SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft

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Bibliotheca Hevertica 16
Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft

SCHLAFSTÖRUNGEN
GANZHEITLICH BEHANDELN
Dr. med. Martin Oechler
SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
Dr. med. Martin Oechler, MaHM* (Herausgeber)
                          Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
                          Allergologie

                          * Master of Health Management

                          Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
                          Schlafstörungen ganzheitlich behandeln
                          Autoren- und Redaktionsteam: Sabine Schuchart
                          (www.schuchart-medien.de), Dr. med. Martin Oechler,
                          Dr. med. vet. Kristin Belinga, Dr. rer. nat. Ute Heinze,
                          Dr. med. Martina Weber, Dr. rer. nat. Rainer Mersinger,
Dr. med. Martin Oechler
                          Andrea Materna

                          Januar 2021

                          Bibliotheca Hevertica 16, 2021
                          Hevert-Arzneimittel GmbH & Co. KG
                          In der Weiherwiese 1
                          D-55569 Nussbaum
                          info@hevert.de

                          Für die Richtigkeit der Ausführungen übernehmen wir keine Haf-
                          tung, da der Autor grundsätzlich seine unabhängige Meinung
                          und Erfahrung darstellt. Es gelten die Informationen der medizi-
                          nischen Fach- bzw. Gebrauchsinformationen. Diese finden Sie im
                          Fachkreisportal auf

                          www.hevert.de
                          (Benutzername und Passwort: vademecum)
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Key Facts

Prävalenz Insomnien                                             Therapie der primären Insomnie
• Fast 70 Prozent der Menschen in Deutschland klagen            • Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gilt laut S3-Leit-
  über Schlaf­störungen, nahezu jeder Zehnte ist behand-          linie „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ bei
  lungsbedürftig.                                                 Insomnien von Erwachsenen als erste Behandlungs-
                                                                  option. Sie wirkt allerdings eher längerfristig, zudem
• Insomnien sind ein Risikofaktor für das Auftreten von
                                                                  fehlen, gemessen an der Zahl der Betroffenen, Thera-
  Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Adipositas, Blut-
                                                                  pieplätze.
  hochdruck, Herz-, Kreislauf- und Tumorerkrankungen,
  chronischen Infektionskrankheiten sowie Depression.           • Schnelle Linderung versprechen synthetische Schlaf-
                                                                  mittel wie zum Beispiel Benzodiazepine (BZD) und
• Bei chronischer Insomnie besteht ein erhöhtes Morta-
                                                                  BZD-Analoga. Wegen der erheblichen Nebenwirkun-
  litätsrisiko.
                                                                  gen und des hohen Suchtpotenzials sind sie nur für die
                                                                  Kurzzeitbehandlung der Insomnie (maximal 4 Wochen)
Schlaf-Physiologie und -Architektur                               zugelassen. In der Praxis wird diese Grenze jedoch oft
                                                                  überschritten.
• Der Schlaf ist ein aktiver Prozess des Gehirns. Er verläuft
  in vier bis fünf Zyklen mit jeweils zwei unterschiedli-       • Die Zahl der Abhängigen von diesen beiden Substanz-
  chen Hauptstadien: Dem REM-Schlaf mit schnellen                 gruppen wird in Deutschland auf fast zwei Millionen
  Augenbewegungen und Atonie der Muskulatur sowie                 geschätzt.
  den drei Phasen des NREM-Schlafs (Einschlafen, Leicht-
  schlaf, Tiefschlaf).
                                                                Ganzheitliche Therapieoptionen
• Bis vor einiger Zeit galt Schlafen als Strategie des Orga-
                                                                • Die meisten Prozesse im menschlichen Körper folgen
  nismus zur Energieeinsparung. Inzwischen ist jedoch
                                                                  einem zirkadianen Rhythmus, das heißt, sie zeigen
  erwiesen, dass viele Prozesse und Funktionen im Schlaf
                                                                  tageszeitabhängige Veränderungen, die von einer in-
  hochreguliert werden und weitreichende Regenera-
                                                                  neren Uhr gesteuert werden. Störungen des Schlaf-
  tions- und Reparaturvorgänge erfolgen. Auch konsoli-
                                                                  Wach-Rhythmus können mit Hilfe von Chrono- und
  dieren sich im Schlaf Lernprozesse und Gedächtnis.
                                                                  Lichttherapie sowie Melatonin gezielt therapiert wer-
                                                                  den.
Ursachen von Insomnien
                                                                • Mit zunehmendem Alter nimmt die körpereigene Syn-
• Primäre Insomnien können viele Ursachen haben.                  these des „Schlafhormons“ Melatonin ab, auch deshalb
  Schlafkiller Nummer eins ist chronischer Stress.                leiden viele ältere Menschen unter Schlaf­störungen.

• Auch Störungen der zirkadianen Schlaf-Wach-Rhyth-             • Von stressbedingten Schlafstörungen sind Frauen ab
  mik sind heute weit verbreitet, zum Beispiel auf Grund          der Lebensmitte weit überdurchschnittlich betrof-
  von Schicht- und Nachtarbeit oder weil sich Menschen            fen. Unbehandelt kann es leicht zur Chronifizierung
  zur falschen Zeit Lichtquellen aussetzen wie etwa               kommen. Schlafhygiene, Stressabbau, Entspannungs-
  Handy- oder Computerbildschirmen in der Nacht.                  techniken sowie eine gute Versorgung mit Mikronähr-
                                                                  stoffen sind wichtig. Naturheilkundliche Schlafmittel
• Die differenzialdiagnostische Abklärung von Schlaf-
                                                                  stellen eine sinnvolle Alternative zu synthetischen
  störungen ist wichtig und zugleich anspruchsvoll, da
                                                                  Schlafmedikamenten dar, da sie kaum Nebenwirkun-
  anhaltende Schlafbeschwerden oft multifaktoriell be-
                                                                  gen aufweisen, nicht in die Abhängigkeit führen und
  dingt sind.
                                                                  keine narkotischen Effekte haben.
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DIE SCHLAFLOSE GESELLSCHAFT
Guter Schlaf scheint in unserer schnelllebigen Zeit zum Luxus-         Insomnie – Krankheit und Risikofaktor
gut zu avancieren: Schlafstörungen gehören zu den häufigsten
                                                                       Probleme der Initiierung und Aufrechterhaltung des Schlafs,
gesundheitlichen Beschwerden der Deutschen. Chronische In-
                                                                       die unter dem Begriff Insomnie zusammengefasst werden, gel-
somnien und anhaltender Schlafmangel gehen nicht nur mit
                                                                       ten in der Schlafmedizin zum einen als Leitsymptom. In chro-
einer beeinträchtigten Lebensqualität einher, sondern können
                                                                       nischer Form (mindestens dreimal pro Woche einen Monat
auch gravierende Folgen für die psychische und körperliche
                                                                       lang) und bei gleichzeitig beeinträchtigter Leistungsfähigkeit
Gesundheit haben.
                                                                       und Tagesmüdigkeit sowie Fokussierung der Betroffenen auf
Laut epidemiologischen Studien klagt weltweit im Schnitt               die Schlafstörung stellen sie zum anderen ein eigenständiges
knapp ein Drittel der Bevölkerung über Schlafbeschwerden (1, 2).       Krankheitsbild dar (7). Sie sind ein Risikofaktor für die Entste-
Auch in Deutschland haben diese eine hohe Prävalenz, Ex-               hung psychischer und körperlicher Folgekrankheiten und kön-
perten sprechen inzwischen von einer Volkskrankheit (3). Laut          nen Krankheitsverläufe sowie Regenerationsphasen negativ
Barmer-Gesundheitsreport 2019 ist fast die Hälfte der Be-              beeinflussen (8). Insomnien führen nicht nur zu verminderter
schäftigten bei der Arbeit müde, fast ein Drittel regelmäßig           Leistungsfähigkeit der Betroffenen, sondern verursachen auch
erschöpft (4). Auch der Gesundheitsreport 2017 der Kranken-            hohe Kosten im Gesundheitssystem durch Fehltage am Ar-
kasse DAK (5) zeigt einen gravierenden Anstieg von Ein- und            beitsplatz oder Frühberentung. Dem renommierten Schlafme-
Durchschlafstörungen im Vergleich zu 2009 und damit ver-               diziner Maurice M. Ohayon vom Stanford Sleep Epidemiology
bunden einen zunehmenden Schlafmittel-Konsum (Abb. 1).                 Research Center zufolge passieren 62 Prozent aller Verkehrsun-
Ähnlich alarmierende Ergebnisse zeigte eine repräsentative             fälle in den USA auf Grund von Schläfrigkeit. Er hält Schlafstö-
Bevölkerungsumfrage des Robert-Koch-Instituts (RKI) bei mehr           rungen in ihrer Bedeutung für völlig unterschätzt (1, 3).
als 8.150 Erwachsenen: Über Insomnie-Symptome generell
berichteten fast 70 Prozent der befragten 18- bis 79-Jährigen
mindestens einmal im Jahr, bei jedem Dritten traten diese
sogar mindestens dreimal pro Woche auf (6). Frauen sind etwa
doppelt so häufig betroffen wie Männer, Ältere stärker als Jün-
gere. Wurden zusätzlich noch reduzierte Schlafqualität und kli-
nisch relevante Tagesmüdigkeit als Kriterien abgefragt, erfüll-
ten immerhin noch zirka sechs Prozent die Screening-Diagnose
einer chronischen Insomnie (7). Laut Deutscher Gesellschaft für
Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) leidet inzwischen
fast jeder zehnte Deutsche an einer behandlungsbedürftigen
Schlafstörung – mithin Millionen Menschen (3).

Abb. 1:

Häufigkeit von Schlafproblemen in den letzten 4 Wochen in Prozent

    60                                                                                        In Beschäftigtenbefragungen im Auftrag der
                52,5                                                                          Krankenkasse DAK gaben 2016 etwa 31
    50                                                                                        Prozent der befragten 35- bis 65-Jährigen an,
                                                                                              mindestens dreimal pro Woche an Ein- und/
                                                                                              oder Durchschlafstörungen zu leiden, 2009
    40                                                                                        waren es ca. 19 Prozent. Nur jeder fünfte
                                                                                  30,9        Arbeitnehmer hatte 2016 keine Schlafbe-
    30                                                                                        schwerden. Sieben Jahre zuvor schlief dagegen
                                        23,5                 24,4                             noch gut die Hälfte störungsfrei.
                       21,1                           19,3                 19,4
    20
                                                                                              Quelle: Adaptiert nach (5)
    10                            8,7

     0
                Gar nicht     weniger als einmal   ein- oder zweimal   dreimal oder häufi-
                                 pro Woche             pro Woche         ger pro Woche
         2009          2016
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Gesundheitliche Auswirkungen                                          Schlaf – eine hochdynamische
In den letzten Jahren häufen sich Studienergebnisse, die In-          Angelegenheit
somnien als eigenständigen Risikofaktor für das Auftreten
verschiedener Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Insulin-         Neue Erkenntnisse und Messmethoden haben das Verständ-
resistenz, Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf- und            nis, wie und warum wir schlafen, revolutioniert. Die „Nacht-
Tumorerkrankungen, chronische Infektionskrankheiten sowie             ruhe“ ist in Wirklichkeit eine sehr dynamische Abfolge von
Depression bewerten (2, 9, 10). Auch der Zusammenhang zwi-            Ereignissen und physiologischen Zuständen, in deren Verlauf
schen chronischer Insomnie und erhöhtem Mortalitätsrisi-              das Gehirn durch verschiedene Schlafphasen oszilliert und der
ko wurde nachgewiesen (11). Eine große Follow-up-Studie mit           Körper wichtige Aufräum- und Reparaturarbeiten vornimmt.
6.236 norwegischen Teilnehmern zwischen 40 und 45 Jahren
                                                                      Der Philosoph Arthur Schopenhauer nannte ihn den „kleinen
zeigte 2014, dass Insomnien insbesondere bei gleichzeitig ver-
                                                                      Bruder des Todes“ – bis weit in das 20. Jahrhundert hinein galt
kürzter Schlafdauer (weniger als 6,5 Stunden) das Mortalitäts-
                                                                      Schlaf als passiver Zustand. Dieses Bild wurde mithilfe neuer
risiko erheblich steigern (12).
                                                                      elektrophysiologischer Messmethoden korrigiert: das Elektro-
                                                                      enzephalogramm (EEG) für die Hirnaktivität, das Elektromyo-
Behandlung aus ganzheitlicher Sicht                                   gramm (EMG) für die Muskelspannung und das Elektrooku-
                                                                      logramm (EOG) für Augenbewegungen (14). Sie zeigten, dass
Schlafstörungen weisen einen hohen Chronifizierungsgrad
                                                                      Schlafen ein ausgesprochen aktiver Prozess des Gehirns ist.
auf (7). Viele Betroffene nehmen sie dann auch als gegeben hin
                                                                      Dieser läuft in zwei unterschiedlichen Hauptstadien zyklisch
und greifen regelmäßig zu chemischen Schlafmitteln, die al-
                                                                      ab: Da ist zum einen der REM-Schlaf („Rapid Eye Movement“),
lerdings leicht in die Abhängigkeit führen und bei längerem
                                                                      auch Traumschlaf genannt. Er ist durch schnelle Augenbewe-
Gebrauch selbst zunehmende Schlaflosigkeit auslösen kön-
                                                                      gungen sowie Verlust der thermoregulatorischen Kontrolle
nen (13). Zwar kann deren Einsatz bei akuter oder episodischer
                                                                      und Atonie der Muskulatur gekennzeichnet (14). Zum anderen
Insomnie für kurze Zeit angebracht sein (7), aber wenn die Ursa-
                                                                      gibt es den Non-REM-Schlaf (NREM), in dem diese Phänomene
chen abgeklärt und organische und psychische Erkrankungen
                                                                      nicht zu beobachten sind. Er vollzieht sich in drei Phasen, ab-
ausgeschlossen sind, kann den meisten Patienten auch ohne
                                                                      hängig von Amplitude und Geschwindigkeit der Gehirnwellen
schwere Medikamente effektiv geholfen werden: Je nach Art
                                                                      (Tabelle 1).
der Störung zum Beispiel durch eine bessere Strukturierung
ihres Schlaf-Wach-Rhythmus und Maßnahmen zur Schlafhy-
giene und Stressbewältigung, aber auch durch naturheilkund-
liche Arzneien und das Schlafhormon Melatonin. Ein solcher
ganzheitlicher Therapieansatz unterstützt den Organismus
durch Aktivierung der Selbstheilungskräfte dabei, zu seinem
ursprünglichen physiologischen Zustand zurückzukehren –
dem erholsamen Schlaf.

Tabelle 1:

Schlafphasen und Körperfunktionen

Schlafstadien                EEG                              Augenbewegung              Weitere Körperfunktionen

Einschlafphase N1            Übergang von Alpha- zu           Langsam, rollend           Muskulatur noch etwas angespannt
                             Theta-Wellen 4 – 7 Hz
Leichter Schlaf N2           Theta-Wellen zusammen mit        Keine                      Weitere Entspannung der Muskulatur, Puls
                             Spindeln (ca. 13 Hz) und                                    und Atmung werden gleichmäßig, Körper-
                             K-Komplexen (ca. 2 Hz)                                      temperatur sinkt
Tiefschlaf N3                Delta-Wellen 0,1 bis 4 Hz        Keine                      Weitere Entspannung der Muskulatur,
                                                                                         Herzschlag und Atmung verlangsamt,
                                                                                         Blutdruck fällt
REM-Schlaf                   niedrigfrequente Theta-Wellen,   Schnell, hin und her       Muskelatonie (bis auf die Augen), Puls,
                             Alpha- und Beta-Wellen           bewegend                   Blutdruck und Atemfrequenz erhöht;
                                                                                         Verlust der thermoregulatorischen
                                                                                         Kontrolle
Quelle: Adaptiert nach (8)
SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
6

Schlafstadien und Schlafarchitektur                                       Weniger oder kaum Tiefschlaf im Alter
Mit dem Schlafeintritt beginnt die erste Phase, in der die für            Die Schlafarchitektur ändert sich signifikant mit dem Lebens-
den Wachzustand im EEG charakteristischen Alpha-Wellen von                alter (Abb. 3). Neugeborene und Kinder verbringen viel mehr
einem Theta-Muster abgelöst werden. Mit der Zunahme lang-                 Zeit sowohl im Tief- als auch im REM-Schlaf, beide Phasen
samer Wellen mit höherer Amplitude in der zweiten Leicht-                 nehmen mit zunehmendem Alter immer mehr ab. Der richti-
schlaf-Phase wird schließlich die dritte, die Tiefschlafphase,            ge Tiefschlaf (Stadium 3) kommt bei Senioren häufig gar nicht
mit ihren charakteristischen Slow-Wave-Wellen erreicht. Von               mehr vor. Nur die Dauer der Leichtschlafphase bleibt in etwa
diesen drei Phasen unterscheidet sich der REM-Schlaf. Die                 erhalten. Grundsätzlich wird im Alter jedoch nicht weniger ge-
Schlafzustände wechseln sich in einem ungefähr 90-minüti-                 schlafen. Etwa mit dem 16. Lebensjahr erreichen die meisten
gen Zyklus ab, so dass der gesunde Erwachsene während einer               Menschen ihre optimale Schlafdauer, sie liegt überwiegend
ungestörten Nacht in der Regel auf einen Rhythmus von etwa                zwischen sieben und acht Stunden (15).
vier bis fünf Schlafzyklen kommt (Abb. 2). Zu Beginn überwiegt
der Tiefschlaf, gegen Morgen hin wird der Schlaf immer ober-              Abb. 3:
flächlicher, der REM-Schlaf dominiert.
                                                                          Die Entwicklung der Schlafstadien mit dem Alter

Abb. 2:
                                                                          Stunden
Schlafprofil eines gesunden Erwachsenen
                                                                           18

             wach                                                          16

       REM-Schlaf                                                          14

    Einschlafphase                                                         12
      Leichtschlaf­                                                                  REM-Schlaf
          stadium                                                          10
      mitteltiefes
    Schlafstadium                                                           8

         Tiefschlaf                                                         6
                                                                                     Leichtschlaf

                        |       |      |       |      |      |       |      4
                        1       2      3       4      5      6       7
                                           Stunden                          2
                                                                                     Tiefschlaf
                                                                            0
                                                                                |      |    |     |   |   |       |          |        |        |
Der gesunde Schlaf durchläuft verschiedene Stadien in zirka 90-minü-
tigen Zyklen, die sich in einer Nacht vier- bis fünfmal wiederholen. Im         15     3   23     2   6   15     25         45        65      85
Verlauf werden die Tiefschlafphasen immer kürzer und die REM-Phasen          Tage | Monate | Jahre
(Phasen mit Rapid Eye Movement) immer länger.

Quelle: Adaptiert nach (16)                                               Von der Geburt eines Menschen an verändert sich seine Schlafarchitektur.
                                                                          Der REM-Schlaf nimmt anfangs die Hälfte der gesamten Schlafenszeit
                                                                          ein, fällt dann aber mit der geringer werdenden Schlafdauer bis etwa zum
                                                                          10. Lebensjahr auf einen Anteil von 20 Prozent und geht auch danach
                                                                          tendenziell weiter zurück. Anteilmäßig dominiert schon ab dem Alter von
                                                                          wenigen Monaten der Leichtschlaf, während der Anteil des Tiefschlafs mit
                                                                          zunehmendem Alter gravierend abnimmt.

                                                                          Quelle: Adaptiert nach (17)
SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
7

Reparatur-, Stoffwechsel- und                                        • Regeneration neuronaler Netze: 2012 entdeckten US-For-
                                                                       scher das glymphatische System (zusammengesetzt aus den
Immunprozesse im Schlaf                                                Begriffen Glia und lymphatisches System), über welches das
                                                                       Gehirn Proteinreste und andere Abfallstoffe inklusive Beta-
Während des Schlafs kommt es zu lebensnotwendigen Rege-
                                                                       Amyloid (Aβ) entsorgt. Beta-Amyloid und Tau-Protein spielen
nerations- und Reparaturvorgängen und bedeutsamen hor-
                                                                       eine zentrale Rolle in der Pathogenese der Alzheimer-De-
monellen, metabolischen und immunologischen Prozessen.
                                                                       menz. Im Schlaf, insbesondere den tiefen Schlafphasen, ist
Weitere Forschungsarbeiten sind erforderlich, um die Zusam-
                                                                       das glymphatische System zehnmal so aktiv wie im Wach-
menhänge noch besser zu verstehen.
                                                                       zustand (20). Neuromediziner sehen in seiner Reinigungs-
Aus evolutionärer Sicht erscheint es auf den ersten Blick unver-       wirkung eine wichtige Erklärung für die Notwendigkeit
ständlich, dass der Mensch und alle bisher untersuchten Tier-          des Schlafens (21). Tatsächlich weist die Mehrheit der Alzhei-
arten, von der Qualle bis hin zum hoch entwickelten Säugetier,         mer-Patienten lange vor Auftreten der ersten Symptome
eine substanzielle Zeit ihres Lebens im Schlaf verbringen – ei-        insomnische Störungen auf (22). Die Zusammenhänge sind in
nem Zustand der kaum vorhandenen Wahrnehmung der Um-                   Abb. 4 dargestellt.
welt, also Schutzlosigkeit, und der scheinbaren Nutzlosigkeit.
Frühere Theorien sahen darin eine Strategie zur Energieein-          Abb. 4:
sparung – durch Reduktion der Stoffwechselrate ähnlich dem
                                                                     Wie besserer Schlaf gesundes Altern fördert
Winterschlaf. Dies steht aber im Widerspruch zu neuen For-
schungsarbeiten, welche die Hochregulationen vieler Prozesse
und Funktionen im Schlaf dokumentieren (14). Danach ist die
„Nachtruhe“ in Wirklichkeit eine dynamische, in hohem Maße                                         Schlaftraining
organisierte Abfolge von Ereignissen und physiologischen Zu-
ständen (13).

Das nächtliche Körperprogramm                                                                  Verbesserung des
Während des Schlafs verändern sich nicht nur die Gehirnaktivi-                               (Slow-Wave-) Schlafs
täten, sondern auch zahlreiche Körperprozesse wie Blutdruck,
Herz- und Pulsfrequenz, Körpertemperatur, Atmung, Muskel-
tonus und Verdauung. Viele der Botenstoffe, die diese Prozesse
regulieren, unterliegen einer zirkadianen Rhythmik: Botenstof-
                                                                         Verminderung der                            Förderung der
fe mit dämpfender und beruhigender Wirkung wie zum Bei-                 Aβ & Tau-Neurotoxine                         Neurogenese
spiel GABA (Gamma-Aminobuttersäure) als wichtigster inhi-
bitorischer Neurotransmitter im ZNS und das „Schlafhormon“
Melatonin zeigen jetzt Wirkung.

Das vor allem im Tiefschlaf ausgeschüttete Wachstumshor-
                                                                                         Bessere Konsolidierung von
mon fördert die Regeneration, Leptin blockiert Hungergefüh-                                 Gedächtnisinhalten
le (18). Dagegen ist das Stresshormon Cortisol für die Aktivierung
vieler Körpervorgänge verantwortlich und ermöglicht uns so-
mit, am nächsten Morgen nach dem Aufwachen aus dem Bett
zu springen. Tatsächlich basiert die Schlaf-Wach-Regulation
                                                                            Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit
auf einem fein abgestimmten Zusammenspiel unzähliger an-               Verzögerung von Auftreten und Progredienz von Alzheimer
regender und hemmender Prozesse im Organismus: Nur wenn                                 Alzheimer-Prävention
die Feinregulation ungestört ablaufen kann, haben wir tags-
über genug Energie und schlafen nachts gut (14,19).
                                                                     Chronische Schlafstörungen gelten nach neueren Forschungserkennt-
Auch wenn bei weitem noch nicht alle Zusammenhänge ver-              nissen als eigenständiger Risikofaktor für das Entstehen einer Alzhei-
standen sind, haben sich drei Hypothesen herauskristallisiert,       mererkrankung. Insbesondere bei mangelhaftem Tiefschlaf können
warum wir schlafen (20):                                             sich vermehrt Amyloid-Ablagerungen im Gehirn ansammeln, Lern- und
                                                                     Gedächtnisprozesse sowie die adulte hippocampale Neurogenese sind
                                                                     beeinträchtigt. Beide Prozesse gelten als wichtige Marker für die neurode-
                                                                     generative Krankheit. Forscher an der Universität Chemnitz empfehlen als
                                                                     weitere Säule der Alzheimer-Prävention ein kognitiv-verhaltenstherapeu-
                                                                     tisches Schlaftraining, um insbesondere den Tiefschlaf zu fördern.

                                                                     Quelle: Adaptiert nach (29)
SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
8

• Gedächtnis und Lernen: Gut belegt ist die Rolle des Schlafs         Die differenzialdiagnostische Einordnung durch den Thera-
  für die Konsolidierung von Lernprozessen und die Gedächt-           peuten ist wichtig und zugleich anspruchsvoll, da anhaltende
  nisbildung (23, 24). Dass zuvor gelerntes Wissen nach darauffol-    Schlafbeschwerden fast immer multifaktoriell bedingt sind.
  gendem Schlaf besser haften bleibt, hängt unter anderem
                                                                      Die Schlafmedizin unterscheidet zwischen mehr als 60 ver-
  mit den im Tiefschlaf vorherrschenden langsamen Delta-
                                                                      schiedenen Schlafstörungen (30). Tabelle 2 gibt einen symptom-
  Wellen zusammen (25) (siehe auch Tabelle 1 im Kapitel „Schlaf
                                                                      orientierten Überblick über die sechs Hauptgruppen, auf Basis
  – eine hochdynamische Angelegenheit“). Motorische Fähig-
                                                                      der Einteilung nach ICSD-3 der American Academy of Sleep
  keiten dagegen verfestigen sich vor allem im REM-Schlaf (26).
                                                                      Medicine 2014 (30, 31). In Deutschland ist für 2022 eine neue ICD-
• Reparatur-, Stoffwechsel- und Immunprozesse: Neuere For-            11-Klassifikation mit erstmals einem eigenen Kapitel zu zirka-
  schungserkenntnisse besagen, dass nicht die Energieein-             dianen Rhythmusstörungen geplant. Sie wird die derzeitige
  sparung per se die Aufgabe des Schlafes ist, vielmehr findet        ICD-10- Klassifikation ersetzen (30).
  eine weitreichende Ressourcenverschiebung und -umver-
  teilung im Organismus statt (20). Diese schafft die Grundlage
                                                                      Auslösende und prädisponierende Faktoren
  für Regenerations- und Reparaturvorgänge und ermöglicht
  die Hochregulation bestimmter endokriner Funktionen im              Die Auslöser einer primären Insomnie können vielfältig sein:
  Schlaf. Das ist die Voraussetzung für einen funktionierenden        Eine unzureichende Schlafhygiene, Reizüberflutung und Hy-
  Stoffwechsel und wahrscheinlich auch maßgeblich für die             perarousal (permanente Übererregtheit auf physiologischer,
  immunsupportiven Effekte des Schlafes (20, 27). Wissenschaft-       kognitiver und/oder emotionaler Ebene) etwa infolge von
  ler der Universität Tübingen entdeckten 2019, dass die Fä-          chronischem Stress, aber auch Umwelteinflüsse, bestimm-
  higkeit von T-Zellen, sich an infizierte Zellen zu heften, unter    te Medikamente sowie Substanzmissbrauch, beispielsweise
  Einfluss von Hormonveränderungen in der Nacht trainiert             in Form von Alkohol oder Psychostimulanzien (2, 3, 7). Auch eine
  wird und entsprechend bei Schlafmangel abnimmt (28). Auch           genetische Disposition wird vermutet, muss aber noch weiter
  ist bekannt, dass sich bei akuten Ein- und Durchschlafstö-          erforscht werden (32). Persönlichkeitscharakteristika wie über-
  rungen vorübergehend metabolische und immunologische                mäßiger Perfektionismus können ebenfalls prädisponierend
  Parameter verschlechtern (3).                                       wirken (7). Zusätzlich zum eigenständigen Krankheitsbild der
                                                                      Insomnie können sich Ein- und Durchschlafstörungen auch als
                                                                      Folge von Komorbiditäten wie beispielsweise Asthma, Hyper-
Differenzialdiagnose Insomnie                                         thyreose oder Herzinsuffizienz, aber auch zahlreichen psychia-
                                                                      trischen und psychischen Erkrankungen entwickeln (30). Von der
Ein- und Durchschlafstörungen, die mit Tagesmüdigkeit und
                                                                      primären Insomnie abzugrenzen sind Störungen der zirkadia-
eingeschränkter Leistungsfähigkeit einhergehen, können
                                                                      nen Schlaf-Wach-Regulation, bei denen die Schlafzeiten nicht
viele Ursachen haben. Neben Störungen der zirkadianen
                                                                      mit dem Tag-Nacht-Rhythmus koordiniert sind. Der Schlaf ist
Schlaf-Wach-Rhythmik gehört chronischer Stress, der den Or-
                                                                      meist fragmentiert, im Gegensatz zur Insomnie wird aber in
ganismus über das Nerven- und Hormonsystem in einen per-
                                                                      der Regel insgesamt nicht weniger geschlafen.
manenten Alarmzustand versetzt, zu den wichtigen auslösen-
den und unterhaltenden Faktoren.

Tabelle 2:

Einteilung von Schlafstörungen

ICSD-3-Hauptgruppe                            Diagnose-Beispiel             Typische Symptome

Insomnien                                     Chronische Insomnie           Ein- und Durchschlafstörung

Zirkadiane Schlaf-Wach-                       Schichtarbeit, Jetlag         Ein- und Durchschlafstörung, Früherwachen, erhöhte
Rhythmus-Störungen                                                          Tagesschläfrigkeit, Verdauungsstörungen
Hypersomnien                                  Narkolepsie                   Tagesschläfrigkeit, Sekundenschlaf/plötzliche Schlaf-
                                                                            attacken, kataplektische Anfälle (bei Narkolepsie)
Parasomnien                                   Somnambulismus                Nächtliche Bewegungen, Aufstehen
                                              (Schlafwandeln)
Schlafbezogene Atmungsstörungen               Obstruktive Schlafapnoe       Erhöhte Tagesschläfrigkeit, oft Übergewicht und
                                                                            Schnarchen

Schlafbezogene Bewegungsstörungen             Restless-Legs-Syndrom         Bewegungsdrang der Beine, Einschlafstörung

Quellen: Adaptiert nach (34, 35)
SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
9

Algorithmus Insomnie                                                          nische Fragebögen wie die „Regensburger Insomnie Skala“ die
                                                                              Diagnosefindung. Um zusätzlich den Grad der Tagesmüdigkeit
Die S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“
                                                                              und Erschöpfung auf einem Score von 1–7 abzuschätzen, ist
enthält einen „Algorithmus Insomnie“ (7), mit dessen Hilfe
                                                                              der aus neun kurzen Fragen bestehende „Fatigue Severity Sca-
Therapeuten gezielt Fragen nach der Ursache der Beschwer-
                                                                              le“ ein gut validiertes und frei verfügbares Instrument (35). Bei
den stellen und Symptome differenzieren können. Abbildung
                                                                              Insomnien kann den meisten Patienten laut Deutscher Gesell-
5 bildet diesen „Entscheidungsbaum“ ab – ergänzt um die
                                                                              schaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) ohne
aktuellen Therapieansätze bei zirkadianen Schlafstörungen
                                                                              apparativen Aufwand geholfen werden (15). Bei schlafbezoge-
und einen Hinweis auf stressbedingte primäre Insomnien, die
                                                                              nen Atmungsstörungen sollte jedoch eine Untersuchung im
Schwerpunktthemen dieser Bibliotheca Hevertica (7). Neben
                                                                              Schlaflabor erfolgen.
Schlaftagebüchern der Patienten unterstützen schlafmedizi-

Abb. 5:

Algorithmus Insomnie

    Erwachsene mit Ein- und/oder Durchschlaf­
    störungen/ frühmorgendlichem Erwachen
      und assoziierter Tagesbeeinträchtigung

                                 ja                                      ja                                   ja
    Erhebliche Beein­                       Schlaf angepasst                         Einnahme von                      Umstellung, Absti-
    trächtigung durch                      an den zirkadianen                      Substanzen, die den                 nenz, Entwöhnung
      Symptomatik?                             Rhythmus?                             Schlaf stören?

                  nein                                  nein                                   nein

                                                                                                              ja
        Information,                        Chronotherapie,                        Komorbide Insomnie                 Parallele Behandlung
         Prävention                          Lichttherapie,                       durch organ. oder psy-              der Grunderkrankung
                                               Melatonin                           chische Erkrankung?                  und der Insomnie

                                                                                               nein

                                                                                                              ja
                                                                                   Primäre Insomnie?                   Spezifische Behand-
                                                                                                                        lung der Insomnie
Der „Algorithmus Insomnie“ der S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/                                                  und ihrer Ursachen
Schlafstörungen“ zeigt einen Weg auf, um Ein- und Durchschlafstörun-
gen mit Tagesmüdigkeit und eingeschränkter Leistungsfähigkeit gezielt                          nein
differenzialdiagnostisch abzuklären. Der originäre „Entscheidungsbaum“
wurde in dieser Grafik ergänzt um die aktuellen Therapieempfehlungen
bei gestörter Schlaf-Wach-Rhythmik sowie um Stress als eine wichtige              Weitere schlafmedizi-                 Unter anderem
Ursache der Insomnie – die beiden zentralen Themen dieser „Bibliotheca             nische Diagnostik                     stressbedingte
Hevertica“.                                                                                                             Schlafstörungen

Quellen: Adaptiert nach (7, 8)
SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
10

Verhaltenstherapie und                                                        Liegt die Ursache für die Schlafstörung in einer Dysbalance
                                                                              der zirkadianen Rhythmik, muss diese ausgeglichen werden.
medikamentöse Therapie                                                        Auch ein eventueller Konsum schlafstörender Substanzen
                                                                              sollte im Diagnosegespräch abgeklärt und entsprechend vom
Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gilt laut S3-Leitlinie
                                                                              Patienten vermieden werden (Abb. 5 im Kapitel „Differenzial-
„Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ bei Insomnien
                                                                              diagnose Insomnie“). In allen anderen Fällen gilt laut aktuel-
von Erwachsenen als erste Behandlungsoption. Eine medika-
                                                                              ler S3-Leitline „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ die
mentöse Therapie mit Hypnotika und im Ausnahmefall einigen
                                                                              Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit zum Beispiel Entspan-
Sedativa wird nur für die Dauer von wenigen Wochen empfoh-
                                                                              nungsverfahren, Psychoedukation und Stimulus-Kontrolle als
len. Dennoch nehmen Millionen Menschen in Deutschland
                                                                              erste Behandlungsoption (7) (Tabelle 3). Die Verhaltenstherapie
regelmäßig synthetisch-chemische Schlafmittel ein – neben
                                                                              wirkt eher längerfristig und kann bei chronischer Einnahme
verschreibungspflichtigen Arzneimitteln vielfach auch in Form
                                                                              von Hypnotika auch ein Ansatz sein, um diese Arzneimittel
rezeptfreier Präparate.
                                                                              auszuschleichen (36). Eine verhaltenstherapeutische Behand-
                                                                              lung von Millionen Patienten gestaltet sich allerdings in der
                                                                              Praxis oft als schwierig. Es stehen nicht genug Therapieplätze
                                                                              zur Verfügung, auch ist die KVT den Patienten manchmal zu
                                                                              zeitaufwändig. Sie bevorzugen stattdessen vielfach eine me-
                                                                              dikamentöse Behandlung, die eine kurzfristige Linderung ihrer
                                                                              Beschwerden verspricht.

                                                                              Die wichtigsten chemischen Substanzgruppen, die bei Insom-
                                                                              nien zum Einsatz kommen, finden Sie in Tabelle 4.

Tabelle 4:

Die wichtigsten chemischen Substanzgruppen, die bei Insomnien zum Einsatz kommen und ihre wesentlichen Merkmale

Substanzgruppe                                       Hauptwirkungen                                   Effekte auf die Schlafarchitektur
(Beispielsubstanzen)

Benzodiazepine (BZD)                                 • Verkürzung der Einschlafzeit                   • Abnahme des Tiefschlafs
(z. B. Diazepam)                                     • Verlängerung der Schlafdauer                   • Zunahme des Leichtschlafs (37,38,39)

Z-Substanzen                                         ähnlich wie BZD                                  ähnlich wie BZD,
(z. B. Zolpidem)                                                                                      v. a. bei älteren Menschen (43)

Sedierende Antidepressiva                            • sedierend, schlafanstoßend (7)            Unterdrückung des REM-Schlafs (45)
(z. B. Doxepin, Mirtazapin)                          • antidepressiv bei Komorbidität Depression

Sedierende Antipsychotika/Neuroleptika               vorwiegend sedierend                             Unklar (38)
(z. B. Levomepromazin)

H1-Antihistaminika                                   sedierend, schlafanstoßend                       Unterdrückung des REM-Schlafs;
(z. B. Diphenhydramin)                                                                                Schlafphasenverschiebung (49)

Quelle: Eigene Darstellung unter Hinzuziehung der in der Tabelle genannten Quellen 37 – 51
11

Tabelle 3:

Verhaltenstherapie bei primärer Insomnie

Module                          Wirkmechanismus                                          Ziele

Psychoedukation                 Basisinformationen zur Insomnie,                         • Abbau des Grübelzwangs und
                                schlafhygienische Regeln, Korrektur                         insomnie­typischer Ängste
                                dysfunktionaler Glaubenssätze und                        • Entwicklung von Selbstvertrauen und
                                kognitive Umstrukturierung                                  Selbststeuerung
                                                                                          • Auflösung der Fokussierung auf die
                                                                                            Schlafstörung
Entspannungsverfahren           Reduzierung der unbewussten zentral­                     • Verringerung von innerer Unruhe/
                                nervösen Aktivität durch angeleitete                       Anspannung
                                Entspannung, Atemtherapie, Achtsamkeits-                 • Entwicklung einer gelassenen Grund-
                                training etc.; beobachtende Wahrnehmung                    haltung
                                eigener körperlicher Prozesse                            • Einübung, wie eine Entspannungs-
                                                                                           reaktion selbst initiiert werden kann
Stimulus-Kontrolle              Befreiung der Schlafumgebung von                         • Reinstallation des Betts als Wohlfühl-Ort
                                schlafstörenden Stimuli und Gewohnheiten                 • Dekonditionierung
Bettzeiten-Restriktion          Aufbau eines effektiven Schlafdrucks                     • Verbesserung der Schlaf-Homöostase
                                durch kürzere fixe Bettzeiten; Beendigung                • Optimierung von Schlafqualität und
                                einer „Schonhaltung” (Rückzug ins Bett)                    -kontinuität

Quelle: Eigene Darstellung, 2021, unter Hinzuziehung der Quelle 7

Häufige unerwünschte Effekte                     Toleranzentwicklung/                   Besonderheiten der Zulassung
(Auswahl)                                        Abhängigkeitspotenzial

• Hangover-Effekt                                hohe Toleranzentwicklung und in        Zulassung für Kurzzeittherapie
• Zentralnervöse Störungen                       der Folge notwendige Dosissteigerung   (3 – 4 Wo) (7)
• Rebound-Effekt nach dem Absetzen               (Abhängigkeitspotenzial)
• Gefahr der Überdosierung bei
  älteren Menschen durch langsame
  Metabolisierung (37,40,41)
• geringere Hangover-Effekte                     gleiches Abhängigkeitspotenzial wie    Zulassung für Kurzzeittherapie wie BZD
  (im Vgl. zu BZD) (38)                          BZD (44)
• erhöhtes Sturzrisiko (42)
Unerwünschte Wirkungen der Anti-                 • geringe oder keine Toleranz-         lediglich Doxepin für Indikation Insomnie
depressiva (z. B. Gewichtszunahme,                 entwicklung                          zugelassen
Benommenheit, Kopfschmerzen,                     • kein Abhängigkeitspotenzial
Mundtrockenheit)
Störungen der Motorik/Dyskinesien,               • geringe oder keine Toleranz-         z. T. Zulassung für Insomnie in der
des Hormonhaushalts (46)                           entwicklung                          Geriatrie
                                                 • kein Abhängigkeitspotenzial
• Erhöhung des Sturzrisikos                      sehr rasche Toleranzentwicklung        oft rezeptfrei erhältlich (47,48)
• anticholinerge Wirkungen (50)                                                         (Verordnungspflicht für Menschen > 65 J.
                                                                                        wird diskutiert) (51)
12

Synthetische versus naturheil-                                    Als Alternativen ohne Abhängigkeitspotential bieten sich für
                                                                  bestimmte Indikationen natürlich wirksame Schlafmittel wie
kundliche Schlafmittel                                            Melatonin und pflanzliche Präparate an:

Die Nebenwirkungen und das Risiko einer Abhängigkeit bei
der Einnahme chemisch-synthetischer Schlafmittel sind den         Melatonin
Patienten oft nicht bekannt oder werden in Kauf genommen,
                                                                  Das in der Epiphyse aus Serotonin gebildete Hormon spielt
um den Schlaf schnell zu erzwingen. In vielen Fällen kann der
                                                                  eine zentrale Rolle bei der Regulation des Schlaf-Wach-Rhyth-
Organismus jedoch mit Hilfe des physiologischen Schlafhor-
                                                                  mus. Normalerweise erreicht der Melatonin-Spiegel unter
mons Melatonin oder pflanzlicher und homöopathischer Wirk-
                                                                  Einfluss von Dunkelheit gegen zwei bis drei Uhr nachts seinen
stoffe auf natürliche Weise wieder auf ein gesundes Schlafver-
                                                                  Höhepunkt. Seit 2011 ist für die abendliche Einnahme von 1
halten eingestimmt werden.
                                                                  Milligramm der Schlafsubstanz der Health-Claim der EFSA (Eu-
In außergewöhnlichen Belastungssituationen oder Phasen            ropean Food Safety Authority) zugelassen: „Melatonin trägt
schwerer chronischer Insomnie können die beschriebenen            dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen“ (53). Da die endogene
chemisch-synthetischen Substanzen für begrenzte Zeit an-          Melatonin-Produktion mit zunehmendem Alter abnimmt,
gebracht sein, eine Dauerlösung sind sie wegen des Abhän-         kann besonders bei älteren Menschen ein Melatonin-Mangel
gigkeitsrisikos, der Rebound-Phänomene und ihrer zum Teil         an der Entstehung von Schlafstörungen beteiligt sein (54). Me-
gravierenden Eingriffe in die physiologische Schlafarchitektur    latonin wird im mittleren Lebensalter vollständig, von Älteren
nicht. Von den insgesamt bis zu 2,6 Millionen medikamenten-       dagegen deutlich weniger gut resorbiert, unterliegt aber einem
abhängigen Menschen in Deutschland (52) sollen allein mehr als    signifikanten First-Pass-Metabolismus von ca. 85 Prozent. In
70 Prozent von Benzodiazepinen und Z-Substanzen abhängig          Deutschland ist es als Tablette, Kapsel oder in Pulverform und
sein, wie Grafik 5 zeigt. Frauen über 65 Jahre sind am stärks-    neuerdings auch als Oromukosal-Spray erhältlich. Letzteres hat
ten betroffen (41). Entgegen der Leitlinien-Empfehlung werden     den Vorteil, dass es schneller anflutet und nicht dem First-Pass-
Hypnotika auch zur Dauertherapie verordnet (52). Insomnie-        Effekt unterliegt. Melatonin ist sehr gut verträglich und greift
Patienten sind häufig in einem Teufelskreis aus langjährigen      nicht in die Schlafarchitektur ein. Die Einnahme sollte immer
Beschwerden, Angst vor beeinträchtigter Leistungsfähigkeit        zum gleichen Zeitpunkt kurz vor dem Schlafengehen erfolgen.
am nächsten Tag und Sorge vor noch gravierenderen Schlaf-         Bis zur vollen Wirkung kann es bis zu drei Wochen dauern (37).
problemen nach Absetzen ihrer Präparate gefangen. Deshalb         Zum therapeutischen Einsatz von Melatonin siehe „Schlafstö-
drängen sie – je nach Leidensdruck – oft selbst auf eine Ver-     rungen durch Schichtarbeit und Jetlag“ sowie „Schlafstörun-
schreibung. Viele möchten aber auch von den Medikamenten          gen im Alter“.
wegkommen bzw. diese gar nicht erst einnehmen.

                                                                  Pflanzliche und homöopathische Schlafmittel
Grafik 5:
                                                                  Sie enthalten Inhaltstoffe aus schlaffördernden Pflanzen wie
Süchtige Menschen in Deutschland
                                                                  Echter Baldrian, Passionsblume oder Frauenschuh, aber auch
                                                                  aus ausgleichend wirkenden Pflanzen wie beispielsweise Kum-
                                                                  merbohne (Ignatia amara) oder Kockelskörner (Cocculus). Be-
                             Nikotin 1                            sonders in Kombination entfalten sie ihre synergistischen Wir-
                                                                  kungen. Der Behandler sollte darüber aufklären, dass sich die
                                                                  volle Wirkung von Phytotherapeutika und homöopathischen
                                                    Alkohol 1
 4,4 Mio.                                                         Schlafmitteln oft erst nach längerer regelmäßiger Einnahme
                                                                  einstellt. Dafür beeinträchtigen sie nicht die für die Erholung
                                                                  so wichtigen Tiefschlaf- und REM-Phasen, im Gegenteil, sie

                                            1,6 Mio.              können eine unphysiologische Schlafarchitektur wieder nor-
                                                                  malisieren (55, 41). Phyto-Sedativa haben sich insbesondere bei
                                                                  nervös bedingten Einschlafstörungen und unruhigem Schlaf
                                                                  bewährt. Sie sind besonders gut geeignet für Menschen mit
                                                                  chronischem Stress, aber zum Beispiel auch bei Schlafstörun-
                                                                  gen von Frauen in den Wechseljahren. Zum therapeutischen
     1,4 – 2,6 Mio.                                               Einsatz von pflanzlichen und homöopathischen Schlafmitteln
                                                                  siehe „Stressbedingte Schlafstörungen“ sowie „Schlafstörun-
                                   Medikamente                    gen in den Wechseljahren“.

                                   ... davon Benzodiazepine und
                                   „Z-Drugs“ 1,5 – 1,9 Mio.

1) der 18- bis 64-Jährigen, Quellen: (52, 56, 57)
13

Wenn Schlafen und Wachen aus                                         Abb. 6:

dem Takt geraten: Störungen                                          Externe Zeitgeber und innere Uhren

der zirkadianen Schlaf-Wach-
Regulation
                                                                                         Licht
Die Chronobiologie hat in den letzten zwei Jahrzehnten das
Verständnis der komplexen Schlafregulation mit wegweisen-
den neuen Erkenntnissen bereichert. Wir wissen heute, dass                                                                     SCN
innere Uhren beim Menschen das Schlaf-Wach-Verhalten                                                                       (Master
                                                                     Photischer Zeitgeber          „Entrainment“
                                                                                                                             clock)
steuern, dieser autonome Rhythmus aber gleichzeitig durch
externe Faktoren – vor allem Licht – beeinflusst wird. Schlaf-
störungen und insbesondere Störungen des zirkadianen
Schlaf-Wach-Rhythmus können mit Hilfe von Chrono- und                                                       Synchronisation
Lichttherapie sowie Melatonin inzwischen gezielter therapiert
werden.

Die meisten Prozesse im menschlichen Körper folgen einem
zirkadianen Rhythmus, das heißt, sie zeigen tageszeitabhän-                                                 Periphere
gige Veränderungen, die von einer inneren Uhr gesteuert wer-                                                Oszillatoren
den. Diese zentrale Uhr dirigiert auch den Schlaf-Wach-Rhyth-
                                                                      Nichtphotischer
mus. Sie liegt im Gehirn, genauer im suprachiasmatischen Kern         Zeitgeber
(SCN) im vorderen Hypothalamus (Abb. 6). Als Haupttaktgeber           • Schlaf-Wach-Zyklus
steuert sie weitere Uhren in der Körperperipherie (58). Dadurch       • Physische Aktivität
ist gewährleistet, dass sich die unzähligen Akteure in unserem        • Soziale Zeitmuster
                                                                      • Mahlzeiten
Organismus synchron auf Ruhe oder Aktivität einstellen kön-
nen (59).                                                                                                   Zelluläre
                                                                                                            Oszillatoren

Licht als Zeitsignal
Der zirkadiane Rhythmus beim Menschen beträgt in der Regel
                                                                     Licht ist der wichtigste äußere Faktor, um die inneren Uhren des Men-
24,5 bis 25,5 Stunden (60). Der Begriff zirkadian stammt vom         schen exakt auf einen 24-Stunden-Rhythmus zu synchronisieren. Darüber
lateinischen circa diem (ungefähr ein Tag). Äußere Taktgeber,        hinaus wirken auch körperliche Aktivität, soziale Zeitmuster, die Mahlzei-
allen voran Licht beziehungsweise der Hell-Dunkel-Wechsel            tenrhythmik sowie das – zum Beispiel durch Arbeitszeiten vorgegebene
                                                                     – individuelle Schlaf-Wach-Verhalten an der Feinjustierung der körperen-
infolge der Erdrotation, sorgen permanent dafür, dass unse-          dogenen Uhren mit.
re innere Uhr exakt mit dem 24-Stunden-Tag synchronisiert
wird (61). Die Schlafmedizin spricht vom Entrainment (Abb. 6). Je    Quelle: Adaptiert nach (58)
reibungsloser es funktioniert, umso besser sind Schlafqualität,
Erholung, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden (59). Beispiels-
                                                                     Das zirkadiane Kommando
weise auch der Mahlzeiten-Rhythmus, körperliche Bewegung
oder die Temperatur können als externe Taktgeber auf das zir-        Die zentrale Uhr im Hypothalamus interagiert mit einer Drüse
kadiane System einwirken (62). Licht, vor allem kurzwelliges Licht   im Gehirn, in der tageszeit- und lichtabhängig die Freisetzung
im blauen Bereich des Lichtspektrums, ist aber mit Abstand der       von Melatonin stattfindet: der Epiphyse beziehungsweise Zir-
wichtigste Einflussfaktor. Ganglienzellen in der Netzhaut des        beldrüse. Das Nachthormon Melatonin steht unter zirkadian-
Auges leiten die in elektrische Lichtsignale umgewandelten           em Kommando – wie zum Beispiel auch das Stresshormon Cor-
Lichtreize an den Hypothalamus weiter (58).                          tisol und zum Teil das die Schilddrüse stimulierende Hormon
                                                                     TSH. Durch Lichteinflüsse kann es zu einer Phasenverschiebung
                                                                     in der Melatonin-Ausschüttung kommen (58). Melatonin gilt
                                                                     in der Schlafmedizin als wichtigster Marker für die Phase der
                                                                     zirkadianen Uhr (59). Es ist über Rückkoppelungsmeldungen an
                                                                     Melatonin-Rezeptoren (MT) im SCN (MT1 und MT2) in der Lage,
                                                                     die zirkadiane Uhr zurückzusetzen, am stärksten während der
                                                                     Dämmerung abends und frühmorgens (62, 63, 64). Neben dem zir-
                                                                     kadianen System bestimmt außerdem der sich während der
                                                                     Wachzeit kontinuierlich aufbauende Schlafdruck (die über den
                                                                     Neuromodulator Adenosin gesteuerte Schlafhomöostase) die
                                                                     Schlaf-Wach-Regulation.
14

Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus                                   Grundsätzlich können Menschen aber auch außerhalb des
                                                                     zirkadianen Schlaffensters und abweichend vom äußeren
Kleine Abweichungen im Zusammenspiel dieser beiden Pro-
                                                                     Hell-Dunkel-Rhythmus schlafen (67). Viele Beschäftigte mit
zesse (zirkadiane hormonelle Steuerung und Botenstoff-ge-
                                                                     Nacht- oder Wechselschichten sind darauf angewiesen, aber
steuerter Aufbau des Schlafdrucks) können ebenso wie eine
                                                                     50 Prozent schlafen nur maximal fünf Stunden (68). In Studien
nicht perfekt synchronisierte innere Uhr den Nachtschlaf er-
                                                                     wird unterschiedlich beantwortet, wie viele Tage ein Mensch
heblich aus dem Takt bringen (62). Dazu trägt bei, dass wir uns
                                                                     benötigt, um sich an das Arbeiten in der Nacht anzupassen –
heute tagsüber überwiegend in Gebäuden aufhalten und bis
                                                                     von einer ausbleibenden Adaption – also dem permanenten
spät in die Nacht digitale Medien nutzen: Vor dem Schlafen-
                                                                     Anarbeiten gegen die innere Uhr – über wenige Tage bis hin zu
gehen schnell noch die E-Mails checken bremst Melatonin aus,
                                                                     zwei Wochen (67). Chronotyp, Geschlecht und Alter spielen da-
treibt den Adrenalinspiegel in die Höhe, wir können nicht ein-
                                                                     bei eine Rolle: Nicht-Frühtypen, Jüngere und Männer verkraf-
schlafen (65, 8). Genetisch bedingte Störungen des zirkadianen
                                                                     ten nicht nur Nachtschichten, sondern auch die Schichtarbeit
Systems sind als Ursache für eine gestörte Schlaf-Wach-Regu-
                                                                     insgesamt besser (67).
lation dagegen eher selten (60). Bei blinden und sehbehinderten
Menschen kommt es auf Grund der fehlenden beziehungswei-             Abb. 7:
se beeinträchtigten Lichtwahrnehmung zur Dysfunktion der
                                                                     Anteil der erwerbstätigen Schichtarbeitnehmer (in Prozent)
„inneren Uhr“ – mit der Folge einer kontinuierlichen Verschie-
                                                                     zwischen 1992 und 2019
bung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Konflikte zwischen dem en-
dogenen Schlaf-Wach-Rhythmus und äußeren Zeitregulatoren             Anteil Erwerbstätige
treten typischerweise bei Schichtarbeit, Jetlag oder sehr unre-      18%
gelmäßigen Bettzeiten auf. Auch im Alter ist die Schlaf-Wach-
Rhythmik häufig gestört (62). Bei der Therapie ist der individuel-
                                                                     16%
le Chronotyp, der auch von Geschlecht und Alter abhängt, zu
berücksichtigen; das Spektrum reicht von extremen Morgen-
                                                                     14%
bis zu extremen Abendtypen. Mittels chronotherapeutischer
Maßnahmen, guter Schlafhygiene, Lichttherapie und Melato-
nin versucht die Schlafmedizin, der zunehmenden Entkoppe-            12%
lung von innerer Uhr und äußeren Zeitgebern in unserer dau-
eraktiven, digitalisierten Gesellschaft entgegenzuwirken. Die        10%
Therapie zielt darauf ab, die Schlafenszeit des Patienten, das
Profil seiner nächtlichen Melatonin-Ausschüttung und seine
                                                                           1992 –
                                                                                –
                                                                           1994 –
                                                                                –
                                                                           1996 –
                                                                                –
                                                                           2001 –
                                                                                –
                                                                           2003 –
                                                                                –
                                                                           2005 –
                                                                                –
                                                                           2007 –
                                                                                –
                                                                           2009 –
                                                                                –
                                                                           2011 –
                                                                                –
                                                                           2013 –
                                                                                –
                                                                           2015 –
                                                                                –
                                                                           2017 –
                                                                                –
                                                                           2019 –
Lebensumstände, insbesondere seine Arbeitszeiten, besser in
Einklang zu bringen.

                                                                     Steigender Trend: Schichtarbeit in Deutschland: Laut Eurostat waren 2019

Schlafstörungen durch                                                mehr als 15 Prozent der 15- bis 64-jährigen Arbeitnehmer in Schichtarbeit
                                                                     beschäftigt – vor 25 Jahren waren es erst gut 10 Prozent.

Schichtarbeit/Jetlag:
                                                                     Quelle: Adaptiert nach (66)
Lichttherapie und Melatonin
Technologische und wirtschaftliche Entwicklungen haben               Ganzheitliche Therapieoptionen bei
dazu geführt, dass wir in einer Nonstop-Gesellschaft leben           Schichtarbeit:
und arbeiten und uns ungehindert über Zeitzonen hinwegbe-
                                                                     • Verhaltenstherapie inklusive Schlafhygiene: Verhaltens-
wegen können. Wechselnde Arbeitsschichten, häufige Nacht-
                                                                       interventionen und Präventionsprogramme zeigen bei
arbeit und der Jetlag nach interkontinentalen Flügen bringen
                                                                       Schichtarbeitern mit Tagesschläfrigkeit, Schlafmangel und
die Chronobiologie des modernen Menschen gewaltig aus
                                                                       Schlafstörungen überwiegend positive Effekte auf Schlaf,
dem Takt. Melatonin kann das Einschlafen und die Schlafqua-
                                                                       Wachheit und Schichtakzeptanz, bei einem Teil sind die Er-
lität verbessern.
                                                                       gebnisse aber nur moderat oder bleiben ganz aus (68, 69, 70).

                                                                     • Licht: Die amerikanische Leitlinie empfiehlt die Gabe von hel-
Schichtarbeit
                                                                       lem Licht bei durch Schicht- und Nachtarbeit verursachten
In Deutschland leisteten 2019 gut 15 Prozent aller Erwerbstä-          Schlafstörungen (71). Aktuelle Studien unterstreichen den po-
tigen regelmäßig Schichtarbeit (Abb. 7). Bei diesen Arbeitsbe-         sitiven Einfluss einer Lichttherapie (72): So zeigen humanbio-
dingungen entspricht der Zeitpunkt des Schlafens nicht oder            logisch optimierte Lichtbedingungen für Schichtarbeitende
nur teilweise dem optimalen Zeitfenster, das die über Licht            vielversprechende erste Ergebnisse, allerdings steht die For-
und Dunkelheit feinjustierte innere Uhr vorgibt. Kurz vor der          schung in diesem Bereich noch am Anfang.
Öffnung dieses optimalen Fensters ist es fast unmöglich ein-
zuschlafen, selbst wenn man sehr erschöpft ist.
15

• Melatonin: Nachtarbeiter weisen nachts niedrigere Melato-          Jetlag
  nin-Spiegel auf und je nach Chronotyp ein mehr oder weni-
                                                                     Weil sich die zentrale innere Uhr in unserem Körper nur lang-
  ger gestörtes Melatonin-Profil im Vergleich zu Kollegen in der
                                                                     sam und die peripheren Uhren in unterschiedlicher Geschwin-
  Tagesschicht, so das Ergebnis einer gemeinsamen Studie von
                                                                     digkeit an neue geographische Zeitzonen adaptieren, klagen
  Schlaf- und Krebsforschern 2019 (73). Die Cochrane-Daten-
                                                                     die meisten Menschen über Schlafprobleme und Tagesmüdig-
  bank führt zur Melatonin-Wirkung bei Schlafstörungen von
                                                                     keit nach interkontinentalen Flügen (77).
  Schichtarbeitern neun Studien auf. Danach verlängern 1 bis
  10 Milligramm Melatonin den Tagschlaf nach Nachtschich-
  ten im Schnitt um 24 Minuten und den Nachtschlaf danach
  um 17 Minuten (74). Zum Teil wird jedoch die Einnahme von
  Melatonin vor dem Tagesschlaf nach einer Nachtschicht als
  kontraproduktiv angesehen, da sie konträr zur endogenen
  Ausschüttung sei (75). Dass sich Einschlafzeit und Schlafqua-
  lität bei Schichtarbeitern durch Melatonin verbessern, belegt
  eine randomisierte, Placebo-kontrollierte Doppelblindstudie
  von 2016 überzeugend (76). Immer zur gleichen Uhrzeit am
  früheren oder späteren Abend eingenommen, kann Melato-
  nin zur Stabilisierung des zirkadianen Rhythmus und damit
  zur Schlafqualität und -dauer beitragen. Dies bedeutet, dass
  Melatonin bevorzugt zur Induktion des Nachtschlafes einge-
  setzt werden sollte, zur besseren Umgewöhnung nach einer
  Nachtschichtphase.

 Fallbeispiel 1 (Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus)
                                                                     Ganzheitliche Therapieoptionen bei Jetlag:
 Während jüngere Menschen Verschiebungen in ihrem
                                                                     • Licht: Zum Effekt der Lichttherapie bei Jetlag fehlen noch
 Schlaf-Wach-Rhythmus meist mühelos verkraften, werden
                                                                       überzeugende Studien, die eine praktikable Anwendung
 Schichtarbeit und auch sporadisch vorkommende nächtliche
                                                                       nahelegen. Jurvelin et al. zeigten 2015 eine signifikante Ver-
 Aktivitäten (z. B. im Freizeitbereich) mit zunehmendem Le-
                                                                       ringerung der Jetlag-Symptomatik, Schläfrigkeit und Müdig-
 bensalter vermehrt als Belastung empfunden.
                                                                       keit nach einem Westflug über sieben bis zehn Zeitzonen,
 So berichtet Herr B., ein 56 Jahre alter Patient, der 30 Jahre in     wenn weißes Licht mit einem Maximum im Blaubereich
 Wechselschicht mit Früh-, Spät- und Nachtschicht in einem             von 448 nm eine Woche lang regelmäßig alle zwei Stunden
 produzierenden Betrieb gearbeitet hat, dass ihn die Schicht-          transkraniell appliziert wurde (78).
 arbeit früher nie gestört habe. In den letzten Jahren könne
                                                                     • Melatonin: Mit der Zulassung des Health-Claims: „Melato-
 er jedoch oft nach der Nachtschicht sehr schlecht einschla-
                                                                       nin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung
 fen. Er liege dann stundenlang wach und habe Sorge, nicht
                                                                       bei“ empfiehlt die European Food Safety Authority (EFSA) seit
 genügend zu schlafen, um in der nächsten Nachtschicht
                                                                       2011 die Einnahme von mindestens 0,5 Milligramm Melato-
 ausgeruht und leistungsfähig zu sein. Die Zeitverschiebung
                                                                       nin am ersten Reisetag kurz vor dem Schlafengehen sowie an
 während eines Urlaubs in der Karibik im letzten Jahr und
                                                                       den ersten Tagen nach Ankunft am Ziel (53). Tatsächlich scheint
 besonders nach der Rückkehr nach Hause habe ihn derma-
                                                                       die Symptomminderung bei Jetlag durch die Einnahme von
 ßen aus seinem Schlaf-Wach-Rhythmus gebracht, dass er zu
                                                                       Melatonin durch Studien gesichert, Wirkeintritt und Abbau
 vollkommen unterschiedlichen Uhrzeiten müde werde, zu
                                                                       im Körper erfolgen schnell (79). Für die American Academy of
 denen er arbeitsbedingt nicht schlafen könne, und anderer-
                                                                       Sleep Medicine (AASM) ist Melatonin ebenfalls die Therapie
 seits hellwach sei, wenn er eigentlich schlafen müsse. Dar-
                                                                       der Wahl bei Jetlag: in Mengen von 0,5 bis 5 Milligramm und
 aus resultiert ein deutlicher Leidensdruck.
                                                                       in nicht-retardierter Form (71).
 Nach einer ausführlichen Beratung zu den Einflüssen von
 Schichtarbeit auf den Schlaf-Wach-Rhythmus erfolgt zu-
 nächst ein innerbetrieblicher Arbeitsplatzwechsel mit nur
 noch zwei Schichten am Tag. Nachtschichten absolviert Herr
 B. nicht mehr. Eine Lichttherapie morgens, ergänzt durch
 die Gabe von 1 mg Melatonin kurz vor dem Schlafengehen
 führt dazu, dass Herr B. abends schneller einschlafen kann
 und sich sein Organismus zunehmend an den neuen Schlaf-
 Wach-Rhythmus anpasst.
16

Schlafstörungen im Alter:                                           Abb. 8:

Verhaltens- und Chronotherapie,                                     Melatonin-Spiegel in Abhängigkeit vom Alter

Melatonin                                                           Melatonin (pg/ml)
                                                                     3000
Sowohl Störungen des zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus als                                                         –       20 – 35 Jahre
auch Insomnien sind bei Älteren sehr häufig. Die Behandlung
                                                                     2500
                                                                                                                  –       36 – 50 Jahre
unterscheidet sich prinzipiell nicht von der jüngerer Erwach-                                                     –       51 – 65 Jahre
sener. Die oft noch nachteiligeren gesundheitlichen Effekte                                                       –       ab 65 Jahre
                                                                     2000
chemischer Schlafmittel im Alter unterstreichen jedoch die
Bedeutung einer ganzheitlichen Therapie. Diagnostisch gilt
es, Komorbiditäten auszuschließen, eine eventuelle Multi-            1500
Medikation aufzudecken und zwischen physiologischen und
behandlungsbedürftigen Abweichungen des Schlaf-Wach-                 1000
Rhythmus zu differenzieren.

Dass man im Alter generell sehr viel weniger Schlaf benötigt,          500
ist ein Irrglaube. Die Gesamtschlafdauer verringert sich zwi-
schen dem 40. und 70. Lebensjahr nur um etwa zehn Minuten

                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                              –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                              –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                              –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                              –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
                                                                               –
pro Dekade (80). Liegt sie deutlich unter sieben Stunden, ist sie
                                                                               8– 23        23– 7        7– 11       11– 18     18– 23 Uhr
auch bei älteren Menschen ein pathologischer Hinweis und gilt
wie bei Jüngeren als Risikofaktor für Folgeerkrankungen und
                                                                    Die körpereigenen Melatonin-Spiegel und vor allem deren schlaffördern-
eine erhöhte Mortalität (81). Bis zu neun Stunden Schlaf im Alter   der Anstieg in der Nacht nehmen mit zunehmendem Alter immer mehr
sind normal (81, 82).                                               ab. Deshalb wird Melatonin bei Schlafstörungen von Senioren zuneh-
                                                                    mend als wirksame und nebenwirkungsarme Therapieoption eingesetzt.
Davon abgesehen kommt es natürlich im Alter zu physiologi-
schen Schlafveränderungen. Diese sind verantwortlich für vie-       Quelle: (85)
le Ein- und Durchschlafbeschwerden bei ansonsten gesunden
Senioren und die von ihnen vielfach als schlecht empfundene
                                                                    • Die Schlafarchitektur: Im Schlaf-EEG tendieren auch gesunde
Schlafqualität. Zwei Aspekte sind bedeutsam:
                                                                      Menschen im Alter zu einer signifikanten Abnahme der tief-
• Die innere Uhr: Die zirkadiane Rhythmik ist bei älteren Men-        schlaftypischen, als besonders erholsam geltenden Delta-
  schen deutlich schwächer und instabiler als im jüngeren             Power, die Einschlafphase N1 und die Leichtschlafphase N2
  oder mittleren Alter, ihr Schlaf-Wach-System damit anfälli-         nehmen viel mehr Raum ein. Der REM-Schlaf ist vorverlagert,
  ger für Störungen (82). Zirkadian wirksame Hormone wie Me-          der Schlaf insgesamt zunehmend fragmentiert (83). Nicht-res-
  latonin werden in geringerem Umfang produziert und aus-             piratorische Arousals (Aufwachereignisse) und auch die Zeit
  geschüttet (Abb. 8). Zusätzlich spricht der Körper linear zum       bis zum Einschlafen nehmen zu (81).
  Älterwerden auch immer weniger auf Melatonin an – wie
  auch auf äußere Taktsignale in Form von Licht oder Dunkel-
                                                                    Anamnese und Diagnostik
  heit (81). Bei der Verordnung speziell von Melatonin-Tabletten
  oder -kapseln ist eine eventuell geringere Resorption bei älte-   Von diesen altersnormalen Abweichungen unterscheiden
  ren Patienten zu berücksichtigen und gegebenenfalls auf ein       sich Schlafbeschwerden mit Tagesmüdigkeit, die ebenso wie
  Spray auszuweichen.                                               in jungen Jahren auch im Alter behandlungsbedürftig sind.
                                                                    Eine gestörte Tagesbefindlichkeit gilt als wichtigster Indikator,
                                                                    nicht aber die subjektive Unzufriedenheit mit der Nacht, über
                                                                    die etwa die Hälfte der älteren Menschen klagt (83). Der renom-
                                                                    mierte Altersschlafmediziner Professor Helmut Frohnhofen
                                                                    empfiehlt denn auch seinen Kollegen, bei diesem Leitsymptom
                                                                    aufzuhorchen und ältere Patienten erst gar nicht danach zu
                                                                    fragen, wie gut sie geschlafen haben, sondern wie sie sich tags-
                                                                    über fühlen. Die Tagesschläfrigkeit, die Ältere oft von selbst
                                                                    nicht thematisieren, weil sie daran gewohnt sind, kann ihm zu
                                                                    Folge ein Hinweis auf weitere Erkrankungen über Insomnien
                                                                    hinaus sein (80). Es gibt spezielle, geriatrisch validierte Fragebö-
                                                                    gen, die die Anamnese unterstützen können (83).
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