Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? Eine Annäherung an subjektive Integrationsvorstellungen von Geflüchteten und beruflich oder ...
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supported by Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019 https://doi.org/10.5194/gh-74-205-2019 © Author(s) 2019. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? Eine Annäherung an subjektive Integrationsvorstellungen von Geflüchteten und beruflich oder ehrenamtlich in der Flüchtlingsbetreuung Tätigen Günther Weiss1 , Francesca Adam2 , Stefanie Föbker3 , Daniela Imani3 , Carmella Pfaffenbach2 , and Claus-Christian Wiegandt3 1 Institut für Geographiedidaktik, Universität zu Köln, Köln, Germany 2 Geographisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) Aachen, Aachen, Germany 3 Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Germany Correspondence: Günther Weiss (g.weiss@uni-koeln.de) Received: 13 July 2018 – Revised: 12 April 2019 – Accepted: 3 May 2019 – Published: 17 June 2019 1 Einleitung halte existieren oder Barrieren wahrgenommen werden, die verhindern, sich in Deutschland heimisch fühlen zu können. Die Zuwanderung von Geflüchteten stellt, besonders seit Die Bedürfnisse und Ideen der Zuwanderer über ein gelun- der Zuwanderungswelle 2015/16, die deutsche Gesellschaft genes Einleben können wiederum zur Orientierung für die vor große Herausforderungen. Die öffentliche Debatte zwi- deutsche Integrationspolitik dienen und auch die Strategien schen Willkommenskultur und Überfremdungsängsten ist der HelferInnen, die im unmittelbaren Kontakt mit den Ge- dabei stark ideologisch aufgeladen. Ein gewichtiger Teil der flüchteten stehen, kalibrieren. Erkenntnisse über die Sicht- politischen Diskussion wird dort, neben Strategien einer Re- weisen der HelferInnen können demgegenüber erhellen, mit gulierung der Fluchtmigration, um das Verständnis von „In- welchen Ansprüchen an eine zu erbringende „Integrations- tegration“ geführt. Hier stehen der traditionellen Vorstellung leistung“, ob unmittelbar ausgesprochen oder eher subtil an- einer „Leitkultur“ des Herkunftslandes, welcher sich die Zu- gedeutet, die Geflüchteten konfrontiert werden. Im Hinblick wanderer anzupassen haben, eher progressivere Ideen ge- auf die Perspektive einer Transformation Deutschlands in ei- genüber, die betonen, dass beide Seiten auf Basis gegen- ne postmigrantische Gesellschaft, die von traditionellen In- seitiger Wertschätzung aufeinander zugehen müssen (Höcke tegrationskonzepten Abschied nimmt (Foroutan, 2015), kann und Schnur, 2016). Mit dem Begriff des „Postmigrantischen“ die Untersuchung helfen zu klären, inwieweit sich besonders wird darüber hinausgehend u.a. die grundlegende politische die Protagonisten der lokalen Unterstützung für Geflüchte- Anerkennung migrationsgesellschaftlicher Realitäten in den te in Deutschland, aber auch die Geflüchteten selbst in ih- Mittelpunkt gerückt, die zwar diskutiert, reguliert und ausge- ren Strategien und Tätigkeiten im Alltag einem postmigran- handelt, aber nicht rückgängig gemacht werden können (Fo- tischen Verständnis annähern. routan, 2015:2). Aus einer postmigrantischen Perspektive auf Gesellschaft Vor dem Hintergrund dieser Debatten wird in dem vorlie- kann das Untersuchungsdesign mit Unterscheidung von zwei genden Artikel der Frage nachgegangen, welche Vorstellun- Gruppen von GesprächspartnerInnen zunächst problematisch gen auf der einen Seite die FluchtmigrantInnen selbst über erscheinen, da es die Dichotomie von Zugewanderten und ihre „Integration“ in Deutschland haben und welche Vorstel- Einheimischen zu reproduzieren und zu verfestigen scheint. lungen bei den Personen vorliegen, welche beruflich oder eh- Mit Blick auf gesellschaftliche Beziehungs- und Machtkon- renamtlich mit der Betreuung neu zugewanderter Geflüch- stellationen ist diese Gegenüberstellung allerdings zentral. teter zu tun haben. Diese Gegenüberstellung ist in mehrfa- Denn sie erfolgte nicht unter ethnisch-kulturellen Vorannah- cher Hinsicht von Interesse: Die Vorstellungen der Flucht- men, sondern unter funktionalen Gesichtspunkten: Geflüch- migrantInnen können darüber Aufschluss geben, ob Vorbe- Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
206 G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? tete stellen eine hinsichtlich gesellschaftlicher Handlungs- onsvorstellungen der Geflüchteten und der in der Betreu- möglichkeiten und Positionen besondere, in der Regel be- ung von Geflüchteten Tätigen. In einem Fazit werden beide sonders marginalisierte Gruppe innerhalb der Gesellschaft Sichtweisen verglichen und in Relation zu einer postmigran- dar. Auf der anderen Seite repräsentieren die in der Betreu- tischen Perspektive auf Gesellschaft gebracht. ung von Geflüchteten aktiven Personen die Aufnahmegesell- schaft zunächst funktional in ihrer Rolle als HelferInnen, 2 Konzeptionelle Grundlagen: Eine kritische welche sie aus dem (bei Ehrenamtlern subjektiv perzipier- Betrachtung gängiger Integrationsmodelle und ten) Vorsprung an Sprachkompetenz, Geld, Befugnissen, Ei- die Rolle des (Sozial-)Raums gentum, Wissen über Spielregeln etc. übernehmen. Nach einem Überblick gängiger Integrationsvorstellungen 2.1 Von der Assimilation zu gleichberechtigter und -konzepte legt der Beitrag einen Fokus auf raumbezoge- Partizipation und Teilhabe? ne Implikationen der „Integration“. So wird u.a. seit der Ver- öffentlichung des Race-Relation Cycle der Chicago School In der Wissenschaft konkurrieren verschiedene Integrations- räumlich agglomerierten ethnischen Communities auf Quar- modelle (vgl. Überblick bei Fincke, 2008:21ff.): Das klassi- tiersebene ein besonderer Stellenwert für die Einführung von sche Assimilations-Modell der Chicagoer Schule geht davon Neuzuwanderern in die Ankunftsgesellschaft zugesprochen. aus, dass sich Zuwanderer langfristig an ein etabliertes Ge- Auch neuere Untersuchungen (Ager und Strang, 2008; Au- sellschaftssystem angleichen. Eine Grundannahme ist, dass müller und Bretl, 2008; Glick-Schiller und Caglar, 2011) un- Integrationsprozesse im Sinn eines einseitigen Anpassungs- terstreichen den besonderen Einfluss lokaler Kontexte auf In- prozesses allein von der zuwandernden Bevölkerung ausge- tegrationsprozesse von Zuwanderern auch über die Quartier- hen. Das Modell der partiellen bzw. ungleichmäßigen Assi- sebene hinaus. Demnach wäre zu erwarten, dass Prozesse der milation geht einen Schritt weiter und differenziert darüber Ankunft und des Einlebens in Großstädten unter anderen Be- hinaus zwischen unterschiedlichen Bereichen (Beruf, Freun- dingungen ablaufen, als in ländlichen bis mittelstädtischen de, Kultur) sowie unterschiedlichem Tempo und Ausmaß der Umgebungen. Vor diesem Hintergrund liegen der vorliegen- Anpassung an die Aufnahmegesellschaft, wobei eine letzte den Studie folgende Fragestellungen zugrunde: Stufe vollständiger Assimilation häufig ausbleibt. Es wird daher davon ausgegangen, dass es – unabhängig von der Auf- – Welche subjektiven Vorstellungen haben Menschen mit enthaltsdauer – eher zu einem Nebeneinanderleben von Zu- Fluchterfahrung über ein subjektiv zufriedenstellendes wanderern und Einheimischen mit allenfalls partieller Assi- Einleben im Ankunftskontext? Welche Vorstellungen milation kommt (Treibel, 2008:109f, ähnliche auch in der haben BetreuerInnen von Geflüchteten über ein gelun- deutschen Diskussion Esser, 2001 und Heitmeyer, 1998). genes Einleben bzw. „integriert sein“ der von ihnen Be- Neuere, in den USA entwickelte, Theorieansätze nehmen treuten? die differenzierten und variablen Bedingungen in der Auf- nahmegesellschaft stärker in den Blick. So geht die Theorie – Inwiefern bilden diese individuell-subjektiven Vorstel- der transnationalen Pluralisierung (Levitt und Waters, 2002) lungen auch die in der öffentlichen Diskussion zirkulie- davon aus, dass bei begrenztem Arbeitsmarktzugang und ei- renden Integrationskonzepte und -theorien ab? ner großen Zahl von Zuwanderern gleicher Herkunft gleich- – Treten in den subjektiven Vorstellungen über gelun- zeitig Netzwerke zur Aufnahmegesellschaft sowie verstärkt genes Einleben auch raumbezogene Faktoren auf und zum Herkunftsland gepflegt werden. Die Nutzung der so- wenn ja mit welcher Bedeutung? Werden diese Vor- zialen und ökonomischen Ressourcen eines transnationalen stellungen z.B. davon beeinflusst, dass ein Individu- Raums begünstigt bikulturelle Kompetenzen, die im Sinn um in einem großstädtischen oder in einem klein- von Entwicklungspotentialen interpretiert werden. Die Theo- /mittelstädtischen Umfeld angesiedelt ist? rie der segmentierten Assimilation (Portes, 1999; Portes und Rumbaut, 2006) thematisiert dagegen vor allem konflikthaf- Die nachfolgend präsentierten Ergebnisse sind Teil ei- te Konstellationen: Sie verfolgt die These, dass bei bestehen- nes vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft und dem Rassismus und schlechten Chancen des Arbeitsmarkt- Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen über das For- zugangs eine Integration in endogene marginalisierte Grup- schungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung pen erfolgt, deren Oppositionskultur gegen den mehrheits- (FGW) geförderten Forschungsprojekts zu Integrati- gesellschaftlichen Mainstream übernommen wird. Die neo- onsprozessen asylberechtigter Flüchtlinge in nordrhein- klassische Theorie (Alba und Nee, 2003) hingegen postuliert, westfälischen Städten und Gemeinden. dass sich die Zugewanderten bei funktionierenden Gesetzen Im Folgenden werden zunächst allgemeine Integrations- gegen Diskriminierung, gleichen Bildungschancen und ei- theorien und -konzepte sowie deren Raumbezug zur Dis- nem meritokratischen Aufstiegssystem so weit wie nötig an kussion gestellt. Anschließend werden das methodische Vor- die Normen des sich ebenfalls verändernden Mainstreams gehen erläutert und die empirischen Ergebnisse präsentiert. anpassen, da sie nach Verbesserung ihrer Lebenschancen und Diese werden differenziert nach den subjektiven Integrati- sozialem Aufstieg streben. Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019 www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? 207 Die gesellschaftspolitische Diskussion in Deutschland tionsverständnis auf (Abramson, 1980:150; „boundary blur- wird seit den 1970er Jahren im starken Maß durch einen kon- ring“, vgl. Bauböck, 1995). servativen Integrationsbegriff geprägt. Dieser orientiert sich an der Vorstellung, es gäbe eine etablierte Kerngesellschaft, 2.2 Raumbezogene Implikationen – Integration und an die sich Menschen mit Migrationsbiographie einseitig an- Segregation passen müssten. Damit steht diese Auffassung tendenziell in einer Linie mit traditionellen Assimilationsmodellen (u.a. Aus raumsoziologischer bzw. sozialgeographischer Perspek- Esser, 2001; Heitmeyer, 1998). Traditionelle Integrationspo- tive wird dem sozialräumlichen Kontext eine bedeutende litik versucht entsprechend dieser Logik, Defizite bei den Mi- Rolle beim Integrationsprozess von Zuwanderern beigemes- grantenInnen zu beseitigen. Integrationshindernisse werden sen. Besonders in der deutschen Diskussion mit ihrem tra- vorzugsweise bei den kulturellen bzw. religiösen Andersar- ditionellen Integrationsbegriff, welcher von Anpassung der tigkeiten oder in der Person des Migranten gesehen, nicht in MigrantInnen an einen gesellschaftlichen Mainstream aus- den Bedingungen der Aufnahmegesellschaft. Vor dem Hin- geht, werden Quartiere, die durch Konzentration von Zu- tergrund zunehmender gesellschaftlicher Mobilität, umfas- gewanderten geprägt sind, tendenziell problematisiert. Die- sender globaler Wanderungsbewegungen und der wachsen- se defizitorientierte Perspektive auf Migration, die sich un- den Bedeutung von Lebensformen die in mehreren lokalen ter anderem im Etikett einer „Parallelgesellschaft“ wieder- und nationalen Kontexten verankert sind, stehen Vorstellun- findet (Yildiz, 2017:20), geht von einer langfristig negati- gen eines homogenen, stabilen gesellschaftlichen Mainstre- ven Wirkung ethnischer Segregation auf Integrationsprozes- ams jedoch immer weniger in Einklang mit der gesellschaft- se aus. Zugleich wird die Gefahr einer zunehmenden Ab- lichen Realität. kopplung von sich mit ihrem Raum identifizierenden ethni- Das traditionelle Verständnis von Integration vor diesem schen Communities vom Rest der Stadtgesellschaft gesehen, Hintergrund als unzeitgemäß ablehnend, wird aus einer post- die mit wachsenden gesellschaftlichen Konflikten einherge- migrantischen Perspektive ein Paradigmenwechsel gefordert. hen kann (Teltemann et al., 2013:6). Laut Heitmeyer (1998) Dieser zielt im Kern darauf ab, die Dichotomie von „Ein- begünstigt eine ethnische Konzentration in infrastrukturell heimischen“ und „MigrantInnen“ zugunsten einer Bürger- benachteiligten Gebieten Abhängigkeiten der MigrantInnen Identität mit gleichen Teilhaberechten und Partizipations- von ethnischen und religiösen Gruppierungen und gefährdet chancen für alle aufzulösen. Gesellschaftliches Leitbild ist dadurch das Ein- und Zusammenleben. Für die Bewertung die Einheit der Verschiedenen, die „Integration“ jedem Bür- von Segregation als „Integration verhindernd“ ist die Kon- ger offen stellt (Foroutan, 2015:6). Das Konzept der postmi- takthypothese zentral: Diese besagt, dass durch – vor allem grantischen Gesellschaft hat Merkmale einer Forschungsper- residenzielle – Nähe die Kontakthäufigkeit zwischen Indivi- spektive und einer normativen Gesellschaftsvision zugleich. duen im Wohnumfeld steigt, mithin in einem „gemischten“ In einer ursprünglichen und wesentlichen Stoßrichtung geht Setting das Wissen übereinander und die Anpassung an die es darum, die Einteilung der Gesellschaft in Gruppen nach Verhaltensweisen des Mainstreams. Bei ethnisch homogenen Herkunft und „migrantisch“ versus „einheimisch“ kritisch Kontakten muss dieser Anpassungsprozess demnach ausblei- zu hinterfragen und letztendlich zu überwinden, da inzwi- ben (Häußermann und Siebel, 2001:45). Ähnlich problema- schen die ganze Gesellschaft direkt oder indirekt durch Mi- tisch wird ethnische residenzielle Segregation auch im An- gration geprägt ist (u.a. Langhoff, 2011). Die Realität trans- satz der segmentierten Assimilation interpretiert: Die räum- nationaler und translokaler Verflechtungen anzuerkennen, zu liche Konzentration der Zuwanderer in Quartieren der endo- analysieren und ihr gesellschaftspolitisch Rechnung zu tra- genen marginalisierten Bevölkerung beschleunigt den sozia- gen, ist ein zentrales Anliegen postmigrantischer Autoren len Abstieg z.B. über schlechte Bildungsinfrastruktur, man- (Tsianos und Karakayali, 2014; Foroutan, 2015; Römhild, gelnde Zugänge zu Informationen und Jobs sowie fehlende 2015). Diese Kernidee wird mit unterschiedlichen Schwer- Rollenvorbilder (Portes, 1999). punkten angereichert. Während einige Autoren die Aufmerk- Eine grundsätzlich positive Sicht auf migrantisch- samkeit auf die selbstintegrativen Leistungen verschiedener ethnische Segregation besitzt dagegen das Konzept der eth- Generationen der so genannten Gastarbeiter-Zuwanderung nischen Kolonie oder der „arrival city“ (Saunders, 2011). lenken (z.B. Yildiz, 2015), rücken andere die Auflehnung Dieses geht davon aus, dass die Kolonie der Zugewander- gegen zunehmende gesellschaftliche Heterogenität und die ten durch freiwillig aufgenommene und selbst organisier- daraus resultierenden Konflikte als typische Phänomene ei- te Beziehungsstrukturen gekennzeichnet ist, die der Selbst- ner postmigrantischen Gesellschaft in den Fokus (Spielhaus, hilfe in der Ankunftssituation dienen. Ethnische Koloni- 2014). Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Aus- en oder auch „Ankunftsquartiere“ bieten Halt sowie Ori- handlungsprozessen um das Verständnis von „Integration“ entierung und stellen somit Brücken in die Aufnahmege- aus postmigrantischer Perspektive, welche thematisiert, wie sellschaft dar. Merkmale sind eine spezifische institutionel- sich Differenzierungskriterien der Zuschreibung von Fremd- le Struktur mit religiösen Gemeinden, konfessionellen Schu- heit verändern, unscharf werden oder sogar auflösen können, len, politischen Zusammenschlüssen, Selbsthilfeorganisatio- weist Parallelen zu einem sozialkonstruktivistischen Integra- nen und Vereinen sowie eine migrantische Ökonomie (Tel- www.geogr-helv.net/74/205/2019/ Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019
208 G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? temann, 2013:7). Aus der Perspektive der Theorie transna- sozialer Praktiken im Hinblick auf Governance, Einfluss, tionaler Pluralisierung können räumlich segregierte ethni- Identitäten etc. verstanden (vgl. auch Porst und Sakdapolrak, sche Gemeinschaften insbesondere über ihre Ökonomie die 2017). Manche für Integration bzw. das Einleben relevante transnationale Existenz fördern. In eine ähnliche Richtung Aspekte sind einer nationalen Ebene zuzuordnen (z.B. Lan- argumentiert Yildiz (2017:27f.), der aufzeigt, dass die Gast- dessprache, zahlreiche Gesetze und Konventionen; bewusste arbeiter in Deutschland z.B. entscheidend zur Wiederbele- Wahl eines Landes als Ziel der Migration, nationale men- bung und Sanierung heruntergekommener urbaner Räume tal maps bzw. Stereotype; weiterhin bestehende transnatio- beigetragen haben. Ökonomische Selbstintegration als Über- nale Beziehungen zum Herkunftsland oder Zwischenstatio- lebensstrategie unter marginalisierten gesellschaftlichen Be- nen der Migration). Manche Aspekte unterscheiden sich auf dingungen und somit ein gesellschaftlich nicht vorgesehenes Ebene des Bundeslandes (z.B. Verteilungsmodi für Flucht- „Ankommen auf eigene Rechnung“ konnte mit einem sozia- migrantInnen) oder der Region (z.B. Dialekte, Traditionen) len Aufstieg der Zugewanderten durch Eigeninitiative ein- oder zwischen Regionstypen, wie städtische versus ländli- hergehen. Yildiz betrachtet diese Quartiere jedoch nicht als che Räume (z.B. Idee der Stadt als „Integrationsmaschine“ funktional für eine notwendige Anpassung der MigrantInnen über Vielfalt der Chancen). Das Einleben findet aber auch an die Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr geht es darum, die unterhalb der Quartiersebene im kleinräumigen Kontext des von den Newcomern selbst (mit-)gestalteten urbanen Räume Wohngebäudes (z.B. Gruppenunterkunft, Zahl der Mietpar- als eine eigenständige Mischung von lokalen und globalen teien) und der Wohnung (z.B. Ausstattung, Zustand) statt. Bezügen als Resultat transkultureller urbaner Praktiken er- Inwiefern die verschiedenen Bezugsebenen der Integrati- kennbar zu machen. Auf diese Weise entstanden Transtopien, on im Hinblick auf die besondere Situation der Zuwande- die sich aus Herkunfts- und Ankunftsräumen zu Alltagskon- rung von FluchtmigrantInnen relevant sind, wurde bislang texten verdichten (Yildiz, 2017:24). Im Ansatz der neoklas- kaum diskutiert. Aumüller und Bretl (2008) sowie Glick- sischen Integrationstheorie ist sozialräumliche Segregation Schiller und Çağlar (2011) gehen davon aus, dass Integra- desgleichen nicht von funktionaler Bedeutung. Die postmi- tionsprozesse von MigrantInnen und Geflüchteten durch den grantische Perspektive steht im Wiederspruch zu Konzepten, lokalen Kontext auf Gemeinde- und Quartiersebene beein- die darauf ausgerichtet sind, Wohnstandorte implizit oder ex- flusst werden. Wichtige Variablen sind die Größe einer Stadt plizit nach den Kriterien Migrationshintergrund bzw. Ethni- und die Zusammensetzung der Bevölkerung, die regionale zität zu differenzieren und zu bewerten. Vielmehr geht es Struktur des Arbeitsmarktes sowie der zivilgesellschaftliche darum entsprechende kausale Verknüpfungen im diskursiven und kommunalpolitische Umgang mit Newcomern (Aumül- Feld „Migration-Stadtraum-Problem“ zu dekonstruieren. ler et al., 2015:118). Große Städte gelten dabei aufgrund der Alle klassischen Integrationstheorien arbeiten mit einer Vielfalt von Chancen traditionell gegenüber kleineren Orts- Dichotomie von Einheimischen und Zugewanderten. In ei- größen als „integrationsfähiger“ und sind aus diesem Grund nem postmigrantischen Verständnis jenseits dieser Dichoto- häufiger das Ziel von Zuwanderung als ländlich geprägte mie muss der Begriff „Integration“ ersetzt werden durch ein Räume (Göschel, 2001:6). Dem ländlichen Raum wird dem- Zurechtkommen und heimisch werden von Individuen, unab- gegenüber eine engere soziale Kohäsion der EinwohnerIn- hängig von kulturellen, nationalen oder ethnischen Zuschrei- nen durch Verwandtschaft, Freundschaften und Vereine zu- bungen. Studien zur Ortsbindung in Deutschland haben ge- geschrieben, die zu einer Abschottung und Exklusion von zeigt, dass bei gesichertem Einkommen mit der Wohndauer Fremden tendiert (Weichhart et al., 2006; Blank, 2011). grundsätzlich und unabhängig von der Herkunft die sozia- Eine Besonderheit der Fluchtmigration ist aber unter an- len Beziehungen, damit Vertrautheit und eine emotional po- derem die staatliche Zuweisung eines Wohnsitzes, die es den sitive Wahrnehmung des Wohnquartiers und der Gesamtstadt MigrantInnen nicht erlaubt, frei gewählte Zielorte anzusteu- wachsen, sofern das eigene Wohnviertel nicht als marginali- ern bzw. zugewiesene Gemeinden nach kurzer Zeit wieder sierter, stigmatisierter Raum empfunden wird (Reuber, 1993; zu verlassen (Wohnsitzauflage für drei Jahre nach Erhalt des Sachs, 1993; Weiss, 1993; Köchling-Farahwaran, 2019). Ein Schutzstatus), so dass etliche ihren Wohnsitz nicht in ei- dementsprechend interpretiertes Verständnis von „Integrati- ne großstädtische „Integrationsmaschine“ verlegen können, on“ als ein „Sich-zurechtfinden“ in neuer Umgebung, liegt sondern in Klein- und Mittelstädten verbleiben müssen. In- der vorliegenden Studie zugrunde. sofern ist Liebig (2015) zuzustimmen, der am postmigran- tischen Konzept die Fokussierung empirischer Studien auf 2.3 Integration – eine Frage des räumlichen Maßstabs? großstädtische Kontexte kritisiert, die nicht repräsentativ für die gesamte deutsche Gesellschaft sind. Interessant ist in die- Relevante räumliche Kontexte werden innerhalb der Integra- sem Zusammenhang daher ein Vergleich der Integrationsbe- tionstheorien – im Sinne der Kontakthypothese – vorwiegend dingungen von großstädtischen und klein- bzw. mittelstädti- lokal, auf der Quartiersebene identifiziert. Faktisch ist davon schen Strukturen. Dies gilt auch aufgrund widersprüchlicher auszugehen, dass Kontexte auf verschiedenen Maßstabsebe- Befunde: Der Vorstellung einer größeren Integrationsfähig- nen (scales) wirken. Scale wird hier in Anlehnung an Swyn- keit von Stadt widerspricht beispielsweise Petermann (2002), gedouw (1997) und Brenner (1997) als materielles Produkt der in einem allgemeinen Stadt-Land-Vergleich ermittelte, Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019 www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? 209 dass die soziale Integration im Sinne persönlicher Netzwer- desland Nordrhein-Westfalen sowie als viertgrößte Stadt in ke kaum durch den Wohnort, sondern vor allem durch Per- Deutschland ein wichtiges Oberzentrum mit einer Vielzahl sönlichkeitsmerkmale der Individuen beeinflusst wird. Ent- von Einrichtungen der sozialen Hilfe und einem differen- sprechend wird in der vorliegenden Studie den subjektiven zierten Arbeitsmarkt. Der Kreis Heinsberg entspricht hin- Integrationskonzepten nicht nur in einer Großstadt (Köln), gegen einer für das Bundesland typischen Region, die sich sondern auch für einen klein- und mittelstädtisch geprägten aus Klein- und Mittelstädten ohne ein dominierendes Zen- Raum (Kreis Heinsberg) nachgegangen. trum zusammensetzt. Von den 1,08 Millionen Einwohnern Davon abgesehen beziehen sich existierende Studien zu der Stadt Köln im Jahr 2017 haben 19,3 % eine ausländische Integrationsvorstellungen in Deutschland häufig auf spezifi- Staatsbürgerschaft, bzw. insgesamt 38 % einen Migrations- sche AkteurInnengruppen, wie Spitzenverbände des Sports hintergrund. Die Hauptherkunftsländer von FluchtmigrantIn- (Soeffner und Zifonun, 2008), spezifische ethnische Com- nen (Syrien, Iran und Irak) haben einen Anteil von 6,8 % munities (Nestvogel, 2014) oder Surveys für die deutsche an der ausländischen Bevölkerung Kölns. Von den KölnerIn- Bevölkerung (Foroutan et al., 2014; Zick und Preuß, 2016). nen mit deutscher Staatsbürgerschaft besitzen weitere 18,5 % Dabei wurden sowohl Personen, die in der Betreuung von einen Migrationshintergrund. Die Stadt Köln beherbergt En- Geflüchteten tätig sind als auch multiskalare, sozialräumli- de 2017 ca. 10.200 Geflüchtete (Stadt Köln 2017). In den che Implikationen der Integration bislang kaum beachtet. zehn Kommunen des Kreises Heinsberg leben etwa 260.000 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen – im EinwohnerInnen, von denen 14,7 % keine deutsche Staats- Unterschied zu den nur kurz angerissenen Theorien bzw. bürgerschaft besitzen, wobei dieser Anteil auf Grund histori- Modellen und Debatten – konkrete und individuelle Integra- scher Entwicklungen in den einzelnen Gemeinden zwischen tionsvorstellungen der Geflüchteten selbst und von Personen, 8,4 % und 38,8 % stark schwankt. So ist hier zum Teil die die beruflich oder ehrenamtlich in der Hilfe für Geflüchtete Zuwanderung von Personen aus den angrenzenden Nieder- tätig sind. Als auf „Integration“ bezogen wurden alle Äuße- landen von Bedeutung, zum Teil auch von MigrantInnen aus rungen der InterviewpartnerInnen identifiziert, die sich auf der „Gastarbeiter“-Zuwanderung in Zechen des Steinkohle- ein Leben im Ankunftskontext beziehen. AkteurInnen der bergbaus. Ende 2017 leben ca. 3.600 zugewiesene Geflüch- Betreuung von Geflüchteten wurden zudem gezielt und of- tete im Kreisgebiet (Kreis Heinsberg 2018). fen (ohne Vorgabe einer Definition) nach ihrem Integrati- Bei den Fallbeispielen Köln und Kreis Heinsberg han- onsverständnis gefragt; für die Geflüchteten wurde der Be- delt es sich somit um Regionen, die von substanziel- griff mit „sich zuhause fühlen“ umschrieben. Entsprechend ler Gastarbeiterzuwanderung sowie entsprechenden Erfah- wird hier keines der beschriebenen Integrationskonzepte vor- rungen im Umgang mit Zuwandernden gekennzeichnet ausgesetzt, favorisiert oder ein eigenes vertreten. Angestrebt sind. Sie unterscheiden sich diesbezüglich von ausgeprägt ist eine größtmögliche Offenheit gegenüber den Vorstellun- ländlich-peripheren Räumen oder Regionen Ostdeutschlands gen der GesprächspartnerInnen im Zusammenhang mit Ein- mit deutlich anderer Zuwanderungsgeschichte (z.B. Münch, leben, Zurechtkommen und Wohlfühlen im Ankunftskontext 2013). in systemischer, politischer und sozialer Hinsicht, funktio- nal und emotional. Zu diesen Vorstellungen gehören wahrge- 3.1 GesprächspartnerInnen mit Fluchterfahrung nommene Komponenten und Mechanismen, sowohl Chan- cen als auch Barrieren. Diese Offenheit schließt Bezüge zu Bei den 41 befragten Geflüchteten handelt es sich vorwie- verschiedenen Maßstabsebenen einschließlich transnationa- gend um Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit, die ler Beziehungen ein. auch den größten Anteil an den nach Deutschland einreisen- den FluchtmigrantInnen repräsentieren (BAMF, 2017, Ta- belle 1). Gemäß der Fragestellung des Gesamtprojekts, in 3 Methodik: Leitfadengestützte Tiefeninterviews der es darum geht, Prozesse des Ankommens in Deutsch- land auf Barrieren und Chancen hin zu untersuchen, wur- Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden mit insge- den vorwiegend Personen mit Asylberechtigung (für 3 Jah- samt 41 Geflüchteten und 25 beruflich oder ehrenamtlich in re) oder subsidiärem Schutz (für 1 Jahr) befragt, aber auch der Flüchtlingsbetreuung tätigen Personen themenzentrier- Personen mit bereits längerem Aufenthalt in Deutschland, te Leitfadeninterviews durchgeführt. Die Interviews wurden deren rechtlicher Status noch nicht geklärt war. Der Zu- in der Stadt Köln sowie in einigen Gemeinden des Kreises gang zu dieser Personengruppe wurde über Organisationen Heinsberg, gelegen zwischen Aachen und Düsseldorf an der oder Projekte der ehrenamtlichen Hilfe für Geflüchtete her- Grenze zu den Niederlanden, durchgeführt. Hintergrund für gestellt (z.B. Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie, Caritas, In- die Wahl dieser Fallstudienorte war das Anliegen, mögliche tegrationshaus, Kulturprojekte), wobei die Ehrenamtler ge- Unterschiede hinsichtlich subjektiver Integrationsvorstellun- eignete Personen für Interviews vermittelten. Mithin handelt gen zwischen einem großstädtischen auf der einen und einem es sich um eine willkürliche Stichprobe, welche aus zwei- mittel- bis kleinstädtischen Kontext auf der anderen Seite erlei Gründen nicht alle Gruppen von FluchtmigrantInnen identifizieren zu können. Köln ist als größte Stadt im Bun- abbildet: Zum einen müssen die Geflüchteten von sich aus www.geogr-helv.net/74/205/2019/ Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019
210 G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? Tabelle 1. Merkmale der GesprächspartnerInnen im Hinblick auf subjektive Vorstellungen zu Einleben/Integration von Geflüchteten in die Aufnahmegesellschaft. Köln Kreis Heinsberg Gespräche mit Geflüchteten 9 Frauen, 12 Männer 9 Frauen, 11 Männer Alter: unter 20 J. (4), 20–30 J. (8), Alter: unter 20 J. (3), 20–30 J. (8), 31–40 J. (3), 41–50 J. (3), über 50 J. (3) 31–40 J. (8), 41–50 J. (0), über 50 J. (1) Herkunftsland: Syrien (13), Irak (4), Iran (2), Herkunftsland: Syrien (8), Irak (4), Iran (3), Af- Eritrea (1), Palästina (1) ghanistan (3), Usbekistan (1), Tadschikistan (1) Dauer des Aufenthalts in Deutschland: ca. Dauer des Aufenthalts in Deutschland: ca. 1 1 Jahr (8), 2 Jahre (9), 3 Jahre (2), 5 Jahre (2) Jahr (1), 2 Jahre (12), 3 Jahre (6), 5 Jahre (1) Aufenthaltsrechtlicher Status: asylberechtigt Aufenthaltsrechtlicher Status: asylberechtigt (10), subsidiärer Schutz (6), noch nicht ent- (7), subsidiärer Schutz (5), noch nicht entschie- schieden oder unklar (5) den oder unklar (8) Eigene Wohnung (10), Zimmer in Heim/WG Eigene Wohnung (14), Zimmer in Heim/WG (7), Zimmer mit Anderen (4) (5), Zimmer mit Anderen (1) Gespräche mit Personen, beruflich – VertreterInnen von: beruflich – VertreterInnen von: die in der Betreuung von Stadtverwaltung Verwaltung der kreisangehörigen Geflüchteten tätig sind Jobcenter Städte/Gemeinden Kommunales Integrationszentrum Jobcenter Volkshochschule Kommunales Integrationszentrum Industrie- und Handelskammer Volkshochschule Städtische Wohnungsgesellschaft ehrenamtlich – VertreterInnen von: ehrenamtlich – VertreterInnen von: Flüchtlingsrat Caritas Caritas Bistum In Via Bürgerinitiativen der Hilfe für Bürgerinitiativen der Hilfe für Geflüchtete Geflüchtete 8 Frauen, 6 Männer 6 Frauen, 5 Männer Kontakt zu den Ehrenamtlern hergestellt oder aufrechterhal- weise kontrolliert, aber nicht völlig ausgeschlossen werden. ten haben, zum anderen handelt es sich um Personen mit Die Gespräche wurden in der Regel in den Räumlichkeiten einer gewissen Offenheit und Auskunftsbereitschaft gegen- der Hilfseinrichtung geführt, sie dauerten zwischen 10 Mi- über den Forschenden. Die Wahl der Sprache des Interviews nuten und anderthalb Stunden. war den GesprächspartnerInnen überlassen: Interviews auf Der Interviewleitfaden umfasste folgende Themen: Die Deutsch oder Englisch wurden von den Forschenden ohne, „Vorgeschichte“ der GesprächspartnerInnen im Herkunfts- Interviews in Arabisch oder Farsi mit Hilfe von Dolmet- land bzw. auf der Flucht, Erfahrungen bei der Ankunft in scherInnen durchgeführt. Bei den DolmetscherInnen handel- Deutschland, Bewältigung des Alltags mit den relevanten te es sich um studentische Hilfskräfte des Forschungspro- Bereichen Sprache, Wohnung und Arbeit, relevante Helfe- jekts oder selten um andere anwesende Geflüchtete. Auf die rInnen und wichtige Kontakte. Im Hinblick auf den Aspekt Probleme bei Interviews mit Fremdsprachlern, die erst einer „Integration“ wurden die Geflüchteten nach dem aktuellen Übersetzung bedürfen, wird von verschiedenen AutorInnen „Zuhause“ und den persönlichen Zielen für die nächsten 5 bis hingewiesen (z.B. Temple and Young, 2004; Filep, 2009; In- 10 Jahre gefragt. Weiterhin bedeutsam war in diesem Zusam- hetveen, 2012). Die Verschiebung von Bedeutungen durch menhang die Frage nach den Problemen, denen man sich im Übersetzung, aber auch durch noch unvollständig ausgebil- Ankunftskontext gegenüber sah. Begriffe wie „Integration“ dete Sprachkompetenz bei Verwendung des Deutschen kann und „Heimat“ wurden hier bewusst vermieden, um verschie- durch Vergleich von Aussagen zu ähnlichen Themen ansatz- Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019 www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? 211 dene Interpretationen und mit den Begriffen möglicherweise gen, nötige Anpassungen oder Barrieren der „Integration“. assoziierte politische Konnotationen zu umgehen. Dieses „axiales Codieren“, im Sinn von ursächlichen Bedin- gungen und Kontexten sowie intervenierende Bedingungen, 3.2 In der Geflüchtetenhilfe tätige Handlungsstrategien und Konsequenzen, folgt im Grundsatz GesprächspartnerInnen den Elementen des Codierparadigmas für ein zentrales Phä- nomen nach Strauss (Kuckartz, 2010:81). Entsprechend der Bei dieser Gruppe handelt es sich um Personen, die Geflüch- Grundannahmen der Grounded Theory wird nicht nach indi- teten beruflich oder ehrenamtlich Hilfe beim Ankommen in viduellen Ansichten oder typischen Vorstellungsmustern dif- Deutschland anbieten. Mit VertreterInnen der Stadtverwal- ferenziert. Vielmehr ist es Ziel alle Aspekte einzubeziehen, tungen, der kommunalen Integrationszentren und Integra- die seitens der Befragten mit dem Thema verbunden wer- tion Points, des Jobcenters, der Volkshochschule und der den. Die dementsprechend aus dem empirischen Material ab- Industrie- und Handelskammer ist ein Teil der Gesprächs- geleiteten subjektiven Integrationstheorien der Geflüchteten partnerInnen dem Bereich der kommunalen Verwaltung zu- sowie der AkteurInnen der Hilfe für Geflüchtete werden im zurechnen. Aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich wurden Ergebnisteil entwickelt, anschließend im Fazit einander ge- Gespräche mit VerteterInnen der Caritas, der In Via, von Bür- genübergestellt. Es werden jedoch keine Vergleiche individu- gerinitiativen und vom Kölner Flüchtlingsrat geführt. Ziel eller Argumentationsstrukturen untereinander oder im Hin- der Auswahl war es, mit Personen zu sprechen, welche die blick auf sozialstrukturelle Merkmale der Gesprächspartne- Situation der Geflüchteten aus eigener, primärer Erfahrung, rInnen (Alter, Geschlecht, Wohndauer, Familienstand, etc.) auch im Detail und aus persönlicher Interaktion kennen; zu- vorgenommen. dem sollten sie verschiedene Bereiche des Umgangs mit Ge- Die Aussagekraft der Ergebnisse muss dahingehend einge- flüchteten abdecken (ehrenamtlich, administrativ, verschie- schränkt werden, dass aufgrund des Zugangs nur Geflüchtete dene Ämter und Organisationen). Die InterviewpartnerIn- erfasst wurden, welche über Kontakt zu Ehrenamtlern ver- nen wurden anhand von Berichten in lokalen Zeitungen, Ho- fügen, also in einem gewissen Maß freiwillig mit Vertrete- mepages der Städte und Gemeinden sowie aus Empfehlun- rInnen der Aufnahmegesellschaft interagieren. Gleiches gilt gen von InterviewpartnerInnen identifiziert. Da insbesonde- umgekehrt für die in der Betreuung Tätigen. Damit sind Per- re die ehrenamtlichen, aber prinzipiell auch die behördlichen sonen ohne oder mit nur oberflächlichem Kontakt zur jeweils HelferInnen, ihre Aufgabe freiwillig übernommen haben, ist anderen Personengruppe nicht abgebildet. schon vorab davon auszugehen, dass sie dem Thema Inte- gration grundsätzlich positiv gegenüberstehen. In der Sicht- 4 Ergebnisse: Subjektive Integrationsvorstellungen weise und Bewertung dessen, was Integration ausmacht, sind von Geflüchteten und in der Flüchtlingsbetreuung aber dennoch Unterschiede möglich. Die Interviews wurden tätigen Personen in den Büros der jeweiligen AkteurInnen geführt; sie dauer- ten zwischen 30 und 90 Minuten. Der Interviewleitfaden um- 4.1 Subjektive Integrationsvorstellungen von fasste die Themen Sprachlernangebote und deren Nutzung, Geflüchteten Zugänge der Geflüchteten zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Einschätzung der sozialen Netzwerkeinbindung und Bei denjenigen Geflüchteten, die sich explizit zu ihrem der Integrationsprozesse im Allgemeinen mit Schwerpunkt Zuhause-Fühlen am Aufenthaltsort geäußert haben, reicht auf der jeweiligen Expertise des Gegenübers. Im Zusam- die Spannweite von eindeutig positiven Bezügen (z.B. menhang mit den beobachteten Integrationsprozessen wurde „Deutschland ist wie meine Heimat, mein zweites Land“ auch gezielt nach dem Integrationsverständnis gefragt. (Herr T, 19 Jahre, Köln, aus dem Irak)) bis zu Ausdruckfor- Alle Interviews wurden mit einem Diktiergerät aufge- men einer deutlichen Ablehnung, wie z.B. „Wenn ich meine zeichnet und anschließend transkribiert. Die Auswertung er- Uni fertig mache, mein Zertifikat habe, dann fliege ich ir- folgte zunächst in der Logik einer qualitativen Inhaltsanaly- gendwo hin, irgendwo hin, Australien oder Kanada oder ir- se (Mayring, 2015). Ein deduktives Kategorienschema ent- gendwo hin. Das ist vielleicht nicht besser, aber besser als lang der Leitfragen wurde induktiv ergänzt durch Aspekte, hier“ (Herr A, 23 Jahre, Köln, aus Syrien). Dennoch lassen die von den GesprächspartnerInnen selbst ins Spiel gebracht sich aus den Interviews gemeinsame Grundelemente einer oder betont wurden. Die Aggregierung der Kriterien wieder- subjektiven Theorie des Zuhause-Seins in Deutschland her- um ist der Logik einer Grounded Theory verpflichtet (Gla- ausarbeiten, in der sich typische Faktoren – fördernde und ser und Strauss, 1979). Angestrebt wird dabei eine gegen- hinderliche – identifizieren lassen. standsbezogene Theorie zum Thema „Integration“. Von die- sem konzeptionellen Kernbegriff ausgehend, der in den Inter- a) Kernelemente des Zuhause-Fühlens views mit „sich zuhause fühlen“, „sich einleben“, „ankom- men“ oder „persönliche Zukunft“ umschrieben wurde, wur- Bei der Frage nach den Bedingungen dafür, sich in Deutsch- den Elemente gruppiert und nach ihrer Relation zum Kern- land zuhause zu fühlen bzw. hier seine Zukunft zu sehen, gegenstand etikettiert, z.B. als grundlegende Voraussetzun- kommt der Präsenz der eigenen Kernfamilie (PartnerIn und www.geogr-helv.net/74/205/2019/ Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019
212 G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? Kinder) eine zentrale Bedeutung zu: „Without family reuni- in Form geregelter Schul- und Berufsausbildung als Basis für on no integration“ (Herr A, 38 Jahre, Heinsberg, aus Syri- spätere Erwerbstätigkeit mit ein. en). Sorge um nahe stehende Familienangehörige blockieren Das Beherrschen der deutschen Sprache wird sowohl als weitgehend andere Bestrebungen, sich in der Aufnahmege- ein zentrales Element des Sich-Zuhause-Fühlens als auch als sellschaft einzuleben, wie z.B. die Bemühungen im Bereich eine notwendig empfundene Voraussetzung dafür bewertet: des Spracherwerbs. Die eigenen Eltern sind dem gegenüber „Sprache ist der Schlüssel, der Türen öffnet“ bringt es einer grundsätzlich weniger relevant, besitzen jedoch für junge Al- der Befragten auf den Punkt (Herr S, 21 Jahre, Köln, aus leinreisende eine hohe Bedeutung: So bekennt ein 18-jähiger Syrien). Die Gespräche machten immer wieder große Be- Mann aus Syrien: „Deutschland ist wie meine Heimat, mein mühungen um Zugänge zur deutschen Sprache deutlich, da zweites Land. Wenn meine Mutter hier ist, dann ganz Hei- Sprache vor allem für das Ziel von Ausbildung, Studium und mat“ (Herr F, 18 Jahre, Köln, aus Syrien), da hier Eltern Arbeitsaufnahme als unabdingbar begriffen wird. Spracher- oder Elternteile eine große Bedeutung für den emotionalen werb verbessert aber auch die Selbständigkeit im Alltag und Rückhalt besitzen, als Vertrauenspersonen, mit denen All- die erlebte Akzeptanz durch Mitglieder der Aufnahmegesell- tagssorgen besprochen werden können. Auch die zukünftige schaft. Wer noch über geringe Sprachkompetenzen verfügt, Familie, die man in Deutschland erst noch gründen möchte berichtet über wahrgenommene Distanzen bei Behörden und oder ein hier zu findender Partner kann Perspektiven auf eine im Alltag. Die InterviewpartnerInnen streben daher engagiert künftige Verankerung in der Ankunftsgesellschaft eröffnen. nach Aufnahme in Sprachkurse; tendenziell extrovertiertere Als weiteres zentrales Element eines Sich-Zuhause- oder fremdsprachen-affine Personen betreiben den Erwerb Fühlens wird die Sicherheit hervorgehoben. Die Konnotatio- der deutschen Sprache auf eigene Faust (z.B. Nutzen von nen von Sicherheit gehen in verschiedene Richtungen: Si- Online-Kursen zur Schulung, Kontakt zu deutschsprachigen cherheit vor den Auswirkungen eines (Bürger-)Kriegs (Bom- Personen für Sprachpraxis). bardierungen, Hunger, weder Wasser noch Elektrizität), Si- Trotz gefühlter Bindungen wurde eine Rückkehr in das cherheit vor Übergriffen anderer, wie sie z.B. von Mitglie- Herkunftsland von den GesprächspartnerInnen implizit oder dern religiöser oder ethnischer Minderheiten oder auf der explizit weitgehend ausgeschlossen. Manche bekunden ei- Flucht erlebt wurden (Beschränkungen, Bedrohung, Verge- ne auf emotionaler Verbindung beruhende moralische Ver- waltigungen), aber auch Rechtssicherheit (keine Korrupti- pflichtung, dem Herkunftsland zu helfen, sich zum Beispiel on, transparente Regeln und Ordnung). Diese Rechtssicher- in Syrien am Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg zu beteili- heit wird nicht nur als Verlässlichkeit ohne Bestechung oder gen. Wird der Gedanke an eine Rückkehr aber explizit reflek- Vetternwirtschaft aufgefasst, sondern auch als Chance, sei- tiert, so wird er letztlich verworfen. Gründe hierfür sind die ne Ziele realisieren, seine Träume verwirklichen, seinen Weg vermutete lange Dauer des Bürgerkriegs, das Andauern po- aus eigener Kraft gehen zu können, ohne dass die soziale litischer Repression selbst nach einem Kriegsende oder die Umgebung oder das Gesellschaftssystem diesen Weg behin- mit der Zeit wachsende Einbindung in die Aufnahmegesell- dern „So for me, what makes me say that I am here in my schaft. „Mein Land braucht mich zum Wiederaufbau, dann country, is that I can do anything I dream about, there is ist aber alles verloren, was ich hier gemacht habe“ (Herr no obstacles“ (Frau E, 21 Jahre, Köln, aus Syrien). Sicher- D, 23 Jahre, Köln, aus Syrien). Ein neu aufgebautes Leben, heit bietet auf der Makroebene der gesellschaftliche Rahmen die erworbene Sprach- und Systemkenntnis, die gewonnene in Deutschland, auf der Mikroebene ist es die eigene Woh- Arbeitsstelle und die für den Alltag relevanten Sozialkon- nung, welche Privatsphäre und Ruhe gewährt, ein Refugium takte werden wahrscheinlich nicht mehr aufgegeben, mit Si- in Kontrast zu der kollektiven Enge von Flucht und Unter- cherheit nicht, wenn erst die eigenen Kinder in Sprache und bringung in Gemeinschaftsunterkünften. Spielregeln der Ankunftsgesellschaft eingewöhnt sind. Des Als drittes zentrales Element kann der Bereich Arbeit und Weiteren ist bei vielen InterviewpartnerInnen die soziale und Einkommen identifiziert werden. Arbeit wird dabei mehr- materielle Basis im Herkunftsland längst erodiert: das Haus heitlich nicht als Job verstanden, sondern als Verwertung ei- der Familie zerstört, deren Mitglieder auf verschiedene Orte ner Qualifikation im Anschluss an eine berufliche oder hoch- und Länder verteilt. Für Personen, die aus politischen, reli- schulische Ausbildung. Betont wird die Bedeutung von Ar- giösen oder ethnischen Gründen geflohen sind, stellt sich die beitsstelle und Einkommen für die eigene Unabhängigkeit: Frage einer Rückkehr ohnehin nicht mehr, da diese radikale „When I go to work I think it will be more better. You are gesellschaftlich-politische Reformen voraussetzen würde. self confident, you own your own money, you can do what you want“ (Frau T, 36 Jahre, Heinsberg, aus Usbekistan). b) Das Erleben von Fremdheit und das Verhältnis zur Einkommen aus eigener Arbeit wird als Grundlage für ein Herkunftsgesellschaft „normales“ Leben und damit als zentral für das Wohlbefin- den in der Ankunftsgesellschaft betrachtet. Unabhängig sein, Von den GesprächspartnerInnen wird mehr oder minder ex- über sich selbst bestimmen können wird auch als Schwel- plizit ein funktionales Sich-Zuhause-Fühlen von einem emo- le genannt, jenseits derer man sich nicht mehr als „Flücht- tionalen Bezug unterschieden. Manche betonen hier, dass sie ling“ fühlt. Eltern schließen dabei die Zukunft ihrer Kinder sich kulturell bzw. vom Lebensgefühl her nicht in einem Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019 www.geogr-helv.net/74/205/2019/
G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? 213 Land heimisch fühlen können, in dem sie nicht aufgewachsen besaßen alle GesprächspartnerInnen Kontakt zu ehrenamtli- sind. Als intervenierender Faktor, welcher das Fremdheits- chen Initiativen bzw. Projekten. MitarbeiterInnen dieser In- erleben in der Aufnahmegesellschaft beeinflusst, wurde aus itiativen nahmen die Rolle von Vertrauenspersonen ein, die den Gesprächen heraus das individuelle Erleben von Fremd- im Alltag helfen und in einigen Fällen zu den wichtigsten heit im Herkunftsland identifiziert. Geflüchtete, die in ihrem AnsprechpartnerInnen bei Problemen wurden. Die Schwie- Herkunftsland sozial ungünstigen Lebensbedingungen in ih- rigkeit, Kontakt zu Menschen in der Aufnahmegesellschaft rer Familie und im weiteren Umfeld ausgesetzt waren, wie zu knüpfen, wird unterschiedlich eingeschätzt; Leute kennen Angehörige religiöser oder ethnischer Minderheiten, brach- zu lernen kann als schwer empfunden zu werden, aber auch ten oft weniger zum Ausdruck, eine emotional bindende Hei- als leicht „Wenn man nett ist, kann man viele Leute kennen mat verloren zu haben. Eine Sunnitin, welche andauernde fa- lernen“ (Herr K, 18 Jahre, Köln, aus Syrien). Abhängig von miliäre Streitigkeiten und schließlich die Trennung ihrer El- individueller Kontaktfreudigkeit wurden diverse Strategien tern wegen religiöser Differenzen miterleben musste, nimmt genutzt, um mit Einheimischen in Kontakt zu kommen, z.B. die religionstolerante Situation in Deutschland emotional po- Fußball spielen im Verein oder Besuch eines Fitnessstudios. sitiv an: „I can live in peace without religious sectarianism „It’s good if someone has a hobby in Germany, then people problems and I raise my child far away from those pro- help him to do better“ (Herr F, 18 Jahre, Köln, aus Syrien). blems and racism in a way“ (Frau E, 21 Jahre, Köln, aus Das aktive Engagement in der ehrenamtlichen Initiative als Syrien). Ähnlich äußern sich Kurden, die in der Schule ih- HelferIn für andere Geflüchtete (z.B. bei Übersetzungen, Be- re Muttersprache nicht benutzen durften oder Christen, die gleitung auf Ämter) macht die Fluchtbetroffenen nicht nur zu öffentlich kein Kreuz tragen konnten oder sich zum Tragen EmpfängerInnen von Hilfe, sondern zu gleichwertigen Part- eines Kopftuchs genötigt sahen. In anderen Gesprächen war nerInnen ihrer ehrenamtlichen KollegInnen (zu Geflüchteten das Herkunftsland auch emotional positiv konnotiert, indem als HelferInnen siehe auch Adam et al., 2019). beispielsweise ein harmonisches soziales Umfeld ohne Dis- kriminierungen thematisiert wurde. Der Fluchtgrund lag hier d) Wahrgenommene Barrieren der Aufnahmegesellschaft auch nicht in Repressalien des Alltags begründet, sondern beispielsweise in unmittelbaren Einwirkungen des Bürger- Ein Sich-Zuhause-Fühlen in Deutschland kann durch nega- kriegs (Zerstörung oder Okkupation des Wohnortes durch tive Erlebnisse mit VertreterInnen der Ankunftsgesellschaft eine andere Armee) oder der drohenden Einberufung zum behindert oder sogar deutlich gestört werden. Eine zentrale Militärdienst. Wird der Verlust eines spezifischen, als posi- Barriere ist erlebte Diskriminierung. Die Gesprächspartne- tiv empfundenen Lebensgefühls – häufig ausgedrückt in Be- rInnen mit Fluchterfahrungen unterscheiden hier sehr deut- griffen wie Freundeskreis, Gelassenheit, familiärer Zusam- lich zwischen beispielsweise einerseits bürokratischen Ver- menhalt, Gemeinschaft – beklagt, kann es schwer erscheinen, fahren, welches als Tribut an die Ordnung und Rechtssicher- sich in Deutschland emotional einzuleben. Zusammenkünf- heit des Landes akzeptiert werden und andererseits wahrge- te mit Freunden bei landestypischen Mahlzeiten und Reden nommener und erlebter Ungleichbehandlung und Ungerech- über alte Zeiten können hier – vergleichbar einer nostalgi- tigkeit. Berichtete negative Erlebnisse konzentrieren sich auf schen Reaktion (Weiss, 1993:81f.) – eine temporäre emotio- das Aufsichtspersonal in Flüchtlingslagern (z.B. rüder Ton- nale Rückkehr in die alte Heimat ermöglichen. fall, Behandlung von oben herab), manche VertreterInnen von Behörden (unangemessenes Beharren auf fließendem c) Wahrgenommene Brücken zur Aufnahmegesellschaft Beherrschen der deutschen Sprache oder auf Pünktlichkeit) sowie manche Vertreter der Polizei (Razzien/Repressalien Als Grundlage dafür, in der neuen Gesellschaft subjektiv ei- für alle bei Fehlverhalten einzelner, schärfere Kontrollen al- ne Zukunft wahrnehmen zu können, und um in einen Zu- lein aufgrund eines fremdländischen Aussehens, pauscha- stand des Sich-Zuhause-Fühlens zu gelangen, muss ein Min- ler Kriminalitätsverdacht, keine Entschuldigung bei Missver- deststatus des gefühlten Aufgenommenseins erreicht wer- ständnissen). Das Erleben von Diskriminierung kann auch den. Wie in den Gesprächen deutlich wurde, gehören da- subtiler sein, etwa wenn sich in der Straßenbahn andere Per- zu zum einen konkrete rechtliche Bedingungen, wie die sonen nicht neben jemanden setzen oder unpersönlich auf- behördliche Aufenthaltsberechtigung (Asylstatus oder sub- grund von Berichterstattung in den Medien. Öffentliche Pau- sidiärer Schutz), zum anderen das Gefühl, von der Auf- schalisierungen im Umgang mit dem Thema Migration nach nahmegesellschaft grundsätzlich akzeptiert zu werden. Für den Übergriffen mehrheitlich nordafrikanischer Zuwanderer das Gefühl von Akzeptanz sind Kontakte jenseits von Kon- auf in der Domumgebung feiernde Frauen in der „Kölner Sil- takten zwischen Geflüchteten innerhalb von Unterkünften, vesternacht“ 2016/17 (vgl. Guinan-Bank, 2017) hat gerade Integrations-/Sprachkursen oder Behördenfluren, von hoher bei jungen arabischen Männern eine Verunsicherung im All- Relevanz: Dazu zählen die erlebte Freundlichkeit und Hilfs- tag ausgelöst. Das Gefühl, stigmatisiert und unerwünscht zu bereitschaft sowohl im Alltag als auch bei Behörden und sein, hat die unbefangene Kontaktaufnahme in Alltagssitua- die konzentrierte Hilfsbereitschaft ehrenamtlicher Initiati- tionen erschwert. Der Blick auf die parallele politische Dis- ven. Bedingt durch die Stichprobengenerierung (vgl. Kap. 3) kussion lässt den Eindruck entstehen, dass Geflüchtete als www.geogr-helv.net/74/205/2019/ Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019
214 G. Weiss et al.: Angekommen in postmigrantischen Stadtgesellschaften? „Ware“ oder Manövriermasse der politischen Stimmung ge- alamt, die Kirche, Ehrenamtler oder professionelle private opfert werden, indem man nach Belieben Bedingungen ver- VermieterInnen erfolgt, entsteht Nähe zu Verwandten oder schärft. Diskriminierung wird weiterhin durch Ausnutzen be- Bekannten eher zufällig. So wird oft erst im Nachhinein ent- sonders auf der Arbeitsstelle erlebt. Aus Unkenntnis über die deckt, dass andere Personen der gleichen Nationalität oder eigenen Rechte werden Geflüchteten unangemessene Tätig- ein Freund aus dem Heimatort in derselben Straße wohnen. keiten, Arbeitzeiten oder untertarifliche Bezahlungen zuge- Niemand deutet an, für seine Wohnumgebung eine ethni- mutet. Auch der formelle Wohnungsmarkt über Meldungen sche Gemeinschaft mit Landsleuten anzustreben. Wer auf be- auf Inserate in Zeitungen oder Internet wird als tendenzi- stimmte, im deutschen Standard-Einzelhandel nicht erhältli- ell diskriminierend erlebt: Bei Anfragen erhalten Geflüchte- che Waren aus seiner Herkunftsregion Wert legt, kann sol- te Absagen aufgrund ihres fremd klingenden Namens, weil che Anbieter auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen sie „Flüchtlinge“ sind, oder weil Vermieter die Miete nicht (z.B. arabische/persische Läden im Stadtteil Köln-Kalk). vom Jobcenter bzw. Sozialamt bezahlt haben möchten. So Eine Bewertung des Wohnstandortes im Hinblick auf so- kann eine erfolgreiche Vermittlung oft nur durch direkte Zu- ziale Kontakte geschieht in der Regel in der Dichotomie weisungen von Behörden oder auf einem informellen Markt „(Groß-)Stadt“ versus „Land“. Nicht nur Gesprächspartne- über Bekannte oder Ehrenamtler erzielt werden. Gelegent- rInnen im Kreis Heinsberg, sondern auch manche in Köln lich wird auch über Sozialneid berichtet, u.a. wenn Geflüch- äußern die Überzeugung, dass man sich in einem Dorf woh- teten das Gefühl vermittelt wird, keine Ansprüche stellen zu ler fühlt im Sinn von „auf dem Land ist das Leben einfacher“, dürfen, wie z.B. den Wunsch nach einem eigenen Handy oder „man lernt dort schneller neue Leute kennen“, „die Men- Auto, da ein „Flüchtling“ in Armut zu leben habe. „For ex- schen sind tendenziell freundlicher“. „Ich hatte viele Hilfe ample you have worked and afforded to buy a car. That did von Leuten, netten Leuten. Auch die Hilfe vom Sozialamt war not happen to me, but with my brother. [...] He worked and ok. Und es ist hier in Hückelhoven in einer Kleinstadt auch afterwards he bought a car, then [they make him feel] like he besser als in einer Großstadt. Ich glaube zu lernen und zu does not need to do it, as if he does not need it, something leben, das Leben ist einfacher, glaube ich“ (Herr C, 25 Jahre, extra. Here it feels, some racism, as they don’t want us to live Heinsberg, aus Syrien). Andere Geflüchtete präferieren wie- in luxury” (Frau Q, 50 Jahre, Köln, aus Syrien). derum ein städtisches Umfeld, da es mehr berufliche Optio- Die Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft wird am ehe- nen bietet bzw. bei einem geplanten Studium aufgesucht wer- sten nach freundlichen und unfreundlichen Menschen diffe- den müsste. Als ein weiterer Vorteil wird die großstädtische renziert: „Die Leute sind manchmal schlecht und manchmal Diversität wahrgenommen. „To add something, the greatest gut, wie überall“ (Herr I, 18 Jahre, Köln, aus Syrien). Da- thing in Cologne its diversity, you find people from all na- bei werden Kontexte erlebter Diskriminierung benannt, die tionalities [...] Here in Cologne you find a lot of nationali- eher im bürokratisch-administrativen Bereich liegen als im ties, and they are very cooperative with Germans as if they sonstigen Alltag. Hingegen wird keine grundsätzliche Dicho- are really Germans, as if they were born here.“ (Frau E, tomie zwischen unterschiedlichen Kulturen der Herkunfts- 21 Jahre, Köln, aus Syrien). Die positiv bewertete Multina- und Aufnahmegesellschaft erlebt oder konstruiert; auch sind tionalität bedeutet hier weniger die Chance, auf Landsleute Konstrukte eines typischen „Deutschseins“ im Kontext der zu treffen, sondern die Aufnahmegesellschaft als ethnisch- geführten Gespräche nicht explizit nachzuweisen. kulturelles Kontinuum zu erleben, im Sinn einer Vorstellung darüber, dass Personen verschiedener Herkunft miteinander e) Wahrgenommene Bedeutung des räumlichen Umfelds und mit den alteingesessenen Deutschen friedlich zusam- menleben und kooperieren können. In Nordrhein-Westfalen sind Geflüchtete durch die Wohn- sitzauflage in der Wahl ihres Wohnstandortes eingeschränkt; 4.2 Subjektive Integrationsvorstellungen von Personen, sie dürfen nur innerhalb der ihnen zugewiesenen Stadt oder die beruflich oder ehrenamtlich in der Betreuung Gemeinde umziehen. Insofern spielten Aussagen über das für von Geflüchteten tätig sind ein Sich-Zuhause-Fühlen ideale räumliche Umfeld eine un- tergeordnete Rolle. Auch innerhalb der Gemeinde bestimm- Wie bei den GesprächspartnerInnen mit Fluchterfahrung, so ten nicht die Wünsche der Geflüchteten den Wohnstandort, konnten auch aus den Aussagen der AkteurInnen aus der Be- sondern der Wohnungsmarkt. Die Knappheit an geeigne- treuung von Geflüchteten typische Elemente einer subjekti- tem Wohnraum führt dazu, dass außerhalb der Heime jede ven Theorie der Integration von FluchtmigrantInnen abgelei- Wohnung, die angeboten (und vom Jobcenter bzw. Sozial- tet werden. amt bezahlt) wird, akzeptiert werden muss. Die verschiede- nen Wege der Wohnungsvermittlung führen dazu, dass, jen- a) Grundlegende Voraussetzungen seitens der seits von gelegentlich aus Kostengründen gebildete Wohnge- Geflüchteten meinschaften, keine lokale Konzentration von Geflüchteten oder bestimmten ethnischen Gruppen auftritt: Da die Ver- Auch unter den GesprächspartnerInnen aus der beruflichen mittlung über städtische Wohnbaugesellschaften, das Sozi- oder ehrenamtlichen Hilfe für Geflüchtete besteht im We- Geogr. Helv., 74, 205–221, 2019 www.geogr-helv.net/74/205/2019/
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