Perspektiven sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität einer - Theoretische und konzeptionelle Grundlagen

Die Seite wird erstellt Hendrik Lohmann
 
WEITER LESEN
Perspektiven sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität einer - Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Arbeitspapier 2 der Nachwuchsforschungsgruppe MoveMe

Perspektiven einer sozio-räumlichen
Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Perspektiven sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität einer - Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Autor*innen
Dr. Lisa Ruhrort
Prof. Dr. Meike Levin-Keitel
Viktoria Allert
Jan Gödde
Nadezda Krasilnikova
Perspektiven sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität einer - Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Inhalt                                                                                        S.
Abbildungsverzeichnis                                                                         4
Tabellenverzeichnis                                                                           4

1		 Eine sozio-räumliche Perspektive auf die Transformation zu nachhaltiger
    Mobilität                                                                                 5

2		 Nachhaltige Mobilität im räumlichen Kontext                                               6
2.1		 Transformation zu nachhaltiger Mobilität: Eine Begriffsbestimmung                       6
2.2		 Wechselwirkungen zwischen Raum und Mobilität: Kernerkenntnisse der
      interdisziplinären Mobilitätsforschung                                                  8
2.3		 Ansätze für die Operationalisierung räumlicher Transformation im Feld der
      Mobilität: Verkehrsbezogene Raumtypologien                                              10

3		 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Umsetzung                                      14
3.1		 Das Mehrebenenmodell sozio-technischer Transformation                                   14
3.2		 Ein relationales Raumverständnis als Grundlage für eine raumsensible
      Transformationsforschung                                                                16
3.3		Räumliche Perspektiven auf Transformationsprozesse: Mehrwert und
      Stand der Diskussion                                                                    17
3.4		 Ein vierdimensionales Raumverständnis als konzeptioneller Rahmen                        19

4		 Schlüsselthemen einer sozio-räumlichen Transformation von Mobilität                       22
4.1		 Das sozio-räumliche Brückenkonzept in der Mobilitätsforschung                           22
4.2		 Potentiale von Shared Mobility Angeboten und neuen Angeboten der Perso-
        nenbeförderung                                                                        22
4.2.1		 Zentrale Grundbegriffe und Fragestellungen                                            22
4.2.2		 Die Rolle neuer Mobilitätsangebote aus der Perspektive eines mehrdimen-
        sionalen Raumverständnisses                                                           25
4.3		 Digitalbasierte Arbeitsformen und verkehrssparsame Quartiersentwick-
        lung                                                                                  27
4.3.1		 Zentrale Grundbegriffe und Fragestellungen                                            27
4.3.2		 Die Rolle digitaler Arbeit aus der Perspektive eines mehrdimensionalen                29
        Raumverständnisses
4.4		 Akzeptanz der Neuaufteilung von Verkehrsräumen zugunsten nachhaltiger
        Mobilitätsformen                                                                      32
4.4.1		 Zentrale Grundbegriffe und Fragestellungen                                            32
4.4.2		 Die Rolle von Maßnahmen zur Neuaufteilung von Verkehrsräumen aus der
        Perspektive eines mehrdimensionalen Raumverständnisses                                33

5		 Mehrwert und Fazit eines sozio-räumlichen Brückenkonzepts                                 38

Literatur                                                                                     40

                                                                                          Seite 3
Perspektiven sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität einer - Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Abbildungsverzeichnis                                                                         S.
Abb. 1: Regelkreis Flächennutzung und Verkehr (Wegener, 1999).                                9

Abb. 2: Modal-Split-Ziele 2050 (Stadtregionen). Eigene Darstellung nach Regling
  et al. (2020), S.74.                                                                        12

Abb. 3: Wandel der Arbeit. Eigene Darstellung nach Diefenbacher et al. (2016).                28

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Regionalstatistische Raumtypologie für die Mobilitäts- und Verkehrsfor-
   schung (BMVI, 2018b).                                                                      12

                                                                                          Seite 4
Perspektiven sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität einer - Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

1 Eine sozio-räumliche Perspektive auf die Transformation zu
nachhaltiger Mobilität
Die Nachwuchsforschungsgruppe Move-              Rahmen des Projekts unter einer Trans-
Me untersucht die Voraussetzungen für            formation zu nachhaltiger Mobilität ver-
eine Transformation zu nachhaltiger Mo-          standen wird. Auf Basis einer kurzen
bilität aus einer sozio-räumlichen Pers-         Darstellung des Forschungsstands wird
pektive. Ein besonderer Fokus liegt dabei        aufgezeigt, warum der Raumdimension
auf den Chancen und Risiken, die sich aus        bei einer solchen Transformation eine
den aktuell schon sichtbaren Verände-            zentrale Rolle zukommt. In Kapitel 3 wer-
rungsdynamiken einer Digitalisierung der         den wesentliche theoretische Grundlagen
Mobilität ergeben. Im Zentrum des Pro-           des Brückenkonzepts dargestellt. Dieses
jekts steht die Frage, wie Verkehrsverla-        verbindet Elemente der interdisziplinären
gerung und Verkehrsvermeidung als zen-           Forschung zu sozio-technischen Trans-
trale Bausteine einer Transformation zu          formationen mit theoretischen Zugängen
nachhaltiger Mobilität nicht nur in hoch         der Raumforschung. Den Ausgangspunkt
verdichteten urbanen Großstadtberei-             bildet das Mehrebenenmodell sozio-
chen, sondern auch in suburbanen Räu-            technischer Transformation (Geels, 2002).
men im Stadt-Umland-Bereich umgesetzt            Als Weiterentwicklung dieses Modells
werden können. Um diese Frage zu unter-          wird das relationale Raumverständnis von
suchen verfolgt die Nachwuchsgruppe              Sturm (2000) aus der Raumforschung auf-
den Ansatz einer raumsensiblen Erfor-            gegriffen. Kapitel 4 schlägt den Bogen zu
schung sozio-technischer Transformatio-          Schlüsselthemen einer Transformation zu
nen. Eine Besonderheit des Projekts liegt        nachhaltiger Mobilität: neue Mobilitäts-
in seiner interdisziplinären Ausrichtung.        angebote, verkehrssparsame Quartiers-
Perspektiven der Raum- und Verkehrspla-          entwicklung und die Neuaufteilung von
nung sowie der interdisziplinären Trans-         Verkehrsräumen. Dabei werden in einem
formationsforschung werden mit sozial-           ersten Schritt zentrale Grundbegriffe
wissenschaftlichen und psychologischen           dieser drei Schlüsselthemen definiert. In
Zugängen kombiniert.                             einem zweiten Schritt werden deren so-
                                                 zio-räumliche Implikationen anhand des
Ziel des Projektes ist es, die Schnittstel-      Brückenkonzepts aufgezeigt. Dabei wird
len zwischen diesen disziplinären Zugän-         deutlich, wie ein relationales Raumver-
gen in Bezug auf eine Transformation zu          ständnis dazu beitragen kann, die viel-
nachhaltiger Mobilität herauszuarbeiten.         schichtigen Wechselwirkungen zwischen
Dazu wird ein theoretisches Brückenkon-          Raum und Mobilität im Kontext von Trans-
zept entwickelt, das für unterschiedliche        formationsprozessen zu analysieren.
disziplinäre Fragestellungen anschluss-
fähig ist und zugleich ein gemeinsames
Analyseraster darstellt. In der vorliegen-
den Publikation werden zentrale Eck-
punkte dieses Brückenkonzepts darge-
stellt. In Kapitel 2 wird definiert, was im

                                                                                           Seite 5
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

2 Nachhaltige Mobilität im räumlichen Kontext
2.1 Transformation zu nachhaltiger Mobi-         Zahl der PKW wuchs vor der Corona-Krise
lität: Eine Begriffsbestimmung                   jährlich um rund eine halbe Million Fahr-
                                                 zeuge pro Jahr (Statista, 2020). Mit der
Spätestens seit erste Anzeichen der Ver-         Fahrzeugmenge steigt auch der Gesamt-
änderung des Klimas auch in Deutschland          ressourcenverbrauch des Verkehrssek-
spürbar werden, wird die Notwendigkeit           tors weiter an (Brunnengräber et al. , 2020).
zu einem Umbau des Verkehrssystems in            Im Gegensatz zu allen anderen Sektoren
Richtung ökologischer Nachhaltigkeit von         konnten im Verkehr bisher keine Erfolge
einer breiten Mehrheit des politischen           bei der Reduktion der Treibhausgasemis-
Spektrums erkannt (Sachverständigenrat           sionen erzielt werden. Vor allem das stei-
für Umweltfragen, 2020). Die Bundesre-           gende Verkehrsaufkommen kompensierte
gierung hat sich das Ziel gesetzt, den CO2-      dabei die erzielten Effizienzgewinne bei
Ausstoß des Verkehrs bis 2030 um mehr            den Fahrzeugantrieben. Erst die massiven
als 40% im Vergleich zu 1990 zu senken.          Einschränkungen des gesellschaftlichen
Verschiedene Klimaschutzszenarien für            Lebens und insbesondere der Reisetä-
den Verkehr haben gezeigt, dass für die          tigkeiten durch die Maßnahmen zur Be-
Erreichung der Klimaschutzziele ein Um-          kämpfung der Corona-Pandemie führen
stieg auf Nullemissionsfahrzeuge nicht           nun erstmals dazu, dass für das Jahr 2020
ausreichen wird (Prognos et al., 2020; Zim-      mit sinkenden CO2-Emissionen im Verkehr
mer et al., 2016): Damit der gesamte Ver-        zu rechnen ist (Umweltbundesamt, 2021).
kehrssektor mit erneuerbaren Energien
versorgt werden kann, muss zusätzlich            In den Entwicklungstrends, die vor der
die Verkehrsnachfrage gesenkt und eine           Corona-Pandemie den Verkehrssektor
Verlagerung von Verkehr auf ressourcen-          prägten, spiegeln sich auch die bisherigen
sparende Verkehrsträger erreicht werden          verkehrspolitischen      Prioritätensetzun-
(Regling et al., 2020). Dies bedeutet einen      gen. Während die Klimaschutzziele selbst
Umbau hin zu einem Mobilitätssystem mit          in Deutschland in den meisten Teilen des
weniger Autos und weniger Verkehr. Hier-         politischen Spektrums als konsensfä-
für wird oftmals der Begriff der „Mobili-        hig gelten können, sind die politischen
tätswende“ in Abgrenzung zu einer reinen         Weichenstellungen in Richtung Ver-
„Antriebswende“, also der Umstellung auf         kehrsvermeidung und -verlagerung weit-
klimaneutrale Fahrzeugantriebe, verwen-          aus umstrittener. Verkehrspolitik war in
det (Agora Verkehrswende, 2020).                 Deutschland über Jahrzehnte durch eine
                                                 Strategie der „Doppelförderung“ (Haefe-
Die bisherige verkehrliche Entwicklung           li, 2008) charakterisiert: Zwar wurde eine
steht diesen Zielen allerdings diametral         Verlagerung von Verkehr auf öffentliche
entgegen. Bis zum Beginn der Corona-Kri-         Verkehrsmittel und auch auf den Fahr-
se stieg die Gesamtverkehrsleistung kon-         rad- und Fußverkehr schon lange als wün-
tinuierlich an: laut der Studie „Mobilität       schenswertes Ziel anerkannt, gleichzeitig
in Deutschland“ zwischen 2002 und 2017           wurde aber auch die Motorisierung der
um 18 % (Nobis & Kuhnimhof, 2018). Die           Bevölkerung und die Automobilität ins-

                                                                                           Seite 6
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

gesamt massiv gefördert. Den zumindest           ter entfallen (Nobis & Kuhnimhof, 2018).
verbal angestrebten Steigerungen der             In einem nachhaltigen Verkehrssystem
Attraktivität des Umweltverbunds – be-           müsste dieser Anteil zukünftig viel hö-
stehend aus Bus, Bahn, Fahrrad und Fuß-          her liegen – nicht nur in den Großstäd-
verkehr – standen lange Zeit kaum ver-           ten, sondern auch in deren Umland und in
kehrspolitische Maßnahmen gegenüber,             kleineren Städten (Prognos et al., 2020).
die die Attraktivität des Autofahrens deut-      Gleichzeitig müsste der Anteil des PKW-
lich verringert hätten (Schwedes, 2019).         Verkehrs deutlich abnehmen. Eine Studie
Insbesondere in den Städten werden zwar          von Regling et al. (2020) geht davon aus,
seit Jahrzehnten durch Verkehrsberuhi-           dass bis 2050 der Anteil des öffentlichen
gung,      Geschwindigkeitsbegrenzungen          Verkehrs an der Gesamtverkehrsleistung
und Parkgebühren in Innenstadtbereichen          verdoppelt werden müsste. Der Anteil des
die negativen Nebenfolgen des Autover-           Autoverkehrs an allen gefahrenen Kilome-
kehrs eingedämmt; das weitere Wachs-             tern müsste im selben Zeitraum von rund
tum von Autonutzung und -besitz konnte           75 % auf 50 % sinken (ebd.). Insbesondere
so jedoch bisher nur in den am stärksten         im Nahbereich müsste zudem das Fahr-
verdichteten Bereichen der Metropolen            rad und der Fußverkehr zukünftig eine viel
verlangsamt werden (Gerike et al., 2020).        größere Rolle spielen.

Die ambitionierten Klimaschutzziele im           Die Erreichung dieser Ziele macht einen
Verkehr stellen diese verkehrspolitische         umfassenden Wandel gesellschaftlicher
Strategie nun auf den Prüfstand. Statt           Mobilitätspraktiken erforderlich, der weit
vor allem auf eine Förderung des öffent-         über rein technische oder planerische An-
lichen Verkehrs und des nicht-motorisier-        passungen hinausgeht. Für einen solchen
ten Verkehrs zu setzen, erfordern diese          Wandlungsprozess wird daher hier der
Ziele einen Umbau des gesamten Mobili-           Begriff der sozio-technischen Transfor-
tätssystems und eine Neuausrichtung der          mation verwendet (Geels, 2002), der die
Raumentwicklung am Umweltverbund.                intensive Verflechtung zwischen sozialen
Um den Anteil des privaten PKW am Mo-            und technischen Strukturen in der mo-
dal Split zu senken, müsste in einem kli-        dernen Gesellschaft betont. Aus dieser
magerechten Verkehrssystem der öffent-           Perspektive wird deutlich, wie vorausset-
liche Verkehr zukünftig eine viel größere        zungsvoll ein Umbau solcher sozio-tech-
Rolle einnehmen als heute (Regling et al.,       nischer Strukturen wie dem Mobilitäts-
2020). Aktuell ist die Nutzung von Bus und       system sowohl auf individueller als auch
Bahn auf die Großstädte konzentriert, wo         auf politischer Ebene ist. Mit Blick auf
öffentliche Verkehrsmittel Anteile von bis       die heute dominanten Muster der Ver-
zu 26 % an den Wegen erreichen (Nobis,           kehrsmittelwahl betont der Begriff der
2019); insgesamt aber macht der öffent-          sozio-technischen Transformation, dass
liche Nah- und Fernverkehr zusammen              insbesondere das Automobil fest in den
nur rund 10 % der Wege und 19 % des              gewachsenen gesellschaftlichen Struk-
Verkehrsaufwands aus, während auf das            turen – vom Wirtschaftssystem über
Auto rund 75 % der gefahrenen Kilome-            gesetzliche Regularien, von Mobilitäts-

                                                                                           Seite 7
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

routinen, bis hin zu kulturellen Vorstellun-      dabei die deutlichen Unterschiede in den
gen eines „guten Lebens“ – verankert ist          Mobilitätsmustern und insbesondere der
(vgl. z. B. Canzler et al., 2018; Mattioli et     Verkehrsmittelwahl zwischen urbanen
al., 2020; Paterson, 2007; Ruhrort, 2019;         Zentren, suburbanen und ländlichen Ge-
Urry, 2004). Eine besondere Rolle neh-            bieten (Nobis & Kuhnimhof, 2018): Zum
men dabei räumliche Strukturen ein. Aus           Beispiel besitzen in den Metropolen 42
verschiedenen disziplinären Zugängen,             % der Haushalte kein Auto, während es
unter anderem der sozialwissenschaftli-           im ländlichen Raum nur 11 % sind; der
chen Mobilitätsforschung, der Technikge-          Anteil des öffentlichen Verkehrs liegt in
schichte sowie der Raumforschung wurde            einigen Städten bei über 25 % der Wege,
immer wieder herausgearbeitet, wie stark          während er im ländlichen Raum bei unter
das Automobil, ebenso wie vorher ande-            7 % liegt (ebd.). Bei der Untersuchung der
re Verkehrsmittel, die Entwicklung von            Determinanten des Verkehrsverhaltens
räumlichen Strukturen geprägt hat (Kut-           und insbesondere der Verkehrsmittelwahl
ter, 2016). Durch die enge Wechselwir-            zeigt sich, dass den Siedlungsstrukturen
kung zwischen Siedlungsstrukturen, Ver-           neben individuellen Merkmalen wie Alter,
kehrsinfrastrukturen und Verkehrsmitteln          Geschlecht, sozio-ökonomischer Status
wurden die räumlichen Verflechtungen,             und Lebenslage eine wichtige Bedeutung
entfernungsintensiven Lebensstile und             zukommt (für eine Übersicht vgl. Scheiner
Wirtschaftsbeziehungen erst ermöglicht,           2015). Dies ist auch dadurch zu erklären,
die für die moderne Gesellschaft prägend          dass mit den Siedlungsstrukturen oftmals
sind (Schwedes, 2019). Um die möglichen           das Angebot an Alternativen zum Auto va-
Ansatzpunkte für eine sozio-technische            riiert (Kutter, 2016). Auch der Einfluss von
Transformation im Verkehr zu verstehen,           Einstellungen und Lebensstilen auf Ver-
ist es mithin zentral, die Raumdimen-             kehrsverhalten und Verkehrsmittelwahl
sion in den Blick zu nehmen. Im Folgen-           wurde umfangreich untersucht (Bamberg
den werden daher die Wechselwirkungen             et al., 2003; Hunecke, 2015; Kandt et al.,
zwischen Raum und Verkehr anhand von              2015; Steg, 2003). Insgesamt wird den
Kernerkenntnissen der interdisziplinären          Raum- und Siedlungsstrukturen eine zen-
Raum- und Verkehrsforschung vorgestellt.          trale, wenn auch nicht allein bestimmen-
                                                  de Rolle für das Verkehrsverhalten attes-
2.2 Wechselwirkungen zwischen Raum                tiert (Scheiner, 2015).
und Mobilität: Kernerkenntnisse der in-
terdisziplinären Mobilitätsforschung              Doch wird nicht nur das Verkehrshandeln
                                                  von den räumlichen Strukturen mit be-
Die Nachwuchsforschungsgruppe Move-               einflusst, sondern Verkehrsmuster prä-
Me knüpft in Hinblick auf die Wechsel-            gen umgekehrt auch die Raumstrukturen.
wirkungen zwischen Raum und Mobilität             Der Regelkreis „Flächennutzung und Ver-
an eine breite Wissensbasis an (Beck-             kehr“ (Abb. 1) verdeutlicht schematisch
mann et al., 2011; Matthes & Gertz, 2014;         die Wirkungszusammenhänge zwischen
Scheiner, 2015; Scheiner & Holz-Rau,              räumlicher Stadtentwicklung und Stand-
2007). Ein zentraler Ausgangspunkt sind           ortwahl- und Mobilitätsentscheidungen

                                                                                            Seite 8
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

(Wegener, 1999).                                    lativ wenig Verkehrsaufwand gesichert
                                                    werden. Auch die Möglichkeit, ein attrak-
                                                    tives ÖPNV-Angebot als Alternative zum
                                                    privaten PKW-Verkehr bereitzustellen,
                                                    hängt direkt mit der Siedlungsdichte zu-
                                                    sammen (Kutter, 2016) – insofern ist das
                                                    Potential zur Verlagerung auf ökologisch
                                                    vergleichsweise effiziente Verkehrsmittel
                                                    auch stark von den Raumstrukturen ab-
                                                    hängig. Raumpolitische Leitbilder einer
                                                    „Stadt der kurzen Wege“ und der „dezen-
                                                    tralen Konzentration“ gelten somit auch
                                                    als zentrale – wenn auch nicht unumstrit-
                                                    tene – Stellschrauben einer ressourcen-
                                                    schonenden Verkehrsentwicklungspolitik,
Abb. 1: Regelkreis Flächennutzung und Verkehr       die auf Verkehrsvermeidung und -verlage-
(Wegener, 1999).
                                                    rung abzielt (Beckmann et al., 2011).
Demnach bestimmen Flächennutzungen
wie Wohngebiete bzw. Industrie- und Ge-             In der Forschung zu den Determinan-
werbegebiete die Standorte der Haus-                ten des Verkehrsverhaltens wird dabei
halte sowie Betriebe und daraus folgend             allerdings kritisch diskutiert, wie stark
auch die Standorte für Aktivitäten wie              der relative Einfluss der Siedlungsstruk-
Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Bildung und            turen und Raumqualitäten im Verhält-
Erholung. Damit einher gehen notwendi-              nis zu personenbezogenen Faktoren wie
ge Ortsveränderungen, um die räumliche              Wohnstandortpräferenzen, Einkommen
Entfernung zwischen diesen Aktivitäts-              und Lebenslage ist. Vor allem die For-
standorten zu überwinden. Reisezeiten,              schung zum Effekt der „residentiellen
Wegelängen und Wegekosten beeinflus-                Selbstselektion“ hat dazu beigetragen,
sen Erreichbarkeiten und somit die Mög-             den direkten Einfluss von Raumcharak-
lichkeiten für Ortsveränderungen. Die               teristika auf das Verkehrsverhalten und
Folge dieser Ortsveränderungen sind Ver-            insbesondere die Verkehrsmittelwahl zu
kehrsströme (Wegener, 1999).                        relativieren: Zum Teil lässt sich demnach
                                                    etwa die verstärkte Nutzung des ÖPNV in
Die daraus abzuleitende Bedeutung einer             verdichteten Quartieren damit erklären,
verkehrssparsamen Raum- und Sied-                   dass Menschen mit ÖV-Affinität bevor-
lungsentwicklung für eine nachhaltige               zugt in diese Quartiere ziehen (van Wee &
Mobilität ist vielfach beschrieben worden           Boarnet, 2014). Andererseits finden etwa
(Beckmann et al., 2011; Kutter, 2016): Nur          Scheiner und Holz-Rau (2013) mit ihrem
unter den Bedingungen einer gewissen                mobilitätsbiografischen Ansatz deutliche
Dichte von Versorgungs-, Arbeits- und               Hinweise auf direkte Effekte der raum-
Wohnraumangeboten kann Mobilität im                 strukturellen Gegebenheiten am Wohnort
Sinne gesellschaftlicher Teilhabe mit re-           auf die Verkehrsmittelwahl. Der relative

                                                                                              Seite 9
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Einfluss von residentieller Selbstselek-        werdende Bedeutung zugesprochen wird,
tion auf das Verkehrsverhalten bleibt so        bleiben strukturelle Rahmenbedingungen
Gegenstand einer kontroversen Diskus-           für die Verkehrsplanung jedoch weiter re-
sion in den Verkehrswissenschaften (Cao,        levant, da personenbezogene Faktoren
2014; Naess, 2014).                             durch traditionelle Verkehrsplanung und
                                                Verkehrspolitik schwer steuerbar sind
Eine weitere Relativierung betrifft die         (Scheiner, 2015).
Frage, inwieweit Planung und insbeson-
dere lokale und regionale Raum- und Ver-        Insgesamt macht die Vielzahl der vor-
kehrsplanung die Entwicklung von Ver-           handenen Studien deutlich, dass das Ver-
kehrsmustern überhaupt steuern können.          kehrsverhalten ein komplexes Gesche-
So verknüpft etwa der oben dargestellte         hen ist, dass nur unter Berücksichtigung
Regelkreis Flächennutzung und Verkehr           unterschiedlicher Faktoren verstanden
(Wegener, 1999). Jedoch zeigen die kom-         werden kann (Scheiner, 2015). Raumbe-
plexen Wirkungszusammenhänge der                zogene Faktoren spielen dabei eine wich-
Entstehung von Verkehr, wie schwierig es        tige, wenn auch nicht allein dominante
ist, diese zu steuern. Prägende Faktoren        Rolle (Beckmann et al., 2006). Zudem
der Raum- und Verkehrsentwicklung wie           sind die Möglichkeiten, Verkehrsentwick-
z. B. die Angleichung von Geschlechterrol-      lung gezielt durch planerische Eingriffe
len, die Spezialisierung auf dem Arbeits-       auf der lokalen oder regionalen Ebene zu
markt oder ökonomische Entwicklungen            steuern, grundsätzlich begrenzt. Dessen
werden nicht berücksichtigt (Holz-Rau           ungeachtet erscheint es notwendig, die
& Scheiner, 2016). Insbesondere in der          unterschiedlichen Voraussetzungen für
Pendlerforschung zeigt sich, dass Ver-          Verkehrsverlagerung und -vermeidung in
kehrsaufkommen und Verkehrsaufwand              verschiedenen Raumtypen systematisch
zunehmend von individuellen Faktoren            zu untersuchen. Einen ersten Ansatz-
beeinflusst werden. Haas und Hamann             punkt dafür bilden planerische Raumka-
(2008) zeigen, dass die Pendelbereit-           tegorisierungen, die versuchen, die ver-
schaft mit zunehmender beruflicher              kehrsrelevanten Merkmale von Räumen
Qualifikation steigt. Höher qualifizierte       systematisch zu erfassen.
Arbeitskräfte nehmen zudem längere Ar-
beitswege auf sich, entweder durch ihre         2.3 Ansätze für die Operationalisierung
eigene Bereitschaft für einen gut entlohn-      räumlicher Transformation im Feld der
ten Job längere Distanzen zu bewältigen,        Mobilität: Verkehrsbezogene Raumtypo-
oder durch die hohe Spezialisierung des         logien
Arbeitsmarktes und den damit verbunde-
nen Schwierigkeiten, die geeignete Stelle       Mobilität wird maßgeblich durch die
für sich zu finden (Dauth & Haller, 2018;       räumlichen Ausprägungen beeinflusst,
Holz-Rau et al., 2014; Papanikolaou, 2009;      von Dichtekriterien über die Wohnstand-
Pütz, 2015). Obwohl individuelle Einfluss-      ortwahl oder die Infrastrukturausstat-
faktoren im Vergleich zu raumstruktu-           tung. Eine erste Betrachtungsdimension
rellen Determinanten eine immer größer          unterscheidet zwischen der regionalen
                                                und lokalen Ebene. Darüber hinaus wird in

                                                                                         Seite 10
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

der Mobilitätsforschung zwischen urba-          siedlungsstrukturellen Kriterien, berück-
nen, hoch verdichteten Großstadtberei-          sichtigt jedoch keine regionalen Lagefak-
chen und ländlich-geprägten Räumen un-          toren (BMVI, 2018a). Das Bundesministe-
terschieden. Für die Forschung innerhalb        rium für Verkehr und digitale Infrastruktur
der Forschungsgruppe MoveMe bedarf es           (BMVI) hat deshalb mit Unterstützung
darüber hinaus einer räumlichen Typisie-        des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und
rung, die quantifizierbare Unterschiede         Raumforschung (BBSR) die Regionalsta-
der Struktur- und Mobilitätskennwerte           tistische Raumtypologie (RegioStaR) für
innerhalb einer Region aufzeigt. Während        die Mobilitäts- und Verkehrsforschung
die Typisierung von Newman et al. (2016)        entwickelt. Diese Raumtypologie bietet
der „urban fabrics“ eine gesamte Stadt          mit mehreren aufeinander aufbauenden
auf Grundlage der im jeweiligen Raum            siedlungsstrukturellen Raumtypen ein
dominanten Verkehrssysteme und dem              Instrument,     Wirkungszusammenhänge
Reisezeit-Budget unterteilt, entwickelten       zwischen Verkehr und Raumstrukturen
Matthes & Gertz (2014) eine Raumtypisie-        zu analysieren (BMVI, 2018b). Sie unter-
rung, die eine hierarchische Abstufung von      scheidet auf verschiedenen hierarchi-
Räumen auf Basis kleinräumiger, hoch-           schen Ebenen bis zu 17 verschiedene
aufgelöster Struktur- und Verkehrsdaten,        Raumtypen, vom kleinstädtischen, dörf-
unter Verwendung eines städtischen Ver-         lichen Raum, bis hin zur Metropole. Die
kehrsmodells nach dem Kriterium ihrer           Zuordnung der Typisierung erfolgt auf
Verkehrssparsamkeit zulässt. Neben die-         Grundlage der Daten auf Gemeindeebene.
sem großräumigen ersteren Ansatz und            Unterschieden werden zunächst Stadt-
dem kleinräumigen zweiteren Ansatz be-          regionen und ländliche Regionen. Diese
darf es der Analyse auf regionaler Ebene        beiden Regionstypen werden dann weiter
einer Typisierung, welche Unterschiede in       differenziert, indem Metropolitane und
einer Region auf Gemeindeebene deut-            Regiopolitane Stadtregionen auf der einen
lich aufzeigt. Einen viel verwendeten An-       Seite und Stadtregionsnahe ländliche Re-
satz zur Typisierung von Räumen für die         gionen und Periphere ländliche Regionen
Zwecke der Mobilitäts- und Verkehrs-            unterschieden werden. Durch eine weitere
forschung stellt die Regionalstatistische       Untergliederung in je vier bzw. fünf Unter-
Raumtypologie (RegioStaR) dar. Bis vor          kategorien ergeben sich so 17 Raumtypen
wenigen Jahren galten die siedlungs-            (Tab. 1) (BMVI, 2018b). Diese dienen im
strukturellen Kreistypen (später auch           Rahmen des Projekts MoveMe als Aus-
auf Gemeindeebene) des Bundesinsti-             gangspunkt der räumlichen Beschreibung
tuts für Bau-, Stadt- und Raumforschung         der Untersuchungsregion.
(BBSR) als wichtigste Raumtypisierung
für die Analyse räumlicher Entwicklung
in Deutschland. Auf europäischer Ebene
wurde 2003 die TERCET-Raumtypisierung
rechtlich als räumliche Auswertungs-
systematik verankert. Diese territoriale
Raumtypisierung basiert zwar auch auf

                                                                                         Seite 11
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Tab. 1: Regionalstatistische Raumtypologie für die Mobilitäts- und Verkehrsforschung (BMVI, 2018b).

Abb. 2: Modal-Split-Ziele 2050 (Stadtregionen). Eigene Darstellung nach Regling et al., 2020: 74.

                                                                                                    Seite 12
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Die Raumtypisierung des BBSR bildet eine          modell sozio-technischer Transformatio-
Grundlage, um auf Gemeindeebene Räu-              nen eingeführt und mit einem relationalen
me mit unterschiedlichen Voraussetzun-            Raumverständnis verschränkt.
gen für eine Transformation im Feld der
Mobilität zu unterscheiden. So kann da-
von ausgegangen werden, dass in Stadt-
regionen die Voraussetzungen für eine
Verlagerung von Verkehren auf den Um-
weltverbund einfacher zu realisieren sind
als in ländlichen Regionen. In einer Met-
ropolregion dürften wiederum die Zielset-
zung, Verkehre auf den Umweltverbund
zu verlagern, innerhalb der Metropole auf
günstigere Voraussetzungen treffen als
in den Umlandgemeinden. Regling et al.
(2020) kommen auf dieser Basis zu stark
unterschiedlichen Zielen der Verkehrsver-
lagerung auch innerhalb der Stadtregio-
nen (Abb. 2).

Die räumliche Typisierung kann jedoch
lediglich begrenzt die lokalspezifischen
Voraussetzungen einer sozio-räumlichen
Transformation zu nachhaltigem Mobili-
tätsverhalten abbilden. Wie oben bereits
ausgeführt muss eine Transformation zu
nachhaltiger Mobilität als vieldimensio-
naler gesellschaftlicher Prozess betrach-
tet werden. Das bestehende sozio-techni-
sche System der Mobilität umfasst nicht
nur physische Raumstrukturen, sondern
auch eine Vielzahl von kulturellen, regula-
tiven und institutionellen Strukturen. Um
diese Mehrdimensionalität interdiszipli-
när zu untersuchen, greifen wir daher auf
ein differenzierteres Modell sozio-tech-
nischer Transformationsprozesse zurück.
Zugleich muss ein theoretisches Rahmen-
konzept eine vielschichtige Analyse von
Raumdimensionen und Raumprozessen
ermöglichen. Im folgenden Kapitel wird
vor diesem Hintergrund das Mehrebenen-

                                                                                          Seite 13
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

3 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Umsetzung
3.1 Das Mehrebenenmodell sozio-techni-          kerungsgruppen gegenüber (verkehrs-)
scher Transformation                            politischen Maßnahmen und Leitbildern
                                                abbilden (Ruhrort, 2019). Der Begriff des
Die Ausgangsbasis des hier vorgeschlage-        Regimes betont, dass bestehende sozio-
nen theoretischen Brückenkonzepts bil-          technische Arrangements insbesondere
det das Mehrebenenmodell sozio-techni-          auch durch implizite Vorstellungen und
scher Transformation (MLP) (Geels, 2002;        Orientierungen, die für bestimmte sozia-
Kemp et al., 1998). Dieser Forschungsan-        le Gruppen als unhinterfragte Normalität
satz bietet einen analytischen Rahmen für       gelten.
die Untersuchung sozio-technischer Ver-
änderungsprozesse, wie etwa die Durch-          Insgesamt hebt der Begriff des „Regimes“
setzung von alternativen Antriebsformen,        die Festigkeit etablierter Strukturen in
aber auch den tiefgreifenden Umbau von          gewachsenen sozio-technischen Arran-
bisher dominanten Mustern der Mobilität         gements hervor, die in der Regel lediglich
(Geels, 2012). Der Fokus des Modells liegt      inkrementellen Wandlungsprozessen un-
auf der Untersuchung der Beharrungs-            terworfen sind. In Bezug auf die Möglich-
kräfte, die sozio-technischen Arrange-          keiten für die Verlagerung und Vermeidung
ments ihre Stabilität verleihen sowie der       von Verkehr stellt sich demgegenüber die
Umstände und Systemdynamiken, durch             Frage, unter welchen Bedingungen etab-
die Veränderungsprozesse möglich wer-           lierte sozio-technische Regime verändert
den (Geels et al., 2018). Im Zentrum des        werden können: Wie kann insbesondere
Modells steht die analytische Unterschei-       ein Wandel hin zu einem Verkehrssystem
dung von drei Ebenen, Regime, Nische            mit wesentlich weniger Autoverkehr mög-
und Landschaft, die wechselseitig aufein-       lich werden? Der Regime-Begriff verweist
ander einwirken. Vorhandene sozio-tech-         dabei darauf, dass es hierbei nicht um
nische Arrangements verfestigen sich            den Austausch einzelner Elemente gehen
nach Geels (2002) in Form von sozio-tech-       kann, sondern um einen tiefgreifenden
nischen Systemen. Hinter diesen stehen          Umbau, der auch die Ebene von institutio-
wiederum sozio-technische Regimes, die          nellen Rahmenbedingungen, Interessen-
als geteiltes Set von Regeln und Interpre-      strukturen, Denk- und Verhaltensmustern
tationen verstanden werden können, an           umfasst.
denen sich die Systemakteure in ihrem
Handeln orientieren. Entscheidend für die       Solche umfassenden Wandlungsprozes-
Beschreibung von sozio-technischen Re-          se können laut Geels (2002) sowohl von
gimes sind sowohl materielle und mess-          Nischeninnovationen, als auch von Ver-
bare Elemente wie materielle Artefakte,         schiebungen auf der Ebene der sogenann-
Marktanteile, Infrastrukturen, gesetzliche      ten „sozio-technischen Landschaft“ bzw.
Rahmenbedingungen,         Konsummuster,        einem Zusammenspiel von beiden ausge-
aber auch Diskurse, die sich zum Beispiel       hen. Die sozio-technische Landschaft be-
in der Meinung verschiedener Bevöl-             zeichnet dabei den übergeordneten Kon-

                                                                                         Seite 14
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

text, innerhalb dessen sich Regime- und          (2012) geht davon aus, dass umfassende
Nischenaktivitäten abspielen und umfasst         Transformationsprozesse nicht anhand
z. B. räumliche Strukturen (wie die Stadt-       von linearen Trendfortschreibungen vor-
gestalt oder lokale Planungskulturen), po-       hergesagt werden können. Stattdessen
litische Ideologien, gesellschaftliche Wer-      betont er die Bedeutung sich gegenseitig
te, Überzeugungen, die Medienlandschaft          verstärkender Entwicklungen (Feedback
und makroökonomische Trends (Geels,              Cycles), Hype-Enttäuschungs-Zyklen so-
2012). Unterhalb der Ebene des etablier-         wie von Prozessen der Ko-Evolution (Ge-
ten sozio-technischen Regimes liegt bei          els, 2012). Ein zentrales Konzept in einem
Geels die Ebene der Nischen, in denen al-        solchen nicht-linearen Modell sozio-
ternative sozio-technische Arrangements          technischen Wandels ist das der “Tipping
entwickelt und getestet werden. Diese            Points”, an denen eine bisher lineare Ent-
Nischen werden als geschützte Räume              wicklung sich radikal verändert oder be-
wie Forschungs- und Entwicklungslabore,          schleunigt. Urry (2004) nimmt an, dass nur
subventionierte Demonstrationsprojekte           durch eine solche nicht-lineare Entwick-
oder kleine Marktnischen gesehen (Geels,         lung eine umfassende Transformation des
2012). Von diesen Nischen können Impul-          bisherigen Verkehrssystems denkbar ist.
se für eine Veränderung des dominanten           Mehrere Einflussfaktoren müssen dabei
sozio-technischen Regimes ausgehen –             zusammenkommen, um durch selbstver-
seien es radikale Veränderungen, inkre-          stärkende Effekte einen Tipping Point her-
mentelle Anpassungen oder räumlich be-           beizuführen. Seine Analyse erinnert damit
schränkte Ergänzungen des bestehenden            daran, vor allem nach Wechselwirkungen
Regimes. Unter bestimmten Umständen              zwischen verschiedenen Entwicklungsli-
kann die Mehrebenendynamik „windows              nien und Faktoren Ausschau zu halten. Ein
of opportunity“ eröffnen, die es Nischen-        Wandel hin zu einem nachhaltigeren Mo-
innovationen ermöglichen, an Dynamik zu          bilitätssystem mit deutlich weniger pri-
gewinnen und das gegebene soziotech-             vatem Autoverkehr ist aus Sicht von Urry
nische Regime zu bedrohen. Dies kann             zunächst einmal ein unwahrscheinliches
zu Veränderungen der Regimestrukturen            Ergebnis. Nur wenn sich verschiedene
oder zur Etablierung eines neuen sozio-          Einflussfaktoren auf womöglich schwer
technischen Regimes führen.                      vorhersehbare Weise gegenseitig verstär-
                                                 ken, wird ein solcher Wandel denkbar.
In Bezug auf den Personenverkehr betont
Geels (2012) wie schon Urry (2004) die ex-       Aktuell gibt es im Feld der Mobilität einige
treme Stabilität des automobilzentrier-          Hinweise auf solch beginnenden Wand-
ten Mobilitätssystems (vgl. auch Mattioli        lungsdynamiken (Canzler et al., 2018).
et al., 2020). Urry (ebd.) zieht daraus den      Dazu gehören zunehmende verkehrspoli-
Schluss, dass eine umfassende Transfor-          tische Diskussionen in vielen Städten über
mation dieses Systems nur dann möglich           die Rolle der verschiedenen Verkehrsträ-
sein wird, wenn nicht-lineare selbst ver-        ger und deren Ansprüche auf die Nutzung
stärkende Effekte auf Basis von mehreren         öffentlicher Räume (Becker et al., 2020).
Faktoren zusammenkommen. Auch Geels              Dazu gehört auch der intensive politische

                                                                                          Seite 15
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

Diskurs über die Klimaschutzziele, die           Transformationen in jedwedem Bereich
insbesondere in den Jahren 2018/2019             finden im Raum statt, verändern diesen,
einen vorläufigen Höhepunkt erreichten.          und die so entstehenden Räume sind
Auch die Corona-Pandemie mit den dazu-           wiederum Ausgangspunkt neuer Verän-
gehörenden drastischen Einschränkun-             derungen. Dabei spielt nicht nur der phy-
gen gewohnter Mobilitätsmuster kann als          sisch-materielle Platz eine wichtige Rolle,
potentieller Faktor Druck auf bestehen-          sondern auch die bestehenden Nutzun-
den Regime-Strukturen auslösen. Im Feld          gen, Funktionen oder Regulationen, die
der Automobilität sind diese zudem seit          den Raum kennzeichnen. Diese Multi-
mehreren Jahren unter verstärkten Ver-           dimensionalität von Raum spielt bei der
änderungsdruck durch die zunehmende              Betrachtung von sozio-räumlichen Trans-
Marktbedeutung digitaler Technologien            formationsprozessen eine tragende Rolle
und der entsprechenden neuen Markt-              (Wirth & Levin-Keitel, 2020). Grundlage
akteure geraten (Canzler et al., 2018).          einer räumlichen Perspektive auf Trans-
Während sich allerdings im Bereich der           formationsprozesse ist dementspre-
alternativen Antriebstechnologien bereits        chend ein relationales Raumverständnis,
eine entscheidende Destabilisierung bis-         welches Raum gleichermaßen als Natur-
heriger Regime-Strukturen vollzogen hat          und Kulturprodukt versteht. Raum gibt
(Agora Verkehrswende, 2019a), ist bisher         somit Handlungen vor, wird gleichzeitig
offen, inwieweit auch eine Transformati-         durch Handlungen konstituiert (doppel-
onsdynamik im Sinne von Verkehrsverla-           te Konstituierung) und ist immer an die
gerung und -vermeidung eingeleitet wer-          jeweiligen Wechselwirkungen zwischen
den könnte.                                      den physisch-materiellen und den sozial-
                                                 konstruierten Raumdimensionen gekop-
3.2 Ein relationales Raumverständnis als         pelt. Die physisch-materielle Dimension
Grundlage für eine raumsensible Trans-           von Raum entspricht einem Euklidischen
formationsforschung                              Raumverständnis und wird auch Con-
                                                 tainerraum genannt. Der Raum als neu-
Unter dem Begriff der sozio-technischen          traler Container kann dabei beliebig mit
Transformation beschäftigen sich unter-          gesellschaftlichem Handeln und Gegen-
schiedliche Disziplinen mit den Ansatz-          ständen gefüllt werden oder eben leer
punkten für nachhaltige Entwicklung              bleiben (Löw & Sturm, 2005). Den Gegen-
auch im Bereich der Mobilität. In der brei-      pol zu einem absoluten Raumverständnis
ten interdisziplinären Literatur, die sich       bildet eine sozial-konstruierte Raumvor-
mit Nachhaltigkeitstransformationen be-          stellung. Die sozial-konstruierte Raumdi-
schäftigt, spielt die räumliche Dimension        mension beschreibt Räume als Ergebnis
bisher allerdings noch eine relativ unter-       der Anordnung von Körpern und wird als
geordnete Rolle. Ansätze einer raumsen-          Beziehungsraum verstanden, der sowohl
siblen Transformationsforschung versu-           als Gesellschaft strukturierend, wie auch
chen die Raumdimension stärker in dieses         als gesellschaftlich strukturiert und ver-
Forschungsfeld zu integrieren (Binz et al.,      änderbar begriffen werden muss (Löw &
2020; Coenen & Truffer, 2012).                   Sturm, 2005).

                                                                                          Seite 16
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

In den Raumwissenschaften wurde das re-           räumlicher Daten, Analysen und Bewer-
lationale Raumverständnis von Autor*in-           tungen, die auch in der Transformations-
nen wie Dieter Läpple, Gabriele Sturm,            forschung wertvoll sein können. Erstens
Martina Löw und Benno Werlen in den               haben räumlich verankerte Daten die
deutschsprachigen Diskurs übertragen.             Eigenschaften, sektorale bzw. disziplinä-
Werlens Konzeption der handlungsorien-            re Wissensarten zu integrieren („Spatial
tierten Sozialgeografie beschreibt das            analysis examines data in cross-section”,
Verhältnis von Raum und Gesellschaft und          2004: 4), da sich bereits durch die Veror-
versucht, die Bedeutung des Räumlichen            tung der Daten Verknüpfungen zu anderen
für die Konstitution gesellschaftlicher           Daten im selben Raum machen lassen. In
Wirklichkeiten zu erfassen (Werlen, 1997).        Bezug auf die Transformationsforschung
Seine Arbeiten begründen ein Verständnis          wie auch auf die planungsbezogene For-
von „Geographie-Machen“, in dem die all-          schung ist solch eine integrierte Betrach-
täglichen Handlungen der Subjekte aus-            tungsweise elementar, um die zukünftige
schlaggebend sind, und der Raum selbst            Entwicklung eines komplexen Systems
nicht als Forschungsgegenstand akzep-             wie einem Stadtviertel, einer Stadt oder
tiert wird. Raum wird dabei stets auch            einer Region neu zu denken (z. B. auch
aus der relationalen Bezugnahme auf den           Raum als Brückenkonzept in Levin-Keitel
physisch-materiellen Kontext des Han-             et al., 2018), und zwar nicht nur in Bezug
delns generiert (Werlen, 1995). Ein relatio-      auf Mobilität, sondern auch in Hinblick
nales Raumverständnis liegt auch den Ar-          auf die Auswirkungen auf Arbeiten und
beiten des Forschungsprojektes MoveMe             Wohnen oder Fragen der Nahversorgung.
zugrunde. Im Sinne einer raumsensiblen            Zweitens identifizieren Goodchild & Ja-
Transformationsforschung bedeutet dies,           nelle (2004) räumliche Perspektiven als
die komplexen Wechselwirkungen zwi-               Brücke von forschungsrelevantem Wissen
schen räumlicher Lage, raumstrukturellen          zu politischen Inhalten („space can provi-
Merkmalen sowie spezifischen Nutzun-              de an integrating mechanism for the soci-
gen und Funktionen oder Regulationen zu           al sciences, and a mechanism for linking
identifizieren und Möglichkeiten der Ana-         science to policy”, 2004: 4). In Form von
lyse von Wirkungszusammenhängen auf-              normativem Zielwissen wie Leitbildern,
zuzeigen.                                         Masterplänen oder Zielbildern werden
                                                  wissenschaftliche Erkenntnisse in räum-
3.3 Räumliche Perspektiven auf Transfor-          lich konkrete Zielvorstellungen übersetzt:
mationsprozesse: Mehrwert und Stand               Wie soll die Mobilitätswende in einem
der Diskussion                                    bestimmten Stadtteil aussehen, wie in
                                                  der Innenstadt einer großen Metropole
Der Mehrwert einer explizit räumlichen            und wie in einer ländlich geprägten Um-
Perspektive auf Transformationsprozesse           landgemeinde? Drittens kann von räum-
wurde insbesondere im Kontext des ‚spa-           lich verorteten Daten und Analysen eine
tial turn’ in den Sozialwissenschaften all-       Handlungsorientierung abgeleitet werden
gemein hervorgehoben. Goodchild & Ja-             (Levin-Keitel et al., 2018). Damit bedie-
nelle (2004) identifizieren Eigenschaften         nen räumliche Perspektiven auf Transfor-

                                                                                          Seite 17
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

mationsprozesse gerade im Hinblick auf            sowie auf Maßstabsfragen konzentrieren.
transdisziplinäre Forschung eine wichti-          Sie begannen, lokalspezifische institu-
ge Aufgabe in der Vermittlung zwischen            tionelle Rahmenbedingungen zu analysie-
Wissenschaft und Praxis, zwischen wis-            ren (e.g. Truffer et al., 2015; Raven et al.,
senschaftlichem Wissen und praktischer            2012; Nevens et al., 2013), um Kontexte
Anwendung. Sowohl die integrierte Sicht-          und Potentiale einzelner Nachhaltigkeits-
weise als auch die Übersetzungsbrücke             experimente zu verstehen (e.g. Coenen &
zwischen Wissenschaft und Praxis sowie            Truffer, 2012; Coenen et al., 2010). Dieser
die konkrete Übertragung in lokalspezi-           deutlich von der Wirtschaftsgeographie
fische Handlungsalternativen zeigen die           geprägte Ansatz fokussiert sich stark auf
nicht zu unterschätzende Bedeutung ei-            die Analyse von (oftmals technischen) Ni-
nes räumlichen Verständnisses für lang-           schen und deren Implementationen in das
fristigen Wandel auf.                             sozio-technische Regime. Wenig berück-
                                                  sichtigt bleiben lokalspezifische Voraus-
Die „Geographies of Transition“ (Binz et          setzungen, wie städtische und ländliche
al., 2020; Loorbach et al., 2017; Markard         Settings, schrumpfende und wachsende
et al., 2012; Raven et al., 2012; Binz et         Städte, sozialräumliche Verflechtungen
al., 2014; Truffer et al., 2015), ein relativ     innerhalb von Quartieren sowie regionale
junger Ansatz innerhalb der Transition            und nationale Einflüsse (Boschma et al.,
Studies, zielen darauf ab, eine räumliche         2017). Der urbane Raum hat in der Trans-
Perspektive auf Transformationsprozesse           formationsforschung eine besondere Be-
zu entwickeln. Dabei werden Fragen nach           deutung, was durch die Prominenz des
räumlichen Kontexten und dem allgemei-            Begriffs der „Urban Transitions“ deutlich
nen Verständnis von Raum ins Zentrum              wird (vgl. Publikationsreihen Urban Tran-
gerückt (Köhler et al., 2019; Binz et al.,        sitions, Urban Transformation etc.). Auch
2020): Inwieweit spielen räumliche Ebe-           in den Geographies of Transition betonen
nen (national, regional, lokal) eine Rolle,       Hansen und Coenen (2015: 15) die Be-
um Transformationsprozesse zu initiie-            deutung der geographischen Nähe für ge-
ren? Wie wirken sich lokale Interventio-          meinsame Interaktionen und Experimen-
nen und Experimente in Nischen auf den            te und beziehen sich damit auf den stark
lokalen Kontext aus? In welchen sozial-           verdichteten städtischen Raum. In einer
räumlichen Arrangements entfalten Maß-            interdisziplinären virtuellen Webinarreihe
nahmen ihre volle Wirkung, in welchen             in 2020 (Youtube channel: Geography of
Räumen braucht es andere Maßnahmen?               Sustainability Transitions) wurden unter-
Und wie sind Transformationsprozesse              schiedliche Forschungsansätze der Geo-
in formalisierte Planungs- und Entschei-          gephies of Transition diskutiert und dabei
dungskontexte zu integrieren? Hansen              ein Ruf nach einem systematisch-verglei-
und Coenen (2015) begannen beispiels-             chendem Forschungsansatz formuliert,
weise, Raum und räumlichen Kontext                um den Einfluss räumlicher Kontexte und
als grundlegenden Einflussfaktor in die           Prozesse besser herauszuarbeiten (Han-
Transformationsforschung einzubringen,            sen & Coenen, 2015; Wolfram & Frantzes-
indem sie sich auf das Lokalspezifische           kaki, 2016; Hodson et al., 2017; Köhler et

                                                                                           Seite 18
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

al., 2019; Sengers et al., 2019). Im Hinblick     Ansätze wie inkrementelle Planung oder
auf verschiedene Forschungsansätze, die           Planung als politischer Prozess eignen
sich explizit mit Raum und Orten befassen         sich für eine Einordnung und Analyse von
(wie Raumplanung, Humangeographie,                Transformationsprozessen, z. B. für den
Urban Studies etc.), konzentrieren sich die       experimentellen Ansatz von Nachhaltig-
Transitionforschung und die „Geographies          keitslaboren, um die Reichweite der Tran-
of Transition“-Forschung bisher lediglich         sitionsforschung unter Echtzeitbedingun-
auf einen Teil der räumlichen Forschungs-         gen zu überprüfen (Wirth & Levin-Keitel,
perspektive.                                      2020).

Unter dem Schlagwort der Räumlichen               3.4 Ein vierdimensionales Raumverständ-
Transformation haben Levin-Keitel et al.          nis als konzeptioneller Rahmen
(2018) bereits eine erste konzeptionel-
le Rahmung von Raumverständnissen in              Auf Basis grundlegender Raumtheorien
die Transformationsforschung eingeführt.          und -konzeptionen wie von Läpple (1991)
Ergänzend zu den Arbeiten der Geogra-             und darauf aufbauend Sturm (2000), ent-
phies of Transition steht hier ein stärker        wickeln wir als Arbeitsgrundlage für die
raumplanungsbezogener Ansatz im Vor-              Forschung der Nachwuchsgruppe Move-
dergrund. Raumplanung, hier als Stadt-            Me einen konzeptionellen Rahmen einer
und Regionalplanung sowie räumliche               räumlichen Perspektive auf Transforma-
Entwicklung allgemein verstanden, ad-             tionsprozesse, der über die rein physikali-
ressiert explizit eine stärker prozedurale        sche Verteilung von Nischenprojekten und
Sichtweise auf Transformationsprozesse.           deren räumliche Verortung hinausgeht.
Als transformative sustainable planning           Neben Läpple und Sturm existieren zahl-
oder transformative socio-spatial planing         reiche weitere Annäherungen an Raum-
führen auch Horlings (2017) und Grenni et         theorien, die aber in unterschiedlichen
al. (2020) diese Perspektive in die Transi-       Konzeptionen stets die Ergänzung eines
tion Studies ein. Horlings (2017) betont          physisch-materiellen Raumverständnis-
dabei, dass transformative socio-spatial          ses um sozial-konstruierte Aspekte the-
planning nicht nur die Erforschung von            matisieren (Malpas, 2012; Kuhlicke & Kru-
Praktiken und Institutionen beinhaltet,           se, 2009; Keim, 2003; Hilger, 2014; Werlen,
sondern auch eine wertebasierte Pers-             1997). Die Modelle von Läpple und Sturm
pektive der Planenden und deren Rollen-           wurden hier als Basis gewählt, weil die
verständnisse mit sich bringt. Eine Vertie-       Unterscheidung in die vier Raumdimensi-
fung und weitere Auseinandersetzung mit           onen besonders zielführend erscheint und
räumlichen      Transformationsprozessen          bereits empirisch Anwendung fand. So-
allgemein scheint notwendig, insbeson-            wohl Läpple (1991) als auch Sturm (2000)
dere mit Blick auf deren bisher kaum be-          gehen von vier Komponenten beziehungs-
leuchteten prozeduralen Aspekte an der            weise Quadranten eines gesellschaftlich
Schnittstelle zwischen räumlicher Pla-            konstituierten Raums aus. Beide betonen
nung und Transformationsforschung. Ge-            in ihren Ausführungen die wechselseitige
rade verschiedene planungstheoretische            Abhängigkeit aller Komponenten und Qua-

                                                                                           Seite 19
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

dranten voneinander, aber auch die Not-          Handlungsbezogen-prozedurale Raumdi-
wendigkeit einer analytischen Trennung           mension
als eigenständige Facetten (Läpple, 1991:
196f.; Sturm, 2000: 199f.). Sturm (2000)         Die        handlungsbezogen-prozedurale
unterscheidet in Form eines Vier-Quad-           Raumdimension befasst sich mit der ge-
ranten-Modells verschiedene Dimensio-            sellschaftlichen Praxis der Produktion,
nen von Raum, die materiale Gestalt des          Nutzung und Aneignung des Raums durch
Raumes, die strukturierende Regulation           die Menschen als soziale Akteure (Läp-
im Raum und des Raumes (Steuerungsop-            ple, 1991). Darunter fallen die Nutzungen
tionen/ Governance Arrangements), das            und Funktionen eines Raums, z. B. dessen
historische Konstituieren des Raumes             Nutzung als Radweg, Fußweg oder Stra-
und den kulturellen Ausdruck im Raum             ße oder Parkplatz. Eine Umnutzung von
und des Raumes. Diese vier Dimensionen           Parkplätzen z. B. verändert einen Raum
wurden bereits in die Transformationsfor-        sichtbar und wirkungsvoll, obwohl mate-
schung am Beispiel von Nachhaltigkeits-          riell-physisch keine Veränderungen vor-
experimenten (Wirth & Levin-Keitel, 2020)        genommen wurden. Auch lokale Tradi-
und einem psychologisch-räumlichen               tionen und Identitäten sind hier prägend,
Forschungskonzept (Bögel et al., i. E.) ein-     gerade wenn es um Auswirkungen auf die
geführt und weiterentwickelt. In diesem          alltäglichen Routinen geht (der Parkplatz,
für die Transformationsforschung ange-           der immer genutzt wurde, die Straße, die
passten mehrdimensionalen Raummodell             direkt zum Wohnort führt etc.). Nutzungs-
können die vier Dimensionen wie folgt be-        muster können dabei auch von den bau-
schrieben werden:                                lich oder regulatorisch vorgesehenen
                                                 Nutzungen abweichen – z. B. wenn ein
Materiell-physische Raumdimension                Bürgersteig zunehmend auch von Fahr-
                                                 radfahrenden genutzt wird, weil die mit
Die materiell-physische Raumdimension            den Autos geteilte Straße als zu gefährlich
von Transformationsprozessen nimmt Be-           empfunden wird. Oftmals überschneiden
zug auf das Konzept des Containerraums           sich verschiedene Nutzungsformen, was
und umfasst alle unmittelbar sichtbaren          zu Konflikten führen kann.
Elemente im Raum. Während sich phy-
sisch im Wortstamm eher auf „die Natur           Regulativ-institutionalisierte         Raumdi-
betreffend“ bezieht, fallen unter mate-          mension
riell „sich vergegenständlicht habende
Produkte menschlichen Lebens und Sie-            Die regulativ-institutionalisierte Raum-
delns“ (Sturm, 2000: 200). In Bezug auf das      dimension kann als Vermittlungsglied
Mobilitätssystem sind dies z. B. gebaute         zwischen     der    materiell-physischen
Straßen und asphaltierte Wege als orts-          Raumdimension und der handlungsbezo-
gebundene Artefakte oder die Stadtstruk-         gen-prozeduralen Raumdimension ange-
tur mit ihrer gebauten Umwelt in Form von        sehen werden. Diese gesellschaftlichen
Gebäuden und Freiräumen.                         Regulationssysteme, die aus Eigentums-
                                                 formen, Macht- und Kontrollbeziehungen,

                                                                                          Seite 20
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

rechtlichen Regelungen oder sozialen und        die Möglichkeit, das Zusammenspiel von
ästhetischen Normen bestehen können,            unterschiedlichen Raumdimensionen ver-
regeln den Umgang mit den raumstruk-            tieft zu untersuchen. Dabei bietet gerade
turierenden Artefakten (Läpple, 1991). So       die Berücksichtigung der verschiedenen
regelt zum Beispiel die Straßenverkehrs-        Dimensionen, beispielsweise der phy-
ordnung, wer wie am Straßenverkehr              sisch-materiellen, aber auch der kultu-
teilnehmen darf und ist damit ein struk-        rell-symbolischen Dimension von Räumen
turbildender Ausgangspunkt des Mobili-          vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für
tätssystems auch auf lokaler Ebene.             unterschiedliche disziplinäre Perspekti-
                                                ven.
Kulturell-symbolische Raumdimension

Die kulturell-symbolische Raumdimen-
sion repräsentiert das mit der materiell-
physischen Raumdimension verbundene
räumliche Zeichen-, Symbol- und Re-
präsentationssystem. In Form von räum-
lichen Artefakten beispielsweise bilden
diese vergegenständlichte Formen gesell-
schaftlichen Handelns (sozio-kultureller
Aspekt) als auch kristallisierte Geschich-
te und kollektive Symbolik (symbolischer
Aspekt). Bezogen auf das Mobilitätssys-
tem können dies das teure Erst-, Zweit-
und Drittauto in der Einfahrt des Einfami-
lienhauses sein oder das (gesellschaftlich
anerkannte) Privileg nicht zur Rushhour
im vollen ÖPNV fahren zu müssen.

Das hier vorgeschlagene vierdimensionale
Raummodell bildet somit eine Konkreti-
sierung eines relationalen Raumverständ-
nisses. Mithilfe dieses analytischen Rah-
mens können Ansatzpunkte und Prozesse
für Transformationsprozesse im Feld der
Mobilität raumsensibel untersucht wer-
den. Während das oben beschriebene
Mehrebenenmodell        sozio-technischer
Transformation die zeitliche Dynamik von
Wandlungsprozessen betont und Akteurs-
konstellationen in den Vordergrund stellt,
bietet das vier-dimensionale Raummodell

                                                                                         Seite 21
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität

4 Schlüsselthemen einer sozio-räumlichen Transformation von
Mobilität
4.1 Das sozio-räumliche Brückenkonzept          Schlüsselthema 3 analysiert die Umge-
in der Mobilitätsforschung                      staltung von Verkehrsräumen zuguns-
                                                ten nachhaltigerer Verkehrsträger und
Das vorgestellte Brückenkonzept in Form         nicht-verkehrlicher Nutzungen. Aus einer
der theoretischen Fundierung einer so-          psychologischen Sicht wird untersucht,
zio-räumlichen Perspektive auf Trans-           unter welchen Bedingungen Umgestal-
formationen wird nun anhand von drei            tungsmaßnahmen, die zulasten des Au-
Schlüsselthemen in das Feld der Mobili-         toverkehrs gehen, Unterstützung finden
tätsforschung übersetzt und weiter aus-         könnten – insbesondere auch in Räumen
geführt. Die Schlüsselthemen nehmen die         jenseits der Großstadt.
Chancen und Risiken einer zunehmenden
Digitalisierung sowie gesellschaftliche         4.2 Potentiale von Shared Mobility Ange-
Veränderungen auf und betreffen (1) neue        boten und neuen Angeboten der Perso-
Mobilitätsangebote, (2) verkehrsspar-           nenbeförderung
same Quartiersentwicklung sowie (3) die
Neuaufteilung von Verkehrsräumen.               4.2.1 Zentrale Grundbegriffe und Frage-
                                                stellungen
Schlüsselthema 1 behandelt die Rolle
neuer digitalbasierter Mobilitätsdienst-        Ein zentrales Forschungsthema des Pro-
leistungen im Kontext inter- und multi-         jekt betrifft die Rolle, welche „digitalba-
modaler Mobilitätsmuster. Fokus des             sierte“ Mo­bilitätsangebote für Verkehrs-
Schlüsselthemas ist zu untersuchen, in-         verlagerung in verschiedenen Raumtypen
wieweit bisher nur in urbanen Bereichen         spielen können. Die Ausgangsthese lau-
verbreitete „Shared Mobility Services“,         tet, dass diese neuen Angebotsformen
also etwa E-Scooter oder Bikesharing,           unter bestimmten Rahmenbedingungen
aber auch flexible Dienste der Personen-        als Bausteine in einem ökologisch nach-
beförderung, auch in anderen räumlichen         haltigeren „multioptionalen“ Mobilitäts-
Settings einer Region eingesetzt werden         system fungieren könnten, in dem das
könnten.                                        private Auto an Bedeutung verliert und
                                                multimodale sowie intermodale Mobili-
Schlüsselthema 2 thematisiert die Rolle         tätsmuster an Bedeutung gewinnen. Unter
von digitalbasierten Formen des mobilen         multimodalen Mobilitätsmustern wird da-
Arbeitens, insbesondere Home-Office und         bei in der Verkehrsforschung in der Regel
Co-Working-Spaces, für die Vermeidung           die Nutzung unterschiedlicher Verkehrs-
von Verkehr: Aus einer planerischen Sicht       mittel bei der Durchführung von Wegen
wird untersucht, wie diese neuen Arbeits-       innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls
formen in die Gestaltung von verkehrs-          (i.d.R. innerhalb einer Woche) verstanden
sparsamen Quartieren insbesondere auch          (Nobis, 2015). Unter Intermodalität wird
in den Umlandgemeinden der Region Han-          hingegen die Nutzung unterschiedlicher
nover integriert werden könnten.                Verkehrsmittel innerhalb eines Weges

                                                                                         Seite 22
Sie können auch lesen