Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? Eine Annäherung an subjektive Integrationsvorstellungen von Geflüchteten und beruflich oder ...

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Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019
https://doi.org/10.5194/gh-74-205-2019
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                  Angekommen in postmigrantischen
          Stadtgesellschaften? Eine Annäherung an subjektive
       Integrationsvorstellungen von Geflüchteten und beruflich
         oder ehrenamtlich in der Flüchtlingsbetreuung Tätigen
          Günther Weiss1 , Francesca Adam2 , Stefanie Föbker3 , Daniela Imani3 , Carmella Pfaffenbach2 , and
                                            Claus-Christian Wiegandt3
                            1 Institut
                                     für Geographiedidaktik, Universität zu Köln, Köln, Germany
       2 Geographisches  Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) Aachen, Aachen, Germany
                 3 Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Germany

                                  Correspondence: Günther Weiss (g.weiss@uni-koeln.de)

                 Received: 13 July 2018 – Revised: 12 April 2019 – Accepted: 3 May 2019 – Published: 17 June 2019

1   Einleitung                                                     halte existieren oder Barrieren wahrgenommen werden, die
                                                                   verhindern, sich in Deutschland heimisch fühlen zu können.
Die Zuwanderung von Geflüchteten stellt, besonders seit            Die Bedürfnisse und Ideen der Zuwanderer über ein gelun-
der Zuwanderungswelle 2015/16, die deutsche Gesellschaft           genes Einleben können wiederum zur Orientierung für die
vor große Herausforderungen. Die öffentliche Debatte zwi-          deutsche Integrationspolitik dienen und auch die Strategien
schen Willkommenskultur und Überfremdungsängsten ist               der HelferInnen, die im unmittelbaren Kontakt mit den Ge-
dabei stark ideologisch aufgeladen. Ein gewichtiger Teil der       flüchteten stehen, kalibrieren. Erkenntnisse über die Sicht-
politischen Diskussion wird dort, neben Strategien einer Re-       weisen der HelferInnen können demgegenüber erhellen, mit
gulierung der Fluchtmigration, um das Verständnis von „In-         welchen Ansprüchen an eine zu erbringende „Integrations-
tegration“ geführt. Hier stehen der traditionellen Vorstellung     leistung“, ob unmittelbar ausgesprochen oder eher subtil an-
einer „Leitkultur“ des Herkunftslandes, welcher sich die Zu-       gedeutet, die Geflüchteten konfrontiert werden. Im Hinblick
wanderer anzupassen haben, eher progressivere Ideen ge-            auf die Perspektive einer Transformation Deutschlands in ei-
genüber, die betonen, dass beide Seiten auf Basis gegen-           ne postmigrantische Gesellschaft, die von traditionellen In-
seitiger Wertschätzung aufeinander zugehen müssen (Höcke           tegrationskonzepten Abschied nimmt (Foroutan, 2015), kann
und Schnur, 2016). Mit dem Begriff des „Postmigrantischen“         die Untersuchung helfen zu klären, inwieweit sich besonders
wird darüber hinausgehend u.a. die grundlegende politische         die Protagonisten der lokalen Unterstützung für Geflüchte-
Anerkennung migrationsgesellschaftlicher Realitäten in den         te in Deutschland, aber auch die Geflüchteten selbst in ih-
Mittelpunkt gerückt, die zwar diskutiert, reguliert und ausge-     ren Strategien und Tätigkeiten im Alltag einem postmigran-
handelt, aber nicht rückgängig gemacht werden können (Fo-          tischen Verständnis annähern.
routan, 2015:2).                                                      Aus einer postmigrantischen Perspektive auf Gesellschaft
   Vor dem Hintergrund dieser Debatten wird in dem vorlie-         kann das Untersuchungsdesign mit Unterscheidung von zwei
genden Artikel der Frage nachgegangen, welche Vorstellun-          Gruppen von GesprächspartnerInnen zunächst problematisch
gen auf der einen Seite die FluchtmigrantInnen selbst über         erscheinen, da es die Dichotomie von Zugewanderten und
ihre „Integration“ in Deutschland haben und welche Vorstel-        Einheimischen zu reproduzieren und zu verfestigen scheint.
lungen bei den Personen vorliegen, welche beruflich oder eh-       Mit Blick auf gesellschaftliche Beziehungs- und Machtkon-
renamtlich mit der Betreuung neu zugewanderter Geflüch-            stellationen ist diese Gegenüberstellung allerdings zentral.
teter zu tun haben. Diese Gegenüberstellung ist in mehrfa-         Denn sie erfolgte nicht unter ethnisch-kulturellen Vorannah-
cher Hinsicht von Interesse: Die Vorstellungen der Flucht-         men, sondern unter funktionalen Gesichtspunkten: Geflüch-
migrantInnen können darüber Aufschluss geben, ob Vorbe-

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
206                                               G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften?

tete stellen eine hinsichtlich gesellschaftlicher Handlungs-     onsvorstellungen der Geflüchteten und der in der Betreu-
möglichkeiten und Positionen besondere, in der Regel be-         ung von Geflüchteten Tätigen. In einem Fazit werden beide
sonders marginalisierte Gruppe innerhalb der Gesellschaft        Sichtweisen verglichen und in Relation zu einer postmigran-
dar. Auf der anderen Seite repräsentieren die in der Betreu-     tischen Perspektive auf Gesellschaft gebracht.
ung von Geflüchteten aktiven Personen die Aufnahmegesell-
schaft zunächst funktional in ihrer Rolle als HelferInnen,
                                                                 2     Konzeptionelle Grundlagen: Eine kritische
welche sie aus dem (bei Ehrenamtlern subjektiv perzipier-
                                                                       Betrachtung gängiger Integrationsmodelle und
ten) Vorsprung an Sprachkompetenz, Geld, Befugnissen, Ei-
                                                                       die Rolle des (Sozial-)Raums
gentum, Wissen über Spielregeln etc. übernehmen.
   Nach einem Überblick gängiger Integrationsvorstellungen       2.1    Von der Assimilation zu gleichberechtigter
und -konzepte legt der Beitrag einen Fokus auf raumbezoge-              Partizipation und Teilhabe?
ne Implikationen der „Integration“. So wird u.a. seit der Ver-
öffentlichung des Race-Relation Cycle der Chicago School         In der Wissenschaft konkurrieren verschiedene Integrations-
räumlich agglomerierten ethnischen Communities auf Quar-         modelle (vgl. Überblick bei Fincke, 2008:21ff.): Das klassi-
tiersebene ein besonderer Stellenwert für die Einführung von     sche Assimilations-Modell der Chicagoer Schule geht davon
Neuzuwanderern in die Ankunftsgesellschaft zugesprochen.         aus, dass sich Zuwanderer langfristig an ein etabliertes Ge-
Auch neuere Untersuchungen (Ager und Strang, 2008; Au-           sellschaftssystem angleichen. Eine Grundannahme ist, dass
müller und Bretl, 2008; Glick-Schiller und Caglar, 2011) un-     Integrationsprozesse im Sinn eines einseitigen Anpassungs-
terstreichen den besonderen Einfluss lokaler Kontexte auf In-    prozesses allein von der zuwandernden Bevölkerung ausge-
tegrationsprozesse von Zuwanderern auch über die Quartier-       hen. Das Modell der partiellen bzw. ungleichmäßigen Assi-
sebene hinaus. Demnach wäre zu erwarten, dass Prozesse der       milation geht einen Schritt weiter und differenziert darüber
Ankunft und des Einlebens in Großstädten unter anderen Be-       hinaus zwischen unterschiedlichen Bereichen (Beruf, Freun-
dingungen ablaufen, als in ländlichen bis mittelstädtischen      de, Kultur) sowie unterschiedlichem Tempo und Ausmaß der
Umgebungen. Vor diesem Hintergrund liegen der vorliegen-         Anpassung an die Aufnahmegesellschaft, wobei eine letzte
den Studie folgende Fragestellungen zugrunde:                    Stufe vollständiger Assimilation häufig ausbleibt. Es wird
                                                                 daher davon ausgegangen, dass es – unabhängig von der Auf-
  – Welche subjektiven Vorstellungen haben Menschen mit          enthaltsdauer – eher zu einem Nebeneinanderleben von Zu-
    Fluchterfahrung über ein subjektiv zufriedenstellendes       wanderern und Einheimischen mit allenfalls partieller Assi-
    Einleben im Ankunftskontext? Welche Vorstellungen            milation kommt (Treibel, 2008:109f, ähnliche auch in der
    haben BetreuerInnen von Geflüchteten über ein gelun-         deutschen Diskussion Esser, 2001 und Heitmeyer, 1998).
    genes Einleben bzw. „integriert sein“ der von ihnen Be-         Neuere, in den USA entwickelte, Theorieansätze nehmen
    treuten?                                                     die differenzierten und variablen Bedingungen in der Auf-
                                                                 nahmegesellschaft stärker in den Blick. So geht die Theorie
  – Inwiefern bilden diese individuell-subjektiven Vorstel-
                                                                 der transnationalen Pluralisierung (Levitt und Waters, 2002)
    lungen auch die in der öffentlichen Diskussion zirkulie-
                                                                 davon aus, dass bei begrenztem Arbeitsmarktzugang und ei-
    renden Integrationskonzepte und -theorien ab?
                                                                 ner großen Zahl von Zuwanderern gleicher Herkunft gleich-
  – Treten in den subjektiven Vorstellungen über gelun-          zeitig Netzwerke zur Aufnahmegesellschaft sowie verstärkt
    genes Einleben auch raumbezogene Faktoren auf und            zum Herkunftsland gepflegt werden. Die Nutzung der so-
    wenn ja mit welcher Bedeutung? Werden diese Vor-             zialen und ökonomischen Ressourcen eines transnationalen
    stellungen z.B. davon beeinflusst, dass ein Individu-        Raums begünstigt bikulturelle Kompetenzen, die im Sinn
    um in einem großstädtischen oder in einem klein-             von Entwicklungspotentialen interpretiert werden. Die Theo-
    /mittelstädtischen Umfeld angesiedelt ist?                   rie der segmentierten Assimilation (Portes, 1999; Portes und
                                                                 Rumbaut, 2006) thematisiert dagegen vor allem konflikthaf-
Die nachfolgend präsentierten Ergebnisse sind Teil ei-           te Konstellationen: Sie verfolgt die These, dass bei bestehen-
nes vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft und             dem Rassismus und schlechten Chancen des Arbeitsmarkt-
Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen über das For-           zugangs eine Integration in endogene marginalisierte Grup-
schungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung          pen erfolgt, deren Oppositionskultur gegen den mehrheits-
(FGW) geförderten Forschungsprojekts zu Integrati-               gesellschaftlichen Mainstream übernommen wird. Die neo-
onsprozessen asylberechtigter Flüchtlinge in nordrhein-          klassische Theorie (Alba und Nee, 2003) hingegen postuliert,
westfälischen Städten und Gemeinden.                             dass sich die Zugewanderten bei funktionierenden Gesetzen
   Im Folgenden werden zunächst allgemeine Integrations-         gegen Diskriminierung, gleichen Bildungschancen und ei-
theorien und -konzepte sowie deren Raumbezug zur Dis-            nem meritokratischen Aufstiegssystem so weit wie nötig an
kussion gestellt. Anschließend werden das methodische Vor-       die Normen des sich ebenfalls verändernden Mainstreams
gehen erläutert und die empirischen Ergebnisse präsentiert.      anpassen, da sie nach Verbesserung ihrer Lebenschancen und
Diese werden differenziert nach den subjektiven Integrati-       sozialem Aufstieg streben.

Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019                                                           www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften?                                                     207

    Die gesellschaftspolitische Diskussion in Deutschland        tionsverständnis auf (Abramson, 1980:150; „boundary blur-
wird seit den 1970er Jahren im starken Maß durch einen kon-      ring“, vgl. Bauböck, 1995).
servativen Integrationsbegriff geprägt. Dieser orientiert sich
an der Vorstellung, es gäbe eine etablierte Kerngesellschaft,    2.2   Raumbezogene Implikationen – Integration und
an die sich Menschen mit Migrationsbiographie einseitig an-            Segregation
passen müssten. Damit steht diese Auffassung tendenziell
in einer Linie mit traditionellen Assimilationsmodellen (u.a.    Aus raumsoziologischer bzw. sozialgeographischer Perspek-
Esser, 2001; Heitmeyer, 1998). Traditionelle Integrationspo-     tive wird dem sozialräumlichen Kontext eine bedeutende
litik versucht entsprechend dieser Logik, Defizite bei den Mi-   Rolle beim Integrationsprozess von Zuwanderern beigemes-
grantenInnen zu beseitigen. Integrationshindernisse werden       sen. Besonders in der deutschen Diskussion mit ihrem tra-
vorzugsweise bei den kulturellen bzw. religiösen Andersar-       ditionellen Integrationsbegriff, welcher von Anpassung der
tigkeiten oder in der Person des Migranten gesehen, nicht in     MigrantInnen an einen gesellschaftlichen Mainstream aus-
den Bedingungen der Aufnahmegesellschaft. Vor dem Hin-           geht, werden Quartiere, die durch Konzentration von Zu-
tergrund zunehmender gesellschaftlicher Mobilität, umfas-        gewanderten geprägt sind, tendenziell problematisiert. Die-
sender globaler Wanderungsbewegungen und der wachsen-            se defizitorientierte Perspektive auf Migration, die sich un-
den Bedeutung von Lebensformen die in mehreren lokalen           ter anderem im Etikett einer „Parallelgesellschaft“ wieder-
und nationalen Kontexten verankert sind, stehen Vorstellun-      findet (Yildiz, 2017:20), geht von einer langfristig negati-
gen eines homogenen, stabilen gesellschaftlichen Mainstre-       ven Wirkung ethnischer Segregation auf Integrationsprozes-
ams jedoch immer weniger in Einklang mit der gesellschaft-       se aus. Zugleich wird die Gefahr einer zunehmenden Ab-
lichen Realität.                                                 kopplung von sich mit ihrem Raum identifizierenden ethni-
    Das traditionelle Verständnis von Integration vor diesem     schen Communities vom Rest der Stadtgesellschaft gesehen,
Hintergrund als unzeitgemäß ablehnend, wird aus einer post-      die mit wachsenden gesellschaftlichen Konflikten einherge-
migrantischen Perspektive ein Paradigmenwechsel gefordert.       hen kann (Teltemann et al., 2013:6). Laut Heitmeyer (1998)
Dieser zielt im Kern darauf ab, die Dichotomie von „Ein-         begünstigt eine ethnische Konzentration in infrastrukturell
heimischen“ und „MigrantInnen“ zugunsten einer Bürger-           benachteiligten Gebieten Abhängigkeiten der MigrantInnen
Identität mit gleichen Teilhaberechten und Partizipations-       von ethnischen und religiösen Gruppierungen und gefährdet
chancen für alle aufzulösen. Gesellschaftliches Leitbild ist     dadurch das Ein- und Zusammenleben. Für die Bewertung
die Einheit der Verschiedenen, die „Integration“ jedem Bür-      von Segregation als „Integration verhindernd“ ist die Kon-
ger offen stellt (Foroutan, 2015:6). Das Konzept der postmi-     takthypothese zentral: Diese besagt, dass durch – vor allem
grantischen Gesellschaft hat Merkmale einer Forschungsper-       residenzielle – Nähe die Kontakthäufigkeit zwischen Indivi-
spektive und einer normativen Gesellschaftsvision zugleich.      duen im Wohnumfeld steigt, mithin in einem „gemischten“
In einer ursprünglichen und wesentlichen Stoßrichtung geht       Setting das Wissen übereinander und die Anpassung an die
es darum, die Einteilung der Gesellschaft in Gruppen nach        Verhaltensweisen des Mainstreams. Bei ethnisch homogenen
Herkunft und „migrantisch“ versus „einheimisch“ kritisch         Kontakten muss dieser Anpassungsprozess demnach ausblei-
zu hinterfragen und letztendlich zu überwinden, da inzwi-        ben (Häußermann und Siebel, 2001:45). Ähnlich problema-
schen die ganze Gesellschaft direkt oder indirekt durch Mi-      tisch wird ethnische residenzielle Segregation auch im An-
gration geprägt ist (u.a. Langhoff, 2011). Die Realität trans-   satz der segmentierten Assimilation interpretiert: Die räum-
nationaler und translokaler Verflechtungen anzuerkennen, zu      liche Konzentration der Zuwanderer in Quartieren der endo-
analysieren und ihr gesellschaftspolitisch Rechnung zu tra-      genen marginalisierten Bevölkerung beschleunigt den sozia-
gen, ist ein zentrales Anliegen postmigrantischer Autoren        len Abstieg z.B. über schlechte Bildungsinfrastruktur, man-
(Tsianos und Karakayali, 2014; Foroutan, 2015; Römhild,          gelnde Zugänge zu Informationen und Jobs sowie fehlende
2015). Diese Kernidee wird mit unterschiedlichen Schwer-         Rollenvorbilder (Portes, 1999).
punkten angereichert. Während einige Autoren die Aufmerk-           Eine grundsätzlich positive Sicht auf migrantisch-
samkeit auf die selbstintegrativen Leistungen verschiedener      ethnische Segregation besitzt dagegen das Konzept der eth-
Generationen der so genannten Gastarbeiter-Zuwanderung           nischen Kolonie oder der „arrival city“ (Saunders, 2011).
lenken (z.B. Yildiz, 2015), rücken andere die Auflehnung         Dieses geht davon aus, dass die Kolonie der Zugewander-
gegen zunehmende gesellschaftliche Heterogenität und die         ten durch freiwillig aufgenommene und selbst organisier-
daraus resultierenden Konflikte als typische Phänomene ei-       te Beziehungsstrukturen gekennzeichnet ist, die der Selbst-
ner postmigrantischen Gesellschaft in den Fokus (Spielhaus,      hilfe in der Ankunftssituation dienen. Ethnische Koloni-
2014). Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Aus-        en oder auch „Ankunftsquartiere“ bieten Halt sowie Ori-
handlungsprozessen um das Verständnis von „Integration“          entierung und stellen somit Brücken in die Aufnahmege-
aus postmigrantischer Perspektive, welche thematisiert, wie      sellschaft dar. Merkmale sind eine spezifische institutionel-
sich Differenzierungskriterien der Zuschreibung von Fremd-       le Struktur mit religiösen Gemeinden, konfessionellen Schu-
heit verändern, unscharf werden oder sogar auflösen können,      len, politischen Zusammenschlüssen, Selbsthilfeorganisatio-
weist Parallelen zu einem sozialkonstruktivistischen Integra-    nen und Vereinen sowie eine migrantische Ökonomie (Tel-

www.geogr-helv.net/74/205/2019/                                                            Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019
208                                                G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften?

temann, 2013:7). Aus der Perspektive der Theorie transna-         sozialer Praktiken im Hinblick auf Governance, Einfluss,
tionaler Pluralisierung können räumlich segregierte ethni-        Identitäten etc. verstanden (vgl. auch Porst und Sakdapolrak,
sche Gemeinschaften insbesondere über ihre Ökonomie die           2017). Manche für Integration bzw. das Einleben relevante
transnationale Existenz fördern. In eine ähnliche Richtung        Aspekte sind einer nationalen Ebene zuzuordnen (z.B. Lan-
argumentiert Yildiz (2017:27f.), der aufzeigt, dass die Gast-     dessprache, zahlreiche Gesetze und Konventionen; bewusste
arbeiter in Deutschland z.B. entscheidend zur Wiederbele-         Wahl eines Landes als Ziel der Migration, nationale men-
bung und Sanierung heruntergekommener urbaner Räume               tal maps bzw. Stereotype; weiterhin bestehende transnatio-
beigetragen haben. Ökonomische Selbstintegration als Über-        nale Beziehungen zum Herkunftsland oder Zwischenstatio-
lebensstrategie unter marginalisierten gesellschaftlichen Be-     nen der Migration). Manche Aspekte unterscheiden sich auf
dingungen und somit ein gesellschaftlich nicht vorgesehenes       Ebene des Bundeslandes (z.B. Verteilungsmodi für Flucht-
„Ankommen auf eigene Rechnung“ konnte mit einem sozia-            migrantInnen) oder der Region (z.B. Dialekte, Traditionen)
len Aufstieg der Zugewanderten durch Eigeninitiative ein-         oder zwischen Regionstypen, wie städtische versus ländli-
hergehen. Yildiz betrachtet diese Quartiere jedoch nicht als      che Räume (z.B. Idee der Stadt als „Integrationsmaschine“
funktional für eine notwendige Anpassung der MigrantInnen         über Vielfalt der Chancen). Das Einleben findet aber auch
an die Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr geht es darum, die         unterhalb der Quartiersebene im kleinräumigen Kontext des
von den Newcomern selbst (mit-)gestalteten urbanen Räume          Wohngebäudes (z.B. Gruppenunterkunft, Zahl der Mietpar-
als eine eigenständige Mischung von lokalen und globalen          teien) und der Wohnung (z.B. Ausstattung, Zustand) statt.
Bezügen als Resultat transkultureller urbaner Praktiken er-          Inwiefern die verschiedenen Bezugsebenen der Integrati-
kennbar zu machen. Auf diese Weise entstanden Transtopien,        on im Hinblick auf die besondere Situation der Zuwande-
die sich aus Herkunfts- und Ankunftsräumen zu Alltagskon-         rung von FluchtmigrantInnen relevant sind, wurde bislang
texten verdichten (Yildiz, 2017:24). Im Ansatz der neoklas-       kaum diskutiert. Aumüller und Bretl (2008) sowie Glick-
sischen Integrationstheorie ist sozialräumliche Segregation       Schiller und Çağlar (2011) gehen davon aus, dass Integra-
desgleichen nicht von funktionaler Bedeutung. Die postmi-         tionsprozesse von MigrantInnen und Geflüchteten durch den
grantische Perspektive steht im Wiederspruch zu Konzepten,        lokalen Kontext auf Gemeinde- und Quartiersebene beein-
die darauf ausgerichtet sind, Wohnstandorte implizit oder ex-     flusst werden. Wichtige Variablen sind die Größe einer Stadt
plizit nach den Kriterien Migrationshintergrund bzw. Ethni-       und die Zusammensetzung der Bevölkerung, die regionale
zität zu differenzieren und zu bewerten. Vielmehr geht es         Struktur des Arbeitsmarktes sowie der zivilgesellschaftliche
darum entsprechende kausale Verknüpfungen im diskursiven          und kommunalpolitische Umgang mit Newcomern (Aumül-
Feld „Migration-Stadtraum-Problem“ zu dekonstruieren.             ler et al., 2015:118). Große Städte gelten dabei aufgrund der
   Alle klassischen Integrationstheorien arbeiten mit einer       Vielfalt von Chancen traditionell gegenüber kleineren Orts-
Dichotomie von Einheimischen und Zugewanderten. In ei-            größen als „integrationsfähiger“ und sind aus diesem Grund
nem postmigrantischen Verständnis jenseits dieser Dichoto-        häufiger das Ziel von Zuwanderung als ländlich geprägte
mie muss der Begriff „Integration“ ersetzt werden durch ein       Räume (Göschel, 2001:6). Dem ländlichen Raum wird dem-
Zurechtkommen und heimisch werden von Individuen, unab-           gegenüber eine engere soziale Kohäsion der EinwohnerIn-
hängig von kulturellen, nationalen oder ethnischen Zuschrei-      nen durch Verwandtschaft, Freundschaften und Vereine zu-
bungen. Studien zur Ortsbindung in Deutschland haben ge-          geschrieben, die zu einer Abschottung und Exklusion von
zeigt, dass bei gesichertem Einkommen mit der Wohndauer           Fremden tendiert (Weichhart et al., 2006; Blank, 2011).
grundsätzlich und unabhängig von der Herkunft die sozia-             Eine Besonderheit der Fluchtmigration ist aber unter an-
len Beziehungen, damit Vertrautheit und eine emotional po-        derem die staatliche Zuweisung eines Wohnsitzes, die es den
sitive Wahrnehmung des Wohnquartiers und der Gesamtstadt          MigrantInnen nicht erlaubt, frei gewählte Zielorte anzusteu-
wachsen, sofern das eigene Wohnviertel nicht als marginali-       ern bzw. zugewiesene Gemeinden nach kurzer Zeit wieder
sierter, stigmatisierter Raum empfunden wird (Reuber, 1993;       zu verlassen (Wohnsitzauflage für drei Jahre nach Erhalt des
Sachs, 1993; Weiss, 1993; Köchling-Farahwaran, 2019). Ein         Schutzstatus), so dass etliche ihren Wohnsitz nicht in ei-
dementsprechend interpretiertes Verständnis von „Integrati-       ne großstädtische „Integrationsmaschine“ verlegen können,
on“ als ein „Sich-zurechtfinden“ in neuer Umgebung, liegt         sondern in Klein- und Mittelstädten verbleiben müssen. In-
der vorliegenden Studie zugrunde.                                 sofern ist Liebig (2015) zuzustimmen, der am postmigran-
                                                                  tischen Konzept die Fokussierung empirischer Studien auf
2.3   Integration – eine Frage des räumlichen Maßstabs?
                                                                  großstädtische Kontexte kritisiert, die nicht repräsentativ für
                                                                  die gesamte deutsche Gesellschaft sind. Interessant ist in die-
Relevante räumliche Kontexte werden innerhalb der Integra-        sem Zusammenhang daher ein Vergleich der Integrationsbe-
tionstheorien – im Sinne der Kontakthypothese – vorwiegend        dingungen von großstädtischen und klein- bzw. mittelstädti-
lokal, auf der Quartiersebene identifiziert. Faktisch ist davon   schen Strukturen. Dies gilt auch aufgrund widersprüchlicher
auszugehen, dass Kontexte auf verschiedenen Maßstabsebe-          Befunde: Der Vorstellung einer größeren Integrationsfähig-
nen (scales) wirken. Scale wird hier in Anlehnung an Swyn-        keit von Stadt widerspricht beispielsweise Petermann (2002),
gedouw (1997) und Brenner (1997) als materielles Produkt          der in einem allgemeinen Stadt-Land-Vergleich ermittelte,

Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019                                                             www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften?                                                     209

dass die soziale Integration im Sinne persönlicher Netzwer-      desland Nordrhein-Westfalen sowie als viertgrößte Stadt in
ke kaum durch den Wohnort, sondern vor allem durch Per-          Deutschland ein wichtiges Oberzentrum mit einer Vielzahl
sönlichkeitsmerkmale der Individuen beeinflusst wird. Ent-       von Einrichtungen der sozialen Hilfe und einem differen-
sprechend wird in der vorliegenden Studie den subjektiven        zierten Arbeitsmarkt. Der Kreis Heinsberg entspricht hin-
Integrationskonzepten nicht nur in einer Großstadt (Köln),       gegen einer für das Bundesland typischen Region, die sich
sondern auch für einen klein- und mittelstädtisch geprägten      aus Klein- und Mittelstädten ohne ein dominierendes Zen-
Raum (Kreis Heinsberg) nachgegangen.                             trum zusammensetzt. Von den 1,08 Millionen Einwohnern
   Davon abgesehen beziehen sich existierende Studien zu         der Stadt Köln im Jahr 2017 haben 19,3 % eine ausländische
Integrationsvorstellungen in Deutschland häufig auf spezifi-     Staatsbürgerschaft, bzw. insgesamt 38 % einen Migrations-
sche AkteurInnengruppen, wie Spitzenverbände des Sports          hintergrund. Die Hauptherkunftsländer von FluchtmigrantIn-
(Soeffner und Zifonun, 2008), spezifische ethnische Com-         nen (Syrien, Iran und Irak) haben einen Anteil von 6,8 %
munities (Nestvogel, 2014) oder Surveys für die deutsche         an der ausländischen Bevölkerung Kölns. Von den KölnerIn-
Bevölkerung (Foroutan et al., 2014; Zick und Preuß, 2016).       nen mit deutscher Staatsbürgerschaft besitzen weitere 18,5 %
Dabei wurden sowohl Personen, die in der Betreuung von           einen Migrationshintergrund. Die Stadt Köln beherbergt En-
Geflüchteten tätig sind als auch multiskalare, sozialräumli-     de 2017 ca. 10.200 Geflüchtete (Stadt Köln 2017). In den
che Implikationen der Integration bislang kaum beachtet.         zehn Kommunen des Kreises Heinsberg leben etwa 260.000
   Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen – im         EinwohnerInnen, von denen 14,7 % keine deutsche Staats-
Unterschied zu den nur kurz angerissenen Theorien bzw.           bürgerschaft besitzen, wobei dieser Anteil auf Grund histori-
Modellen und Debatten – konkrete und individuelle Integra-       scher Entwicklungen in den einzelnen Gemeinden zwischen
tionsvorstellungen der Geflüchteten selbst und von Personen,     8,4 % und 38,8 % stark schwankt. So ist hier zum Teil die
die beruflich oder ehrenamtlich in der Hilfe für Geflüchtete     Zuwanderung von Personen aus den angrenzenden Nieder-
tätig sind. Als auf „Integration“ bezogen wurden alle Äuße-      landen von Bedeutung, zum Teil auch von MigrantInnen aus
rungen der InterviewpartnerInnen identifiziert, die sich auf     der „Gastarbeiter“-Zuwanderung in Zechen des Steinkohle-
ein Leben im Ankunftskontext beziehen. AkteurInnen der           bergbaus. Ende 2017 leben ca. 3.600 zugewiesene Geflüch-
Betreuung von Geflüchteten wurden zudem gezielt und of-          tete im Kreisgebiet (Kreis Heinsberg 2018).
fen (ohne Vorgabe einer Definition) nach ihrem Integrati-           Bei den Fallbeispielen Köln und Kreis Heinsberg han-
onsverständnis gefragt; für die Geflüchteten wurde der Be-       delt es sich somit um Regionen, die von substanziel-
griff mit „sich zuhause fühlen“ umschrieben. Entsprechend        ler Gastarbeiterzuwanderung sowie entsprechenden Erfah-
wird hier keines der beschriebenen Integrationskonzepte vor-     rungen im Umgang mit Zuwandernden gekennzeichnet
ausgesetzt, favorisiert oder ein eigenes vertreten. Angestrebt   sind. Sie unterscheiden sich diesbezüglich von ausgeprägt
ist eine größtmögliche Offenheit gegenüber den Vorstellun-       ländlich-peripheren Räumen oder Regionen Ostdeutschlands
gen der GesprächspartnerInnen im Zusammenhang mit Ein-           mit deutlich anderer Zuwanderungsgeschichte (z.B. Münch,
leben, Zurechtkommen und Wohlfühlen im Ankunftskontext           2013).
in systemischer, politischer und sozialer Hinsicht, funktio-
nal und emotional. Zu diesen Vorstellungen gehören wahrge-       3.1   GesprächspartnerInnen mit Fluchterfahrung
nommene Komponenten und Mechanismen, sowohl Chan-
cen als auch Barrieren. Diese Offenheit schließt Bezüge zu       Bei den 41 befragten Geflüchteten handelt es sich vorwie-
verschiedenen Maßstabsebenen einschließlich transnationa-        gend um Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit, die
ler Beziehungen ein.                                             auch den größten Anteil an den nach Deutschland einreisen-
                                                                 den FluchtmigrantInnen repräsentieren (BAMF, 2017, Ta-
                                                                 belle 1). Gemäß der Fragestellung des Gesamtprojekts, in
3   Methodik: Leitfadengestützte Tiefeninterviews                der es darum geht, Prozesse des Ankommens in Deutsch-
                                                                 land auf Barrieren und Chancen hin zu untersuchen, wur-
Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden mit insge-              den vorwiegend Personen mit Asylberechtigung (für 3 Jah-
samt 41 Geflüchteten und 25 beruflich oder ehrenamtlich in       re) oder subsidiärem Schutz (für 1 Jahr) befragt, aber auch
der Flüchtlingsbetreuung tätigen Personen themenzentrier-        Personen mit bereits längerem Aufenthalt in Deutschland,
te Leitfadeninterviews durchgeführt. Die Interviews wurden       deren rechtlicher Status noch nicht geklärt war. Der Zu-
in der Stadt Köln sowie in einigen Gemeinden des Kreises         gang zu dieser Personengruppe wurde über Organisationen
Heinsberg, gelegen zwischen Aachen und Düsseldorf an der         oder Projekte der ehrenamtlichen Hilfe für Geflüchtete her-
Grenze zu den Niederlanden, durchgeführt. Hintergrund für        gestellt (z.B. Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie, Caritas, In-
die Wahl dieser Fallstudienorte war das Anliegen, mögliche       tegrationshaus, Kulturprojekte), wobei die Ehrenamtler ge-
Unterschiede hinsichtlich subjektiver Integrationsvorstellun-    eignete Personen für Interviews vermittelten. Mithin handelt
gen zwischen einem großstädtischen auf der einen und einem       es sich um eine willkürliche Stichprobe, welche aus zwei-
mittel- bis kleinstädtischen Kontext auf der anderen Seite       erlei Gründen nicht alle Gruppen von FluchtmigrantInnen
identifizieren zu können. Köln ist als größte Stadt im Bun-      abbildet: Zum einen müssen die Geflüchteten von sich aus

www.geogr-helv.net/74/205/2019/                                                            Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019
210                                                   G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften?

Tabelle 1. Merkmale der GesprächspartnerInnen im Hinblick auf subjektive Vorstellungen zu Einleben/Integration von Geflüchteten in die
Aufnahmegesellschaft.

                                   Köln                                                Kreis Heinsberg
      Gespräche mit Geflüchteten   9 Frauen, 12 Männer                                 9 Frauen, 11 Männer

                                   Alter: unter 20 J. (4), 20–30 J. (8),               Alter: unter 20 J. (3), 20–30 J. (8),
                                   31–40 J. (3), 41–50 J. (3), über 50 J. (3)          31–40 J. (8), 41–50 J. (0), über 50 J. (1)

                                   Herkunftsland: Syrien (13), Irak (4), Iran (2),     Herkunftsland: Syrien (8), Irak (4), Iran (3), Af-
                                   Eritrea (1), Palästina (1)                          ghanistan (3), Usbekistan (1), Tadschikistan (1)

                                   Dauer des Aufenthalts in Deutschland: ca.           Dauer des Aufenthalts in Deutschland: ca. 1
                                   1 Jahr (8), 2 Jahre (9), 3 Jahre (2), 5 Jahre (2)   Jahr (1), 2 Jahre (12), 3 Jahre (6), 5 Jahre (1)

                                   Aufenthaltsrechtlicher Status: asylberechtigt       Aufenthaltsrechtlicher Status: asylberechtigt
                                   (10), subsidiärer Schutz (6), noch nicht ent-       (7), subsidiärer Schutz (5), noch nicht entschie-
                                   schieden oder unklar (5)                            den oder unklar (8)

                                   Eigene Wohnung (10), Zimmer in Heim/WG              Eigene Wohnung (14), Zimmer in Heim/WG
                                   (7), Zimmer mit Anderen (4)                         (5), Zimmer mit Anderen (1)
      Gespräche mit Personen,      beruflich – VertreterInnen von:                     beruflich – VertreterInnen von:
      die in der Betreuung von     Stadtverwaltung                                     Verwaltung der kreisangehörigen
      Geflüchteten tätig sind      Jobcenter                                           Städte/Gemeinden
                                   Kommunales Integrationszentrum                      Jobcenter
                                   Volkshochschule                                     Kommunales Integrationszentrum
                                   Industrie- und Handelskammer                        Volkshochschule
                                   Städtische Wohnungsgesellschaft

                                   ehrenamtlich – VertreterInnen von:                  ehrenamtlich – VertreterInnen von:
                                   Flüchtlingsrat                                      Caritas
                                   Caritas                                             Bistum
                                   In Via                                              Bürgerinitiativen der Hilfe für
                                   Bürgerinitiativen der Hilfe für                     Geflüchtete
                                   Geflüchtete

                                   8 Frauen, 6 Männer                                  6 Frauen, 5 Männer

Kontakt zu den Ehrenamtlern hergestellt oder aufrechterhal-              weise kontrolliert, aber nicht völlig ausgeschlossen werden.
ten haben, zum anderen handelt es sich um Personen mit                   Die Gespräche wurden in der Regel in den Räumlichkeiten
einer gewissen Offenheit und Auskunftsbereitschaft gegen-                der Hilfseinrichtung geführt, sie dauerten zwischen 10 Mi-
über den Forschenden. Die Wahl der Sprache des Interviews                nuten und anderthalb Stunden.
war den GesprächspartnerInnen überlassen: Interviews auf                    Der Interviewleitfaden umfasste folgende Themen: Die
Deutsch oder Englisch wurden von den Forschenden ohne,                   „Vorgeschichte“ der GesprächspartnerInnen im Herkunfts-
Interviews in Arabisch oder Farsi mit Hilfe von Dolmet-                  land bzw. auf der Flucht, Erfahrungen bei der Ankunft in
scherInnen durchgeführt. Bei den DolmetscherInnen handel-                Deutschland, Bewältigung des Alltags mit den relevanten
te es sich um studentische Hilfskräfte des Forschungspro-                Bereichen Sprache, Wohnung und Arbeit, relevante Helfe-
jekts oder selten um andere anwesende Geflüchtete. Auf die               rInnen und wichtige Kontakte. Im Hinblick auf den Aspekt
Probleme bei Interviews mit Fremdsprachlern, die erst einer              „Integration“ wurden die Geflüchteten nach dem aktuellen
Übersetzung bedürfen, wird von verschiedenen AutorInnen                  „Zuhause“ und den persönlichen Zielen für die nächsten 5 bis
hingewiesen (z.B. Temple and Young, 2004; Filep, 2009; In-               10 Jahre gefragt. Weiterhin bedeutsam war in diesem Zusam-
hetveen, 2012). Die Verschiebung von Bedeutungen durch                   menhang die Frage nach den Problemen, denen man sich im
Übersetzung, aber auch durch noch unvollständig ausgebil-                Ankunftskontext gegenüber sah. Begriffe wie „Integration“
dete Sprachkompetenz bei Verwendung des Deutschen kann                   und „Heimat“ wurden hier bewusst vermieden, um verschie-
durch Vergleich von Aussagen zu ähnlichen Themen ansatz-

Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019                                                                      www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften?                                                   211

dene Interpretationen und mit den Begriffen möglicherweise      gen, nötige Anpassungen oder Barrieren der „Integration“.
assoziierte politische Konnotationen zu umgehen.                Dieses „axiales Codieren“, im Sinn von ursächlichen Bedin-
                                                                gungen und Kontexten sowie intervenierende Bedingungen,
3.2   In der Geflüchtetenhilfe tätige
                                                                Handlungsstrategien und Konsequenzen, folgt im Grundsatz
      GesprächspartnerInnen
                                                                den Elementen des Codierparadigmas für ein zentrales Phä-
                                                                nomen nach Strauss (Kuckartz, 2010:81). Entsprechend der
Bei dieser Gruppe handelt es sich um Personen, die Geflüch-     Grundannahmen der Grounded Theory wird nicht nach indi-
teten beruflich oder ehrenamtlich Hilfe beim Ankommen in        viduellen Ansichten oder typischen Vorstellungsmustern dif-
Deutschland anbieten. Mit VertreterInnen der Stadtverwal-       ferenziert. Vielmehr ist es Ziel alle Aspekte einzubeziehen,
tungen, der kommunalen Integrationszentren und Integra-         die seitens der Befragten mit dem Thema verbunden wer-
tion Points, des Jobcenters, der Volkshochschule und der        den. Die dementsprechend aus dem empirischen Material ab-
Industrie- und Handelskammer ist ein Teil der Gesprächs-        geleiteten subjektiven Integrationstheorien der Geflüchteten
partnerInnen dem Bereich der kommunalen Verwaltung zu-          sowie der AkteurInnen der Hilfe für Geflüchtete werden im
zurechnen. Aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich wurden       Ergebnisteil entwickelt, anschließend im Fazit einander ge-
Gespräche mit VerteterInnen der Caritas, der In Via, von Bür-   genübergestellt. Es werden jedoch keine Vergleiche individu-
gerinitiativen und vom Kölner Flüchtlingsrat geführt. Ziel      eller Argumentationsstrukturen untereinander oder im Hin-
der Auswahl war es, mit Personen zu sprechen, welche die        blick auf sozialstrukturelle Merkmale der Gesprächspartne-
Situation der Geflüchteten aus eigener, primärer Erfahrung,     rInnen (Alter, Geschlecht, Wohndauer, Familienstand, etc.)
auch im Detail und aus persönlicher Interaktion kennen; zu-     vorgenommen.
dem sollten sie verschiedene Bereiche des Umgangs mit Ge-          Die Aussagekraft der Ergebnisse muss dahingehend einge-
flüchteten abdecken (ehrenamtlich, administrativ, verschie-     schränkt werden, dass aufgrund des Zugangs nur Geflüchtete
dene Ämter und Organisationen). Die InterviewpartnerIn-         erfasst wurden, welche über Kontakt zu Ehrenamtlern ver-
nen wurden anhand von Berichten in lokalen Zeitungen, Ho-       fügen, also in einem gewissen Maß freiwillig mit Vertrete-
mepages der Städte und Gemeinden sowie aus Empfehlun-           rInnen der Aufnahmegesellschaft interagieren. Gleiches gilt
gen von InterviewpartnerInnen identifiziert. Da insbesonde-     umgekehrt für die in der Betreuung Tätigen. Damit sind Per-
re die ehrenamtlichen, aber prinzipiell auch die behördlichen   sonen ohne oder mit nur oberflächlichem Kontakt zur jeweils
HelferInnen, ihre Aufgabe freiwillig übernommen haben, ist      anderen Personengruppe nicht abgebildet.
schon vorab davon auszugehen, dass sie dem Thema Inte-
gration grundsätzlich positiv gegenüberstehen. In der Sicht-
                                                                4     Ergebnisse: Subjektive Integrationsvorstellungen
weise und Bewertung dessen, was Integration ausmacht, sind
                                                                      von Geflüchteten und in der Flüchtlingsbetreuung
aber dennoch Unterschiede möglich. Die Interviews wurden
                                                                      tätigen Personen
in den Büros der jeweiligen AkteurInnen geführt; sie dauer-
ten zwischen 30 und 90 Minuten. Der Interviewleitfaden um-      4.1    Subjektive Integrationsvorstellungen von
fasste die Themen Sprachlernangebote und deren Nutzung,                Geflüchteten
Zugänge der Geflüchteten zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt
sowie Einschätzung der sozialen Netzwerkeinbindung und          Bei denjenigen Geflüchteten, die sich explizit zu ihrem
der Integrationsprozesse im Allgemeinen mit Schwerpunkt         Zuhause-Fühlen am Aufenthaltsort geäußert haben, reicht
auf der jeweiligen Expertise des Gegenübers. Im Zusam-          die Spannweite von eindeutig positiven Bezügen (z.B.
menhang mit den beobachteten Integrationsprozessen wurde        „Deutschland ist wie meine Heimat, mein zweites Land“
auch gezielt nach dem Integrationsverständnis gefragt.          (Herr T, 19 Jahre, Köln, aus dem Irak)) bis zu Ausdruckfor-
   Alle Interviews wurden mit einem Diktiergerät aufge-         men einer deutlichen Ablehnung, wie z.B. „Wenn ich meine
zeichnet und anschließend transkribiert. Die Auswertung er-     Uni fertig mache, mein Zertifikat habe, dann fliege ich ir-
folgte zunächst in der Logik einer qualitativen Inhaltsanaly-   gendwo hin, irgendwo hin, Australien oder Kanada oder ir-
se (Mayring, 2015). Ein deduktives Kategorienschema ent-        gendwo hin. Das ist vielleicht nicht besser, aber besser als
lang der Leitfragen wurde induktiv ergänzt durch Aspekte,       hier“ (Herr A, 23 Jahre, Köln, aus Syrien). Dennoch lassen
die von den GesprächspartnerInnen selbst ins Spiel gebracht     sich aus den Interviews gemeinsame Grundelemente einer
oder betont wurden. Die Aggregierung der Kriterien wieder-      subjektiven Theorie des Zuhause-Seins in Deutschland her-
um ist der Logik einer Grounded Theory verpflichtet (Gla-       ausarbeiten, in der sich typische Faktoren – fördernde und
ser und Strauss, 1979). Angestrebt wird dabei eine gegen-       hinderliche – identifizieren lassen.
standsbezogene Theorie zum Thema „Integration“. Von die-
sem konzeptionellen Kernbegriff ausgehend, der in den Inter-    a) Kernelemente des Zuhause-Fühlens
views mit „sich zuhause fühlen“, „sich einleben“, „ankom-
men“ oder „persönliche Zukunft“ umschrieben wurde, wur-         Bei der Frage nach den Bedingungen dafür, sich in Deutsch-
den Elemente gruppiert und nach ihrer Relation zum Kern-        land zuhause zu fühlen bzw. hier seine Zukunft zu sehen,
gegenstand etikettiert, z.B. als grundlegende Voraussetzun-     kommt der Präsenz der eigenen Kernfamilie (PartnerIn und

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Kinder) eine zentrale Bedeutung zu: „Without family reuni-      in Form geregelter Schul- und Berufsausbildung als Basis für
on no integration“ (Herr A, 38 Jahre, Heinsberg, aus Syri-      spätere Erwerbstätigkeit mit ein.
en). Sorge um nahe stehende Familienangehörige blockieren           Das Beherrschen der deutschen Sprache wird sowohl als
weitgehend andere Bestrebungen, sich in der Aufnahmege-         ein zentrales Element des Sich-Zuhause-Fühlens als auch als
sellschaft einzuleben, wie z.B. die Bemühungen im Bereich       eine notwendig empfundene Voraussetzung dafür bewertet:
des Spracherwerbs. Die eigenen Eltern sind dem gegenüber        „Sprache ist der Schlüssel, der Türen öffnet“ bringt es einer
grundsätzlich weniger relevant, besitzen jedoch für junge Al-   der Befragten auf den Punkt (Herr S, 21 Jahre, Köln, aus
leinreisende eine hohe Bedeutung: So bekennt ein 18-jähiger     Syrien). Die Gespräche machten immer wieder große Be-
Mann aus Syrien: „Deutschland ist wie meine Heimat, mein        mühungen um Zugänge zur deutschen Sprache deutlich, da
zweites Land. Wenn meine Mutter hier ist, dann ganz Hei-        Sprache vor allem für das Ziel von Ausbildung, Studium und
mat“ (Herr F, 18 Jahre, Köln, aus Syrien), da hier Eltern       Arbeitsaufnahme als unabdingbar begriffen wird. Spracher-
oder Elternteile eine große Bedeutung für den emotionalen       werb verbessert aber auch die Selbständigkeit im Alltag und
Rückhalt besitzen, als Vertrauenspersonen, mit denen All-       die erlebte Akzeptanz durch Mitglieder der Aufnahmegesell-
tagssorgen besprochen werden können. Auch die zukünftige        schaft. Wer noch über geringe Sprachkompetenzen verfügt,
Familie, die man in Deutschland erst noch gründen möchte        berichtet über wahrgenommene Distanzen bei Behörden und
oder ein hier zu findender Partner kann Perspektiven auf eine   im Alltag. Die InterviewpartnerInnen streben daher engagiert
künftige Verankerung in der Ankunftsgesellschaft eröffnen.      nach Aufnahme in Sprachkurse; tendenziell extrovertiertere
   Als weiteres zentrales Element eines Sich-Zuhause-           oder fremdsprachen-affine Personen betreiben den Erwerb
Fühlens wird die Sicherheit hervorgehoben. Die Konnotatio-      der deutschen Sprache auf eigene Faust (z.B. Nutzen von
nen von Sicherheit gehen in verschiedene Richtungen: Si-        Online-Kursen zur Schulung, Kontakt zu deutschsprachigen
cherheit vor den Auswirkungen eines (Bürger-)Kriegs (Bom-       Personen für Sprachpraxis).
bardierungen, Hunger, weder Wasser noch Elektrizität), Si-          Trotz gefühlter Bindungen wurde eine Rückkehr in das
cherheit vor Übergriffen anderer, wie sie z.B. von Mitglie-     Herkunftsland von den GesprächspartnerInnen implizit oder
dern religiöser oder ethnischer Minderheiten oder auf der       explizit weitgehend ausgeschlossen. Manche bekunden ei-
Flucht erlebt wurden (Beschränkungen, Bedrohung, Verge-         ne auf emotionaler Verbindung beruhende moralische Ver-
waltigungen), aber auch Rechtssicherheit (keine Korrupti-       pflichtung, dem Herkunftsland zu helfen, sich zum Beispiel
on, transparente Regeln und Ordnung). Diese Rechtssicher-       in Syrien am Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg zu beteili-
heit wird nicht nur als Verlässlichkeit ohne Bestechung oder    gen. Wird der Gedanke an eine Rückkehr aber explizit reflek-
Vetternwirtschaft aufgefasst, sondern auch als Chance, sei-     tiert, so wird er letztlich verworfen. Gründe hierfür sind die
ne Ziele realisieren, seine Träume verwirklichen, seinen Weg    vermutete lange Dauer des Bürgerkriegs, das Andauern po-
aus eigener Kraft gehen zu können, ohne dass die soziale        litischer Repression selbst nach einem Kriegsende oder die
Umgebung oder das Gesellschaftssystem diesen Weg behin-         mit der Zeit wachsende Einbindung in die Aufnahmegesell-
dern „So for me, what makes me say that I am here in my         schaft. „Mein Land braucht mich zum Wiederaufbau, dann
country, is that I can do anything I dream about, there is      ist aber alles verloren, was ich hier gemacht habe“ (Herr
no obstacles“ (Frau E, 21 Jahre, Köln, aus Syrien). Sicher-     D, 23 Jahre, Köln, aus Syrien). Ein neu aufgebautes Leben,
heit bietet auf der Makroebene der gesellschaftliche Rahmen     die erworbene Sprach- und Systemkenntnis, die gewonnene
in Deutschland, auf der Mikroebene ist es die eigene Woh-       Arbeitsstelle und die für den Alltag relevanten Sozialkon-
nung, welche Privatsphäre und Ruhe gewährt, ein Refugium        takte werden wahrscheinlich nicht mehr aufgegeben, mit Si-
in Kontrast zu der kollektiven Enge von Flucht und Unter-       cherheit nicht, wenn erst die eigenen Kinder in Sprache und
bringung in Gemeinschaftsunterkünften.                          Spielregeln der Ankunftsgesellschaft eingewöhnt sind. Des
   Als drittes zentrales Element kann der Bereich Arbeit und    Weiteren ist bei vielen InterviewpartnerInnen die soziale und
Einkommen identifiziert werden. Arbeit wird dabei mehr-         materielle Basis im Herkunftsland längst erodiert: das Haus
heitlich nicht als Job verstanden, sondern als Verwertung ei-   der Familie zerstört, deren Mitglieder auf verschiedene Orte
ner Qualifikation im Anschluss an eine berufliche oder hoch-    und Länder verteilt. Für Personen, die aus politischen, reli-
schulische Ausbildung. Betont wird die Bedeutung von Ar-        giösen oder ethnischen Gründen geflohen sind, stellt sich die
beitsstelle und Einkommen für die eigene Unabhängigkeit:        Frage einer Rückkehr ohnehin nicht mehr, da diese radikale
„When I go to work I think it will be more better. You are      gesellschaftlich-politische Reformen voraussetzen würde.
self confident, you own your own money, you can do what
you want“ (Frau T, 36 Jahre, Heinsberg, aus Usbekistan).        b) Das Erleben von Fremdheit und das Verhältnis zur
Einkommen aus eigener Arbeit wird als Grundlage für ein         Herkunftsgesellschaft
„normales“ Leben und damit als zentral für das Wohlbefin-
den in der Ankunftsgesellschaft betrachtet. Unabhängig sein,    Von den GesprächspartnerInnen wird mehr oder minder ex-
über sich selbst bestimmen können wird auch als Schwel-         plizit ein funktionales Sich-Zuhause-Fühlen von einem emo-
le genannt, jenseits derer man sich nicht mehr als „Flücht-     tionalen Bezug unterschieden. Manche betonen hier, dass sie
ling“ fühlt. Eltern schließen dabei die Zukunft ihrer Kinder    sich kulturell bzw. vom Lebensgefühl her nicht in einem

Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019                                                          www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften?                                                     213

Land heimisch fühlen können, in dem sie nicht aufgewachsen       besaßen alle GesprächspartnerInnen Kontakt zu ehrenamtli-
sind. Als intervenierender Faktor, welcher das Fremdheits-       chen Initiativen bzw. Projekten. MitarbeiterInnen dieser In-
erleben in der Aufnahmegesellschaft beeinflusst, wurde aus       itiativen nahmen die Rolle von Vertrauenspersonen ein, die
den Gesprächen heraus das individuelle Erleben von Fremd-        im Alltag helfen und in einigen Fällen zu den wichtigsten
heit im Herkunftsland identifiziert. Geflüchtete, die in ihrem   AnsprechpartnerInnen bei Problemen wurden. Die Schwie-
Herkunftsland sozial ungünstigen Lebensbedingungen in ih-        rigkeit, Kontakt zu Menschen in der Aufnahmegesellschaft
rer Familie und im weiteren Umfeld ausgesetzt waren, wie         zu knüpfen, wird unterschiedlich eingeschätzt; Leute kennen
Angehörige religiöser oder ethnischer Minderheiten, brach-       zu lernen kann als schwer empfunden zu werden, aber auch
ten oft weniger zum Ausdruck, eine emotional bindende Hei-       als leicht „Wenn man nett ist, kann man viele Leute kennen
mat verloren zu haben. Eine Sunnitin, welche andauernde fa-      lernen“ (Herr K, 18 Jahre, Köln, aus Syrien). Abhängig von
miliäre Streitigkeiten und schließlich die Trennung ihrer El-    individueller Kontaktfreudigkeit wurden diverse Strategien
tern wegen religiöser Differenzen miterleben musste, nimmt       genutzt, um mit Einheimischen in Kontakt zu kommen, z.B.
die religionstolerante Situation in Deutschland emotional po-    Fußball spielen im Verein oder Besuch eines Fitnessstudios.
sitiv an: „I can live in peace without religious sectarianism    „It’s good if someone has a hobby in Germany, then people
problems and I raise my child far away from those pro-           help him to do better“ (Herr F, 18 Jahre, Köln, aus Syrien).
blems and racism in a way“ (Frau E, 21 Jahre, Köln, aus          Das aktive Engagement in der ehrenamtlichen Initiative als
Syrien). Ähnlich äußern sich Kurden, die in der Schule ih-       HelferIn für andere Geflüchtete (z.B. bei Übersetzungen, Be-
re Muttersprache nicht benutzen durften oder Christen, die       gleitung auf Ämter) macht die Fluchtbetroffenen nicht nur zu
öffentlich kein Kreuz tragen konnten oder sich zum Tragen        EmpfängerInnen von Hilfe, sondern zu gleichwertigen Part-
eines Kopftuchs genötigt sahen. In anderen Gesprächen war        nerInnen ihrer ehrenamtlichen KollegInnen (zu Geflüchteten
das Herkunftsland auch emotional positiv konnotiert, indem       als HelferInnen siehe auch Adam et al., 2019).
beispielsweise ein harmonisches soziales Umfeld ohne Dis-
kriminierungen thematisiert wurde. Der Fluchtgrund lag hier      d) Wahrgenommene Barrieren der Aufnahmegesellschaft
auch nicht in Repressalien des Alltags begründet, sondern
beispielsweise in unmittelbaren Einwirkungen des Bürger-         Ein Sich-Zuhause-Fühlen in Deutschland kann durch nega-
kriegs (Zerstörung oder Okkupation des Wohnortes durch           tive Erlebnisse mit VertreterInnen der Ankunftsgesellschaft
eine andere Armee) oder der drohenden Einberufung zum            behindert oder sogar deutlich gestört werden. Eine zentrale
Militärdienst. Wird der Verlust eines spezifischen, als posi-    Barriere ist erlebte Diskriminierung. Die Gesprächspartne-
tiv empfundenen Lebensgefühls – häufig ausgedrückt in Be-        rInnen mit Fluchterfahrungen unterscheiden hier sehr deut-
griffen wie Freundeskreis, Gelassenheit, familiärer Zusam-       lich zwischen beispielsweise einerseits bürokratischen Ver-
menhalt, Gemeinschaft – beklagt, kann es schwer erscheinen,      fahren, welches als Tribut an die Ordnung und Rechtssicher-
sich in Deutschland emotional einzuleben. Zusammenkünf-          heit des Landes akzeptiert werden und andererseits wahrge-
te mit Freunden bei landestypischen Mahlzeiten und Reden         nommener und erlebter Ungleichbehandlung und Ungerech-
über alte Zeiten können hier – vergleichbar einer nostalgi-      tigkeit. Berichtete negative Erlebnisse konzentrieren sich auf
schen Reaktion (Weiss, 1993:81f.) – eine temporäre emotio-       das Aufsichtspersonal in Flüchtlingslagern (z.B. rüder Ton-
nale Rückkehr in die alte Heimat ermöglichen.                    fall, Behandlung von oben herab), manche VertreterInnen
                                                                 von Behörden (unangemessenes Beharren auf fließendem
c) Wahrgenommene Brücken zur Aufnahmegesellschaft
                                                                 Beherrschen der deutschen Sprache oder auf Pünktlichkeit)
                                                                 sowie manche Vertreter der Polizei (Razzien/Repressalien
Als Grundlage dafür, in der neuen Gesellschaft subjektiv ei-     für alle bei Fehlverhalten einzelner, schärfere Kontrollen al-
ne Zukunft wahrnehmen zu können, und um in einen Zu-             lein aufgrund eines fremdländischen Aussehens, pauscha-
stand des Sich-Zuhause-Fühlens zu gelangen, muss ein Min-        ler Kriminalitätsverdacht, keine Entschuldigung bei Missver-
deststatus des gefühlten Aufgenommenseins erreicht wer-          ständnissen). Das Erleben von Diskriminierung kann auch
den. Wie in den Gesprächen deutlich wurde, gehören da-           subtiler sein, etwa wenn sich in der Straßenbahn andere Per-
zu zum einen konkrete rechtliche Bedingungen, wie die            sonen nicht neben jemanden setzen oder unpersönlich auf-
behördliche Aufenthaltsberechtigung (Asylstatus oder sub-        grund von Berichterstattung in den Medien. Öffentliche Pau-
sidiärer Schutz), zum anderen das Gefühl, von der Auf-           schalisierungen im Umgang mit dem Thema Migration nach
nahmegesellschaft grundsätzlich akzeptiert zu werden. Für        den Übergriffen mehrheitlich nordafrikanischer Zuwanderer
das Gefühl von Akzeptanz sind Kontakte jenseits von Kon-         auf in der Domumgebung feiernde Frauen in der „Kölner Sil-
takten zwischen Geflüchteten innerhalb von Unterkünften,         vesternacht“ 2016/17 (vgl. Guinan-Bank, 2017) hat gerade
Integrations-/Sprachkursen oder Behördenfluren, von hoher        bei jungen arabischen Männern eine Verunsicherung im All-
Relevanz: Dazu zählen die erlebte Freundlichkeit und Hilfs-      tag ausgelöst. Das Gefühl, stigmatisiert und unerwünscht zu
bereitschaft sowohl im Alltag als auch bei Behörden und          sein, hat die unbefangene Kontaktaufnahme in Alltagssitua-
die konzentrierte Hilfsbereitschaft ehrenamtlicher Initiati-     tionen erschwert. Der Blick auf die parallele politische Dis-
ven. Bedingt durch die Stichprobengenerierung (vgl. Kap. 3)      kussion lässt den Eindruck entstehen, dass Geflüchtete als

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„Ware“ oder Manövriermasse der politischen Stimmung ge-            alamt, die Kirche, Ehrenamtler oder professionelle private
opfert werden, indem man nach Belieben Bedingungen ver-            VermieterInnen erfolgt, entsteht Nähe zu Verwandten oder
schärft. Diskriminierung wird weiterhin durch Ausnutzen be-        Bekannten eher zufällig. So wird oft erst im Nachhinein ent-
sonders auf der Arbeitsstelle erlebt. Aus Unkenntnis über die      deckt, dass andere Personen der gleichen Nationalität oder
eigenen Rechte werden Geflüchteten unangemessene Tätig-            ein Freund aus dem Heimatort in derselben Straße wohnen.
keiten, Arbeitzeiten oder untertarifliche Bezahlungen zuge-        Niemand deutet an, für seine Wohnumgebung eine ethni-
mutet. Auch der formelle Wohnungsmarkt über Meldungen              sche Gemeinschaft mit Landsleuten anzustreben. Wer auf be-
auf Inserate in Zeitungen oder Internet wird als tendenzi-         stimmte, im deutschen Standard-Einzelhandel nicht erhältli-
ell diskriminierend erlebt: Bei Anfragen erhalten Geflüchte-       che Waren aus seiner Herkunftsregion Wert legt, kann sol-
te Absagen aufgrund ihres fremd klingenden Namens, weil            che Anbieter auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen
sie „Flüchtlinge“ sind, oder weil Vermieter die Miete nicht        (z.B. arabische/persische Läden im Stadtteil Köln-Kalk).
vom Jobcenter bzw. Sozialamt bezahlt haben möchten. So                Eine Bewertung des Wohnstandortes im Hinblick auf so-
kann eine erfolgreiche Vermittlung oft nur durch direkte Zu-       ziale Kontakte geschieht in der Regel in der Dichotomie
weisungen von Behörden oder auf einem informellen Markt            „(Groß-)Stadt“ versus „Land“. Nicht nur Gesprächspartne-
über Bekannte oder Ehrenamtler erzielt werden. Gelegent-           rInnen im Kreis Heinsberg, sondern auch manche in Köln
lich wird auch über Sozialneid berichtet, u.a. wenn Geflüch-       äußern die Überzeugung, dass man sich in einem Dorf woh-
teten das Gefühl vermittelt wird, keine Ansprüche stellen zu       ler fühlt im Sinn von „auf dem Land ist das Leben einfacher“,
dürfen, wie z.B. den Wunsch nach einem eigenen Handy oder          „man lernt dort schneller neue Leute kennen“, „die Men-
Auto, da ein „Flüchtling“ in Armut zu leben habe. „For ex-         schen sind tendenziell freundlicher“. „Ich hatte viele Hilfe
ample you have worked and afforded to buy a car. That did          von Leuten, netten Leuten. Auch die Hilfe vom Sozialamt war
not happen to me, but with my brother. [...] He worked and         ok. Und es ist hier in Hückelhoven in einer Kleinstadt auch
afterwards he bought a car, then [they make him feel] like he      besser als in einer Großstadt. Ich glaube zu lernen und zu
does not need to do it, as if he does not need it, something       leben, das Leben ist einfacher, glaube ich“ (Herr C, 25 Jahre,
extra. Here it feels, some racism, as they don’t want us to live   Heinsberg, aus Syrien). Andere Geflüchtete präferieren wie-
in luxury” (Frau Q, 50 Jahre, Köln, aus Syrien).                   derum ein städtisches Umfeld, da es mehr berufliche Optio-
   Die Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft wird am ehe-           nen bietet bzw. bei einem geplanten Studium aufgesucht wer-
sten nach freundlichen und unfreundlichen Menschen diffe-          den müsste. Als ein weiterer Vorteil wird die großstädtische
renziert: „Die Leute sind manchmal schlecht und manchmal           Diversität wahrgenommen. „To add something, the greatest
gut, wie überall“ (Herr I, 18 Jahre, Köln, aus Syrien). Da-        thing in Cologne its diversity, you find people from all na-
bei werden Kontexte erlebter Diskriminierung benannt, die          tionalities [...] Here in Cologne you find a lot of nationali-
eher im bürokratisch-administrativen Bereich liegen als im         ties, and they are very cooperative with Germans as if they
sonstigen Alltag. Hingegen wird keine grundsätzliche Dicho-        are really Germans, as if they were born here.“ (Frau E,
tomie zwischen unterschiedlichen Kulturen der Herkunfts-           21 Jahre, Köln, aus Syrien). Die positiv bewertete Multina-
und Aufnahmegesellschaft erlebt oder konstruiert; auch sind        tionalität bedeutet hier weniger die Chance, auf Landsleute
Konstrukte eines typischen „Deutschseins“ im Kontext der           zu treffen, sondern die Aufnahmegesellschaft als ethnisch-
geführten Gespräche nicht explizit nachzuweisen.                   kulturelles Kontinuum zu erleben, im Sinn einer Vorstellung
                                                                   darüber, dass Personen verschiedener Herkunft miteinander
e) Wahrgenommene Bedeutung des räumlichen Umfelds
                                                                   und mit den alteingesessenen Deutschen friedlich zusam-
                                                                   menleben und kooperieren können.
In Nordrhein-Westfalen sind Geflüchtete durch die Wohn-
sitzauflage in der Wahl ihres Wohnstandortes eingeschränkt;        4.2   Subjektive Integrationsvorstellungen von Personen,
sie dürfen nur innerhalb der ihnen zugewiesenen Stadt oder               die beruflich oder ehrenamtlich in der Betreuung
Gemeinde umziehen. Insofern spielten Aussagen über das für               von Geflüchteten tätig sind
ein Sich-Zuhause-Fühlen ideale räumliche Umfeld eine un-
tergeordnete Rolle. Auch innerhalb der Gemeinde bestimm-           Wie bei den GesprächspartnerInnen mit Fluchterfahrung, so
ten nicht die Wünsche der Geflüchteten den Wohnstandort,           konnten auch aus den Aussagen der AkteurInnen aus der Be-
sondern der Wohnungsmarkt. Die Knappheit an geeigne-               treuung von Geflüchteten typische Elemente einer subjekti-
tem Wohnraum führt dazu, dass außerhalb der Heime jede             ven Theorie der Integration von FluchtmigrantInnen abgelei-
Wohnung, die angeboten (und vom Jobcenter bzw. Sozial-             tet werden.
amt bezahlt) wird, akzeptiert werden muss. Die verschiede-
nen Wege der Wohnungsvermittlung führen dazu, dass, jen-           a) Grundlegende Voraussetzungen seitens der
seits von gelegentlich aus Kostengründen gebildete Wohnge-         Geflüchteten
meinschaften, keine lokale Konzentration von Geflüchteten
oder bestimmten ethnischen Gruppen auftritt: Da die Ver-           Auch unter den GesprächspartnerInnen aus der beruflichen
mittlung über städtische Wohnbaugesellschaften, das Sozi-          oder ehrenamtlichen Hilfe für Geflüchtete besteht im We-

Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019                                                             www.geogr-helv.net/74/205/2019/
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