SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN - Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft
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Bibliotheca Hevertica 16 Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft SCHLAFSTÖRUNGEN GANZHEITLICH BEHANDELN Dr. med. Martin Oechler
Dr. med. Martin Oechler, MaHM* (Herausgeber) Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Allergologie * Master of Health Management Wenn Schäfchen zählen nicht mehr hilft Schlafstörungen ganzheitlich behandeln Autoren- und Redaktionsteam: Sabine Schuchart (www.schuchart-medien.de), Dr. med. Martin Oechler, Dr. med. vet. Kristin Belinga, Dr. rer. nat. Ute Heinze, Dr. med. Martina Weber, Dr. rer. nat. Rainer Mersinger, Dr. med. Martin Oechler Andrea Materna Januar 2021 Bibliotheca Hevertica 16, 2021 Hevert-Arzneimittel GmbH & Co. KG In der Weiherwiese 1 D-55569 Nussbaum info@hevert.de Für die Richtigkeit der Ausführungen übernehmen wir keine Haf- tung, da der Autor grundsätzlich seine unabhängige Meinung und Erfahrung darstellt. Es gelten die Informationen der medizi- nischen Fach- bzw. Gebrauchsinformationen. Diese finden Sie im Fachkreisportal auf www.hevert.de (Benutzername und Passwort: vademecum)
3 Key Facts Prävalenz Insomnien Therapie der primären Insomnie • Fast 70 Prozent der Menschen in Deutschland klagen • Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gilt laut S3-Leit- über Schlafstörungen, nahezu jeder Zehnte ist behand- linie „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ bei lungsbedürftig. Insomnien von Erwachsenen als erste Behandlungs- option. Sie wirkt allerdings eher längerfristig, zudem • Insomnien sind ein Risikofaktor für das Auftreten von fehlen, gemessen an der Zahl der Betroffenen, Thera- Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Adipositas, Blut- pieplätze. hochdruck, Herz-, Kreislauf- und Tumorerkrankungen, chronischen Infektionskrankheiten sowie Depression. • Schnelle Linderung versprechen synthetische Schlaf- mittel wie zum Beispiel Benzodiazepine (BZD) und • Bei chronischer Insomnie besteht ein erhöhtes Morta- BZD-Analoga. Wegen der erheblichen Nebenwirkun- litätsrisiko. gen und des hohen Suchtpotenzials sind sie nur für die Kurzzeitbehandlung der Insomnie (maximal 4 Wochen) Schlaf-Physiologie und -Architektur zugelassen. In der Praxis wird diese Grenze jedoch oft überschritten. • Der Schlaf ist ein aktiver Prozess des Gehirns. Er verläuft in vier bis fünf Zyklen mit jeweils zwei unterschiedli- • Die Zahl der Abhängigen von diesen beiden Substanz- chen Hauptstadien: Dem REM-Schlaf mit schnellen gruppen wird in Deutschland auf fast zwei Millionen Augenbewegungen und Atonie der Muskulatur sowie geschätzt. den drei Phasen des NREM-Schlafs (Einschlafen, Leicht- schlaf, Tiefschlaf). Ganzheitliche Therapieoptionen • Bis vor einiger Zeit galt Schlafen als Strategie des Orga- • Die meisten Prozesse im menschlichen Körper folgen nismus zur Energieeinsparung. Inzwischen ist jedoch einem zirkadianen Rhythmus, das heißt, sie zeigen erwiesen, dass viele Prozesse und Funktionen im Schlaf tageszeitabhängige Veränderungen, die von einer in- hochreguliert werden und weitreichende Regenera- neren Uhr gesteuert werden. Störungen des Schlaf- tions- und Reparaturvorgänge erfolgen. Auch konsoli- Wach-Rhythmus können mit Hilfe von Chrono- und dieren sich im Schlaf Lernprozesse und Gedächtnis. Lichttherapie sowie Melatonin gezielt therapiert wer- den. Ursachen von Insomnien • Mit zunehmendem Alter nimmt die körpereigene Syn- • Primäre Insomnien können viele Ursachen haben. these des „Schlafhormons“ Melatonin ab, auch deshalb Schlafkiller Nummer eins ist chronischer Stress. leiden viele ältere Menschen unter Schlafstörungen. • Auch Störungen der zirkadianen Schlaf-Wach-Rhyth- • Von stressbedingten Schlafstörungen sind Frauen ab mik sind heute weit verbreitet, zum Beispiel auf Grund der Lebensmitte weit überdurchschnittlich betrof- von Schicht- und Nachtarbeit oder weil sich Menschen fen. Unbehandelt kann es leicht zur Chronifizierung zur falschen Zeit Lichtquellen aussetzen wie etwa kommen. Schlafhygiene, Stressabbau, Entspannungs- Handy- oder Computerbildschirmen in der Nacht. techniken sowie eine gute Versorgung mit Mikronähr- stoffen sind wichtig. Naturheilkundliche Schlafmittel • Die differenzialdiagnostische Abklärung von Schlaf- stellen eine sinnvolle Alternative zu synthetischen störungen ist wichtig und zugleich anspruchsvoll, da Schlafmedikamenten dar, da sie kaum Nebenwirkun- anhaltende Schlafbeschwerden oft multifaktoriell be- gen aufweisen, nicht in die Abhängigkeit führen und dingt sind. keine narkotischen Effekte haben.
4 DIE SCHLAFLOSE GESELLSCHAFT Guter Schlaf scheint in unserer schnelllebigen Zeit zum Luxus- Insomnie – Krankheit und Risikofaktor gut zu avancieren: Schlafstörungen gehören zu den häufigsten Probleme der Initiierung und Aufrechterhaltung des Schlafs, gesundheitlichen Beschwerden der Deutschen. Chronische In- die unter dem Begriff Insomnie zusammengefasst werden, gel- somnien und anhaltender Schlafmangel gehen nicht nur mit ten in der Schlafmedizin zum einen als Leitsymptom. In chro- einer beeinträchtigten Lebensqualität einher, sondern können nischer Form (mindestens dreimal pro Woche einen Monat auch gravierende Folgen für die psychische und körperliche lang) und bei gleichzeitig beeinträchtigter Leistungsfähigkeit Gesundheit haben. und Tagesmüdigkeit sowie Fokussierung der Betroffenen auf Laut epidemiologischen Studien klagt weltweit im Schnitt die Schlafstörung stellen sie zum anderen ein eigenständiges knapp ein Drittel der Bevölkerung über Schlafbeschwerden (1, 2). Krankheitsbild dar (7). Sie sind ein Risikofaktor für die Entste- Auch in Deutschland haben diese eine hohe Prävalenz, Ex- hung psychischer und körperlicher Folgekrankheiten und kön- perten sprechen inzwischen von einer Volkskrankheit (3). Laut nen Krankheitsverläufe sowie Regenerationsphasen negativ Barmer-Gesundheitsreport 2019 ist fast die Hälfte der Be- beeinflussen (8). Insomnien führen nicht nur zu verminderter schäftigten bei der Arbeit müde, fast ein Drittel regelmäßig Leistungsfähigkeit der Betroffenen, sondern verursachen auch erschöpft (4). Auch der Gesundheitsreport 2017 der Kranken- hohe Kosten im Gesundheitssystem durch Fehltage am Ar- kasse DAK (5) zeigt einen gravierenden Anstieg von Ein- und beitsplatz oder Frühberentung. Dem renommierten Schlafme- Durchschlafstörungen im Vergleich zu 2009 und damit ver- diziner Maurice M. Ohayon vom Stanford Sleep Epidemiology bunden einen zunehmenden Schlafmittel-Konsum (Abb. 1). Research Center zufolge passieren 62 Prozent aller Verkehrsun- Ähnlich alarmierende Ergebnisse zeigte eine repräsentative fälle in den USA auf Grund von Schläfrigkeit. Er hält Schlafstö- Bevölkerungsumfrage des Robert-Koch-Instituts (RKI) bei mehr rungen in ihrer Bedeutung für völlig unterschätzt (1, 3). als 8.150 Erwachsenen: Über Insomnie-Symptome generell berichteten fast 70 Prozent der befragten 18- bis 79-Jährigen mindestens einmal im Jahr, bei jedem Dritten traten diese sogar mindestens dreimal pro Woche auf (6). Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer, Ältere stärker als Jün- gere. Wurden zusätzlich noch reduzierte Schlafqualität und kli- nisch relevante Tagesmüdigkeit als Kriterien abgefragt, erfüll- ten immerhin noch zirka sechs Prozent die Screening-Diagnose einer chronischen Insomnie (7). Laut Deutscher Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) leidet inzwischen fast jeder zehnte Deutsche an einer behandlungsbedürftigen Schlafstörung – mithin Millionen Menschen (3). Abb. 1: Häufigkeit von Schlafproblemen in den letzten 4 Wochen in Prozent 60 In Beschäftigtenbefragungen im Auftrag der 52,5 Krankenkasse DAK gaben 2016 etwa 31 50 Prozent der befragten 35- bis 65-Jährigen an, mindestens dreimal pro Woche an Ein- und/ oder Durchschlafstörungen zu leiden, 2009 40 waren es ca. 19 Prozent. Nur jeder fünfte 30,9 Arbeitnehmer hatte 2016 keine Schlafbe- 30 schwerden. Sieben Jahre zuvor schlief dagegen 23,5 24,4 noch gut die Hälfte störungsfrei. 21,1 19,3 19,4 20 Quelle: Adaptiert nach (5) 10 8,7 0 Gar nicht weniger als einmal ein- oder zweimal dreimal oder häufi- pro Woche pro Woche ger pro Woche 2009 2016
5 Gesundheitliche Auswirkungen Schlaf – eine hochdynamische In den letzten Jahren häufen sich Studienergebnisse, die In- Angelegenheit somnien als eigenständigen Risikofaktor für das Auftreten verschiedener Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Insulin- Neue Erkenntnisse und Messmethoden haben das Verständ- resistenz, Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf- und nis, wie und warum wir schlafen, revolutioniert. Die „Nacht- Tumorerkrankungen, chronische Infektionskrankheiten sowie ruhe“ ist in Wirklichkeit eine sehr dynamische Abfolge von Depression bewerten (2, 9, 10). Auch der Zusammenhang zwi- Ereignissen und physiologischen Zuständen, in deren Verlauf schen chronischer Insomnie und erhöhtem Mortalitätsrisi- das Gehirn durch verschiedene Schlafphasen oszilliert und der ko wurde nachgewiesen (11). Eine große Follow-up-Studie mit Körper wichtige Aufräum- und Reparaturarbeiten vornimmt. 6.236 norwegischen Teilnehmern zwischen 40 und 45 Jahren Der Philosoph Arthur Schopenhauer nannte ihn den „kleinen zeigte 2014, dass Insomnien insbesondere bei gleichzeitig ver- Bruder des Todes“ – bis weit in das 20. Jahrhundert hinein galt kürzter Schlafdauer (weniger als 6,5 Stunden) das Mortalitäts- Schlaf als passiver Zustand. Dieses Bild wurde mithilfe neuer risiko erheblich steigern (12). elektrophysiologischer Messmethoden korrigiert: das Elektro- enzephalogramm (EEG) für die Hirnaktivität, das Elektromyo- Behandlung aus ganzheitlicher Sicht gramm (EMG) für die Muskelspannung und das Elektrooku- logramm (EOG) für Augenbewegungen (14). Sie zeigten, dass Schlafstörungen weisen einen hohen Chronifizierungsgrad Schlafen ein ausgesprochen aktiver Prozess des Gehirns ist. auf (7). Viele Betroffene nehmen sie dann auch als gegeben hin Dieser läuft in zwei unterschiedlichen Hauptstadien zyklisch und greifen regelmäßig zu chemischen Schlafmitteln, die al- ab: Da ist zum einen der REM-Schlaf („Rapid Eye Movement“), lerdings leicht in die Abhängigkeit führen und bei längerem auch Traumschlaf genannt. Er ist durch schnelle Augenbewe- Gebrauch selbst zunehmende Schlaflosigkeit auslösen kön- gungen sowie Verlust der thermoregulatorischen Kontrolle nen (13). Zwar kann deren Einsatz bei akuter oder episodischer und Atonie der Muskulatur gekennzeichnet (14). Zum anderen Insomnie für kurze Zeit angebracht sein (7), aber wenn die Ursa- gibt es den Non-REM-Schlaf (NREM), in dem diese Phänomene chen abgeklärt und organische und psychische Erkrankungen nicht zu beobachten sind. Er vollzieht sich in drei Phasen, ab- ausgeschlossen sind, kann den meisten Patienten auch ohne hängig von Amplitude und Geschwindigkeit der Gehirnwellen schwere Medikamente effektiv geholfen werden: Je nach Art (Tabelle 1). der Störung zum Beispiel durch eine bessere Strukturierung ihres Schlaf-Wach-Rhythmus und Maßnahmen zur Schlafhy- giene und Stressbewältigung, aber auch durch naturheilkund- liche Arzneien und das Schlafhormon Melatonin. Ein solcher ganzheitlicher Therapieansatz unterstützt den Organismus durch Aktivierung der Selbstheilungskräfte dabei, zu seinem ursprünglichen physiologischen Zustand zurückzukehren – dem erholsamen Schlaf. Tabelle 1: Schlafphasen und Körperfunktionen Schlafstadien EEG Augenbewegung Weitere Körperfunktionen Einschlafphase N1 Übergang von Alpha- zu Langsam, rollend Muskulatur noch etwas angespannt Theta-Wellen 4 – 7 Hz Leichter Schlaf N2 Theta-Wellen zusammen mit Keine Weitere Entspannung der Muskulatur, Puls Spindeln (ca. 13 Hz) und und Atmung werden gleichmäßig, Körper- K-Komplexen (ca. 2 Hz) temperatur sinkt Tiefschlaf N3 Delta-Wellen 0,1 bis 4 Hz Keine Weitere Entspannung der Muskulatur, Herzschlag und Atmung verlangsamt, Blutdruck fällt REM-Schlaf niedrigfrequente Theta-Wellen, Schnell, hin und her Muskelatonie (bis auf die Augen), Puls, Alpha- und Beta-Wellen bewegend Blutdruck und Atemfrequenz erhöht; Verlust der thermoregulatorischen Kontrolle Quelle: Adaptiert nach (8)
6 Schlafstadien und Schlafarchitektur Weniger oder kaum Tiefschlaf im Alter Mit dem Schlafeintritt beginnt die erste Phase, in der die für Die Schlafarchitektur ändert sich signifikant mit dem Lebens- den Wachzustand im EEG charakteristischen Alpha-Wellen von alter (Abb. 3). Neugeborene und Kinder verbringen viel mehr einem Theta-Muster abgelöst werden. Mit der Zunahme lang- Zeit sowohl im Tief- als auch im REM-Schlaf, beide Phasen samer Wellen mit höherer Amplitude in der zweiten Leicht- nehmen mit zunehmendem Alter immer mehr ab. Der richti- schlaf-Phase wird schließlich die dritte, die Tiefschlafphase, ge Tiefschlaf (Stadium 3) kommt bei Senioren häufig gar nicht mit ihren charakteristischen Slow-Wave-Wellen erreicht. Von mehr vor. Nur die Dauer der Leichtschlafphase bleibt in etwa diesen drei Phasen unterscheidet sich der REM-Schlaf. Die erhalten. Grundsätzlich wird im Alter jedoch nicht weniger ge- Schlafzustände wechseln sich in einem ungefähr 90-minüti- schlafen. Etwa mit dem 16. Lebensjahr erreichen die meisten gen Zyklus ab, so dass der gesunde Erwachsene während einer Menschen ihre optimale Schlafdauer, sie liegt überwiegend ungestörten Nacht in der Regel auf einen Rhythmus von etwa zwischen sieben und acht Stunden (15). vier bis fünf Schlafzyklen kommt (Abb. 2). Zu Beginn überwiegt der Tiefschlaf, gegen Morgen hin wird der Schlaf immer ober- Abb. 3: flächlicher, der REM-Schlaf dominiert. Die Entwicklung der Schlafstadien mit dem Alter Abb. 2: Stunden Schlafprofil eines gesunden Erwachsenen 18 wach 16 REM-Schlaf 14 Einschlafphase 12 Leichtschlaf REM-Schlaf stadium 10 mitteltiefes Schlafstadium 8 Tiefschlaf 6 Leichtschlaf | | | | | | | 4 1 2 3 4 5 6 7 Stunden 2 Tiefschlaf 0 | | | | | | | | | | Der gesunde Schlaf durchläuft verschiedene Stadien in zirka 90-minü- tigen Zyklen, die sich in einer Nacht vier- bis fünfmal wiederholen. Im 15 3 23 2 6 15 25 45 65 85 Verlauf werden die Tiefschlafphasen immer kürzer und die REM-Phasen Tage | Monate | Jahre (Phasen mit Rapid Eye Movement) immer länger. Quelle: Adaptiert nach (16) Von der Geburt eines Menschen an verändert sich seine Schlafarchitektur. Der REM-Schlaf nimmt anfangs die Hälfte der gesamten Schlafenszeit ein, fällt dann aber mit der geringer werdenden Schlafdauer bis etwa zum 10. Lebensjahr auf einen Anteil von 20 Prozent und geht auch danach tendenziell weiter zurück. Anteilmäßig dominiert schon ab dem Alter von wenigen Monaten der Leichtschlaf, während der Anteil des Tiefschlafs mit zunehmendem Alter gravierend abnimmt. Quelle: Adaptiert nach (17)
7 Reparatur-, Stoffwechsel- und • Regeneration neuronaler Netze: 2012 entdeckten US-For- scher das glymphatische System (zusammengesetzt aus den Immunprozesse im Schlaf Begriffen Glia und lymphatisches System), über welches das Gehirn Proteinreste und andere Abfallstoffe inklusive Beta- Während des Schlafs kommt es zu lebensnotwendigen Rege- Amyloid (Aβ) entsorgt. Beta-Amyloid und Tau-Protein spielen nerations- und Reparaturvorgängen und bedeutsamen hor- eine zentrale Rolle in der Pathogenese der Alzheimer-De- monellen, metabolischen und immunologischen Prozessen. menz. Im Schlaf, insbesondere den tiefen Schlafphasen, ist Weitere Forschungsarbeiten sind erforderlich, um die Zusam- das glymphatische System zehnmal so aktiv wie im Wach- menhänge noch besser zu verstehen. zustand (20). Neuromediziner sehen in seiner Reinigungs- Aus evolutionärer Sicht erscheint es auf den ersten Blick unver- wirkung eine wichtige Erklärung für die Notwendigkeit ständlich, dass der Mensch und alle bisher untersuchten Tier- des Schlafens (21). Tatsächlich weist die Mehrheit der Alzhei- arten, von der Qualle bis hin zum hoch entwickelten Säugetier, mer-Patienten lange vor Auftreten der ersten Symptome eine substanzielle Zeit ihres Lebens im Schlaf verbringen – ei- insomnische Störungen auf (22). Die Zusammenhänge sind in nem Zustand der kaum vorhandenen Wahrnehmung der Um- Abb. 4 dargestellt. welt, also Schutzlosigkeit, und der scheinbaren Nutzlosigkeit. Frühere Theorien sahen darin eine Strategie zur Energieein- Abb. 4: sparung – durch Reduktion der Stoffwechselrate ähnlich dem Wie besserer Schlaf gesundes Altern fördert Winterschlaf. Dies steht aber im Widerspruch zu neuen For- schungsarbeiten, welche die Hochregulationen vieler Prozesse und Funktionen im Schlaf dokumentieren (14). Danach ist die „Nachtruhe“ in Wirklichkeit eine dynamische, in hohem Maße Schlaftraining organisierte Abfolge von Ereignissen und physiologischen Zu- ständen (13). Das nächtliche Körperprogramm Verbesserung des Während des Schlafs verändern sich nicht nur die Gehirnaktivi- (Slow-Wave-) Schlafs täten, sondern auch zahlreiche Körperprozesse wie Blutdruck, Herz- und Pulsfrequenz, Körpertemperatur, Atmung, Muskel- tonus und Verdauung. Viele der Botenstoffe, die diese Prozesse regulieren, unterliegen einer zirkadianen Rhythmik: Botenstof- Verminderung der Förderung der fe mit dämpfender und beruhigender Wirkung wie zum Bei- Aβ & Tau-Neurotoxine Neurogenese spiel GABA (Gamma-Aminobuttersäure) als wichtigster inhi- bitorischer Neurotransmitter im ZNS und das „Schlafhormon“ Melatonin zeigen jetzt Wirkung. Das vor allem im Tiefschlaf ausgeschüttete Wachstumshor- Bessere Konsolidierung von mon fördert die Regeneration, Leptin blockiert Hungergefüh- Gedächtnisinhalten le (18). Dagegen ist das Stresshormon Cortisol für die Aktivierung vieler Körpervorgänge verantwortlich und ermöglicht uns so- mit, am nächsten Morgen nach dem Aufwachen aus dem Bett zu springen. Tatsächlich basiert die Schlaf-Wach-Regulation Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit auf einem fein abgestimmten Zusammenspiel unzähliger an- Verzögerung von Auftreten und Progredienz von Alzheimer regender und hemmender Prozesse im Organismus: Nur wenn Alzheimer-Prävention die Feinregulation ungestört ablaufen kann, haben wir tags- über genug Energie und schlafen nachts gut (14,19). Chronische Schlafstörungen gelten nach neueren Forschungserkennt- Auch wenn bei weitem noch nicht alle Zusammenhänge ver- nissen als eigenständiger Risikofaktor für das Entstehen einer Alzhei- standen sind, haben sich drei Hypothesen herauskristallisiert, mererkrankung. Insbesondere bei mangelhaftem Tiefschlaf können warum wir schlafen (20): sich vermehrt Amyloid-Ablagerungen im Gehirn ansammeln, Lern- und Gedächtnisprozesse sowie die adulte hippocampale Neurogenese sind beeinträchtigt. Beide Prozesse gelten als wichtige Marker für die neurode- generative Krankheit. Forscher an der Universität Chemnitz empfehlen als weitere Säule der Alzheimer-Prävention ein kognitiv-verhaltenstherapeu- tisches Schlaftraining, um insbesondere den Tiefschlaf zu fördern. Quelle: Adaptiert nach (29)
8 • Gedächtnis und Lernen: Gut belegt ist die Rolle des Schlafs Die differenzialdiagnostische Einordnung durch den Thera- für die Konsolidierung von Lernprozessen und die Gedächt- peuten ist wichtig und zugleich anspruchsvoll, da anhaltende nisbildung (23, 24). Dass zuvor gelerntes Wissen nach darauffol- Schlafbeschwerden fast immer multifaktoriell bedingt sind. gendem Schlaf besser haften bleibt, hängt unter anderem Die Schlafmedizin unterscheidet zwischen mehr als 60 ver- mit den im Tiefschlaf vorherrschenden langsamen Delta- schiedenen Schlafstörungen (30). Tabelle 2 gibt einen symptom- Wellen zusammen (25) (siehe auch Tabelle 1 im Kapitel „Schlaf orientierten Überblick über die sechs Hauptgruppen, auf Basis – eine hochdynamische Angelegenheit“). Motorische Fähig- der Einteilung nach ICSD-3 der American Academy of Sleep keiten dagegen verfestigen sich vor allem im REM-Schlaf (26). Medicine 2014 (30, 31). In Deutschland ist für 2022 eine neue ICD- • Reparatur-, Stoffwechsel- und Immunprozesse: Neuere For- 11-Klassifikation mit erstmals einem eigenen Kapitel zu zirka- schungserkenntnisse besagen, dass nicht die Energieein- dianen Rhythmusstörungen geplant. Sie wird die derzeitige sparung per se die Aufgabe des Schlafes ist, vielmehr findet ICD-10- Klassifikation ersetzen (30). eine weitreichende Ressourcenverschiebung und -umver- teilung im Organismus statt (20). Diese schafft die Grundlage Auslösende und prädisponierende Faktoren für Regenerations- und Reparaturvorgänge und ermöglicht die Hochregulation bestimmter endokriner Funktionen im Die Auslöser einer primären Insomnie können vielfältig sein: Schlaf. Das ist die Voraussetzung für einen funktionierenden Eine unzureichende Schlafhygiene, Reizüberflutung und Hy- Stoffwechsel und wahrscheinlich auch maßgeblich für die perarousal (permanente Übererregtheit auf physiologischer, immunsupportiven Effekte des Schlafes (20, 27). Wissenschaft- kognitiver und/oder emotionaler Ebene) etwa infolge von ler der Universität Tübingen entdeckten 2019, dass die Fä- chronischem Stress, aber auch Umwelteinflüsse, bestimm- higkeit von T-Zellen, sich an infizierte Zellen zu heften, unter te Medikamente sowie Substanzmissbrauch, beispielsweise Einfluss von Hormonveränderungen in der Nacht trainiert in Form von Alkohol oder Psychostimulanzien (2, 3, 7). Auch eine wird und entsprechend bei Schlafmangel abnimmt (28). Auch genetische Disposition wird vermutet, muss aber noch weiter ist bekannt, dass sich bei akuten Ein- und Durchschlafstö- erforscht werden (32). Persönlichkeitscharakteristika wie über- rungen vorübergehend metabolische und immunologische mäßiger Perfektionismus können ebenfalls prädisponierend Parameter verschlechtern (3). wirken (7). Zusätzlich zum eigenständigen Krankheitsbild der Insomnie können sich Ein- und Durchschlafstörungen auch als Folge von Komorbiditäten wie beispielsweise Asthma, Hyper- Differenzialdiagnose Insomnie thyreose oder Herzinsuffizienz, aber auch zahlreichen psychia- trischen und psychischen Erkrankungen entwickeln (30). Von der Ein- und Durchschlafstörungen, die mit Tagesmüdigkeit und primären Insomnie abzugrenzen sind Störungen der zirkadia- eingeschränkter Leistungsfähigkeit einhergehen, können nen Schlaf-Wach-Regulation, bei denen die Schlafzeiten nicht viele Ursachen haben. Neben Störungen der zirkadianen mit dem Tag-Nacht-Rhythmus koordiniert sind. Der Schlaf ist Schlaf-Wach-Rhythmik gehört chronischer Stress, der den Or- meist fragmentiert, im Gegensatz zur Insomnie wird aber in ganismus über das Nerven- und Hormonsystem in einen per- der Regel insgesamt nicht weniger geschlafen. manenten Alarmzustand versetzt, zu den wichtigen auslösen- den und unterhaltenden Faktoren. Tabelle 2: Einteilung von Schlafstörungen ICSD-3-Hauptgruppe Diagnose-Beispiel Typische Symptome Insomnien Chronische Insomnie Ein- und Durchschlafstörung Zirkadiane Schlaf-Wach- Schichtarbeit, Jetlag Ein- und Durchschlafstörung, Früherwachen, erhöhte Rhythmus-Störungen Tagesschläfrigkeit, Verdauungsstörungen Hypersomnien Narkolepsie Tagesschläfrigkeit, Sekundenschlaf/plötzliche Schlaf- attacken, kataplektische Anfälle (bei Narkolepsie) Parasomnien Somnambulismus Nächtliche Bewegungen, Aufstehen (Schlafwandeln) Schlafbezogene Atmungsstörungen Obstruktive Schlafapnoe Erhöhte Tagesschläfrigkeit, oft Übergewicht und Schnarchen Schlafbezogene Bewegungsstörungen Restless-Legs-Syndrom Bewegungsdrang der Beine, Einschlafstörung Quellen: Adaptiert nach (34, 35)
9 Algorithmus Insomnie nische Fragebögen wie die „Regensburger Insomnie Skala“ die Diagnosefindung. Um zusätzlich den Grad der Tagesmüdigkeit Die S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ und Erschöpfung auf einem Score von 1–7 abzuschätzen, ist enthält einen „Algorithmus Insomnie“ (7), mit dessen Hilfe der aus neun kurzen Fragen bestehende „Fatigue Severity Sca- Therapeuten gezielt Fragen nach der Ursache der Beschwer- le“ ein gut validiertes und frei verfügbares Instrument (35). Bei den stellen und Symptome differenzieren können. Abbildung Insomnien kann den meisten Patienten laut Deutscher Gesell- 5 bildet diesen „Entscheidungsbaum“ ab – ergänzt um die schaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) ohne aktuellen Therapieansätze bei zirkadianen Schlafstörungen apparativen Aufwand geholfen werden (15). Bei schlafbezoge- und einen Hinweis auf stressbedingte primäre Insomnien, die nen Atmungsstörungen sollte jedoch eine Untersuchung im Schwerpunktthemen dieser Bibliotheca Hevertica (7). Neben Schlaflabor erfolgen. Schlaftagebüchern der Patienten unterstützen schlafmedizi- Abb. 5: Algorithmus Insomnie Erwachsene mit Ein- und/oder Durchschlaf störungen/ frühmorgendlichem Erwachen und assoziierter Tagesbeeinträchtigung ja ja ja Erhebliche Beein Schlaf angepasst Einnahme von Umstellung, Absti- trächtigung durch an den zirkadianen Substanzen, die den nenz, Entwöhnung Symptomatik? Rhythmus? Schlaf stören? nein nein nein ja Information, Chronotherapie, Komorbide Insomnie Parallele Behandlung Prävention Lichttherapie, durch organ. oder psy- der Grunderkrankung Melatonin chische Erkrankung? und der Insomnie nein ja Primäre Insomnie? Spezifische Behand- lung der Insomnie Der „Algorithmus Insomnie“ der S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/ und ihrer Ursachen Schlafstörungen“ zeigt einen Weg auf, um Ein- und Durchschlafstörun- gen mit Tagesmüdigkeit und eingeschränkter Leistungsfähigkeit gezielt nein differenzialdiagnostisch abzuklären. Der originäre „Entscheidungsbaum“ wurde in dieser Grafik ergänzt um die aktuellen Therapieempfehlungen bei gestörter Schlaf-Wach-Rhythmik sowie um Stress als eine wichtige Weitere schlafmedizi- Unter anderem Ursache der Insomnie – die beiden zentralen Themen dieser „Bibliotheca nische Diagnostik stressbedingte Hevertica“. Schlafstörungen Quellen: Adaptiert nach (7, 8)
10 Verhaltenstherapie und Liegt die Ursache für die Schlafstörung in einer Dysbalance der zirkadianen Rhythmik, muss diese ausgeglichen werden. medikamentöse Therapie Auch ein eventueller Konsum schlafstörender Substanzen sollte im Diagnosegespräch abgeklärt und entsprechend vom Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gilt laut S3-Leitlinie Patienten vermieden werden (Abb. 5 im Kapitel „Differenzial- „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ bei Insomnien diagnose Insomnie“). In allen anderen Fällen gilt laut aktuel- von Erwachsenen als erste Behandlungsoption. Eine medika- ler S3-Leitline „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ die mentöse Therapie mit Hypnotika und im Ausnahmefall einigen Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit zum Beispiel Entspan- Sedativa wird nur für die Dauer von wenigen Wochen empfoh- nungsverfahren, Psychoedukation und Stimulus-Kontrolle als len. Dennoch nehmen Millionen Menschen in Deutschland erste Behandlungsoption (7) (Tabelle 3). Die Verhaltenstherapie regelmäßig synthetisch-chemische Schlafmittel ein – neben wirkt eher längerfristig und kann bei chronischer Einnahme verschreibungspflichtigen Arzneimitteln vielfach auch in Form von Hypnotika auch ein Ansatz sein, um diese Arzneimittel rezeptfreier Präparate. auszuschleichen (36). Eine verhaltenstherapeutische Behand- lung von Millionen Patienten gestaltet sich allerdings in der Praxis oft als schwierig. Es stehen nicht genug Therapieplätze zur Verfügung, auch ist die KVT den Patienten manchmal zu zeitaufwändig. Sie bevorzugen stattdessen vielfach eine me- dikamentöse Behandlung, die eine kurzfristige Linderung ihrer Beschwerden verspricht. Die wichtigsten chemischen Substanzgruppen, die bei Insom- nien zum Einsatz kommen, finden Sie in Tabelle 4. Tabelle 4: Die wichtigsten chemischen Substanzgruppen, die bei Insomnien zum Einsatz kommen und ihre wesentlichen Merkmale Substanzgruppe Hauptwirkungen Effekte auf die Schlafarchitektur (Beispielsubstanzen) Benzodiazepine (BZD) • Verkürzung der Einschlafzeit • Abnahme des Tiefschlafs (z. B. Diazepam) • Verlängerung der Schlafdauer • Zunahme des Leichtschlafs (37,38,39) Z-Substanzen ähnlich wie BZD ähnlich wie BZD, (z. B. Zolpidem) v. a. bei älteren Menschen (43) Sedierende Antidepressiva • sedierend, schlafanstoßend (7) Unterdrückung des REM-Schlafs (45) (z. B. Doxepin, Mirtazapin) • antidepressiv bei Komorbidität Depression Sedierende Antipsychotika/Neuroleptika vorwiegend sedierend Unklar (38) (z. B. Levomepromazin) H1-Antihistaminika sedierend, schlafanstoßend Unterdrückung des REM-Schlafs; (z. B. Diphenhydramin) Schlafphasenverschiebung (49) Quelle: Eigene Darstellung unter Hinzuziehung der in der Tabelle genannten Quellen 37 – 51
11 Tabelle 3: Verhaltenstherapie bei primärer Insomnie Module Wirkmechanismus Ziele Psychoedukation Basisinformationen zur Insomnie, • Abbau des Grübelzwangs und schlafhygienische Regeln, Korrektur insomnietypischer Ängste dysfunktionaler Glaubenssätze und • Entwicklung von Selbstvertrauen und kognitive Umstrukturierung Selbststeuerung • Auflösung der Fokussierung auf die Schlafstörung Entspannungsverfahren Reduzierung der unbewussten zentral • Verringerung von innerer Unruhe/ nervösen Aktivität durch angeleitete Anspannung Entspannung, Atemtherapie, Achtsamkeits- • Entwicklung einer gelassenen Grund- training etc.; beobachtende Wahrnehmung haltung eigener körperlicher Prozesse • Einübung, wie eine Entspannungs- reaktion selbst initiiert werden kann Stimulus-Kontrolle Befreiung der Schlafumgebung von • Reinstallation des Betts als Wohlfühl-Ort schlafstörenden Stimuli und Gewohnheiten • Dekonditionierung Bettzeiten-Restriktion Aufbau eines effektiven Schlafdrucks • Verbesserung der Schlaf-Homöostase durch kürzere fixe Bettzeiten; Beendigung • Optimierung von Schlafqualität und einer „Schonhaltung” (Rückzug ins Bett) -kontinuität Quelle: Eigene Darstellung, 2021, unter Hinzuziehung der Quelle 7 Häufige unerwünschte Effekte Toleranzentwicklung/ Besonderheiten der Zulassung (Auswahl) Abhängigkeitspotenzial • Hangover-Effekt hohe Toleranzentwicklung und in Zulassung für Kurzzeittherapie • Zentralnervöse Störungen der Folge notwendige Dosissteigerung (3 – 4 Wo) (7) • Rebound-Effekt nach dem Absetzen (Abhängigkeitspotenzial) • Gefahr der Überdosierung bei älteren Menschen durch langsame Metabolisierung (37,40,41) • geringere Hangover-Effekte gleiches Abhängigkeitspotenzial wie Zulassung für Kurzzeittherapie wie BZD (im Vgl. zu BZD) (38) BZD (44) • erhöhtes Sturzrisiko (42) Unerwünschte Wirkungen der Anti- • geringe oder keine Toleranz- lediglich Doxepin für Indikation Insomnie depressiva (z. B. Gewichtszunahme, entwicklung zugelassen Benommenheit, Kopfschmerzen, • kein Abhängigkeitspotenzial Mundtrockenheit) Störungen der Motorik/Dyskinesien, • geringe oder keine Toleranz- z. T. Zulassung für Insomnie in der des Hormonhaushalts (46) entwicklung Geriatrie • kein Abhängigkeitspotenzial • Erhöhung des Sturzrisikos sehr rasche Toleranzentwicklung oft rezeptfrei erhältlich (47,48) • anticholinerge Wirkungen (50) (Verordnungspflicht für Menschen > 65 J. wird diskutiert) (51)
12 Synthetische versus naturheil- Als Alternativen ohne Abhängigkeitspotential bieten sich für bestimmte Indikationen natürlich wirksame Schlafmittel wie kundliche Schlafmittel Melatonin und pflanzliche Präparate an: Die Nebenwirkungen und das Risiko einer Abhängigkeit bei der Einnahme chemisch-synthetischer Schlafmittel sind den Melatonin Patienten oft nicht bekannt oder werden in Kauf genommen, Das in der Epiphyse aus Serotonin gebildete Hormon spielt um den Schlaf schnell zu erzwingen. In vielen Fällen kann der eine zentrale Rolle bei der Regulation des Schlaf-Wach-Rhyth- Organismus jedoch mit Hilfe des physiologischen Schlafhor- mus. Normalerweise erreicht der Melatonin-Spiegel unter mons Melatonin oder pflanzlicher und homöopathischer Wirk- Einfluss von Dunkelheit gegen zwei bis drei Uhr nachts seinen stoffe auf natürliche Weise wieder auf ein gesundes Schlafver- Höhepunkt. Seit 2011 ist für die abendliche Einnahme von 1 halten eingestimmt werden. Milligramm der Schlafsubstanz der Health-Claim der EFSA (Eu- In außergewöhnlichen Belastungssituationen oder Phasen ropean Food Safety Authority) zugelassen: „Melatonin trägt schwerer chronischer Insomnie können die beschriebenen dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen“ (53). Da die endogene chemisch-synthetischen Substanzen für begrenzte Zeit an- Melatonin-Produktion mit zunehmendem Alter abnimmt, gebracht sein, eine Dauerlösung sind sie wegen des Abhän- kann besonders bei älteren Menschen ein Melatonin-Mangel gigkeitsrisikos, der Rebound-Phänomene und ihrer zum Teil an der Entstehung von Schlafstörungen beteiligt sein (54). Me- gravierenden Eingriffe in die physiologische Schlafarchitektur latonin wird im mittleren Lebensalter vollständig, von Älteren nicht. Von den insgesamt bis zu 2,6 Millionen medikamenten- dagegen deutlich weniger gut resorbiert, unterliegt aber einem abhängigen Menschen in Deutschland (52) sollen allein mehr als signifikanten First-Pass-Metabolismus von ca. 85 Prozent. In 70 Prozent von Benzodiazepinen und Z-Substanzen abhängig Deutschland ist es als Tablette, Kapsel oder in Pulverform und sein, wie Grafik 5 zeigt. Frauen über 65 Jahre sind am stärks- neuerdings auch als Oromukosal-Spray erhältlich. Letzteres hat ten betroffen (41). Entgegen der Leitlinien-Empfehlung werden den Vorteil, dass es schneller anflutet und nicht dem First-Pass- Hypnotika auch zur Dauertherapie verordnet (52). Insomnie- Effekt unterliegt. Melatonin ist sehr gut verträglich und greift Patienten sind häufig in einem Teufelskreis aus langjährigen nicht in die Schlafarchitektur ein. Die Einnahme sollte immer Beschwerden, Angst vor beeinträchtigter Leistungsfähigkeit zum gleichen Zeitpunkt kurz vor dem Schlafengehen erfolgen. am nächsten Tag und Sorge vor noch gravierenderen Schlaf- Bis zur vollen Wirkung kann es bis zu drei Wochen dauern (37). problemen nach Absetzen ihrer Präparate gefangen. Deshalb Zum therapeutischen Einsatz von Melatonin siehe „Schlafstö- drängen sie – je nach Leidensdruck – oft selbst auf eine Ver- rungen durch Schichtarbeit und Jetlag“ sowie „Schlafstörun- schreibung. Viele möchten aber auch von den Medikamenten gen im Alter“. wegkommen bzw. diese gar nicht erst einnehmen. Pflanzliche und homöopathische Schlafmittel Grafik 5: Sie enthalten Inhaltstoffe aus schlaffördernden Pflanzen wie Süchtige Menschen in Deutschland Echter Baldrian, Passionsblume oder Frauenschuh, aber auch aus ausgleichend wirkenden Pflanzen wie beispielsweise Kum- merbohne (Ignatia amara) oder Kockelskörner (Cocculus). Be- Nikotin 1 sonders in Kombination entfalten sie ihre synergistischen Wir- kungen. Der Behandler sollte darüber aufklären, dass sich die volle Wirkung von Phytotherapeutika und homöopathischen Alkohol 1 4,4 Mio. Schlafmitteln oft erst nach längerer regelmäßiger Einnahme einstellt. Dafür beeinträchtigen sie nicht die für die Erholung so wichtigen Tiefschlaf- und REM-Phasen, im Gegenteil, sie 1,6 Mio. können eine unphysiologische Schlafarchitektur wieder nor- malisieren (55, 41). Phyto-Sedativa haben sich insbesondere bei nervös bedingten Einschlafstörungen und unruhigem Schlaf bewährt. Sie sind besonders gut geeignet für Menschen mit chronischem Stress, aber zum Beispiel auch bei Schlafstörun- gen von Frauen in den Wechseljahren. Zum therapeutischen 1,4 – 2,6 Mio. Einsatz von pflanzlichen und homöopathischen Schlafmitteln siehe „Stressbedingte Schlafstörungen“ sowie „Schlafstörun- Medikamente gen in den Wechseljahren“. ... davon Benzodiazepine und „Z-Drugs“ 1,5 – 1,9 Mio. 1) der 18- bis 64-Jährigen, Quellen: (52, 56, 57)
13 Wenn Schlafen und Wachen aus Abb. 6: dem Takt geraten: Störungen Externe Zeitgeber und innere Uhren der zirkadianen Schlaf-Wach- Regulation Licht Die Chronobiologie hat in den letzten zwei Jahrzehnten das Verständnis der komplexen Schlafregulation mit wegweisen- den neuen Erkenntnissen bereichert. Wir wissen heute, dass SCN innere Uhren beim Menschen das Schlaf-Wach-Verhalten (Master Photischer Zeitgeber „Entrainment“ clock) steuern, dieser autonome Rhythmus aber gleichzeitig durch externe Faktoren – vor allem Licht – beeinflusst wird. Schlaf- störungen und insbesondere Störungen des zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus können mit Hilfe von Chrono- und Synchronisation Lichttherapie sowie Melatonin inzwischen gezielter therapiert werden. Die meisten Prozesse im menschlichen Körper folgen einem zirkadianen Rhythmus, das heißt, sie zeigen tageszeitabhän- Periphere gige Veränderungen, die von einer inneren Uhr gesteuert wer- Oszillatoren den. Diese zentrale Uhr dirigiert auch den Schlaf-Wach-Rhyth- Nichtphotischer mus. Sie liegt im Gehirn, genauer im suprachiasmatischen Kern Zeitgeber (SCN) im vorderen Hypothalamus (Abb. 6). Als Haupttaktgeber • Schlaf-Wach-Zyklus steuert sie weitere Uhren in der Körperperipherie (58). Dadurch • Physische Aktivität ist gewährleistet, dass sich die unzähligen Akteure in unserem • Soziale Zeitmuster • Mahlzeiten Organismus synchron auf Ruhe oder Aktivität einstellen kön- nen (59). Zelluläre Oszillatoren Licht als Zeitsignal Der zirkadiane Rhythmus beim Menschen beträgt in der Regel Licht ist der wichtigste äußere Faktor, um die inneren Uhren des Men- 24,5 bis 25,5 Stunden (60). Der Begriff zirkadian stammt vom schen exakt auf einen 24-Stunden-Rhythmus zu synchronisieren. Darüber lateinischen circa diem (ungefähr ein Tag). Äußere Taktgeber, hinaus wirken auch körperliche Aktivität, soziale Zeitmuster, die Mahlzei- allen voran Licht beziehungsweise der Hell-Dunkel-Wechsel tenrhythmik sowie das – zum Beispiel durch Arbeitszeiten vorgegebene – individuelle Schlaf-Wach-Verhalten an der Feinjustierung der körperen- infolge der Erdrotation, sorgen permanent dafür, dass unse- dogenen Uhren mit. re innere Uhr exakt mit dem 24-Stunden-Tag synchronisiert wird (61). Die Schlafmedizin spricht vom Entrainment (Abb. 6). Je Quelle: Adaptiert nach (58) reibungsloser es funktioniert, umso besser sind Schlafqualität, Erholung, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden (59). Beispiels- Das zirkadiane Kommando weise auch der Mahlzeiten-Rhythmus, körperliche Bewegung oder die Temperatur können als externe Taktgeber auf das zir- Die zentrale Uhr im Hypothalamus interagiert mit einer Drüse kadiane System einwirken (62). Licht, vor allem kurzwelliges Licht im Gehirn, in der tageszeit- und lichtabhängig die Freisetzung im blauen Bereich des Lichtspektrums, ist aber mit Abstand der von Melatonin stattfindet: der Epiphyse beziehungsweise Zir- wichtigste Einflussfaktor. Ganglienzellen in der Netzhaut des beldrüse. Das Nachthormon Melatonin steht unter zirkadian- Auges leiten die in elektrische Lichtsignale umgewandelten em Kommando – wie zum Beispiel auch das Stresshormon Cor- Lichtreize an den Hypothalamus weiter (58). tisol und zum Teil das die Schilddrüse stimulierende Hormon TSH. Durch Lichteinflüsse kann es zu einer Phasenverschiebung in der Melatonin-Ausschüttung kommen (58). Melatonin gilt in der Schlafmedizin als wichtigster Marker für die Phase der zirkadianen Uhr (59). Es ist über Rückkoppelungsmeldungen an Melatonin-Rezeptoren (MT) im SCN (MT1 und MT2) in der Lage, die zirkadiane Uhr zurückzusetzen, am stärksten während der Dämmerung abends und frühmorgens (62, 63, 64). Neben dem zir- kadianen System bestimmt außerdem der sich während der Wachzeit kontinuierlich aufbauende Schlafdruck (die über den Neuromodulator Adenosin gesteuerte Schlafhomöostase) die Schlaf-Wach-Regulation.
14 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus Grundsätzlich können Menschen aber auch außerhalb des zirkadianen Schlaffensters und abweichend vom äußeren Kleine Abweichungen im Zusammenspiel dieser beiden Pro- Hell-Dunkel-Rhythmus schlafen (67). Viele Beschäftigte mit zesse (zirkadiane hormonelle Steuerung und Botenstoff-ge- Nacht- oder Wechselschichten sind darauf angewiesen, aber steuerter Aufbau des Schlafdrucks) können ebenso wie eine 50 Prozent schlafen nur maximal fünf Stunden (68). In Studien nicht perfekt synchronisierte innere Uhr den Nachtschlaf er- wird unterschiedlich beantwortet, wie viele Tage ein Mensch heblich aus dem Takt bringen (62). Dazu trägt bei, dass wir uns benötigt, um sich an das Arbeiten in der Nacht anzupassen – heute tagsüber überwiegend in Gebäuden aufhalten und bis von einer ausbleibenden Adaption – also dem permanenten spät in die Nacht digitale Medien nutzen: Vor dem Schlafen- Anarbeiten gegen die innere Uhr – über wenige Tage bis hin zu gehen schnell noch die E-Mails checken bremst Melatonin aus, zwei Wochen (67). Chronotyp, Geschlecht und Alter spielen da- treibt den Adrenalinspiegel in die Höhe, wir können nicht ein- bei eine Rolle: Nicht-Frühtypen, Jüngere und Männer verkraf- schlafen (65, 8). Genetisch bedingte Störungen des zirkadianen ten nicht nur Nachtschichten, sondern auch die Schichtarbeit Systems sind als Ursache für eine gestörte Schlaf-Wach-Regu- insgesamt besser (67). lation dagegen eher selten (60). Bei blinden und sehbehinderten Menschen kommt es auf Grund der fehlenden beziehungswei- Abb. 7: se beeinträchtigten Lichtwahrnehmung zur Dysfunktion der Anteil der erwerbstätigen Schichtarbeitnehmer (in Prozent) „inneren Uhr“ – mit der Folge einer kontinuierlichen Verschie- zwischen 1992 und 2019 bung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Konflikte zwischen dem en- dogenen Schlaf-Wach-Rhythmus und äußeren Zeitregulatoren Anteil Erwerbstätige treten typischerweise bei Schichtarbeit, Jetlag oder sehr unre- 18% gelmäßigen Bettzeiten auf. Auch im Alter ist die Schlaf-Wach- Rhythmik häufig gestört (62). Bei der Therapie ist der individuel- 16% le Chronotyp, der auch von Geschlecht und Alter abhängt, zu berücksichtigen; das Spektrum reicht von extremen Morgen- 14% bis zu extremen Abendtypen. Mittels chronotherapeutischer Maßnahmen, guter Schlafhygiene, Lichttherapie und Melato- nin versucht die Schlafmedizin, der zunehmenden Entkoppe- 12% lung von innerer Uhr und äußeren Zeitgebern in unserer dau- eraktiven, digitalisierten Gesellschaft entgegenzuwirken. Die 10% Therapie zielt darauf ab, die Schlafenszeit des Patienten, das Profil seiner nächtlichen Melatonin-Ausschüttung und seine 1992 – – 1994 – – 1996 – – 2001 – – 2003 – – 2005 – – 2007 – – 2009 – – 2011 – – 2013 – – 2015 – – 2017 – – 2019 – Lebensumstände, insbesondere seine Arbeitszeiten, besser in Einklang zu bringen. Steigender Trend: Schichtarbeit in Deutschland: Laut Eurostat waren 2019 Schlafstörungen durch mehr als 15 Prozent der 15- bis 64-jährigen Arbeitnehmer in Schichtarbeit beschäftigt – vor 25 Jahren waren es erst gut 10 Prozent. Schichtarbeit/Jetlag: Quelle: Adaptiert nach (66) Lichttherapie und Melatonin Technologische und wirtschaftliche Entwicklungen haben Ganzheitliche Therapieoptionen bei dazu geführt, dass wir in einer Nonstop-Gesellschaft leben Schichtarbeit: und arbeiten und uns ungehindert über Zeitzonen hinwegbe- • Verhaltenstherapie inklusive Schlafhygiene: Verhaltens- wegen können. Wechselnde Arbeitsschichten, häufige Nacht- interventionen und Präventionsprogramme zeigen bei arbeit und der Jetlag nach interkontinentalen Flügen bringen Schichtarbeitern mit Tagesschläfrigkeit, Schlafmangel und die Chronobiologie des modernen Menschen gewaltig aus Schlafstörungen überwiegend positive Effekte auf Schlaf, dem Takt. Melatonin kann das Einschlafen und die Schlafqua- Wachheit und Schichtakzeptanz, bei einem Teil sind die Er- lität verbessern. gebnisse aber nur moderat oder bleiben ganz aus (68, 69, 70). • Licht: Die amerikanische Leitlinie empfiehlt die Gabe von hel- Schichtarbeit lem Licht bei durch Schicht- und Nachtarbeit verursachten In Deutschland leisteten 2019 gut 15 Prozent aller Erwerbstä- Schlafstörungen (71). Aktuelle Studien unterstreichen den po- tigen regelmäßig Schichtarbeit (Abb. 7). Bei diesen Arbeitsbe- sitiven Einfluss einer Lichttherapie (72): So zeigen humanbio- dingungen entspricht der Zeitpunkt des Schlafens nicht oder logisch optimierte Lichtbedingungen für Schichtarbeitende nur teilweise dem optimalen Zeitfenster, das die über Licht vielversprechende erste Ergebnisse, allerdings steht die For- und Dunkelheit feinjustierte innere Uhr vorgibt. Kurz vor der schung in diesem Bereich noch am Anfang. Öffnung dieses optimalen Fensters ist es fast unmöglich ein- zuschlafen, selbst wenn man sehr erschöpft ist.
15 • Melatonin: Nachtarbeiter weisen nachts niedrigere Melato- Jetlag nin-Spiegel auf und je nach Chronotyp ein mehr oder weni- Weil sich die zentrale innere Uhr in unserem Körper nur lang- ger gestörtes Melatonin-Profil im Vergleich zu Kollegen in der sam und die peripheren Uhren in unterschiedlicher Geschwin- Tagesschicht, so das Ergebnis einer gemeinsamen Studie von digkeit an neue geographische Zeitzonen adaptieren, klagen Schlaf- und Krebsforschern 2019 (73). Die Cochrane-Daten- die meisten Menschen über Schlafprobleme und Tagesmüdig- bank führt zur Melatonin-Wirkung bei Schlafstörungen von keit nach interkontinentalen Flügen (77). Schichtarbeitern neun Studien auf. Danach verlängern 1 bis 10 Milligramm Melatonin den Tagschlaf nach Nachtschich- ten im Schnitt um 24 Minuten und den Nachtschlaf danach um 17 Minuten (74). Zum Teil wird jedoch die Einnahme von Melatonin vor dem Tagesschlaf nach einer Nachtschicht als kontraproduktiv angesehen, da sie konträr zur endogenen Ausschüttung sei (75). Dass sich Einschlafzeit und Schlafqua- lität bei Schichtarbeitern durch Melatonin verbessern, belegt eine randomisierte, Placebo-kontrollierte Doppelblindstudie von 2016 überzeugend (76). Immer zur gleichen Uhrzeit am früheren oder späteren Abend eingenommen, kann Melato- nin zur Stabilisierung des zirkadianen Rhythmus und damit zur Schlafqualität und -dauer beitragen. Dies bedeutet, dass Melatonin bevorzugt zur Induktion des Nachtschlafes einge- setzt werden sollte, zur besseren Umgewöhnung nach einer Nachtschichtphase. Fallbeispiel 1 (Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus) Ganzheitliche Therapieoptionen bei Jetlag: Während jüngere Menschen Verschiebungen in ihrem • Licht: Zum Effekt der Lichttherapie bei Jetlag fehlen noch Schlaf-Wach-Rhythmus meist mühelos verkraften, werden überzeugende Studien, die eine praktikable Anwendung Schichtarbeit und auch sporadisch vorkommende nächtliche nahelegen. Jurvelin et al. zeigten 2015 eine signifikante Ver- Aktivitäten (z. B. im Freizeitbereich) mit zunehmendem Le- ringerung der Jetlag-Symptomatik, Schläfrigkeit und Müdig- bensalter vermehrt als Belastung empfunden. keit nach einem Westflug über sieben bis zehn Zeitzonen, So berichtet Herr B., ein 56 Jahre alter Patient, der 30 Jahre in wenn weißes Licht mit einem Maximum im Blaubereich Wechselschicht mit Früh-, Spät- und Nachtschicht in einem von 448 nm eine Woche lang regelmäßig alle zwei Stunden produzierenden Betrieb gearbeitet hat, dass ihn die Schicht- transkraniell appliziert wurde (78). arbeit früher nie gestört habe. In den letzten Jahren könne • Melatonin: Mit der Zulassung des Health-Claims: „Melato- er jedoch oft nach der Nachtschicht sehr schlecht einschla- nin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung fen. Er liege dann stundenlang wach und habe Sorge, nicht bei“ empfiehlt die European Food Safety Authority (EFSA) seit genügend zu schlafen, um in der nächsten Nachtschicht 2011 die Einnahme von mindestens 0,5 Milligramm Melato- ausgeruht und leistungsfähig zu sein. Die Zeitverschiebung nin am ersten Reisetag kurz vor dem Schlafengehen sowie an während eines Urlaubs in der Karibik im letzten Jahr und den ersten Tagen nach Ankunft am Ziel (53). Tatsächlich scheint besonders nach der Rückkehr nach Hause habe ihn derma- die Symptomminderung bei Jetlag durch die Einnahme von ßen aus seinem Schlaf-Wach-Rhythmus gebracht, dass er zu Melatonin durch Studien gesichert, Wirkeintritt und Abbau vollkommen unterschiedlichen Uhrzeiten müde werde, zu im Körper erfolgen schnell (79). Für die American Academy of denen er arbeitsbedingt nicht schlafen könne, und anderer- Sleep Medicine (AASM) ist Melatonin ebenfalls die Therapie seits hellwach sei, wenn er eigentlich schlafen müsse. Dar- der Wahl bei Jetlag: in Mengen von 0,5 bis 5 Milligramm und aus resultiert ein deutlicher Leidensdruck. in nicht-retardierter Form (71). Nach einer ausführlichen Beratung zu den Einflüssen von Schichtarbeit auf den Schlaf-Wach-Rhythmus erfolgt zu- nächst ein innerbetrieblicher Arbeitsplatzwechsel mit nur noch zwei Schichten am Tag. Nachtschichten absolviert Herr B. nicht mehr. Eine Lichttherapie morgens, ergänzt durch die Gabe von 1 mg Melatonin kurz vor dem Schlafengehen führt dazu, dass Herr B. abends schneller einschlafen kann und sich sein Organismus zunehmend an den neuen Schlaf- Wach-Rhythmus anpasst.
16 Schlafstörungen im Alter: Abb. 8: Verhaltens- und Chronotherapie, Melatonin-Spiegel in Abhängigkeit vom Alter Melatonin Melatonin (pg/ml) 3000 Sowohl Störungen des zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus als – 20 – 35 Jahre auch Insomnien sind bei Älteren sehr häufig. Die Behandlung 2500 – 36 – 50 Jahre unterscheidet sich prinzipiell nicht von der jüngerer Erwach- – 51 – 65 Jahre sener. Die oft noch nachteiligeren gesundheitlichen Effekte – ab 65 Jahre 2000 chemischer Schlafmittel im Alter unterstreichen jedoch die Bedeutung einer ganzheitlichen Therapie. Diagnostisch gilt es, Komorbiditäten auszuschließen, eine eventuelle Multi- 1500 Medikation aufzudecken und zwischen physiologischen und behandlungsbedürftigen Abweichungen des Schlaf-Wach- 1000 Rhythmus zu differenzieren. Dass man im Alter generell sehr viel weniger Schlaf benötigt, 500 ist ein Irrglaube. Die Gesamtschlafdauer verringert sich zwi- schen dem 40. und 70. Lebensjahr nur um etwa zehn Minuten – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – pro Dekade (80). Liegt sie deutlich unter sieben Stunden, ist sie 8– 23 23– 7 7– 11 11– 18 18– 23 Uhr auch bei älteren Menschen ein pathologischer Hinweis und gilt wie bei Jüngeren als Risikofaktor für Folgeerkrankungen und Die körpereigenen Melatonin-Spiegel und vor allem deren schlaffördern- eine erhöhte Mortalität (81). Bis zu neun Stunden Schlaf im Alter der Anstieg in der Nacht nehmen mit zunehmendem Alter immer mehr sind normal (81, 82). ab. Deshalb wird Melatonin bei Schlafstörungen von Senioren zuneh- mend als wirksame und nebenwirkungsarme Therapieoption eingesetzt. Davon abgesehen kommt es natürlich im Alter zu physiologi- schen Schlafveränderungen. Diese sind verantwortlich für vie- Quelle: (85) le Ein- und Durchschlafbeschwerden bei ansonsten gesunden Senioren und die von ihnen vielfach als schlecht empfundene • Die Schlafarchitektur: Im Schlaf-EEG tendieren auch gesunde Schlafqualität. Zwei Aspekte sind bedeutsam: Menschen im Alter zu einer signifikanten Abnahme der tief- • Die innere Uhr: Die zirkadiane Rhythmik ist bei älteren Men- schlaftypischen, als besonders erholsam geltenden Delta- schen deutlich schwächer und instabiler als im jüngeren Power, die Einschlafphase N1 und die Leichtschlafphase N2 oder mittleren Alter, ihr Schlaf-Wach-System damit anfälli- nehmen viel mehr Raum ein. Der REM-Schlaf ist vorverlagert, ger für Störungen (82). Zirkadian wirksame Hormone wie Me- der Schlaf insgesamt zunehmend fragmentiert (83). Nicht-res- latonin werden in geringerem Umfang produziert und aus- piratorische Arousals (Aufwachereignisse) und auch die Zeit geschüttet (Abb. 8). Zusätzlich spricht der Körper linear zum bis zum Einschlafen nehmen zu (81). Älterwerden auch immer weniger auf Melatonin an – wie auch auf äußere Taktsignale in Form von Licht oder Dunkel- Anamnese und Diagnostik heit (81). Bei der Verordnung speziell von Melatonin-Tabletten oder -kapseln ist eine eventuell geringere Resorption bei älte- Von diesen altersnormalen Abweichungen unterscheiden ren Patienten zu berücksichtigen und gegebenenfalls auf ein sich Schlafbeschwerden mit Tagesmüdigkeit, die ebenso wie Spray auszuweichen. in jungen Jahren auch im Alter behandlungsbedürftig sind. Eine gestörte Tagesbefindlichkeit gilt als wichtigster Indikator, nicht aber die subjektive Unzufriedenheit mit der Nacht, über die etwa die Hälfte der älteren Menschen klagt (83). Der renom- mierte Altersschlafmediziner Professor Helmut Frohnhofen empfiehlt denn auch seinen Kollegen, bei diesem Leitsymptom aufzuhorchen und ältere Patienten erst gar nicht danach zu fragen, wie gut sie geschlafen haben, sondern wie sie sich tags- über fühlen. Die Tagesschläfrigkeit, die Ältere oft von selbst nicht thematisieren, weil sie daran gewohnt sind, kann ihm zu Folge ein Hinweis auf weitere Erkrankungen über Insomnien hinaus sein (80). Es gibt spezielle, geriatrisch validierte Fragebö- gen, die die Anamnese unterstützen können (83).
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