2016 im Haus der Geschichte in Bonn vorstellten. Die Urheberrechte des Freistaates Bayern an Adolf Hitlers und wissenschaftlichen Leiter des Editionsprojektes hatte das Institut für Zeitgeschichte seit 2012 Satz für Mein Kampf waren am 31. Dezember 2015 erloschen. „Es Dr. Christian Hartmann 1, Prof. Dr. Andreas Wirsching 2, Satz auseinandergenommen und mit mehr als 3.700 wäre unverantwortlich gewesen, dieses Werk ab dem Prof. Dr. Helmuth Kiesel 3, Professor für Neuere deutsche Fußnoten, einer umfangreichen Einleitung und einem 1. Januar 2016 frei vagabundieren zu lassen“, erklärte der Literatur an der Universität Heidelberg und dem Präsi- Überblick über den aktuellen Forschungsstand Hitlers Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Prof. Dr. Andreas denten der Stiftung Haus der Geschichte Prof. Dr. Hans nationalsozialistisch-rassistischer Weltanschauung wis- Wirsching. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Walter Hütter 4, der den Abend moderierte. Hartmann senschaftliche Fakten entgegengesetzt. Im Kampf mit Buch sei schon alleine deshalb unverzichtbar gewesen, erklärte die überwältigende Resonanz mit der Tatsache, der Zeit und trotz zurückgezogener Fördermittel von weil der Leser Hitler nicht ohne die Wissenschaft wahr- dass viele Menschen eine Beziehung zu dem Buch hätten Seiten der bayrischen Regierung brachte das Institut die nehmen solle. Die erste wissenschaftlich kommentierte und das Interesse, was darin stehe, groß sei: „Es ist eines Edition pünktlich zu Beginn des Jahres 2016 im Eigen- Gesamtausgabe des Buches durch das Institut für Zeit- der letzten echten Relikte des ‚Dritten Reiches‘, an das verlag heraus und füllte damit ein Desiderat. „Das Buch geschichte, München-Berlin rief ein riesiges Publikum- man bisher nicht herankam“, so der Herausgeber. Hitler Mein Kampf darf nicht unterschätzt werden“, erklärte sinteresse hervor: 530 Zuhörer verfolgten die Buchvor- hatte Mein Kampf von 1924 bis 1926 geschrieben, den Kiesel unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunk- stellung und das Gespräch zwischen dem Herausgeber ersten Band in der Festungshaftanstalt Landsberg, wo ten. Es sei Teil der Weltanschauungsliteratur seiner Zeit. er nach dem gescheiterten Putsch- Die Edition des Werkes sei wichtig und unterstreiche versuch in München seine Gefäng- den historischen Erfahrungs- und Erkenntniswert. „Es nisstrafe verbüßte. Bis 1944 wurden war für uns die Auseinandersetzung mit einem Symbol“, über zwölf Millionen Exemplare ver- so Hartmann. „Das Buch ist eine Art Selbstvergewis- kauft. Nach dem Zweiten Weltkrieg serung für Hitler gewesen, als er vor dem Nichts stand war ein Neudruck in Deutschland und in Festungshaft saß. Er erfand aus sich heraus sei- verboten – so hatte es der Frei- ne Biografie, seine Ideologie, die Partei und das Reich staat Bayern entschieden, der in neu.“ Wirsching fügte ergänzend hinzu: „Daher haben Rechtsnachfolge des nationalsozia- wir uns entschieden, eine interpretierende Edition mit listischen Eher-Verlags die Urhe- Standpunkt herauszugeben.“ Der Kommentar breche die berrechte bis zum Ende des Jahres politisch-ideologische Programmschrift Hitlers und ver- 2015 hielt. Vor diesem Hintergrund hindere ein empathisches Lesen. Die Veranstaltung im Haus der Geschichte am 26. Januar 2016 rief ein so großes Publikumsinteresse hervor, dass sie aus dem Saal zusätzlich ins Foyer übertragen wurde. museumsmagazin 1.2016 27
Ende November 2015 eröffnete die Fotografin Zuhause ist ein fernes Land. Fotografien von Gundula Schulze Eldowy Gundula Schulze Eldowy (li.) die Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Jenseits der Propaganda Gleich das erste Bild der Ausstellung bleibt haften: Es ist voller Poesie und zugleich eine skurrile Situation. Es ver- dichtet Sichtbares, zeigt Verborgenes und regt aufgrund seiner fehlenden Eindeutigkeit zu Fragen an: Was macht das Mädchen mit den Engelsflügeln auf dem Dach des Ge- Intuition, Inspiration und Improvisation Den „gründlichen Blick“, so Schulze Eldowy in einem Ge- von Peter Paul Schwarz räteschuppens inmitten der verfallenen Häuser? Bemer- spräch mit dem Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums kenswert in den Fotografien der 1954 in Erfurt geborenen Leipzig am Eröffnungsabend, habe sie bei den französi- Fotografin ist der „Respekt vor denen, die abgebildet wer- schen Romanciers gelernt. Geschult hat sie ihn beim Pio- den“, so Reiche. Auch das engelsgleiche Mädchen hat große nier der fotografischen Neuen Sachlichkeit Paul Strand und Die Postbotin hält trotz Brille und Lupe den Briefumschlag dicht vor ihre trüben Augen – der Betrachter Würde. Das 1987 in Ost-Berlin entstandene Bild beinhaltet der einflussreichen Vertreterin der sozialdokumentarischen wesentliche Charakteristika des Schaffens der Künstlerin, Fotografie Diane Arbus. Mit dem Anspruch, das „ganze Po- des Bildes „Briefträgerin“ ahnt, dass dieser Brief seinen Empfänger wohl nie erreicht haben wird. die von 1979 bis 1984 Fotografie in Leipzig studierte. Aus tenzial“ des Menschen sichtbar machen zu wollen, emanzi- Die Bilder der Fotografin Gundula Schulze Eldowy bieten „Innenansichten vom Alltag in der DDR“, verschiedenen Werkgruppen werden rund 75 Fotografien pierte sie sich von ihren Vorbildern: „Intuition, Inspiration wie der Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig Dr. Jürgen Reiche zur Ausstellungseröffnung präsentiert. Sie ermöglichen eindrucksvolle und facetten- und Improvisation“ wurden zur Antriebsfeder ihrer Foto- am 25. November 2015 erklärte. Menschen, Leben und Sterben stehen im Mittelpunkt der Fotografien. reiche Einblicke in die Gesellschaft der DDR in den 1980er grafie, resümierte Schulze Eldowy. Auf diese Weise entstan- Jahren – eine Gesellschaft zwischen wirtschaftlicher Misere, den Bilder mit einer ganz eigenen Handschrift: Fotografien Bis zum 14. August 2016 lädt die beeindruckende Ausstellung „Zuhause ist ein fernes Land“ in Leipzig staatlichen Zwängen, individuellem Aufbegehren und der von maroder Industrie und verfallenen Häusern entlarven ein, diese künstlerischen Dokumente der Zeitgeschichte zu entdecken. verzweifelten Suche nach Glück. die DDR-Propaganda. Es nimmt nicht wunder, dass die Künstlerin vom Ministerium für Staatssicherheit überwacht wurde. Auch wichtige Stationen der friedlichen Revolution Die Künstlerin zusammen mit dem in Leipzig hat Schulze Eldowy eingefangen. Andere Bilder Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums erzählen vom vermeintlich kleinen Glück, machen gebro- Leipzig Jürgen Reiche chene Biografien sichtbar, offenbaren Abgründe.
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