Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...

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Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
1.2016
                                      2 € ISSN 1433-349X

            www.museumsmagazin.com

Sammeln für die Zukunft
              Objekte im Museum
        Zuhause ist ein fernes Land
              Fotografien von Gundula Schulze Eldowy
Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
intro
                                          Griechenland-Rettung, Flüchtlingsdrama, NSA-Skandal, frem-
                                          denfeindliche Demonstrationen und IS-Terror – wie lassen sich
                                          Ereignisse unserer Gegenwart im Museum abbilden und wie
                                          können wir sie für die Nachwelt erhalten?
                                                Als Museum für Zeitgeschichte erweitert die Stiftung
                                          Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stetig
                                          ihre Sammlungsbestände und sammelt auch aus der unmittel-
                                          baren Gegenwart. So bieten Führungsunterlagen der Schutz-
                                          kompanie Kunduz oder die Einsatzmarke eines Soldaten des
                                          Fallschirmjägerbataillons 313 aus Afghanistan einen aussage-
                                          kräftigen Zugang zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
                                          Mehr dazu lesen Sie im aktuellen Magazin.
                                                Mehr als 800.000 Objekte umfassen die Sammlungen
                                          der Stiftung an den drei Standorten in Bonn, Leipzig und Berlin.
                                          Museumsobjekte sind verknüpft mit Erinnerungen und zeugen
                                          von großen historischen Ereignissen ebenso wie von kleinen
                                          Begebenheiten des Alltags. Die faszinierenden Geschichten,
                                          die hinter all diesen Objekten stecken, bewahren wir auf, um
                                          auch in Zukunft Fragen an die Vergangenheit beantworten zu
                                          können.
                                                Besonderheiten aus den Sammlungen zeigen wir auch
                                          in zwei neuen Wechselausstellungen in Leipzig und Berlin.
                                          Fotografien von Gundula Schulze Eldowy dokumentieren im
                                          Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig das Leben in der DDR und
                                          blicken in eine Welt hinter der Propaganda-Fassade der SED-
                                          Diktatur. Ausgewählte Beispiele von Alltagsgegenständen
                                          und Industriedesign aus der DDR veranschaulichen ab dem
                                          8. April 2016 im Museum in der Kulturbrauerei die umfassende
                                          Einflussnahme des SED-Regimes auf alle Bereiche des täg-
                                          lichen Lebens und führen uns sogleich die große Bandbreite
                                          der Formgestaltung in der DDR eindrucksvoll vor Augen. Sie
                                          sind herzlich eingeladen, uns in Bonn, Leipzig und Berlin zu
                                          besuchen!

                                                                                     Dr. Hans Walter Hütter
                                                                                    Präsident und Professor

                                          Der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte
                                          Hans Walter Hütter (li.) und Sammlungsdirektor
Typisch für die 1950er Jahre:             Dietmar Preißler (re.) bei der Anlieferung neuer Objekte:
Innenausstattung des „Lichtspielhauses“   Leuchtreklame „Film Bühne“ des Petershofs in Leipzig
im Haus der Geschichte in Bonn            aus den 1960er Jahren
Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
inhalt                                                                                                               inaussicht
                                                                30              Wir müssen reden!                        inbonn                                                                                                      inleipzig                                                                              inberlin

                                                                                                                               n t e r

                                                                                                                                                                                           atelier42 visuelle kommunikation, halle
                                                                                                                             U          !
                                                                                                                               Dr u c k
                                                                                                                                 Medien tik
                                                                                                                         Unter Druck!                                                                                                Zuhause ist ein fernes Land GrenzErfahrungen

                                                                                                                                 und Pog li
                                                                                                                         Medien und Politik                                                                                          Fotografien von Gundula Schulze Eldowy                                                 Alltag der deutschen Teilung
                                                                                                                         Haus der Geschichte, Bonn                                                                                   Zeitgeschichtliches Forum Leipzig                                                      Tränenpalast, Berlin
                                                                                                                         3.10.2015 – 17.4.2016                                                                                       26.11.2015 – 14.8.2016                                                                 Di – Fr 9  – 19 Uhr, Sa / So / Feiertag 10 – 18 Uhr

                                                                                                                                              un
                                                                                                                                    Ausstell       9. 8. 2015
                                                                                                                                            01 4 –
                                                                                                                                    5.12. 2

6                                                                36
                                                                                                                                                   Grimmaische Str. 6   Di–Fr 9 –18 Uhr
                                                                                                                                                   04109 Leipzig        Sa/So 10–18 Uhr
                                                                                                                                                   www.hdg.de           Eintritt frei

    Sammeln für die Zukunft                                                     „… denn sie wissen nicht, was sie tun“

                                                                                                                                                                                          Museum in der Kulturbrauerei
    imfokus                                                    inleipzig                                                 Traum und Tristesse                                                                                         Flucht, Asyl, Protest?                                                                 Alles nach Plan?

                                                                                                                                                                                                                                     Öffnungszeiten: Di – So: 10 – 18 Uhr / Do: 10 – 20 Uhr
     6   Sammeln für die Zukunft                               28   Jenseits der Propaganda
                                                                                                                         Vom Leben in der Platte
                                                                                                                         Fotografien von Harald Kirschner
                                                                                                                                                                                                                                     Wir müssen reden!                                                                      Formgestaltung in der DDR
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Museum in der Kulturbrauerei, Berlin
                                                                                                                                                                                                                                     Foto- und Textprojekt von Bettina Flitner
         Objekte im Museum                                          Zuhause ist ein fernes Land.                         Haus der Geschichte, Bonn                                                                                   Zeitgeschichtliches Forum Leipzig                                                      8.4.2016   – März 2017
                                                                    Fotografien von Gundula Schulze Eldowy               29.1.– 22.5.2016                                                                                            9.2. – 20.3.2016                                                                       7.4.2016, 19:30 Uhr, Eröffnung
    12   Der leere Rucksack
         Blick in die Sammlungen                               30   Flucht, Asyl, Protest? Wir müssen reden!
                                                                                                                         Medien           und Politik. Die 22.5.                                                                                                                                                            Öffentliche Begleitungen
                                                                    Foto- und Textprojekt von Bettina Flitner im           Eintritt frei.

    16   Spurensuche                                                Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig                    Bundespressekonferenz –2015         Leipziger Buchmesse
                                                                                                                                                            6.9.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            an den Ostertagen
         Bundeswehreinsatz in Afghanistan                                                                                Podiumsgespräch unter anderen mit                       Lesungen, Vorträge und Podiumsdiskussionen                                                                                                 Termine unter www.hdg.de
                                                               imblick
    18   Mit offenen Augen                                                                                               Traum und Tristesse
                                                                                                                         Bundesminister a.D. Franz Müntefering                   U. a. mit Heinz Bude, Friedrich Schorlemmer,
                                                                                                                                                             Vom Leben in der Platte
                                                                                                                         Anmeldung unter acri@hdg.de erforderlich                Düzen Tekkal und Heinrich August Winkler                                                                                                   Kinderfest
         Fotograf Stanislav Krupar mit Syrern auf der Flucht   36   „… denn sie wissen nicht, was sie tun“
                                                                                                                                        Fotografien von Harald Kirschner
                                                                                                                         Historischer Saal der Bundespresse-                     Zeitgeschichtliches Forum Leipzig                                                                                                          Museum in der Kulturbrauerei, Berlin
         nach Europa                                                Deutsche Filmpremiere vor 60 Jahren                  konferenz, Tulpenfeld 7, Bonn                           17. – 19.3.2016                                                                                                                            4.6.2016, 12 – 18 Uhr
                                                                                                                         3.3.2016, 19:30 Uhr
    inbonn                                                                                                                                                                                                                           23. Leipziger Europaforum
                                                                                                                                                                                                                                     Schaffen wir das, Europa?
    22   Histocamp                                                                                                       Der Fall Meursault –                                                                                        Die EU und die Flüchtlingsfrage
         Erstes Barcamp für Historiker                                                                                   Eine Gegendarstellung                                                                                       Podiumsdiskussion
                                                                                                                         Lesung und Gespräch mit Kamel Daoud                                                                         Moderation: Eckart Stratenschulte
    24   Unruhige Zeiten                                       32 inkürze                                                In Kooperation mit dem Literaturhaus                                                                        (Direktor der Europäischen Akademie Berlin)                                                                                Lebendiges
         „Rückblende 2015“ in Bonn und Leipzig                                                                           Bonn und der Deutsch-Maghrebinischen                                                                        Zeitgeschichtliches Forum Leipzig                                                                                          Museum Online
                                                               38 inzukunft / impressum                                  Gesellschaft e.V., Karten über Bonnticket                                                                   19.3.2016, 17 Uhr                                                                                      www.hdg.de/lemo
    26   Nicht ohne die Wissenschaft                                                                                     Haus der Geschichte, Bonn
         Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition            39 imbilde                                                14.3.2016, 19:30 Uhr                                                                                        Alles andere zeigt die Zeit
                                                                                                                                                                                                                                     Dokumentarfilm (Deutschland 2015)
                                                                                                                                                                                                                                     Filmvorführung und Gespräch mit dem
                                                                                                                         Frau Höpker                                                                                                 Filmemacher Andreas Voigt und Grit Lemke                                                               Besuchen Sie uns
                                                                                                                         bittet zum Gesang                                                                                           (Leiterin Filmprogramm DOK Leipzig)                                                                    auf Facebook!
                                                                                                                         Mitsingkonzert mit Katrin Höpker                                                                            Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
                                                                                                                         Haus der Geschichte, Bonn                                                                                   14.4.2016, 19 Uhr
                                                                                                                         28.5.2016, 19:30 Uhr

                                                                                                                                        Veranstaltungen in Bonn:                                                                                                                              Veranstaltungen in Leipzig:                   Veranstaltungen in Berlin:
                                                                                                                                        www.hdg.de / bonn /                                                                                                                                   www.hdg.de / leipzig /                        www.hdg.de / berlin
                                                                                                                                        veranstaltungen                                                                                                                                       veranstaltungen
Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
imfokus

    Objekte im Museum

    Sammeln für die Zu kunft
    von Dietmar Preißler

    Am 30. März 1984 gelangte das Schild „OSRAM-Verkaufsstelle“ als erstes Objekt in
    die Sammlungen der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
    Deren Geschichte begann bereits am 13. Oktober 1982 um 12:10 Uhr im Plenarsaal
    des Deutschen Bundestages: „Wir wollen darauf hinwirken, dass möglichst bald in der
    Bundeshauptstadt Bonn eine Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945 entsteht,
    gewidmet der Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation“.

    Karteikarten in alten Pappkartons zeugen
    von einer großen Aufgabe der Nachkriegszeit:
    Menschen suchen nach ihren engsten Angehörigen.
    Die Suchdienstkartei des Deutschen Roten Kreuzes
    erinnert an über 300.000 Einzelschicksale.

6   museumsmagazin 1.2016
Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
Objekte aus der Arbeitswelt:                                         Wichtiges Zeitzeugnis: Die Dolmetscherin
    Mit diesen Worten gab Bundeskanzler Helmut Kohl in sei­
    ner ersten Regierungserklärung den Startschuss für ein
                                                                 Einspindel-Drehautomaten fertigen
                                                                 in hoher Stückzahl Werkteile für die
                                                                                                                                      Ruth Levy-Berlowitz übergab der Stiftung Haus
                                                                                                                                      der Geschichte am 25. Mai 2012 ihr Arbeits-                  Zwischen banal und auratisch
    völlig neuartiges Geschichtsprojekt: ein Museum für Zeit­    Metallindustrie.                                                     exemplar des Eichmann-Urteils in der von ihr
    geschichte sollte entstehen. Besonders der zeithistorische                                                                        vorgenommenen deutschen Übersetzung.                         Da alle musealen Objekte potentielle Ausstellungsexponate
    Bezug stellte eine neue Herausforderung dar, denn die                                                                                                                                          sind, ist die mit den Gegenständen verbundene Vermitt­
    Zeitgeschichte unterscheidet sich stark von der Geschichte                                                                                                                                     lungsqualität, die Besucher anzieht, fesselt und bindet, ein
    der Neuzeit, des Mittelalters und der Antike: Sie „qualmt    Zeitgeschichtliche Sammlungen                                              Die Zeitgeschichtsforschung liefert die sammlungs­     wichtiges Auswahlkriterium. So steht der Seesack von Elvis
    noch“, führt direkt in die Gegenwart und produziert eine                                                                          würdigen Themen. Unbestritten ist, dass sich Objekte zur     Presley in der Dauerausstellung zum einen als Zeuge für
    nicht überschaubare Menge an Relikten. Gerade das zuletzt    Auf Bundesebene legten die Deutsche Nationalbibliothek               Grundgesetzentstehung, zum Links- und Rechtsterrorismus      die Popkultur, zum anderen für das militärische Engage­
    genannte Phänomen ist ein Hauptproblem der zur Zeitge­       (DNB) und das Bundesarchiv Sammlungen zur Jetztzeit                  und zum Mauerfall in den Sammlungen befinden sollten.        ment der Amerikaner in Deutschland: Presley benutzte
    schichte sammelnden Museen. Kam der Höhlenmensch             an, die jedoch keinen musealen Charakter haben. Das                  Was aber ist mit Objekten zur „Lindenstraße“, zu Schön­      den Seesack während seiner Wehrdienstzeit von 1958 bis
    noch mit etwa 150 Gegenständen aus, um sein Leben zu         Haus der Geschichte komplettiert seit dem Stiftungserlass            heitsköniginnen oder zu Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll?        1960 in Hessen und schenkte ihn später Regisseur Norman
    meistern, stehen dem Menschen der 1970er Jahre allein        vom 1. März 1986 und dem folgenden Stiftungsgesetz vom                     Die „Material-Culture-Forschung“ setzt sich mit der    Taurog zum Dank für die gemeinsamen Dreharbeiten zum
    in einem Versandhauskatalog dieser Jahre etwa 25.000         28. Februar 1990 diese zur Zeitgeschichte sammeln­                   Bedeutung und Geschichte von Objekten und Objektgat­         Film „G.I. Blues“.
    Gegenstände zur Bewältigung des Alltags zur Verfügung.       de Troika durch den Erwerb von musealen Objekten zur                 tungen auseinander, also: Welche Bedeutung haben Karika­           Objekte sind auch als Spurenträger zu betrachten.
    Welche der unzähligen verfügbaren Objekte sollen in die      materiellen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Zur                 turen, was ist das Geheimnis von Plakaten, wie beeinflusst   Die Unterschrift des Widerstandskämpfers Carl Friedrich
    musealen Sammlungen eines zeithistorischen Museums           Konkretisierung wurden seit 1987 mehrfach die Samm­                  der Fernsehapparat oder das Mobiltelefon unseren Alltag      Goerdeler im Kammerbuch der Justizvollzugsanstalt
    Eingang finden? Welches Objekt verdient es, in das kul­                  lungsüberlegungen weiterentwickelt. Zu­                  und warum provozierte ein Minirock in den 1960er Jahren?     Plötzensee vom 2. Februar 1945 kurz vor seiner Hinrich­
    turelle Gedächtnis einer Gesellschaft übernommen                             letzt stimmten die Gremien der Stiftung              Besonders „Story Telling Objects“ stehen im Fokus einer      tung durch die nationalsozialistischen Schergen bringt uns
    zu werden, Vergangenheit mit Gegenwart und                                      im Herbst 2014 einem grundlegend                  zeithistorischen Museumssammlung: zum Beispiel ein Tra­      den Schrecken der Terrorherrschaft nahe. Weiterhin gehen
    Zukunft zu verbinden? Allein der hohe Relikt­                                      überarbeiteten Sammlungskonzept                bi, in dem im September 1989 eine Familie aus der DDR        massenhaft hergestellte und verbreitete, scheinbar banale
    anfall verlangte, dass das in den 1980er Jah­                                       zu, das für die nächsten Jahre die            über Ungarn in die Bundesrepublik flüchtete.                 Gegenstände wie Plattenspieler, Einrichtungsgegenstände,
    ren entstehende Haus der Geschichte ganz                                              Sammlungspolitik des Hauses                       Die „Visual History“ gibt uns Methoden an die Hand,    Telefone mit Wählscheiben oder Mobiltelefone als Stellver­
    neuartige Überlegungen anstellen musste,                                               der Geschichte bestimmt. Eine              die Bedeutung des „Bildlichen“ für die Geschichte zu ver­    treter alltagsgegenständlicher Phänomene in die Samm­
    was, wie und zu welchem Zweck gesam­                                                    wichtige Strategie zur Umset­             stehen. Warum spricht uns ein Plakatmotiv an, welche         lungen ein.
    melt werden soll. Vorbilder gab es nicht.                                               zung – gerade im Kontrast                 Bilder sind auf Briefmarken und Münzen zu erkennen                 Eine typisch museale Sammlungsbesonderheit stellen
    Zwar existierten eine Reihe von Mu­                                                      zum Vollständigkeitsprinzip              und wie gelangen sie darauf, warum und wie malte Andy        Objekt-Ensembles dar. Sie können aus einer Gattung be­
    seen zur zeitgenössischen Kunst, doch                                                    des Sammlungskonzeptes der               Warhol Willy Brandt, obwohl er ihm nie persönlich begeg­     stehen wie zum Beispiel bestimmte Karikaturen berühmter
    Sammlungsüberlegungen zur Kunstge­                                                       Deutschen Nationalbibliothek –           net ist? Alle Objekte durchlaufen vor einer Übernahme in     Zeichner oder etwa 30.000 Dias, die eine typische Famili­
    schichte sind nur sehr bedingt auf his­                                                  ist das selektive Sammeln. Eine          die Sammlungen dieses Prüfraster von inhaltlicher Bedeu­     engeschichte in Deutschland von 1938 bis 2004 erzählen.
    torische Museen übertragbar. Gleiches                                                    Orientierung geben zumindest             tung, Aussagekraft und Visualität. Darüber hinaus sollen     Ensembles können auch aus unterschiedlichen Objekten
    gilt auch für technische Museen.                                                         drei Wissenschaften:                     diese Objekte weitere museale Eigenschaften besitzen.        zusammengesetzt sein, wie der Nachlass von Toby E. Rodes,

                                                                                              Das Schild „OSRAM-Verkaufsstelle“
                                                                                              von 1950 wurde 1984 als erstes Objekt
                                                                                              in die Sammlungen der Stiftung
                                                                                              aufgenommen.

8   museumsmagazin 1.2016                                                                                                                                                                                                            museumsmagazin 1.2016        9
Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
Ein Telefon mit Wählscheibe gehört zum Objekt-                                                                                 Das Mobiliar aus dem Notaufnahmelager
                                  Ensemble „Schreibtisch eines Planungsfunktionärs“,
                                                                                                 mien diskutiert, sodass die Auswahl der Themen als rele­        Marienfelde in West-Berlin ist im Zeitge-
                                  der im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin für die          vant für unsere Zeitgeschichte betrachtet werden kann.          schichtlichen Forum Leipzig zu sehen.
                                  „Sozialistische Zentralplanwirtschaft“ steht.                        Neben diesen stark inhaltlich ausgerichteten Recher­
                                                                                                 chen werden Überlegungen zu einzelnen Objektgruppen             Die Gebetskette von Enver Ş  imş    ek, der im
                                                                                                 der Sammlungssystematik angestellt. So muss das Haus der        September 2000 das erste Opfer der Mitglieder
                                  US-Informationschef für den Marshallplan von 1951 bis          Geschichte nicht alle Automarken sammeln, die in der Bun­       des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU)
                                  1955, der Fotoalben, seine Uniform, Ausweise und Aus­          desrepublik hergestellt werden. Dies wird bereits von den       wurde, bringt dem Ausstellungsbesucher die
                                                                                                                                                                 neueste Geschichte näher.
                                  zeichnungen enthält.                                           Herstellern und den zugehörigen Museen geleistet. Samm­
                                        Eine museale Besonderheit sind Bildikonen und aura­      lungsrelevant sind vielmehr Autos mit einer Geschichte,
                                  tische Objekte. Bildikonen halten historische Momente fest,    wie der Dienstwagen des ersten deutschen Bundeskanzlers         born objects“ umzugehen? War früher das
                                  die stark in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt sind,    oder der Ford Transit eines türkischen Gastarbeiters.           analoge Flugblatt Ausdruck von Protest, fin­
                                  so zum Beispiel das Originalfoto „Guerrillero heroico“ mit           Ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal eines zeithis-       den heute politische Auseinandersetzungen
                                  dem Porträt Che Guevaras von Alberto Korda, das in den         torischen Museums ist es, zu aktuellen Themen sammeln           über Websites, Blogs oder soziale Netzwerke
                                  1970er Jahren viele Studentenbuden schmückte. Aura be­         zu können. So hat das Haus der Geschichte zum Beispiel          statt. Auch dieses Phänomen findet Eingang
                                  sitzen einmalige, authentische Objekte, von denen eine be­     bereits Kontakte zur Bundesanwaltschaft, zum Bundeskri­         in die Sammlungsüberlegungen. Die Stiftung
                                  sondere Faszination ausgeht und in denen eine verborgene       minalamt und zum Oberlandesgericht München aufgenom­            arbeitet kontinuierlich daran, ihre Bestände
                                  Geschichte ruht: Die Gebetskette von Enver Şimş    ek, dem   men, um Objekte zu gewinnen, die den Prozess gegen Beate        digital nach modernsten informations- und
                                  ersten Opfer des NSU, bringt uns über dieses Glaubens-         Zschäpe museal dokumentieren können. Auf Basis der wis­         dokumentationstechnischen Standards auf­
                                  symbol sein Schicksal näher.                                   senschaftlichen Konzeption entstand eine Sammlung, die          zubereiten und über die Datenbank „Samm­
                                                                                                 inzwischen über 800.000 Objekte an den Standorten Bonn,         lungen im Internet“ ins Netz zu bringen.
                                  Wege ins Museum                                                Leipzig und Berlin umfasst.                                     Über 60.000 Objekte sind bereits abrufbar.
                                                                                                                                                                 Die digitale Aufbereitung wie auch die Fort­
                                  Das Haus der Geschichte hat drei Sammlungsstrategien           Netzwerke                                                       setzung des klassischen Erwerbs tragen dazu
                                  entwickelt: Das Sammeln entlang der Ausstellungsthemen,                                                                        bei, unser kulturelles Gedächtnis zu erhalten
                                  die systematische Erweiterung der Sammlungsgruppen             Zukünftig ist neben der Erweiterung der klassischen Ob­         und zugänglich zu machen. Wenn der Philo­
                                  und die aktuelle Dimension „von der Straße ins Museum“.        jektsammlung der Blick auf die digitale Welt zu lenken. Be­     soph Johann Gottfried Herder Angst vor dem
                                  Die Themen der Dauer- und Wechselausstellungen geben           reits heute kommen Plakate, Karikaturen, Fotografien und        „Furor des Verschwindens“ hatte, so ist das
                                  Orientierungen, zu welchen Inhalten recherchiert werden        AV-Medien auch auf digitalen Trägern ins Haus. Hierauf ist      Haus der Geschichte eine klare Antwort da­
                                  soll. Diese Inhalte werden intensiv mit den Stiftungsgre­      die Stiftung technisch vorbereitet. Doch wie ist mit „digital   rauf, dieser Furcht zu begegnen.
     Sammlungsobjekte
     im Depot in Berlin-Spandau

                                                                                                             > http://www.hdg.de/fileadmin/Sammlungen/
                                                                                                             Sammlungskonzept-Stiftung-Haus-der-Geschichte.pdf                 > htpp://sint.hdg.de:8080/SINT5/SINT

10   museumsmagazin 1.2016
Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
imfokus

     Blick in die Sammlungen

     Der leere Rucksack                                                                               von Tuya Roth

                      54 kleingeschnittene Negative mit Eindrücken aus dem Gefangenenlager
                      „7150 Grjasowez“ – als streng verbotene Bilddokumente waren sie eingenäht
                      in den Riemen eines leeren Rucksacks und so unter Lebensgefahr nach Hause
                      geschmuggelt worden: von der Entdeckung, Sicherung und Zugänglichmachung
                      eines seltenen Bilderschatzes.

                      Zeitzeugenberichte aus den rund 3.000 Kriegsgefangenenlagern auf sowjetischem Boden gibt es zahl­
                      reiche. Fotografien dieser Lager sind dagegen äußerst selten. Das hat seinen Grund: Es war nicht nur
                      verboten, Fotografien vom Lagerleben und den schweren Arbeitseinsätzen zu machen, es war den entlas­
                      senen Häftlingen auch strengstens untersagt, schriftliche Notizen, Zeichnungen oder gar Fotos aus dem
                      Lager mit in die Heimat zu nehmen. Nach bisherigen Erkenntnissen gelang dies nur zwei Fotografen:
                      dem Hamburger Klaus Sasse, der zwischen 1945 und 1947 heimlich das Offizierslager „Jelabuga“ doku­
                      mentierte und Willy Steinberg aus München.
                            Im Zuge der Objektrecherchen für die als deutsch-russisches Kooperationsprojekt entstandene Aus­
                      stellung „Kriegsgefangene. Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland – Deutsche Kriegsgefangene in          Die Negative ohne Perforation
                      der Sowjetunion“ (1995) im Haus der Geschichte entdeckte ein Mitarbeiter Motive, die in verschiedenen        von Willy Steinberg gehören
                      Alben von ehemaligen Kriegsgefangenen immer wieder auftauchten. Es gelang ihm, Willy Steinberg als           seit 1993 der Stiftung.
                      Urheber zu identifizieren und ihn in München ausfindig zu machen. 1993 kaufte die Stiftung Haus der
                      Geschichte die Negative von Willy Steinberg an und nahm sie in ihre fotografischen Sammlungen auf.

                      Entstehung
                      Willy Steinberg geriet im Mai 1944 auf der Krim in Gefangenschaft und war bis Frühjahr 1949 im Offi­
                      zierslager „7150 Grjasowez“ rund 450 Kilometer nordöstlich von Moskau interniert. Im November 1946
                      erhielt der gelernte Fotograf von der Lagerleitung eine Kamera mit dem Auftrag, innerhalb von sechs
                      Wochen Porträtfotos von allen rund 4.500 Lagerinsassen anzufertigen: Jeder konnte ein Passbild be­
                      kommen und, angeheftet an die Rote-Kreuz-Karte, nach Hause schicken. Auf diese Weise erfuhren viele
                      Familien um Weihnachten 1946 erstmals, dass ihre Angehörigen noch lebten. In den Sammlungen des
                      Hauses der Geschichte findet sich auch eine dieser Karten: Karl-Heinz Quade hat sie am 17. Februar
                                                                                    1947 an seine Verlobte Evi geschrieben.
                                                                                    Das von Steinberg angefertigte Foto ist
                                                                                    ordentlich mit etwas Zwirn an die Karte
                                                                                    genäht. So sollte verhindert werden,
                                                                                    dass unter dem Foto verbotenerweise
                                                                                    mehr als die erlaubten unverfänglichen
                                                                                    25 Wörter geschrieben wurde.
                                                                                         Die meisten überlieferten Auf­
                                                                                    nahmen zeigen die von der Lagerlei­
                                                                                    tung geförderten und propagandistisch
                                                                                    genutzten Theateraufführungen und
                                                                                    Sportveranstaltungen, die unter den

                                                                                    Die Kriegsgefangenenpostkarte von
                                                                                    Karl-Heinz Quade, die er am 17. Februar 1947
                                                                                    an seine Verlobte schrieb, zeigt ein Porträt
                                                                                    Quades, das von Willy Steinberg angefertigt
                                                                                    wurde.

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Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
imfokus

                                                  Gefangenen als besondere Anlässe galten und die Monotonie des Lageralltags un­
                                                  terbrachen. Andere Fotografien vermitteln, auch mit ausdrücklicher Genehmigung
                                                  der Lagerleitung, einen Eindruck vom alltäglichen Leben im Lager. Dies war, so
                                                  Karl-Heinz Quade, „dank relativ guter Organisation wohl eines der am humansten
                                                  geführten Lager der über 3.000 Lager in der Sowjetunion“. Die fast pittoresk anmu­
                                                  tenden Motive stehen im krassen Gegensatz zu den drei Aufnahmen, die Steinberg
                                                  heimlich und unter Lebensgefahr von den Holzfällerarbeiten im Wald bei Panowka
                                                  machte: Männer, die bei eisiger Kälte im tiefen Schnee mit primitivsten Werkzeu­
                                                  gen riesige Bäume fällen, zerlegen und abtransportieren. Sie zeigen eindrücklich
                                                  das von ehemaligen Kriegsgefangenen immer wieder erinnerte Bild von Hunger,
                                                  schwerer Arbeit und Kälte.
                                                         Vor seiner Entlassung im Frühjahr 1949 hatte Willy Steinberg aus den Klein­
                                                  bildfilmrollen 54 Negative in Einzelbilder geschnitten und zusätzlich die Perforation
                                                                                                                                                                                     Weihnachten im Lager 7150 (l.u.):
                            der Rollfilme entfernt, um sie weiter zu verkleinern. Dann nähte er die Negative sorgfältig in die Trag­      Wir suchen zur Ergänzung dieses
                                                                                                                                                                                     Die Kriegsgefangenen Hans Primus aus
                            riemen seines ansonsten leeren Rucksacks ein. So konnte er sie durch alle Kontrollen nach Deutschland         Bestandes weitere Fotoalben, in denen      Herne und Heinz Kirschnick aus Düsseldorf
                            schmuggeln. Bereits im Dezember 1949 veröffentlichte die Zeitschrift Heute unter dem Titel „Kriegsge­         sich Abzüge aus dem Kriegsgefange-         feiern in einem Werkstattraum Heiligabend.
                            fangenen-Lager 7150“ einige der Motive – allerdings ohne Nennung des Fotografen. Steinberg eröffnete          nenlager „7150 Grjasowez“ befinden,        Willy Steinberg fotografierte weiterhin
                            nach seiner Rückkehr in München ein Fotogeschäft. Dieses wurde schon bald ein wichtiger Anlaufpunkt           die auf die Negative von Willy Steinberg   die Wäscherei (l.o.), Turmspringer (Mitte)
                            für ehemalige Mitgefangene, denen er Abzüge von den geretteten Negativen fertigte. So finden sich die         zurückgehen. Bitte melden Sie sich         und die Blaskapelle im Gefangenenlager
                            äußerst seltenen Aufnahmen aus Grjasowez in Alben und Nachlässen zahlreicher ehemaliger Mitgefan­             bei Dr. Tuya Roth (roth@hdg.de oder        „7150 Grjasowez“.
                            gener und erfahren dadurch eine gewisse Verbreitung. Häufig gehen die Angehörigen davon aus, dass             0228-9165 233).
                            die Fotos von den Gefangenen selbst angefertigt wurden. Dies ist nicht der Fall. Sie alle gehen auf die
                            Negative von Willy Steinberg zurück.

                            Zugänglichmachung
                            Seit 1993 liegen die originalen Negative bei optimaler Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit im Fotode­
                            pot der Stiftung Haus der Geschichte, um sie konservatorisch möglichst lange zu sichern. Im Rahmen der
                            Langzeitarchivierung wurde diese zeitgeschichtliche Dokumentation von kaum zu schätzendem Wert im
                            Jahr 2014 hochauflösend digitalisiert. Eine erweiterte Rechteklärung mit den Nachkommen von Steinberg,
                            der 2009 verstarb, ermöglicht es heute, diese seltenen Motive über die Objektdatenbank der Stiftung im
                            Internet für alle Nutzer öffentlich zugänglich und einsehbar zu machen.

                                          > www.hdg.de/sint

     Holzfällerarbeiten gehörten zu den gefürchtetsten
     Außenkommandos im Kriegsgefangenenlager
     7150: Der tägliche Anmarsch betrug acht
     Kilometer, dann folgte pausenloses Baumfällen
     bei 30–40 Grad Kälte. Viele starben bei dieser
     schweren Arbeit.

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Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
imfokus
                                                                                                      Bundeswehrsoldaten der ISAF
                                                                                                      auf Patrouille in der Provinz Faisabad,
                                                                                                      Afghanistan 2005

                                                                                                      Aktuell zeugen über 500 Objekte in den Sammlungen des Hauses der Geschichte
                                                                                                      von den Aufgaben und Gefahren, dem Lebens- und Arbeitsalltag der deutschen
                                                                                                      Truppen am Hindukusch, den Leistungen der Bundeswehr, der Interaktion mit
                                                                                                      der afghanischen Bevölkerung und auch von der öffentlich geführten Auseinan­
                                                                                                      dersetzung über den ISAF-Einsatz.
                                                                                                            Ein Operationsplan, der die taktischen Vorbereitungen zur Einnahme der
                                                                                                      militärisch bedeutsamen Anhöhe 431 im nordafghanischen Distrikt Chahar
                                                                                                      Darreh aufzeigt, ist Bestandteil der Dauerausstellung des Hauses der Geschich­
                                                                                                      te. In den Sammlungen dokumentieren Teile eines Tornados der Bundeswehr
                                                                                                      mit dem Emblem „Einsatzgeschwader Mazar-e Sharif“ die Beteiligung deutscher
                                                                                                      Streitkräfte, wie auch die Erkennungsmarke einer Offizierin, die als erste Frau
                                                                                                      einen Infanteriezug im Gefecht befehligte. Der Nachbau einer von Taliban ge­
                                                                                                      bauten Sprengfalle, wie sie in Afghanistan gegen die ISAF-Truppen eingesetzt
                                                                                                      wurde, diente den Soldaten zur Vorbereitung auf den Einsatz und führt dem Mu­
                                                                                                      seumsbesucher vor Augen, welchen Gefahren die Soldaten ausgesetzt sind. Als
                                                                                                      Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung ausgetauschte Münzen, sogenannte
                                                                                                      Einsatzcoins, symbolisieren die Zusammenarbeit der verbündeten Streitkräfte.

                                                                                                      Zeugen der Zeitgeschichte
                                                                                                      Von dem Fallschirmjägerbataillon 313 im niedersächsischen Seedorf erhielt die
                                                                                                      Stiftung Objekte, denen die Soldaten selbst einen besonderen Wert beimessen:
                                                                                                      Flaggen und Solidaritätsschleifen der benachbarten Gemeinden sollten den
                                                                                                      Soldaten Glück bringen und waren als „ein Stück Heimat“ nach Afghanistan
                                                                                                      mitgeführt worden. Ein Bettlaken, das am deutschen Standort von Angehöri­
                                                                                                      gen und Freunden mit Grüßen für die Soldaten im Einsatz beschrieben wurde,
                                                                                                      gelangte mit der Feldpost nach Afghanistan und wurde in der dortigen Betreu­
                                                                                                      ungseinrichtung aufgehängt. Während seiner Stationierung, so berichtete später
                                                                                                      ein Oberstabsfeldwebel, habe er viele Soldaten gesehen, die sich immer wieder
                                                                                                      die an sie gerichteten Grüße angesehen haben. Mit diesen Objekten, die ganz
                                                                                                      persönliche Geschichten erzählen, wurde ein für die Soldaten wichtiger Aspekt
                                                                                                      aufgegriffen, der bislang in den Sammlungen des Hauses der Geschichte fehlte:
     Bundeswehreinsatz in Afghanistan                                                                 die Verbundenheit der Bevölkerung mit den Truppen im Einsatz.
                                                                                                            Die Stiftung erhielt für ihre Sammlungen zudem Unterlagen zur Trauer­

     Spurensuche
                                                                                                      feier eines bei einem Selbstmordanschlag in Afghanistan getöteten Oberfeldwe­
                                                                                                      bels und eine Patrone aus seinem Patronengurt, in die ein Schrapnell aus der
                                                                                                      Sprengstoffweste des Selbstmordattentäters eingedrungen war. Ein Kamerad
                                                                von Judith Koberstein                 hatte sie zur Erinnerung an den gefallenen Soldaten an sich genommen. Als
                                                                                                      stumme Zeugen der Geschichte halten auch diese Objekte die Erinnerung an das
                                                                                                      Engagement der Bundeswehr in Afghanistan wach.
     Einen hohen Stellenwert für die Sammlungen der Stiftung Haus der Geschichte haben Ereignisse
                                                                                                      Ein gepanzertes Bundeswehrfahrzeug                           Das Bettlaken wurde im Standort Seedorf von den
     der unmittelbaren Gegenwart, die die deutsche Geschichte prägen und nicht in Vergessenheit
                                                                                                      gerät im Frühjahr 2010 nahe Kunduz in eine                   Angehörigen und Freunden der Soldaten im Einsatz be-
     geraten dürfen – so auch die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Die Anschläge des     Sprengfalle und wird anschließend von den                    schrieben, mit der Feldpost verschickt und im Bereich
                                                                                                      Taliban unter Beschuss genommen.                             der Betreuungseinrichtung in Kunduz aufgehängt.
     11. September 2001 hatten schlagartig eine neue Gefahrenlage in der Welt offenbart und rückten
     Afghanistan in den Fokus der internationalen Staatengemeinschaft. Im Rahmen der „International
     Security Assistance Force“ (ISAF) der Vereinten Nationen trafen im Januar
     2002 die ersten deutschen Soldaten in Afghanistan ein, nachdem der
     Deutsche Bundestag auf Antrag der rot-grünen Regierung das erste
     Afghanistan-Mandat am 22. Dezember 2001 verabschiedet hatte.

                                               Zeichen der gegenseitigen
                                               Wertschätzung: Einsatzcoins

                                               Das Feldtagebuch des Oberstleutnant
                                               Boris Barschow umspannt den Zeit-
                                               raum vom 19. Mai bis zum 19. August
                                               2009. Barschow war während dieser Zeit
                                               „Interkultureller Einsatzberater“ im Stab des
                                               Regional Command North in Mazar-e Sharif.

16   museumsmagazin 1.2016                                                                                                                                                        museumsmagazin 1.2016          17
Sammeln für die Zukunft - Objekte im Museum 1.2016 - Stiftung Haus der Geschichte der ...
imfokus

     Fotograf Stanislav Krupar mit Syrern auf der Flucht nach Europa

     Mit offenen Augen                                                                  von Ulrike Zander

     Im Frühjahr 2014 begleiteten der Journalist Wolfgang Bauer und der Fotograf Stanislav Krupar
     für das Zeitmagazin zwei syrische Brüder auf ihrer Flucht von Ägypten über das Mittelmeer
     nach Europa. Krupar hat auf dieser Reise außergewöhnliche Fotografien von dem angefertigt,
     was er sah: eine humanitäre Katastrophe. Die Stiftung Haus der Geschichte hat diese Bilder
     für ihre Sammlungen erworben. Das museumsmagazin sprach mit dem Fotografen über die
                                                                                                                                                         Amar und weitere Flüchtlinge
     Geschichten, die seine Bilder erzählen.                                                                mm Was war das Ziel Ihrer Aktion,            im Boot auf der Flucht
                                                                                                            bei der Sie sich syrischen Flüchtlingen      nach Europa
                                                                                                            anschlossen?
                                                                                                            Krupar Die Reise war von Wolfgang
                                                                                                            organisiert worden – meinem guten
                                                                                                            Freund. Wir wollten zunächst den             mm Welche Momente und Erlebnisse
                                                                                                            Mann finden, der von Ägypten nach            waren für Sie besonders hart, aufre­
                                                                                                            Europa, genauer gesagt Italien, ge­          gend oder berührend?
                                                                                                            hen wollte und ihn davon überzeu­            Krupar Ein schreckliches Erlebnis war
                                                                                                            gen, uns mitzunehmen. Wir fanden             die Entführung unseres Minibusses.
                                                                                                            ihn und begleiteten diesen Mann aus          Mitten in der Nacht übernahmen in
                                                                                                            Syrien. Niemand außer ihm wusste             den Außenbezirken von Alexandria
                                                                                                            von unserer Identität. Wir gaben vor,        höchstwahrscheinlich       bewaffnete
                                                                                                            Flüchtlinge aus dem Kaukasus zu              Männer unseren Bus, der uns Flücht­
                                                                                                            sein, weil wir kein Arabisch sprechen        linge zum Meer bringen sollte – das
                                                                                                            können und auch nicht wie Araber             war sehr gefährlich. Es war der Mo­
                                                                                                            aussehen. Alle anderen Flüchtlinge,          ment, als ein böser Kampf zwischen
                                                                                                            die wir später trafen – unsere Gruppe        unseren Schleppern und den Kidnap­
                                                                                                            wuchs auf 19 Personen an – wussten           pern stattfand. Letztlich ging es gut
                                                                                                            bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir             aus, aber ein paar Minuten lang hatte
                                                                                                            verhaftet wurden, nicht, wer wir wa­         ich richtig Angst.
                                                                                                            ren. Ziel der Reise war eine Reportage       Der wahrscheinlich bewegendste Mo­
                                                                                                            für das Zeitmagazin über eines der           ment war, als wir die Boote sahen.
                                                                                                            wichtigsten Themen unserer Zeit: die         Wir waren endlich aus Alexandria
                                                                                                            Flüchtlingskrise. Zu Beginn des Jah­         herausgekommen und wollten die
                                                                                                            res 2014 war sie noch nicht so massiv        Boote besteigen, die uns nach Euro­
                                                                                                            wie heute, aber sie stellte bereits ein      pa bringen sollten. Der Strand ist der
                                                                                                            großes Problem dar.                          gefährlichste Abschnitt auf der Flucht
                                                                                                                                                         nach Europa, weil die Flüchtlinge dort
                                                                                                            mm Da sie verdeckt arbeiteten und re­        Banditen, Schmugglern und der Küs-
                                                                                                            cherchierten, war es ein gefährliches        tenwache ausgeliefert sind. Die jun­
                                                                                                            Projekt.                                     gen Männer liefen als Erste los, denn
                                                                                                            Krupar In diesem Fall gab es nur eine        die Letzten werden oft am Strand
                                                                                                            Möglichkeit, diese Geschichte zu be­         zurückgelassen. Bis zur Brust mus­
                                                                                                            kommen, weil uns niemand auf der             sten wir ins Wasser waten, um den
                                                                                                            Flucht mitgenommen hätte, wenn er            Kahn zu erreichen. Ein 13-jähriges
                                                                                                            gewusst hätte, dass wir ein westli­          Mädchen weinte und schrie die gan­
                                                                                                            cher Journalist und Fotograf sind. Die       ze Zeit auf dem Deck, weil ihre Mutter
                                                                                                            Wahl war sehr einfach: diese Reise           noch am Ufer stand. Oft werden Fa­
                                                                                                            nicht zu unternehmen oder vorzuge­           milien beim Einschiffen getrennt. Die
                                                                                                            ben, dass wir keine Journalisten sind.       Menschen kämpften um ihr Leben.

                                                                                                            Die Flüchtlinge werden von der ägyptischen
                                                                                                            Küstenwache auf Nelson Island verhaftet
                                                                                                            und müssen ein Schlauchboot besteigen.

18   museumsmagazin 1.2016                                                                                                                                             museumsmagazin 1.2016      19
Vor der Flucht: Amar mit seiner Familie                                             Die Flüchtlinge im Boot der Schmuggler,
     in ihrem Wohnzimmer in Kairo                                                        kurz vor ihrer Verhaftung auf Nelson Island   Das Mädchen Bissan inmitten
                                                                                                                                       schlafender Flüchtlinge im Gefängnis
                                                                                                                                       in Alexandria (oben)

     Ich hatte das Gefühl, eine Szene aus      kei ausgeflogen wurden und wussten,       ge Fotos von den intensiven Momenten          Amar mit syrischen Pässen und einem
     Auschwitz zu erleben. Das war der         dass wir frei waren, aber alle ande­      auf Nelson Island gemacht und später          deutschen Visum (Mitte li.)
     schlimmste Augenblick in meinem           ren Flüchtlinge, die inzwischen un­       von der Gefängniszelle, als wir ver­
     Leben. Doch in diesem Fall schrie das     sere Freunde geworden waren, im           haftet worden waren. Im Gefängnis             Im Sommer 2014 erreicht er Frankfurt
     Kind so laut, dass die Männer um­         Gefängnis bleiben mussten. Nur weil       ging es besser, weil inzwischen alle          am Main und lässt seine Familie
     kehrten, die Mutter ins Boot zogen        wir einen deutschen und tschechi­         Flüchtlinge wussten, wer wir waren.           nachkommen (Mitte re. und unten).
     und dann auf das Meer hinausjagten.       schen Pass hatten, durften wir gehen.     Ich glaube sogar, dass die Menschen
     Wir wurden danach auf der Insel Nel­      Sehr wahrscheinlich würden unse­          froh darüber waren, dass jemand die­
     son Island abgesetzt, wo wir uns ver­     re Freunde eines Tages freikommen,        se schreckliche Situation dokumen­            mm Sind Ihre Fotografien eine Art
     steckten und stundenlang warteten,        aber die Zukunft, die sie erwartete,      tierte und nach außen bringen wollte.         Geschichtenerzähler?
     bis die Küstenwache kam und uns           war dunkel. Das war sehr deprimie­        Die Polizeiwachen hatten mich direkt          Krupar Das würde ich mir wünschen.
     entdeckte. Es war eine sowohl fürch­      rend für mich.                            gefragt: „Wo ist Deine Kamera?“ Ich           Doch gerade bei dieser Geschich­
     terliche als auch intensive Erfahrung.                                              hatte noch eine klassische Spiegel-           te habe ich meine größten Zweifel.
     Die Soldaten traten und schlugen uns,     mm Sind in diesen intensiven Momen­       reflexkamera in meinem Rucksack,              Wenn ich die Möglichkeit gehabt hät­
     bis wir in den Dreck fielen, wir muss-    ten die besten Fotos entstanden?          die ich zuvor nicht benutzt hatte und         te, wie ein professioneller Fotograf
     ten im Wasser in einer Reihe knien –      Krupar Zum Teil. Wenn ich fotogra­        ich hatte Filme. Als mich also der Po­        mit der Ausrüstung zu arbeiten, die
     das war der Moment, als wir zuga­         fierte, habe ich die Bilder in gewisser   lizist fragte, wo meine Kamera sei, ich       ich normalerweise zur Verfügung
     ben, Journalist und Fotograf zu sein.     Weise gestohlen. Zu Beginn habe ich       sei doch ein Fotograf, ich solle sie ihm      habe, hätte ich großartige Bilder her­
     Danach wurden wir in ein Gefängnis        mein iPhone benutzt, um unbemerkt         sofort aushändigen, gab ich ihm eine          vorbringen können. Daher mag ich
     in Alexandria gebracht. Am Anfang         zu fotografieren. Niemand durfte wis­     Kamera, ohne dass er wusste, dass             meine Bilder nicht besonders. Sie ha­
     dachten wir noch, dass wir innerhalb      sen, wer wir waren, sonst hätten wir      ich eine weitere im Rucksack hatte.           ben keine Schärfe, keine Komposition.
     einiger Stunden befreit werden wür­       riesigen Ärger bekommen. Ich gab          Sie nahmen keine weitere Durchsu­             Dennoch sind es die einzigen Fotos,
     den, aber das war nicht der Fall. Die     vor, abhängig von meinem iPhone zu        chung vor.                                    die aus den Fluchtbooten der Schlep­
     Deutsche Botschaft war zu Beginn          sein und zu spielen – zum Beispiel auf                                                  per in Nordafrika existieren. Ich habe
     noch sehr optimistisch, wurde Tag         Nelson Island – und dabei versuchte       mm Was genau wollten Sie mit Ihren            bisher keine Bilder dieser Art gese­
     für Tag aber immer pessimistischer,       ich, Fotos zu machen. Ich verstand,       Fotos festhalten?                             hen. Meine Arbeit ist demnach pure
     bis sie uns mitteilten: „Hey, Männer,     dass die Situation so dramatisch war,     Krupar Ich möchte zeigen, was in die­         Dokumentation, leider konnte ich den
     wir tun unser Bestes, aber es scheint,    dass ich verhaftet worden wäre, wenn      ser Welt passiert. Dabei möchte ich           künstlerischen Anspruch nicht erfül­
     als würdet Ihr noch für eine ganze        ich meine kleine Fuji-Kompaktkamera       keine Politik machen und niemanden            len.
     Weile hier bleiben müssen.“ Wir frag­     aus meinem Rucksack geholt hätte,         mit meinen Bildern dazu bringen, die
     ten: „Was heißt ‚eine ganze Weile‘?“      wo sie tief unten versteckt war. Ich      Welt zu retten. Ich bin Fotograf, weil        mm Wie haben sich Ihre Ansichten
     Sie antworteten: „Vielleicht einige Mo­   begann also, Fotos zu machen, aber        es aufregend ist, die Dinge um mich           nach dieser Reise bezüglich der aktu­
     nate, vielleicht noch länger.“ Das war    es war extrem schwierig: Es war Mit­      herum zu dokumentieren. Ich war               ellen Flüchtlingspolitik verändert?
     sehr deprimierend.                        ternacht, die Kamera konnte kaum          Zeuge des Geschehens. Ich konnte zei­         Krupar Es war für mich eine Aktion,
     Sehr intensiv haben wir auch den          scharf stellen, ich fror so stark, dass   gen, was sonst verborgen geblieben            die mir die Augen geöffnet hat. Es hat
     letzten Moment am Flughafen von           ich mein Gerät kaum in den Händen         und niemals ans Tageslicht gekom­             mein Leben in vielerlei Hinsicht ver­
     Alexandria erlebt, als wir in die Tür­    halten konnte. Dennoch habe ich eini­     men wäre.                                     ändert.

20   museumsmagazin 1.2016                                                                                                                                                      museumsmagazin 1.2016   21
inbonn

Erstes Barcamp für Historiker                                                                                                                                                                        Tweetup im Haus der Geschichte

Histocamp
                                                                                                                                                                                                     „Das ist schon ziemlich gut gemacht!“, twitterte ein Teilnehmer
                                                                                                                                                                                                     bei der großen Abendveranstaltung im Haus der Geschichte in
                                                                                                                                                                                                     Bonn am ersten Histocamp-Tag. Bei einem großen Tweetup
                                                       von Stefanie Eisenhuth und Tim Köhler                                                                                                         durch die Dauerausstellung bekamen die rund 120 Mitwirkenden
                                                                                                                                                                                                     einen Blick hinter die Kulissen und erfuhren in thematisch unter-
                                                                                                                                                                                                     schiedlichen Gruppen, wie die Ausstellung konzipiert ist. So wur-
                                                                                                                                                                                                     de bei einer Twitter-Begleitung das Augenmerk auf den Einsatz
                                                                                                                                                                                                     von Objekten gelegt, während eine andere Gruppe mehr über
„Wir sind der akademischen Konferenzen überdrüssig“, klagte Christy Wampole von der Princeton
                                                                                                                                 „So einen hatten wir auch“ –                                        Fotografien in der Dauerausstellung erfuhr. Auch der Einsatz von
University im Mai 2015 in der New York Times. Ihre Kritik am herkömmlichen Format wissenschaftlicher                                                                                                 Zeitzeugen-Beiträgen und Medien war ein Themenschwerpunkt.
Veranstaltungen – monotone Vorträge, geringer Unterhaltungswert, ritualisierte Diskussionen – sprach
                                                                                                                                 Museumsobjekte im digitalen Raum                                    Besonders beliebt war die Gruppe „Gestaltung“, in der die Ge-
                                                                                                                                                                                                     schichtsbegeisterten Sichtachsen in der Dauerausstellung und
vielen Kollegen aus der Seele. Ihr Fazit: Dieses Veranstaltungsformat gehört der Vergangenheit an.                               Beim ersten Barcamp für Geschichtsinteressierte wollte die On-      andere architektonische Besonderheiten des Ausstellungsauf-
Wampoles Conference Manifesto erregte viel Aufmerksamkeit und hat wohl auch die Organisatoren                                    line-Redaktion der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn nicht       baus entdeckten. Der Hashtag #HausDerGeschichte schaffte es
des Histocamps inspiriert. Gemeinsam mit der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik                                     nur dabei sein, sondern auch einen eigenen Workshop anbieten.       an diesem Abend trotz gleichzeitiger Bundesliga-Spiele prompt
                                                                                                                                 Rund 25 Teilnehmer des Histocamps entschieden sich für die          auf Platz 1 der Trending Topics auf Twitter. Abschließend konnten
Deutschland, dem Archiv der sozialen Demokratie und der Friedrich-Ebert-Stiftung lud der neu                                     Session „Museumsobjekte im digitalen Raum“ und diskutierten         sich die Teilnehmer im Foyer des Hauses der Geschichte im ge-
gegründete Open History e.V. am 27. und 28. November 2015 nach Bonn ein.                                                         darüber, wie die Stiftung Objekte aus ihren Sammlungen online       mütlichen Rahmen austauschen. Veronica Vargas Gonzalez
                                                                                                                                 präsentiert: in Apps, auf den Social-Media-Kanälen und natürlich
Die Organisatoren beschrieben ihre Veranstaltung als „das     zur Pflicht, ein gewisser Enthusiasmus vorausgesetzt. Das          im Lebendigen Museum Online (LeMO). „Objekte haben für uns
erste Barcamp für alle, die an und mit Geschichte arbeiten“   Ziel ist ein Austausch auf Augenhöhe unter Interessierten.         eine zentrale Bedeutung, weil sie einen emotionalen, intellektu-    Das Haus der Geschichte in Bonn veranstal-
und setzten sich zum Ziel, die bestehenden Forschungs-,                                                                          ellen und nachhaltigen Zugang zur Geschichte ermöglichen“, er-      tete einen Tweetup sowie den Workshop
Tagungs- und Netzwerkgepflogenheiten in der Geschichts-       Das erste Histocamp                                                läuterte Johanna Volkwein und hob gleichzeitig die wichtige Rolle   „Museumsobjekte im digitalen Raum“.
wissenschaft aufzulockern und diese zu bereichern.                                                                               des digitalen Besuchers für die Stiftung hervor. Im Gespräch mit
                                                              Neben Studierenden und Wissenschaftlern kamen Mitarbei-            den Teilnehmern ging es um die Frage, wie sich die bisherigen
Barcamp                                                       ter von Gedenkstätten, Museen und Archiven sowie Fach-             Angebote spannend und zielgruppengerecht weiterentwickeln
                                                              fremde und Laien zum ersten Histocamp nach Bonn. Alle An-          lassen – etwa mit einem stärkeren Fokus auf Videoinhalte. Am
Barcamps sind „Un-Konferenzen“, deren Charakter zwar          wesenden stellten sich zu Beginn kurz vor und beschrieben          Ende nahm jeder neue Impulse für die Redaktionsarbeit und Pra-
strukturiert, dennoch von Spontaneität und Improvisations-    sich mit Hilfe von drei Hashtags, also Twitter-Schlagwörtern,      xistipps anderer Museumskollegen mit in seinen Arbeitsalltag.
freude geprägt ist. Die vorangestellte Silbe „Bar“ wird von   was auch als Verweis auf die überaus präsente Medienbe-            Maren Walther
Programmierern als eine Art Blindtext oder Platzhalter in     gleitung der Veranstaltung zu verstehen war. Anschließend
ihren Quellcodes verwendet. Inzwischen haben viele Bran-      ging es in die Planung der jeweils 45-minütigen Sessions:
chen weltweit dieses Veranstaltungsformat aufgegriffen.       Themenvorschläge wurden präsentiert, auf Kärtchen ge-
Als intensiv und inspirierend empfinden die Teilnehmer die    schrieben und Räumen zugewiesen. Die Inhalte der Sessions
„Sessions“, deren Themen und Formate sie erst während         waren sehr breit aufgestellt: Sie reichten von aktuellen und
des Camps vorstellen, um dann die Anwesenden über das         relevanten Fragen wie „Ist der Geschichtsverein tot?“ und
Ob und Wie abstimmen zu lassen. Aktive Teilhabe wird hier     „Berlin – ein ‚Disneyland‘ der Zeitgeschichte?“ über „Kir-
                                                              chenbau + Blog = Erfolg?“ hin zu Themen wie „Historische
                                                              Unternehmensberatung“. Sämtliche Sessions wurden proto-
In der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn                       kolliert, einige auch als Film bei YouTube veröffentlicht. Viele
fanden zahlreiche Veranstaltungen                             Teilnehmer kommunizierten ihre Eindrücke, Gedanken und
des Histocamps statt.                                         Fragen zusätzlich per Twitter.
inbonn

     „Rückblende 2015“ in Bonn und Leipzig   Bilder, die an die unmittelbare Nachkriegszeit            Die Sieger der 32. Rückblende haben sich dem Thema ge-
                                                                                                       widmet, welches das letzte Jahr wie kein zweites prägte: die
                                             erinnern, hinter denen Krieg, Terror und Angst

     Unruhige Zeiten
                                                                                                       Flüchtlingskrise. Der freie Fotojournalist Christian Mang
                                             stehen, aber auch Solidarität und Hoffnung:               aus Berlin erhielt für das Bild eines improvisierten Flücht-
                                             Das Jahr 2015 war vor allem von dramatischen              lingslagers nahe der slowenisch-österreichischen Grenze
                                             Ereignissen geprägt. Entsprechend spiegeln die            den ersten Preis in der Kategorie Fotografie und damit
                                                                                                       7.000 Euro. Der Karikaturist Thomas Plaßmann überzeug-
                                             Fotografien und Karikaturen der „Rückblende               te die Jury mit seiner Karikatur über Flüchtlinge, die sich
     von Ulrike Zander                       2015“ – dem Wettbewerb zum deutschen Preis                beim Sprachunterricht über die Korruptionsvorwürfe beim
                                             für politische Fotografie und Karikatur – ein             DFB, die Verspätungen der Bahn und den VW-Abgas-Skan-
                                                                                                       dal als „Deutsche Leitkultur“ amüsieren. Sean Gallup von
                                             schwieriges und unruhiges Jahr in Politik und             getty images fotografierte Flüchtlinge, die am Hauptbahn-
                                             Gesellschaft.                                             hof in München im November 2015 ankommen und ein
                                                                                                       Bild von Bundeskanzlerin Angela Merkel an sich drücken.
                                                                                                       Für diese Fotografie erhielt Gallup den dritten Fotopreis.
                                                                                                       Den zweiten Platz belegte John MacDougall von AFP mit ei-
                                                                                                       nem Thema, das zu Beginn des Jahres die Welt erschreckte
                                                                                                       und im November 2015 durch neue Terrorangriffe in Paris
                                                                                                       wiederum für Aufregung sorgte: Menschen zeigen sich
                                                                                                       im Januar 2015 vor der französischen Botschaft in Berlin
                                                                                                       solidarisch mit den ermordeten Journalisten des Maga-
                                                                                                       zins Charlie Hebdo und halten Schilder mit der Aufschrift
                                                                                                       „Je suis Charlie“ hoch.

                                                                                                       Ausstellung „Rückblende“
                                                                                                       Die Teilnehmerzahlen der „Rückblende 2015“ erreichten
                                                                                                       mit 216 Fotografen und 59 Karikaturisten wieder Rekord-
                                                                                                       niveau. Über 1.000 Arbeiten wurden für den Wettbewerb
                                                                                                       zum deutschen Preis für politische Fotografie und Kari-
                                                                                                       katur eingereicht. Die Landesvertretung Rheinland-Pfalz
                                                                                                       veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband
                                                                                                       Deutscher Zeitungsverleger auch die Ausstellung „Rück-
                                                                                                       blende 2015“, die vom 11. Mai bis zum 5. Juni 2016 im
                                                                                                       Haus der Geschichte in Bonn und vom 13. Juli bis zum
                                                                                                       28. August 2016 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu
                                                                                                       sehen sein wird. In der Jury für den Karikaturenpreis der
                                                                                                       Deutschen Tageszeitungen wählten auch der wissenschaft-
                                                                                                       liche Mitarbeiter der Stiftung Haus der Geschichte Ulrich
                                                                                                       Op de Hipt sowie der Karikaturist Klaus Stuttmann mit, der
                                                                                                       im vergangenen Jahr zu den Preisträgern zählte.
                                             Flüchtlinge warten im November 2015 am Grenzübergang            Die Ausstellung präsentiert 100 Fotografien und 50
                                             Spielfeld (Slowenien) im sogenannten Niemandsland, um     ausgewählte Karikaturen, die für die Besucher nicht nur
                                             nach Österreich eingelassen zu werden. Diese Fotografie
                                                                                                       eine spannende Rückschau auf das vergangene Jahr dar-
                                             von Christian Mang wurde mit dem ersten Preis der Rück-
                                             blende ausgezeichnet.                                     stellen, sondern durch die jeweils gewählte Perspektive auf
                                                                                                       die Ereignisse einen neuen Zugang zur neuesten Zeitge-
                                                                                                       schichte anbieten.

                                                                                                       Der freie Fotograf Paul Langrock erhielt
                                                                                                       für sein Bild „Zugreisende vor Riesenbanner
                                                                                                       an der VW-Firmenzentrale, Wolfsburg 2015“
                                                                                                       den Sonderpreis „Das scharfe Sehen“. (li.)

                                                                                                       Der dritte Fotopreis der Rückblende ging
                                                                                                       an Sean Gallup für sein Bild „Ein Flüchtling
                                                                                                       bei der Ankunft am Hauptbahnhof“,
                                                                                                       München im Oktober 2015. (Mitte)

                                                                                                       Der erste Karikaturenpreis ging an
                                                                                                       Thomas Plaßmann für seine Karikatur
                                                                                                       „Deutsche Leitkultur“, Frankfurter Rundschau,
                                                                                                       27. Oktober 2015. (re.)

24   museumsmagazin 1.2016                                                                                                                     museumsmagazin 1.2016   25
1                                                                                                                                2 3                                                            4

    Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition

    Nicht ohne die Wissensc haft                                                                                                                  von Ulrike Zander

    Ist die Herausgabe einer kritischen Edition von Mein Kampf notwendig?
    Eindeutig ja, so die Herausgeber, die ihre zweibändige Edition
    am 26. Januar 2016 im Haus der Geschichte in Bonn vorstellten.

    Die Urheberrechte des Freistaates Bayern an Adolf Hitlers     und wissenschaftlichen Leiter des Editionsprojektes              hatte das Institut für Zeitgeschichte seit 2012 Satz für
    Mein Kampf waren am 31. Dezember 2015 erloschen. „Es          Dr. Christian Hartmann 1, Prof. Dr. Andreas Wirsching 2,         Satz auseinandergenommen und mit mehr als 3.700
    wäre unverantwortlich gewesen, dieses Werk ab dem             Prof. Dr. Helmuth Kiesel 3, Professor für Neuere deutsche        Fußnoten, einer umfangreichen Einleitung und einem
    1. Januar 2016 frei vagabundieren zu lassen“, erklärte der    Literatur an der Universität Heidelberg und dem Präsi-           Überblick über den aktuellen Forschungsstand Hitlers
    Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Prof. Dr. Andreas   denten der Stiftung Haus der Geschichte Prof. Dr. Hans           nationalsozialistisch-rassistischer Weltanschauung wis-
    Wirsching. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem          Walter Hütter 4, der den Abend moderierte. Hartmann              senschaftliche Fakten entgegengesetzt. Im Kampf mit
    Buch sei schon alleine deshalb unverzichtbar gewesen,         erklärte die überwältigende Resonanz mit der Tatsache,           der Zeit und trotz zurückgezogener Fördermittel von
    weil der Leser Hitler nicht ohne die Wissenschaft wahr-       dass viele Menschen eine Beziehung zu dem Buch hätten            Seiten der bayrischen Regierung brachte das Institut die
    nehmen solle. Die erste wissenschaftlich kommentierte         und das Interesse, was darin stehe, groß sei: „Es ist eines      Edition pünktlich zu Beginn des Jahres 2016 im Eigen-
    Gesamtausgabe des Buches durch das Institut für Zeit-         der letzten echten Relikte des ‚Dritten Reiches‘, an das         verlag heraus und füllte damit ein Desiderat. „Das Buch
    geschichte, München-Berlin rief ein riesiges Publikum-        man bisher nicht herankam“, so der Herausgeber. Hitler           Mein Kampf darf nicht unterschätzt werden“, erklärte
    sinteresse hervor: 530 Zuhörer verfolgten die Buchvor-        hatte Mein Kampf von 1924 bis 1926 geschrieben, den              Kiesel unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunk-
    stellung und das Gespräch zwischen dem Herausgeber            ersten Band in der Festungshaftanstalt Landsberg, wo             ten. Es sei Teil der Weltanschauungsliteratur seiner Zeit.
                                                                                      er nach dem gescheiterten Putsch-            Die Edition des Werkes sei wichtig und unterstreiche
                                                                                      versuch in München seine Gefäng-             den historischen Erfahrungs- und Erkenntniswert. „Es
                                                                                      nisstrafe verbüßte. Bis 1944 wurden          war für uns die Auseinandersetzung mit einem Symbol“,
                                                                                      über zwölf Millionen Exemplare ver-          so Hartmann. „Das Buch ist eine Art Selbstvergewis-
                                                                                      kauft. Nach dem Zweiten Weltkrieg            serung für Hitler gewesen, als er vor dem Nichts stand
                                                                                      war ein Neudruck in Deutschland              und in Festungshaft saß. Er erfand aus sich heraus sei-
                                                                                      verboten – so hatte es der Frei-             ne Biografie, seine Ideologie, die Partei und das Reich
                                                                                      staat Bayern entschieden, der in             neu.“ Wirsching fügte ergänzend hinzu: „Daher haben
                                                                                      Rechtsnachfolge des nationalsozia-           wir uns entschieden, eine interpretierende Edition mit
                                                                                      listischen Eher-Verlags die Urhe-            Standpunkt herauszugeben.“ Der Kommentar breche die
                                                                                      berrechte bis zum Ende des Jahres            politisch-ideologische Programmschrift Hitlers und ver-
                                                                                      2015 hielt. Vor diesem Hintergrund           hindere ein empathisches Lesen.

                                                                                      Die Veranstaltung im Haus der Geschichte
                                                                                      am 26. Januar 2016 rief ein so großes
                                                                                      Publikumsinteresse hervor, dass sie aus
                                                                                      dem Saal zusätzlich ins Foyer übertragen
                                                                                      wurde.

                                                                                                                                                                                                    museumsmagazin 1.2016   27
Ende November 2015 eröffnete die Fotografin

Zuhause ist ein fernes Land. Fotografien von Gundula Schulze Eldowy                                                                                                      Gundula Schulze Eldowy (li.) die Ausstellung
                                                                                                                                                                         im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig.

Jenseits der Propaganda                                                                                   Gleich das erste Bild der Ausstellung bleibt haften: Es ist
                                                                                                          voller Poesie und zugleich eine skurrile Situation. Es ver-
                                                                                                          dichtet Sichtbares, zeigt Verborgenes und regt aufgrund
                                                                                                          seiner fehlenden Eindeutigkeit zu Fragen an: Was macht
                                                                                                          das Mädchen mit den Engelsflügeln auf dem Dach des Ge-
                                                                                                                                                                         Intuition, Inspiration
                                                                                                                                                                         und Improvisation
                                                                                                                                                                         Den „gründlichen Blick“, so Schulze Eldowy in einem Ge-
von Peter Paul Schwarz                                                                                    räteschuppens inmitten der verfallenen Häuser? Bemer-          spräch mit dem Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums
                                                                                                          kenswert in den Fotografien der 1954 in Erfurt geborenen       Leipzig am Eröffnungsabend, habe sie bei den französi-
                                                                                                          Fotografin ist der „Respekt vor denen, die abgebildet wer-     schen Romanciers gelernt. Geschult hat sie ihn beim Pio-
                                                                                                          den“, so Reiche. Auch das engelsgleiche Mädchen hat große      nier der fotografischen Neuen Sachlichkeit Paul Strand und
Die Postbotin hält trotz Brille und Lupe den Briefumschlag dicht vor ihre trüben Augen – der Betrachter   Würde. Das 1987 in Ost-Berlin entstandene Bild beinhaltet      der einflussreichen Vertreterin der sozialdokumentarischen
                                                                                                          wesentliche Charakteristika des Schaffens der Künstlerin,      Fotografie Diane Arbus. Mit dem Anspruch, das „ganze Po-
des Bildes „Briefträgerin“ ahnt, dass dieser Brief seinen Empfänger wohl nie erreicht haben wird.
                                                                                                          die von 1979 bis 1984 Fotografie in Leipzig studierte. Aus     tenzial“ des Menschen sichtbar machen zu wollen, emanzi-
Die Bilder der Fotografin Gundula Schulze Eldowy bieten „Innenansichten vom Alltag in der DDR“,           verschiedenen Werkgruppen werden rund 75 Fotografien           pierte sie sich von ihren Vorbildern: „Intuition, Inspiration
wie der Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig Dr. Jürgen Reiche zur Ausstellungseröffnung       präsentiert. Sie ermöglichen eindrucksvolle und facetten-      und Improvisation“ wurden zur Antriebsfeder ihrer Foto-
am 25. November 2015 erklärte. Menschen, Leben und Sterben stehen im Mittelpunkt der Fotografien.         reiche Einblicke in die Gesellschaft der DDR in den 1980er     grafie, resümierte Schulze Eldowy. Auf diese Weise entstan-
                                                                                                          Jahren – eine Gesellschaft zwischen wirtschaftlicher Misere,   den Bilder mit einer ganz eigenen Handschrift: Fotografien
Bis zum 14. August 2016 lädt die beeindruckende Ausstellung „Zuhause ist ein fernes Land“ in Leipzig      staatlichen Zwängen, individuellem Aufbegehren und der         von maroder Industrie und verfallenen Häusern entlarven
ein, diese künstlerischen Dokumente der Zeitgeschichte zu entdecken.                                      verzweifelten Suche nach Glück.                                die DDR-Propaganda. Es nimmt nicht wunder, dass die
                                                                                                                                                                         Künstlerin vom Ministerium für Staatssicherheit überwacht
                                                                                                                                                                         wurde. Auch wichtige Stationen der friedlichen Revolution
                                                                                                          Die Künstlerin zusammen mit dem                                in Leipzig hat Schulze Eldowy eingefangen. Andere Bilder
                                                                                                          Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums                        erzählen vom vermeintlich kleinen Glück, machen gebro-
                                                                                                          Leipzig Jürgen Reiche                                          chene Biografien sichtbar, offenbaren Abgründe.
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