Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation - Stiftung Wissenschaft und Politik

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SWP-Studie
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale
Politik und Sicherheit

                                        Uwe Halbach

                                        Tschetscheniens Stellung in
                                        der Russischen Föderation
                                        Ramsan Kadyrows Privatstaat und
                                        Wladimir Putins föderale Machtvertikale

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                                        März 2018
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ISSN 1611-6372
Inhalt

 5   Problemstellung und Schlussfolgerungen

 7   Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

13   »Pax Ramsana«: »Befriedung« Tschetscheniens
     im Privatstaat Kadyrows

16   Kadyrows Kulturpolitik: Zurück zur
     tschetschenischen Tradition?

19   Konflikte zwischen Kadyrow und russischen
     Sicherheitsdiensten

21   Menschenrechtsverletzungen

24   Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung
     oder Stabilitätsfassade?

26   Tschetschenien als grenzüberschreitender
     Akteur

30   Ausblick

32   Abkürzungsverzeichnis
Dr. Uwe Halbach ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe
Osteuropa und Eurasien
Problemstellung und Schlussfolgerungen

Tschetscheniens Stellung in der
Russischen Föderation
Ramsan Kadyrows Privatstaat und
Wladimir Putins föderale Machtvertikale

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden
Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan
Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis
zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist
Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik
zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetsche-
nischen Nationalismus mit russischem Patriotismus
zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetsche-
nischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustel-
len und sich als »Fußsoldat Putins« zu präsentieren.
Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetsche-
nien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in
der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage
gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin
ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt.
In Russlands Öffentlichkeit haben sich für Kadyrows
Herrschaftsbereich Bezeichnungen wie »tschetscheni-
sches Khanat« oder »Kadyrows Kalifat« eingebürgert.
Aus historischer Perspektive wurde die Stellung Tsche-
tscheniens innerhalb der Russischen Föderation mit
dem Emirat von Buchara in Zentralasien verglichen,
das im Machtgefüge des Zarenreichs während des
späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Höchst-
maß an Autonomie genoss.
   Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine
Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren
Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein
anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleich-
bare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die
Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Auch hier
zeigt sich die erwähnte Ambivalenz. Auf der einen
Seite begrüßt der Kreml eine diplomatische Arbeits-
teilung zwischen Moskau und Grosny gegenüber der
islamischen Welt. Auf der anderen Seite kommt es
zu Widersprüchen, wie sich im September 2017 in
Reaktionen in Russland auf die Verfolgung der musli-
mischen Rohingya-Volksgruppe in Myanmar gezeigt
hat. Bei ihren Stellungnahmen zu diesen Ereignissen
waren Moskau und Grosny nicht auf einer Linie.
   Während der 1990er Jahre wurde Tschetschenien
zum Inbegriff von Separatismus im nachsowjetischen
Russland. In der abtrünnigen Republik wurde eine
historische Kontinuität antikolonialen Widerstands

                                                      SWP Berlin
           Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
                                                       März 2018

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Problemstellung und Schlussfolgerungen

          gegen russische Oberherrschaft beschworen. Dschochar      neurswahlen nach der Geiselnahme in der nordkauka-
          Dudajew, der damalige Führer der tschetschenischen        sischen Stadt Beslan vom September 2004. Dort waren
          Sezessionsbewegung, forderte 1991 einen Friedens-         über 300 Menschen ums Leben gekommen, als russi-
          vertrag, um einen »300-jährigen Krieg zwischen dem        sche Sicherheitskräfte eine von Terroristen besetzte
          russischen Imperium und dem tschetschenischen             Schule stürmten.
          Volk« zu beenden. Moskau reagierte auf diese Bestre-         In der wissenschaftlichen Literatur wird die Politik
          bungen mit massiven Militäroperationen. Im ersten         der »Tschetschenisierung« in der Putin-Ära unter-
          Krieg von 1994 bis 1996 bekämpften Russlands Streit-      schiedlich bewertet. Einige Beobachter verweisen auf
          kräfte in Tschetschenien nach offizieller Lesart den      den Übergang von der Phase massiver kriegerischer
          ethnoterritorialen Separatismus, im zweiten Krieg         Gewalt hin zu einer selektiveren, gezielteren und
          dagegen, der 1999 begann und 2009 offiziell beendet       schließlich erfolgreicheren Bekämpfung des bewaffne-
          wurde, den internationalen islamistischen Terroris-       ten Untergrunds durch lokale Sicherheitskräfte. Dies
          mus. Diese beiden Kriege bildeten die schlimmsten         habe bewirkt, dass Tschetschenien nicht mehr den
          Gewaltereignisse im Raum der ehemaligen Sowjet-           Spitzenplatz in der Gewaltstatistik des Nordkaukasus
          union. Was die Zahl der Todesopfer und das Ausmaß         einnehme. Andere taxieren die politischen Kosten
          der Zerstörung von Städten und Siedlungen betrifft,       dieses sicherheitspolitischen Erfolgs auf lokaler Ebene
          überstiegen die Folgen bei weitem jene der Sezessions-    als zu hoch. Zu den »Stabilisierungskosten«, die Präsi-
          kriege im Südkaukasus (1991–1994), des Bürgerkriegs       dent Putin hierbei in Kauf genommen hat, gehören
          im zentralasiatischen Tadschikistan (1992–1997)           verbreitete Menschenrechtsverletzungen in der Kady-
          und der Kämpfe in der Ostukraine seit 2014. Heute         row-Republik, denen russische Behörden nicht Einhalt
          inszeniert sich die Kadyrow-Republik als Anwalt eines     gebieten. Dies wurde 2017 anlässlich der Verfolgung
          russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber         und Ermordung Homosexueller in Tschetschenien
          längst zum »inneren Ausland« Russlands geworden.          und Anfang 2018 nach der Verhaftung des dortigen
          Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein          Vertreters der Menschenrechtsorganisation Memorial
          eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohn-      wie selten zuvor zu einem Thema internationaler Poli-
          heitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür        tik und Berichterstattung.
          des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung          Betrachtet man die Stellung Tschetscheniens gegen-
          Russlands geraten.                                        über der seit Anfang der 2000er Jahre gestärkten zen-
             Indem er die Aufstandsbekämpfung ab 2002 an            tralen Machtebene in der Russischen Föderation, so
          tschetschenische Sicherheitskräfte delegierte, versuch-   zeigt sich, dass das Loyalitätsverhältnis zwischen Kady-
          te Präsident Putin, die Phase massiver Kriegshandlun-     row und seinem »Lehnsherrn« Putin dabei eine ent-
          gen in der Kaukasusrepublik zu beenden. Kritiker die-     scheidende Rolle spielt. Angesichts der bevorstehen-
          ser »Tschetschenisierung« behaupten, Vater Achmat         den vierten Amtsperiode Wladimir Putins nach der
          und Sohn Ramsan Kadyrow hätten auf diese Weise            Präsidentschafts»wahl« vom März 2018 stellt sich die
          eine De-facto-Sezession ins Werk gesetzt, während sie     Frage, ob der Putin-Kadyrow-Pakt auch in Zukunft
          unermüdlich bekundeten, Tschetschenien sei Bestand-       halten wird.
          teil der Russischen Föderation. Damit seien sie erfolg-
          reicher gewesen als die bewaffneten Untergrund-
          kämpfer, zu denen die beiden zuvor noch gehört hat-
          ten. Das ist umso bemerkenswerter, als diese Tsche-
          tschenien-Politik in Putins erster Amtsperiode mit
          dem Ausbau der sogenannten föderalen Machtvertika-
          le einherging. Die Entwicklung in und um Tschetsche-
          nien veranlasste den Kreml, die politischen Struktu-
          ren in der Russischen Föderation wieder stärker zu
          zentralisieren, was selbst manche russische Experten
          heute als »Hyperzentralisierung« kritisieren. Aus dem
          Konflikt mit der Kaukasusrepublik leitete Präsident
          Putin Legitimität für eine solche Rezentralisierung ab.
          Ein entscheidender Schritt in diese Richtung war die
          (vorübergehende) Abschaffung der regionalen Gouver-

          SWP Berlin
          Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
          März 2018

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Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

Nach Auflösung der Sowjetunion wurde am 31. März                      Derzeit ist die Mehrzahl der Regionen auf einen jähr-
1992 in einem Föderationsvertrag die Machtteilung                     lichen Finanzausgleich angewiesen. Nur 14 gelten als
zwischen dem Zentrum und den Regionen oder Föde-                      Geberregionen. Unter den Nehmerregionen (dotacio-
rationssubjekten des nachsowjetischen Russlands                       nnye regiony) stehen die größte nordkaukasische
festgeschrieben. Bei seinem Besuch in der tatarischen                 Teilrepublik Dagestan an erster und Tschetschenien
Hauptstadt Kasan im Sommer 1990 hatte Boris Jelzin,                   an fünfter Stelle.3
Präsident der damals noch sowjetischen Russischen                        Unter den Föderationssubjekten sind 22 Teilrepub-
Föderation (Russische Sozialistische Föderative Sowjet-               liken mit nichtrussischen Titularnationalitäten, die
republik, RSFSR), ausgerufen: »Nehmt euch so viel                     in einigen Fällen zahlenmäßig hinter dem ethnisch
Souveränität, wie ihr schlucken könnt.« In der Folge-                 russischen Bevölkerungsteil zurückstehen. In Tsche-
zeit erklärten sich nationale Teilrepubliken Russlands,               tschenien und Dagestan leben hingegen kaum noch
die zuvor Autonome Sozialistische Sowjetrepubliken                    Russen. Die Landesteile der Russischen Föderation, die
(ASSR) gewesen waren, für souverän. Sie beanspruch-                   in der westlichen Russlandforschung Aufmerksamkeit
ten Autonomie und eine konsequente Föderalisierung.                   auf sich gezogen haben, sind der Nordkaukasus mit
Der Föderationsvertrag von 1992 besiegelte diesen                     seinen sieben Teilrepubliken von Adygeja im Schwarz-
Prozess. Ein Jahr später wurde die nachsowjetische                    meerraum bis Dagestan am Kaspischen Meer, die
Verfassung Russlands verabschiedet, in der dieser Ver-                Wolgaregion mit den Teilrepubliken Tatarstan und
trag schon nicht mehr ausdrücklich erwähnt wurde.                     Baschkortostan sowie der Ferne Osten.
Zudem hatten zwei Teilrepubliken, Tschetschenien                         Präsident Wladimir Putin hat einen Prozess der
und Tatarstan, den Vertrag nicht unterzeichnet. Heute                 Rezentralisierung eingeleitet und eine »Vertikale der
erinnert sich kaum noch jemand in Russland an dieses                  Macht« ausgebaut, die den Raum für eine eigenständi-
Dokument.1                                                            ge Politik der Föderationssubjekte einschränkt. Aus-
   Zu Beginn der nachsowjetischen Periode bestand                     druck dieser Verflechtung mit der Zentralmacht ist
die Russische Föderation aus 89 regionalen Einheiten.                 die Dominanz der Regierungspartei Einiges Russland
Ihre Zahl wurde in den folgenden Jahren durch Zu-                     (Edinaja Rossija) in den regionalen Parlamenten. Mit
sammenschluss einiger Regionen auf 83 reduziert.                      der Machtvertikale setzte der russische Präsident
Heute besteht dieser multinationale Bundesstaat aus                   einen Kontrapunkt zu der Zeit seines Amtsvorgängers.
85 Föderationssubjekten, darunter die 2014 völker-                    Insbesondere die frühe Jelzin-Periode war von teil-
rechtswidrig annektierte Krimhalbinsel und die Stadt                  weise chaotischer Dezentralisierung und einer »Sou-
Sewastopol. Auf zentraler Ebene sind sie im Födera-                   veränitätsparade« nationaler Teilrepubliken und
tionsrat vertreten. Zwischen den Regionen einschließ-                 autonomer Gebietskörperschaften geprägt gewesen.
lich der nationalen Teilrepubliken bestehen erheb-                       Die Rezentralisierung begann im Jahr 2000, als die
liche Unterschiede, was sozioökonomische Entwick-                     Regierung sieben Föderalbezirke bildete, die mit den
lung, Wirtschafts- und Bevölkerungsgröße, ethnische                   Generalgouvernements im Zarenreich verglichen
Zusammensetzung, finanzielle Abhängigkeit vom                         wurden. Mittlerweile sind zwei weitere hinzugekom-
föderalen Haushalt und andere Kriterien betrifft.2                    men: Im Januar 2010 wurde der Nordkaukasus, der
                                                                      zuvor zum größeren Südlichen Föderalbezirk gehört
  1 Vadim Shtepa, The Devolution of Russian Federalism, Washing-      hatte, zu einem eigenen Föderalbezirk erhoben. 2014
  ton, D.C.: Jamestown Foundation, 4.4.2017, .
  2 Alexander Libman, Russische Regionen. Sichere Basis oder Quelle     182692/analyse-regionale-diskrepanzen-in-russland-politisch-
  der Instabilität für den Kreml?, Berlin: Stiftung Wissenschaft        verursacht>.
  und Politik, November 2016 (SWP-Studie 19/2016); Andreas              3 »Dagestan i Čečnja popali v pjaterku vysokodotacionnych
  Heinemann-Grüder, Regionale Diskrepanzen in Russland: Politisch       regionov« [Dagestan und Tschetschenien fielen unter die
  verursacht, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung,              ersten fünf der hochsubventionierten Regionen], in: Kavkazskij
  14.4.2014,
Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

           Karte: Nordkaukasus

           SWP Berlin
           Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
           März 2018

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Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

Kategorie eingeordnet. Die Föderalbezirke werden von                      in den regionalen Eliten setzt und ältere »Landes-
Sondervertretern des russischen Präsidenten geleitet.                     fürsten« gegen jüngere, besser kontrollierbare Polit-
Einige ihrer Hauptaufgaben bestehen darin, die Über-                      Manager aus Institutionen der zentralen Machtebene
einstimmung zwischen föderaler und regionaler                             austauscht. Zudem knüpft Moskau seine Kredite für
Gesetzgebung sicherzustellen und Kontrolle über die                       die vielen verschuldeten Regionen an Bedingungen,
Bundesbehörden auszuüben, die auf der regionalen                          die deren finanzpolitischen Entscheidungsraum ein-
Ebene tätig sind, etwa Steuerbehörden, Polizei oder                       schränken.6 2017 mussten 19 Gouverneure von ihren
der Inlandsgeheimdienst FSB.4 Gerade in dieser Hin-                       Ämtern zurücktreten, die größte Entlassungswelle der
sicht ist Tschetschenien ein Sonderfall, der sich solcher                 vorangegangenen fünf Jahre.7 Dabei rekrutiert Moskau
Kontrolle weitgehend entzieht.                                            verstärkt nichteinheimische Kader für die Regions-
   Im Jahr 2004, nach der Geiselnahme von Beslan,                         und Republikführungen. Ein schlagendes Beispiel da-
wurde die Direktwahl der Gouverneure und Republik-                        für war in Tschetscheniens Nachbarrepublik Dagestan
führer abgeschafft. Von da an wurden sie vom russi-                       zu besichtigen. Dort wurde im Oktober 2017 der seit
schen Präsidenten ernannt. Nach Massenprotesten                           2013 amtierende 71-jährige Republikführer Ramasan
gegen mutmaßliche Fälschungen bei den Duma-                               Abdulatipow durch Wladimir Wassiljew ersetzt, einen
Wahlen vom Dezember 2011 wurde das Prinzip der                            ehemaligen hohen Polizeioffizier aus Moskau und
Direktwahl auf regionaler Ebene wieder eingeführt –                       stellvertretenden Sprecher der Staatsduma. Erstmals
allerdings mit gravierenden Einschränkungen. Die                          seit 1948 steht damit ein Nichteinheimischer an der
Bewerbung für die Gouverneurswahlen wird durch                            Spitze der größten nordkaukasischen Teilrepublik.8
einen »munizipalen Filter« erschwert: Kandidaten                          Diese Entscheidung wurde nicht zuletzt damit begrün-
für den Gouverneursposten müssen zunächst eine                            det, dass dieser neue Republikführer keiner einzelnen
gewisse Zahl an Unterschriften von Abgeordneten der                       Volksgruppe und keinem Clan in Dagestan verpflich-
Kommunal- und Bezirksräte und der Bürgermeister                           tet sei und deshalb den Kampf gegen die dort beson-
zu ihren Gunsten vorweisen. Zudem ist der gewählte                        ders stark ausgeprägte Korruption und Clanwirtschaft
Gouverneur oder Republikführer nicht gegen Abset-                         besser aufnehmen könne. Einige Kommentatoren indes
zung durch den Kreml gefeit. Vor Regionalwahlen im                        wittern hinter solcher Kaderpolitik die von patrioti-
Jahr 2017 wurden Forderungen laut, den munizipalen                        schen Kreisen in Russland favorisierte Idee, zur zaristi-
Filter, der bislang die Dominanz der Regierungspartei                     schen Praxis der Einsetzung von Statthaltern zurück-
auf regionaler Ebene gesichert hatte, demokratischer                      zukehren.9
zu gestalten. Dennoch diente der Filter vor den Gou-                         Als eine der größten Herausforderungen für natio-
verneurswahlen in 16 Regionen im September 2017                           nale Sicherheitspolitik definiert der Kreml die Abwehr
wieder als administratives Instrument, um die Kandi-                      von Separatismus. Heute ist es in Russland riskant,
datur unabhängiger Bewerber zu verhindern.5                               für tatsächlichen Föderalismus und regionale Selbst-
   Was das Verhältnis zwischen der zentralen und der                      bestimmungsrechte einzutreten. Die Behörden könn-
regionalen Machtebene im Lichte der für März 2018                         ten dies als Aufruf zu Separatismus auslegen. 2014
geplanten Präsidentenwahlen anbelangt, hat Moskau                         trat ein Gesetz gegen »Aufrufe zur Verletzung der
seine Kontrolle über Gouverneure und regionale                            territorialen Integrität der Russischen Föderation« in
Finanzen noch weiter gestrafft. Damit ist eine Personal-
politik verbunden, die auf einen Generationswechsel                         6 Fabian Burkhardt/Janis Kluge, Generalprobe für Russlands
                                                                            Präsidentschaftswahlen. Moskau stärkt seine Kontrolle über Gouver-
  4 Martin Russell, Russia’s Constitutional Structure. Federal in Form,     neure und regionale Finanzen, Berlin: Stiftung Wissenschaft
  Unitary in Function, Straßburg/Brüssel: European Parliamen-               und Politik, September 2017 (SWP-Aktuell 66/2017).
  tary Research Service (EPRS), Members’ Service Research,                  7 Maria Domańska, The Kremlin’s Regional Policy – a Year of
  Oktober 2015, S. 4.                                                       Dismissing Governors, Warschau: Centre for Eastern Studies
  5 »In 8 out of 16 regions, non-systemic candidates failed to              (Ośrodek Studiów Wschodnich, OSW), 15.12.2017 (OSW
  overcome the ›municipal filter‹ because of obstruction by                 Warsaw Commentary Nr. 257).
  local and regional authorities.« European Platform for Demo-              8 Denis Sokolov, »Pervyj prokurator Dagestana« [Der erste
  cratic Elections (EPDE), Analytical Report on the Administrative          Prokurator Dagestans], in: Vedomosti, 4.10.2017, .
  Filter«), Berlin, 10.8.2017 (Newsletter), S. 1, .                     Political File, 11.10.2017.

                                                                                                                                  SWP Berlin
                                                                                       Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
                                                                                                                                   März 2018

                                                                                                                                                 9
Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

          Kraft, das dieser Gleichsetzung Vorschub leistet und                     welche auch Posten in Tschetschenien unterhält,
          bereits Strafverfahren nach sich gezogen hat.10                          die in dieser Teilrepublik besonders ausgeprägte
             Im zweiten Tschetschenienkrieg diente die Bekämp-                     Eigenständigkeit der lokalen Sicherheitsorgane ein-
          fung von Terrorismus und islamistischem Extremis-                        schränkt.13 Einige Beobachter haben dies als Maß-
          mus dazu, ein erneut massives militärisches Vorgehen                     nahme gegen Kadyrows Eigenmächtigkeit interpre-
          zu rechtfertigen. Die Gefahr eines ethnonationalis-                      tiert. Andere wiederum sehen diese nicht geschmälert,
          tischen Separatismus auf regionaler Ebene war in-                        da in der Nationalgarde dienende tschetschenische
          zwischen gesunken. Ein sibirischer Regionalismus,                        Soldaten nach wie vor ihrem Landesherrn gegenüber
          finno-ugrische Nationalbewegungen in Karelien und                        loyal sind und nicht ohne dessen Zustimmung ein-
          Autonomieansprüche in Tatarstan waren nicht in                           gesetzt werden. Sie werden von Scharip Delimchanow
          ernsthafte Sezessionsbewegungen übergegangen. Die                        geführt, einem jüngeren Bruder Adam Delimchanows,
          Russlandexpertin Marlène Laruelle bezweifelt, dass                       der als rechte Hand des tschetschenischen Republik-
          die Nationalismen der nichtrussischen Volksgruppen                       führers in der Staatsduma in Moskau gilt. Die Delim-
          im heutigen Russland noch als »force for change«                         chanows sind Ramsan Kadyrows Cousins.
          auftreten, und nennt dafür folgende Gründe: In der                          Die Frage, ob und in welchem Maße sich in Russ-
          Region mit dem anfangs höchsten Sezessionspoten-                         land Föderalismus entfalten kann, gewann 2017
          tial, dem Nordkaukasus, sei ein ethnoterritorialer                       wieder an Bedeutung im innenpolitischen Diskurs.
          Separatismus seit 1996 hinter islamistische Dynami-                      Einen Anlass dafür lieferte die Auseinandersetzung
          ken im bewaffneten Untergrund zurückgetreten.                            um die Verlängerung des Vertrags, mit dem sich die
          Die »Souveränitätsparade«, die zu Beginn der nach-                       Teilrepublik Tatarstan in eine Sonderbeziehung zur
          sowjetischen Entwicklung durch diverse National-                         Zentralgewalt gesetzt hatte. Zu Beginn der 1990er
          bewegungen und Volksfronten hervorgetreten war,                          Jahre wurde die russische Führung nicht nur von der
          gehöre in Russland wohl weitgehend der Vergangen-                        tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung heraus-
          heit an. Regionale Bruchlinien würden heute eher                         gefordert, welche die Lostrennung von Russland
          durch sozioökonomische als durch ethnische Diffe-                        betrieb. Moskau sah sich auch mit nachdrücklichen
          renzen markiert.11                                                       Autonomieforderungen einer tatarischen National-
             Als jüngste herausragende Institution der Macht-                      bewegung im Wolgaraum konfrontiert. Die Tataren
          vertikale auf militärischer Ebene gilt die 2016 von                      bilden die größte nichtrussische Volksgruppe der
          Präsident Putin geschaffene Nationalgarde (Rossgvar-                     Russischen Föderation. Wie Tschetschenien hatte auch
          dija). Sie ist direkt dem Präsidenten unterstellt und                    Tatarstan den Föderationsvertrag von 1992 nicht
          fasst bestehende Strukturen der Sicherheitsorgane wie                    unterzeichnet. Anders als Tschetschenien setzte diese
          die Truppen des Innenministeriums und Spezialein-                        Teilrepublik, die sich nicht an der Peripherie, sondern
          heiten wie OMON und andere zusammen. Eine solche                         im Zentrum Russlands befindet, damals nicht auf
          Prätorianergarde wurde bereits in der Jelzin-Ära in                      Sezession, sondern auf gesonderte Verhandlungen mit
          Erwägung gezogen, aber erst kürzlich installiert.12 Sie                  der Zentralregierung über eine Machtteilung. 1994
          umfasst inzwischen ein Personal von rund 400 000                         wurde ein entsprechender Vertrag geschlossen. Er
          Mann unter dem Kommando eines engen Vertrauten                           wurde 2007 um zehn Jahre verlängert und lief im Juli
          Putins, Viktor Solotow, der zudem im August 2017                         2017 aus. Dieser Sondervertrag gewährte der Teil-
          zum Leiter der Terrorismusbekämpfung im Nord-                            republik politische und wirtschaftliche Autonomie-
          kaukasus ernannt wurde. In dem Zusammenhang                              rechte, die zwar durch Putins Machtvertikale ein-
          wurde diskutiert, ob und inwieweit die Nationalgarde,                    geschränkt, aber nicht restlos beseitigt wurden. So
                                                                                   blieb Tatarstan das einzige Föderationssubjekt, an
                                                                                   dessen Spitze weiterhin ein Präsident steht, während
               10 »Putin Signs a Law Criminalizing Calls to Separatism«,
               in: The Moscow News, 30.12.2013.                                    in allen übrigen Teilrepubliken dieser Titel durch die
               11 Marlene Laruelle, »Is Nationalism a Force for Change in          Bezeichnung »Republikführer« ersetzt wurde. Gerade
               Russia?«, in: Daedalus, 146 (2017) 2, S. 89–100 (90).               der selbstherrliche tschetschenische Republikführer
               12 Margarete Klein, »Russlands neue Nationalgarde. Stärkung
               der Machtvertikale des Putin-Regimes«, in: Osteuropa, 66 (2016)       13 Dmitry Shlapentokh, »The Kremlin’s Last Resort: Kady-
               5, S. 19–32; Pavel Luzin, »The Ominous Rise of Russian Natio-         rovtsi in Russia’s National Guard«, in: Central Asia-Caucasus
               nal Guard«, in: Intersection (Security), 21.7.2017,
Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

hat diesen terminologischen Wechsel 2010 mit dem                   regeln und die regionale mit der föderalen Verfassung
Hinweis angeregt, es könne in Russland nur einen                   in Einklang zu bringen.
Präsidenten geben, nämlich Wladimir Putin.14 Außer-                   Der Kreml folgte den Forderungen vorerst nur in
dem beanspruchte Tatarstan ähnlich wie Tsche-                      einem Punkt. Er gestand dem seit 2010 amtierenden
tschenien, aber im Unterschied zu anderen Regionen                 Republikführer Rustam Minichanow bis 2020 den
eigene außenpolitische und außenwirtschaftliche                    Präsidententitel zu, lehnte die Verlängerung des
Beziehungen. So hat es sich 2015 im Streit Russlands               Sondervertrags mit der Teilrepublik jedoch ab. Auch
mit der Türkei gegen die ökonomischen Sanktionen                   die tatarische Regierung übernahm die genannten
ausgesprochen, die Moskau über Ankara verhängt                     Anliegen nur teilweise und mit Vorsicht. Russische
hatte, und auf seine eigenen Verbindungen zu diesem                Organisationen in der Teilrepublik, deren Bevölke-
Land bestanden.                                                    rung von 3,8 Millionen (laut Volkszählung von 2010)
   Bevor der Machtteilungsvertrag im Juli 2017 aus-                zu 40 Prozent aus ethnischen Russen besteht, wiesen
lief, kamen Forderungen auf, ihn abermals zu verlän-               die kultur- und sprachenpolitischen Forderungen
gern und den Föderalismus zu stärken. Es war die                   empört zurück.16 Sie stehen im Widerspruch zu der
Rede von neuer Machtteilung und einem »budgetären                  von Präsident Putin verlangten Stärkung der russi-
Föderalismus«, der dem im Gegensatz zum Nordkau-                   schen Sprache auf allen Ebenen der Föderation.17 Ende
kasus ökonomisch starken Tatarstan erlaube, einen                  November 2017 gab Tatarstan dem Druck aus Moskau
Großteil seiner Einkünfte für sich zu behalten. In                 nach: Der Unterricht in tatarischer Sprache an den
diesem Zusammenhang wurden auch Stimmen laut,                      Schulen der Teilrepublik ist nicht verpflichtend.18
die obligatorischen Unterricht in tatarischer Sprache                 Aber auch unterhalb der national-territorialen
in der Teilrepublik verlangten und darüber hinaus                  Ebene mit ihren Teilrepubliken geriet einiges in Bewe-
einen landesweiten tatarischsprachigen Fernsehkanal                gung. Die Welle von Rücktritten und Neuernennun-
wünschten, da ein großer Teil der Tataren in anderen               gen von Gouverneuren rückte regionale Angelegen-
Landesteilen Russlands lebt. Diese sprachenpolitischen             heiten ins Rampenlicht.19 So beklagen die regionalen
Forderungen fanden zum Teil Widerhall in anderen                   Eliten einen Verlust an Einfluss und Gestaltungs-
Regionen mit nichtrussischer Titularnationalität.15                macht. Laut einer Studie des vom einstigen russischen
Auf einem Weltkongress der Tataren Anfang August                   Finanzminister Alexei Kudrin geleiteten Zentrums
2017 mit tausend Delegierten aus 40 Ländern trat                   für angewandte Strategieforschung figurieren sie als
Mintimer Schaimijew, der erste gewählte tatarische                 reine Verwaltungseliten hinter den »strategischen
Präsident (1991–2010), mit einer Rede auf. Er erinner-             Eliten«, die politische Entscheidungen beeinflussen,
te an den Machtteilungsvertrag, der das »gesamte                   und den »Veto-Eliten«, die solche Entscheidungen zu
Schicksal Russlands« und des russländischen Födera-                korrigieren vermögen. Auch die Bedeutung regionaler
lismus beeinflusst habe. Seine Verlängerung sei eine
»historische Notwendigkeit«. Man müsse sich an den                   16 Über die Forderung nach verpflichtendem Unterricht in
Verhandlungstisch setzen, um rechtliche Fragen zu                    der tatarischen Sprache für alle Bewohner der Teilrepublik
                                                                     beschwerte sich die Gesellschaft für Russische Kultur Tatar-
                                                                     stans bei der Ministerin für Bildung und Wissenschaft in Mos-
                                                                     kau. So müssten mindestens 50 Prozent der Kinder in der
  14 »Chef ohne Präsidententitel: Kadyrow legt Treuebekennt-         Region unter einem unnützen Unterrichtsfach, der tatarischen
  nis zu Moskau ab – ›Iswestija‹«, in: Sputnik Deutschland,          Sprache, leiden – zum Schaden russischer Sprache und Litera-
  13.8.2010,
Die Entfaltung der föderalen Machtvertikale

          Wirtschaftseliten ist geschrumpft.20 Nach den letzten              glorifizieren.23 Zwischen Zentrum und Peripherie kam
          Regional- und Gouverneurswahlen im Herbst 2017                     es in den letzten Jahren zu »Denkmalkonflikten«, in
          warnten russische Historiker, Ökonomen und Politik-                denen ethnische Russen zaristischen Generälen wie
          wissenschaftler verstärkt vor einer »Hyperzentralisie-             Alexei Jermolow huldigen, während Nordkaukasier
          rung«, einer Teilung Russlands in »Moskau und Nicht-               ihrer Widerstandskämpfer wie Imam Schamils geden-
          Moskau«, die im Namen der Wahrung territorialer                    ken.24 In der Geschichtspolitik unter Putin zeichnet
          Integrität vollzogen werde.21                                      sich eine Tendenz ab, den russischen Kolonialismus
             Widerstand regte sich gegen den von Präsident                   in Frage zu stellen, nach dem Motto: Wir waren keine
          Putin 2016 initiierten Gesetzesentwurf »Über staat-                Kolonialmacht wie die westlichen Mächte, die auf
          liche Nationalpolitik« und die verbindliche Definition             überseeische Gebiete ausgegriffen und diese aus-
          der »russländischen Nation« (rossijskaja nacija). Eine             gebeutet haben. Im Oktober 2016 forderte der Sicher-
          solche Festlegung steht seit Beginn der nachsowjeti-               heitsrat Russlands ein Zentrum, das Fälschungen der
          schen Geschichte Russlands aus. Die Politik schwankte              Geschichte des Landes abwehren soll, die im Westen
          zwischen drei Auslegungen von Nationalstaatlichkeit:               und in ehemaligen Sowjetrepubliken angeblich kur-
          einer staatsbürgerlichen (civic nationalism), einer                sieren, zum Beispiel »Spekulationen über die koloniale
          ethnonationalen, hier auf das Russentum bezogenen,                 Frage«.25
          und einer neoimperialen.22 Moskau erwies der staats-                  Tschetschenien, das sich noch zwei Jahrzehnte
          bürgerlichen Nation zwar Lippenbekenntnisse, war in                zuvor im antikolonialen Widerstand gegen die russi-
          der Putin-Ära aber eher der dritten Variante zugeneigt.            sche Oberherrschaft verortet hatte, bekräftigt heute
          Nun sollte per Gesetz über die Definition entschieden              das vom Kreml unterstützte Geschichtsnarrativ. So hat
          werden. Trotz Unterstützung und Ermunterung durch                  das Kadyrow-Regime dort seit 2011 die Erinnerung an
          Präsident Putin wurde der Gesetzesentwurf jedoch                   die 1943/44 von Stalin verordnete Deportation ganzer
          nach fünf Monaten Diskussion bis auf Weiteres ad acta              Volksgruppen wie der Tschetschenen und Inguschen
          gelegt. Vorerst gescheitert ist er am Widerstand russi-            aus dem Nordkaukasus zurückgestellt und Gedenk-
          scher Nationalisten, die einen dominanten Status eth-              veranstaltungen dazu nicht mehr gefördert.26
          nischer Russen gesetzlich fixiert haben wollen, und
          nichtrussischer Eliten, die hinter diesem Vorstoß den
          Versuch witterten, sie ihrer Privilegien zu berauben.
             Spannungen zwischen dem Zentrum und den
          Regionen auf ideologischer und kultureller Ebene gibt
          es auch bei der Geschichtsdarstellung. Diese wird in
          Russland zunehmend wieder von staatlichen Stellen
          gelenkt, und zwar in Richtung eines einheitlichen, die
          Großmacht Russland verherrlichenden Narrativs. Bei
          einem Treffen im März 2015 mit Regionalpolitikern
          des Nordkaukasus bezichtigte Moskaus Sondergesand-
          ter für diesen Föderalbezirk dortige Universitäten der
          Geschichtsfälschung und stellte historische Termini
          wie »antikolonialer Widerstand« in Frage. Auch miss-
          billigte er die Exponate lokaler Museen, die sich dem
          Leben der Einheimischen vor dem Anschluss ihrer
          Region an Russland widmen und diese Zeit angeblich
                                                                               23 Valery Dzutsati, »History Widens the Divide between
                                                                               the North Caucasus and the Rest of Russia«, in: Eurasia Daily
               20 »Regional’nye elity priznali svoju otstranennost’ ot         Monitor, 30.3.2015.
               politiki« [Die regionalen Eliten haben ihre Entfremdung von     24 Paul Goble, »Russian Regions Erecting Statues to Those
               der Politik festgestellt], in: Vedomosti, 16.3.2017.            who Resisted Muscovite Expansion«, in: Eurasia Daily Monitor,
               21 Siehe dazu Paul Goble, »Hyper-Centralization of Russia       14.3.2017.
               Threatens Its Development and Survival«, in: Eurasia Daily      25 Siehe dazu Alexander Morrison, »Russia’s Colonial Allergy«,
               Monitor, 19.10.2017.                                            in: EurasiaNet, 19.12.2016.
               22 Igor Torbakov, »What Is to Be Done about the ›Russian        26 Siehe dazu das Kapitel »Kadyrows Kulturpolitik: Zurück
               Question‹?«, in: EurasiaNet, 27.10.2017.                        zur tschetschenischen Tradition?« in dieser Studie.

          SWP Berlin
          Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
          März 2018

          12
»Pax Ramsana«: »Befriedung« Tschetscheniens im Privatstaat Kadyrows

»Pax Ramsana«: »Befriedung« Tschetscheniens
im Privatstaat Kadyrows

Auf regionaler Ebene entstand eine andere Macht-                       seine Erlaubnis in Tschetschenien operieren. Über
vertikale, errichtet in Tschetschenien von der Kadyrow-                seine Gegner verhängt er Sippenhaft und lässt sie
Dynastie, vor allem von Ramsan Kadyrow. Sie scheint                    auch außerhalb Tschetscheniens verfolgen. Zudem
uneingeschränkt zu sein und bildet in Russland eine                    praktiziert er eine Kultur- und Religionspolitik, die
Ausnahme. Muslim Chatschijew, Bürgermeister der                        laut Kritikern darauf hinausläuft, die russländische
Republikhauptstadt Grosny, meint dazu: »Alles, was                     Teilrepublik in einen islamischen Staat zu verwan-
halbwegs von Bedeutung ist, geschieht hier unter den                   deln.30
Augen Kadyrows. Er trägt für alles die Verantwortung,                     Ramsan Kadyrow, geboren 1976, kämpfte im ersten
vor dem Volk, vor Gott und dem Präsidenten [Russ-                      Tschetschenienkrieg 1994 bis 1996 auf der Seite der
lands, d. Verf.]«.27                                                   Separatisten gegen die russischen Truppen. Danach
   Der tschetschenische Republikführer hat wieder-                     diente er als Leibwächter seines Vaters Achmat, der als
holt darauf hingewiesen, nichts und niemand außer                      Mufti in der de facto unabhängigen Republik amtierte.
Präsident Putin könne seine Machtstellung einschrän-                   Zu Beginn des zweiten Krieges im Herbst 1999 traten
ken und kontrollieren – weder ein Parlament noch                       Vater und Sohn auf die Seite der russischen Sicher-
Medien oder Justizapparate und schon gar keine                         heitskräfte über. Nach der chaotischen Phase zwischen
Opposition. »Bei uns gibt es keine Opposition. Das ist                 1996 und 1999 war den Kadyrows klar geworden, dass
ein System zur Untergrabung staatlicher Gewalt-                        Tschetschenien einen erneuten Krieg gegen Russland
hoheit [vlast’]. Ich erlaube es nicht, mit dem Volk zu                 kaum würde gewinnen können. Nachdem russische
spielen.«28 Außer der Regierungspartei Einiges Russ-                   Truppen wieder die Kontrolle über die abtrünnige Teil-
land existieren keine Parteien in Tschetschenien.                      republik erlangt hatten, erhob Präsident Putin Achmat
Daher erzielt Kadyrow als Kandidat der Regierungs-                     Kadyrow zu ihrem Führer. Der junge Ramsan leitete
partei Russlands bei Regionalwahlen stets ein nahezu                   seines Vaters Sicherheitsapparat, der unter dem Namen
hundertprozentiges Resultat. Das gilt auch für seinen                  »Kadyrowzy« bekannt wurde und heute über 30 000
Lehnsherrn Putin, der 2012 bei der letzten russischen                  Mann umfasst. Im März 2003 wurde per Referendum
Präsidentenwahl 99,73 Prozent der Stimmen in Tsche-                    eine neue Verfassung für Tschetschenien verabschie-
tschenien erlangte, bei einer angeblichen Wahlbeteili-                 det, die einen Monat später in Kraft trat. Sie garantier-
gung von 99,59 Prozent.29 Landesweit lag die Zustim-                   te der Republik ein gewisses Maß an Autonomie, unter-
mung zu Putin damals bei etwa 64 und die Wahlbetei-                    stellte sie aber der Russischen Föderation und der
ligung bei rund 65 Prozent. Unter den sogenannten                      Zentralgewalt. Im Oktober 2003 wurde dann bei frag-
Wahlsultanaten nimmt Tschetschenien den Spitzen-                       würdigen Präsidentenwahlen in der Republik der von
platz ein. Damit sind 15 Regionen gemeint, in denen                    Moskau unterstützte Kandidat Achmat Kadyrow mit
Putin und die Regierungspartei bei Präsidentschafts-                   80 Prozent der Stimmen gewählt. Er fiel am 9. Mai
und Parlamentswahlen weit mehr Stimmen erhalten                        2004 einem Mordanschlag zum Opfer. Seine Amts-
als im Landesdurchschnitt.                                             nachfolge trat Innenminister Alu Alchanow an, da
   Als Belohnung für seine Vasallentreue behandelt                     Kadyrows Sohn für das Präsidentenamt noch zu jung
Kadyrow Tschetschenien als sein persönliches Lehen.                    war. Von Putin protegiert, stieg Ramsan allerdings
Er droht damit, Polizeieinheiten aus anderen Teilen                    zügig zum eigentlichen Machthaber auf. Im März 2006
Russlands unter Beschuss zu nehmen, falls sie ohne                     wurde er zum Premierminister ernannt und besetzte
                                                                       Regierung und Verwaltung weitgehend mit seinen
  27 Zitiert in »Chechen Ruler Picks Football Team to Build            Gefolgsleuten. 2007 trat Alchanow vom Präsidenten-
  Personality Cult«, in: Financial Times, 7.8.2017.                    amt zurück, das nun Ramsan Kadyrow übernahm.
  28 Zitiert in Il’ja Jašin, Ugroza nacional’noj bezopasnosti. Neza-
  visimij expertnyj doklad [Gefahr für die nationale Sicherheit.
  Vortrag eines unabhängigen Experten], Moskau: Open Russia,
  Februar 2016, S. 12,
»Pax Ramsana«: »Befriedung« Tschetscheniens im Privatstaat Kadyrows

             Ein wesentlicher Grund für die Sonderstellung                          richteten. Die gängigste Praxis in diesem Zusammen-
          dieser Republikführung liegt darin, dass die Kadyrows                     hang war das Niederbrennen von Häusern. Ramsan
          im Auftrag Putins dazu beigetragen haben, die Phase                       Kadyrow hat bei seinen Straf- und Abschreckungs-
          massiver kriegerischer Gewalt in Tschetschenien in                        maßnahmen auch die tschetschenische Diaspora in
          eine selektivere, gezieltere Bekämpfung des Gegners                       Europa ins Fadenkreuz genommen.
          zu überführen. Der zweite Tschetschenienkrieg war                            Laut einer Studie von 2010 hat die gezielte Auf-
          wie der erste von überbordender Gewalt geprägt. Nach                      standsbekämpfung durch lokale Sicherheitskräfte im
          der Einnahme Grosnys durch russische Truppen im                           Vergleich zum Vorgehen der russischen Armee bewirkt,
          März 2000 zog sich der bewaffnete Widerstand in                           dass die vom bewaffneten Untergrund ausgehenden
          unzugängliche Bergregionen zurück und führte von                          Gewaltaktivitäten um 40 Prozent sanken.34 2009 hob
          dort aus einen Partisanenkrieg gegen die russischen                       Moskau den Sonderstatus Tschetscheniens als Ort
          Streitkräfte. Diese gingen ihrerseits unverhältnis-                       der Terrorbekämpfung offiziell auf. Im Februar 2010
          mäßig gegen ganze Städte und Siedlungsgebiete vor,                        besuchte eine Delegation des britischen House of
          beschossen sie mit Artillerie, flogen Luftangriffe                        Lords die Kaukasusrepublik. Geleitet wurde sie von
          und unternahmen Säuberungsaktionen.31 Doch derlei                         Frank Judd, ehemals Berichterstatter im Europarat
          Methoden erwiesen sich eher als kontraproduktiv.                          über die Menschenrechtslage in Tschetschenien. Ihr
          Ein russischer General berichtete noch 2004 vom                           Befund lautete, dass die Sicherheit für die Menschen
          Schlachtfeld in Tschetschenien, dass die Armee dort                       dort deutlich höher sei als in den Kriegstagen, die
          hauptsächlich mit der Sicherung der eigenen Truppen                       Menschenrechtslage aber weiterhin prekär. »Es gibt
          beschäftigt sei und der Guerilla nicht wirkungsvoll                       nach wie vor extralegale Straflager, Menschen ver-
          entgegentreten könne.32                                                   schwinden, auf Zeugen wird Druck ausgeübt und
             Seit 2002 setzte der Kreml verstärkt auf prorussische                  Häuser werden niedergebrannt.«35
          lokale paramilitärische Einheiten unter dem Ober-                            Nach dem Ende der Phase heftigster kriegerischer
          befehl der Kadyrows, die als ehemalige Widerstands-                       Auseinandersetzungen verringerte sich zwar die
          kämpfer gegen Russland selbst Erfahrungen mit                             Gewalt in Tschetschenien, aber gleichzeitig breitete
          Guerillakrieg gesammelt hatten. Diese lokalen Ein-                        sich die islamistische Aufstandsbewegung auf andere
          heiten, in die nun mehr und mehr Überläufer aus                           Teile des Nordkaukasus aus. 2007 rief der letzte tsche-
          dem Lager der Aufständischen integriert wurden,33                         tschenische Untergrund-Präsident Doku Umarow ein
          verfügten über bessere Kenntnisse des soziokultu-                         sogenanntes Kaukasus-Emirat aus. Es übte zwar keine
          rellen Terrains in den Kampfgebieten und der Vor-                         kompakte Territorialherrschaft aus, war aber bemüht,
          gehensweise des Gegners als die russischen Truppen.                       lokale Untergrundzellen (jama’at) in verschiedenen
          Damit verwandelte sich der zweite Tschetschenien-                         Teilen des Nordkaukasus zu koordinieren und ideo-
          krieg Stück für Stück in einen lokalen Bürgerkrieg.                       logisch zu motivieren. Erst seit etwa 2013 gingen die
          Die Kadyrowzy ersetzten die russischen Truppen weit-                      Kämpfe in der gesamten Region zurück und die Zahl
          gehend als führende Kraft in der Terrorbekämpfung.                        der Todesopfer sank deutlich. Dies lag vor allem da-
          Dabei bedienten sie sich vor allem der Sippenhaft,                        ran, dass viele Jihad-Kämpfer aus dem Kaukasus und
          die sie nicht nur gegen die engere Verwandtschaft der                     anderen Teilen Russlands in Kampfgebiete in Syrien
          verbliebenen Insurgenten und Terrorverdächtigen                           und Irak zogen.36
                                                                                       An der Loyalität der tschetschenischen Bevölkerung
               31 Emil Aslan Souleimanov/Huseyn Aliyev, How Socio-cultural          zu ihrem Republikführer und selbst einiger Kadyrowzy
               Codes Shaped Violent Mobilization and Pro-insurgent Support in the
               Chechen Wars, Cham: Springer (Palgrave Macmillan), 2017,
               S. 38. Zur russischen Kriegsführung siehe Mark Galeotti,               34 Jean-François Ratelle/Emil Aslan Souleimanov, »A Perfect
               Russia’s Wars in Chechnya 1994–2009, Oxford 2014.                      Counterinsurgency? Making Sense of Moscow’s Policy of
               32 Emil Aslan Souleimanov, The North Caucasus Insurgency:              Chechenisation«, in: Europe-Asia Studies, 68 (2016) 8, S. 1287–
               Dead or Alive?, Carlisle, Pennsylvania: The United States Army         1341 (1289); Jason Lyall, »Are Coethnics More Effective
               War College, Strategic Studies Institute, Februar 2017, S. 35.         Counterinsurgents? Evidence from the Second Chechen War«,
               33 Im Oktober 2005 bestanden laut Angaben des damaligen                in: American Political Science Review, 104 (2010) 1, S. 1–20.
               Republikführers Alu Alchanow die lokalen Sicherheitskräfte             35 Zitiert in »British MPs ›Disturbed‹ by Chechnya Visit«, in:
               bereits zur Hälfte aus 7000 ehemaligen Aufständischen, die             The Moscow News, 25.2.2010.
               zur Gegenseite übergelaufen waren. John Russell, Chechnya –            36 Uwe Halbach, Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des
               Russia’s War on Terror, London/New York: Routledge, 2007,              globalen Jihadismus, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik,
               S. 88.                                                                 April 2017 (SWP-Aktuell 23/2017).

          SWP Berlin
          Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
          März 2018

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»Pax Ramsana«: »Befriedung« Tschetscheniens im Privatstaat Kadyrows

zu ihrem Dienstherrn haben Feldstudien Zweifel auf-              immer noch von zwei Kriegen traumatisiert, die in
kommen lassen. So haben Jean-François Ratelle und                nahezu jeder Familie Todesopfer gefordert haben.
Emil Aslan Souleimanov zwischen 2008 und 2013                    Auch wenn die heute Minderjährigen die Kriegs-
Interviews geführt, in denen sich einige Gesprächs-              phasen nicht miterlebt haben, wird dieses Trauma
partner zum Beispiel darüber beklagten, dass lediglich           von der Elterngeneration auf sie übertragen. Die
mit der Kadyrow-Sippe verbundene Städte und Ort-                 neuen glänzenden Fassaden der Hauptstadt Grosny
schaften von den Wiederaufbauprogrammen in Tsche-                können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein
tschenien profitiert hätten.37 Gleichwohl attestieren            großer Teil der Republikbevölkerung an oder unter
die beiden Forscher Putins Tschetschenisierungs-                 der Armutsgrenze lebt. Dagegen können Kadyrows
politik und seinem Bündnis mit der Kadyrow-Familie               Gefolgsleute ungehindert ihren Reichtum und Luxus
beachtlichen Erfolg. Der russische Präsident habe                zur Schau stellen. »Es gibt die, denen alles erlaubt ist.
damit drei wesentliche Ziele erreicht: Erstens seien             Und es gibt die Masse der Bevölkerung, die vollkom-
die durch den Krieg verursachten Verluste unter                  men rechtlos ist, … die sich auf öffentlichen Plätzen
der Bevölkerung gesunken. Zweitens habe die Über-                einzufinden hat, um die Regierung zu unterstützen,
tragung der Aufstandsbekämpfung an die Kadyrowzy                 die ihre Religion so zu befolgen hat, wie es das Regime
Moskau geholfen, sich vom Schlachtfeld Tschetsche-               ihr vorschreibt.«41 Allerdings betonen die Experten,
nien und der dort begangenen Gewalt gegen die Zivil-             dass auch unter diesen Bedingungen von einer massen-
bevölkerung zu distanzieren und sich so der Kritik an            haften Unterstützung für den IS nicht die Rede sein
Menschenrechtsverletzungen zu entziehen. Drittens                kann. Sie heben hervor, dass sich die eher begrenzte
sei es Kadyrow tatsächlich gelungen, den Aufstand                potentielle Anhängerschaft nicht nur aus unterprivi-
zurückzudrängen, anders als etwa der Führung in der              legierten Gesellschaftsschichten rekrutiert, sondern
Nachbarrepublik Dagestan. Zudem sei Kadyrow bei                  ein komplexeres Sozial- und Bildungsprofil aufweist.
aller Eigenmächtigkeit in Tschetschenien dem russi-              Laut Aussage des tschetschenischen Innenministers
schen Präsidenten gegenüber loyal geblieben.38                   wurden 2017 in der Republik acht »Schläfer-Zellen«
   Aber ob daraus nachhaltige Stabilität abzuleiten ist,         des IS entdeckt und 18 Untergrundkämpfer getötet.42
bleibt fraglich. Zweifel nähren vor allem zwei eng
verknüpfte Instrumente, welche die Kadyrows in der
Aufstandsbekämpfung anwenden, nämlich Sippenhaft
und Blutrache, die in der tribalen tschetschenischen
Gesellschaft eine historische Rolle gespielt haben.39
   Russische Menschenrechtsaktivisten und Regional-
experten wie Jekaterina Sokirjanskaja, Swetlana
Gannuschkina und Alexei Malaschenko glauben, dass
ein Teil der jungen Tschetschenen deshalb für die
Propaganda des sogenannten Islamischen Staates (IS)
empfänglich ist, weil Tschetschenien heute keines-
wegs dauerhaft befriedet ist, wie es die offizielle Lesart
nahelegt.40 Die tschetschenische Gesellschaft ist

  37 »Moscow has managed to maintain control over the
  Chechen state in general and Chechen elites in particular. …
  Unlike in Afghanistan and Iraq, where sectarian division and
  the empowerment of local ethnic allies have delivered mixed
  results for the US Army, Chechenisation represents a model
  where Moscow has been able to find the right balance be-
  tween autonomy and control.« Ratelle/Souleimanov, »A Per-
  fect Counterinsurgency?« [wie Fn. 34], S. 1310.
  38 Ebd.                                                          der tschetschenischen Jugend an der IS-Ideologie], in: Kavkaz-
  39 »Krovnaja mest‹ – kak teper‹ ubivajut na Kavkaze« [Blut-      skij Uzel, 15.3.2017,
Kadyrows Kulturpolitik: Zurück zur tschetschenischen Tradition?

          Kadyrows Kulturpolitik: Zurück zur tschetschenischen Tradition?

          Ramsan Kadyrow betont mit Nachdruck, dass Tsche-              Zerfall Russlands zum Ziel habe.44 Mehrmals hat
          tschenien Bestandteil der Russischen Föderation ist,          Kadyrow in den letzten Jahren behauptet, diese Unter-
          und betreibt wie kein anderer regionaler Führer einen         wanderung der Stabilität seiner Republik und der
          Kult um den Präsidenten Russlands, den er dazu                territorialen Integrität Russlands werde von west-
          auffordert, sein Amt auf Lebenszeit auszuüben. Der            lichen Akteuren gesteuert.
          Geburtstag Putins wird in Grosny mit einem Massen-               Seinen Personenkult organisiert Ramsan Kadyrow
          aufmarsch begangen. Wie seinen Vater Achmat und               mit Männlichkeitsritualen, Kampfsportaufführungen,
          sich selbst erhebt Ramsan Kadyrow den russischen              an denen mitunter seine Söhne beteiligt sind, und
          Präsidenten zur Staatsikone. In der tschetschenischen         anderen bizarren Mitteln. Im Februar 2013 richtete er
          Gesellschaft wird diese Trinitäts-Ikonologie auf die          seine Instagram-Website ein, auf der er fortan Kom-
          satirische Formel »Vater, Sohn und Heiliger Geist«            mentare zu Tschetschenien, Russland und dem Rest
          gebracht. Vater Achmat steht dabei an der Spitze des          der Welt postete. Seine Online-Audienz wuchs auf mehr
          Personenkults – ähnlich wie Heydar Alijew in Aser-            als vier Millionen Besucher an. Seit dem 23. Dezember
          baidschan, Vater des amtierenden Präsidenten Ilham            2017 war allerdings kein Zugriff auf Kadyrows Insta-
          Alijew. Aserbaidschan und Tschetschenien sind die             gram- und Facebookseiten mehr möglich. Sie wurden
          beiden politischen Entitäten im postsowjetischen              blockiert, drei Tage nachdem die US-Regierung Kady-
          Raum, in denen sich autoritäre Familienherrschaften           row gemäß dem sogenannten Magnitski-Gesetz45
          als Dynastien etabliert haben. Die größte Moschee             wegen Menschenrechtsverletzungen auf ihre Sank-
          im gesamten Nordkaukasus steht in der tschetscheni-           tionsliste gesetzt hatte. Diese Maßnahme löste nicht
          schen Hauptstadt Grosny. Nicht nur sie trägt den              nur in Tschetschenien, sondern in ganz Russland
          Namen des ehemaligen Muftis und Republikführers               empörte Reaktionen aus.46
          Achmat Kadyrow, sondern auch Straßen und Gebäude                 Nicht nur mit Bezug auf seinen eigenen Herr-
          in Grosny und anderen Ortschaften der Republik.               schaftsbereich, sondern auf ganz Russland kultiviert
          2017 wurde der Kult um die Vaterfigur nochmals ver-           Kadyrow das Image eines Helfers der Bedrängten. So
          stärkt. So wurde der tschetschenische Fußballverein           rühmt er sich, bei der Entlassung russischer Journa-
          RFK Terek Grosny, der in der höchsten russischen Liga         listen, die in der Ukraine festgehalten worden waren,
          spielt, in FK Achmat Grosny umbenannt. Der 66. Ge-            und der Befreiung russischer Marineangehöriger aus
          burtstag des Namensgebers wurde am 22. August 2017            Gefangenschaft in Libyen behilflich gewesen zu sein.
          in der Hauptstadt feierlich begangen – unter Beteili-         2017 engagierte er sich für die Rückführung russi-
          gung seiner ehemaligen Mitarbeiter sowie von Reprä-           scher Kinder und Frauen, die in den von irakischen
          sentanten des Parlaments, öffentlicher Organisationen         und syrischen Truppen eingenommenen Territorien
          und der Muftiats-Geistlichkeit. Als Ehrengast aus             des IS festsaßen. Allein zwischen August und Oktober
          Moskau nahm der Minister für Angelegenheiten des              2017 brachte Kadyrows Sondergesandter für den Mitt-
          Nordkaukasus, Lew Kusnetzow, teil.43 Bei dieser Feier         leren Osten und Nordafrika, Zijad Sabsazi, etwa 50
          richtete Ramsan Kadyrow seine Botschaft an die isla-
          mische Welt: Prominente Islamgelehrte aus Dutzen-               44 »Russia: Chechnya Media Highlights 21–27 August 2017«,
                                                                          BBC Monitoring Global Newsline – Former Soviet Union Political File,
          den Ländern hätten anerkannt, dass sein Vater sein
                                                                          3.9.2017.
          Leben für Gott und die Rettung des tschetschenischen            45 Der »Magnitsky Act« wurde 2012 vom US-Kongress ver-
          Volkes geopfert habe. Dagegen schickten sich inter-             abschiedet und von Präsident Obama unterzeichnet. Er setzte
          nationale Terroristen an, das tschetschenische Volk             russische Offizielle auf eine Sanktionsliste, die für den Tod
          zu opfern, um einen Plan zu verwirklichen, der den              des 2009 verhafteten und in der Haft umgekommenen Wirt-
                                                                          schaftsprüfers Sergei Magnitski verantwortlich gemacht
                                                                          werden.
               43 Ein eigenes Ministerium für die Angelegenheiten des     46 »Chechen Leader’s Social Media Ban Causes Outrage in
               Nordkaukasus (Minkavkaz) in Moskau wurde im März 2014      Russia«, in: BBC Monitoring Global Newsline – Former Soviet Union
               etabliert.                                                 Political File, 25.12.2017.

          SWP Berlin
          Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
          März 2018

          16
Kadyrows Kulturpolitik: Zurück zur tschetschenischen Tradition?

von ihnen aus den Kriegsgebieten zurück.47 Mit dieser                 samer Methoden bedient und seiner Gesellschaft
Imagepflege kommt Kadyrow im Inneren Russlands                        strenge religiöse Vorschriften macht.
gut an, obwohl die dortige Bevölkerung Vorbehalte                        In der Religionspolitik lässt sich diese Ambivalenz
gegenüber Tschetschenen und anderen Nordkauka-                        besonders gut beobachten. Einerseits unterstreicht
siern hegt. In einer Meinungsumfrage des Instituts                    Kadyrow die Nähe islamischer Moral und Tradition zu
WZIOM vom April 2017 unter 1800 Bürgern Russlands                     Russlands christlich-orthodoxem Traditionalismus
glaubten 55 Prozent der Befragten, dass Kadyrows                      und ist bemüht, diese Verbindung vehement von
Aktivitäten dem gesamten Land nützen. Der Instituts-                  »westlicher Dekadenz, Gottlosigkeit, Traditions- und
leiter Waleri Fedorow fasste die Umfrageergebnisse                    Familienfeindlichkeit« abzugrenzen. Hier kommt er
so zusammen: »Der Republikführer Tschetscheniens                      seinem Patron Putin nahe, der in seiner dritten Amts-
wird von einer Mehrheit der Staatsbürger Russlands                    periode als Präsident seit 2012 den russländischen
als erfolgreicher und patriotischer Führer wahrge-                    Patriotismus zunehmend mit Hinweisen auf traditio-
nommen, der die Sicherheit und Entwicklung seiner                     nelle Werte untermauert und ihre Bedeutung für
Republik im Bestand Russlands garantiert. Kritische                   Russlands Sicherheit und Stabilität hervorhebt.50
Einwände an die Adresse Ramsan Kadyrows finden                        Kadyrow unterstützt das in die nationale Sicherheits-
kaum noch Widerhall im Massenbewusstsein.«48                          doktrin Russlands eingeführte Konzept der »spiritu-
   In seinem Machtbereich fährt Kadyrow mit harter                    ellen Sicherheit«, das eine besondere »russländische
Hand einen religions- und kulturpolitischen Kurs                      Zivilisation« zum Objekt der Verteidigung gegen Ein-
unter dem Motto »Zurück zur tschetschenischen Tra-                    mischung von außen erhebt.51 Er unterhält Kontakte
dition«. Der »Kadyrowismus« schlägt dabei Brücken                     zum Patriarchen Kirill und eröffnete neue russisch-
zwischen unterschiedlichen, darunter früher verfein-                  orthodoxe Kirchen auf dem Territorium Tschetscheni-
deten Gruppen, die »tschetschenische Identität« inter-                ens, obwohl dort der ethnisch russische Bevölkerungs-
pretieren: Traditionalisten, die das seit Jahrhunderten               teil auf eine winzige Minderheit geschrumpft ist.
geltende Gewohnheitsrecht (Adat) und seine Normen                     Zugleich unterstützt Kadyrow ultrakonservative Kräfte
in einer Stammesgesellschaft wiederbeleben wollen,                    in Moskau wie die Parlamentsabgeordnete Natalja
islamische Puristen, welche nur die Scharia als Rechts-               Poklonskaja und orthodoxe Hardliner, die selbst dem
system gelten lassen, Nationalisten, die auf die Souve-               Patriarchat suspekt sind. Dazu zählen jene Gruppen,
ränität Tschetscheniens bestehen und sich auf die                     die 2017 eine Kampagne gegen den Film »Matilda«
Tradition antikolonialen Widerstands berufen, und                     inszenierten. Er thematisiert eine Liebesaffäre des
Autonomisten, die ein selbstbestimmtes Tschetscheni-                  Zaren Nikolaus II. mit einer Ballett-Tänzerin und ver-
en innerhalb der Großmacht Russland bevorzugen.49                     letzt damit angeblich die religiösen Gefühle der »ech-
Dabei präsentiert sich Ramsan Kadyrow als nationaler                  ten Russen«.
und religiöser Führer, als Verbindungsmann zwischen                      Gegenüber nichttraditionellen Glaubensgemein-
Russland und der islamischen Außenwelt, als Symbol                    schaften verfolgt Tschetschenien ebenso wie Moskau
tschetschenischer Selbstbestimmung und gleichzeitig                   eine repressive Politik. In Russland wurde im Juli 2016
als Garant für die Zugehörigkeit der Republik zu Russ-                ein Gesetz verabschiedet, mit dem missionarische
land, als aktiver Kämpfer gegen Terrorismus und reli-                 Aktivitäten nichtorthodoxer, nichttraditioneller Kon-
giösen Extremismus, der sich allerdings selbst gewalt-                fessionen unter Terrorverdacht gestellt werden. 2017
                                                                      wurden dort besonders Zeugen Jehovas als »religiöse
                                                                      Extremisten« kriminalisiert. Ähnlich wird in Tsche-
  47 »Russia: Chechnya Media Highlights 31 July–6 August              tschenien das Attribut »nichttraditionell« benutzt, um
  2017«, BBC Monitoring Global Newsline – Former Soviet Union         unerwünschte religiöse Aktivitäten zu dämonisieren.
  Political File, 7.8.2017; Grozny-Inform, 21.10.2017. Zu den
  Auslandsaktivitäten Kadyrows und seines Sondergesandten
  Sabsazi siehe das Kapitel »Tschetschenien als grenzüber-              50 Siehe hierzu Irina du Quenoy, »Russia: The Stability Impli-
  schreitender Akteur« in dieser Studie.                                cations of State Policies Toward Religion and the Russian
  48 »Ramzan Kadyrov: Portret Politika«, Pressemitteilung               Orthodox Church«, in: Katya Migacheva/Bryan Frederick (Hg.),
  Nr. 3372, VCIOM, 12.5.2017, ˂https://wciom.ru/index.php?id            Religion, Conflict, and Stability in the Former Soviet Union, Santa
  =236&uid=116195˃.                                                     Monica: Rand Corporation, 2018, S. 159–180 (171–175).
  49 Siehe dazu besonders Marlène Laruelle, Kadyrovism:                 51 Siehe hierzu Veera Laine/Iiris Saarelainen, Spirituality as a
  Hardline Islam as a Tool of the Kremlin?, Paris/Brüssel: Institut     Political Instrument. The Church, the Kremlin, and the Creation of the
  français des relations internationales (Ifri), März 2017              »Russian World«, Helsinki: Finnish Institute of International
  (Russie.Nei.Visions Nr. 99), S. 9.                                    Affairs (FIIA), September 2017 (Working Paper).

                                                                                                                               SWP Berlin
                                                                                    Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation
                                                                                                                                März 2018

                                                                                                                                           17
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