Perspektiven sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität einer - Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
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Arbeitspapier 2 der Nachwuchsforschungsgruppe MoveMe Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Autor*innen Dr. Lisa Ruhrort Prof. Dr. Meike Levin-Keitel Viktoria Allert Jan Gödde Nadezda Krasilnikova
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Inhalt S. Abbildungsverzeichnis 4 Tabellenverzeichnis 4 1 Eine sozio-räumliche Perspektive auf die Transformation zu nachhaltiger Mobilität 5 2 Nachhaltige Mobilität im räumlichen Kontext 6 2.1 Transformation zu nachhaltiger Mobilität: Eine Begriffsbestimmung 6 2.2 Wechselwirkungen zwischen Raum und Mobilität: Kernerkenntnisse der interdisziplinären Mobilitätsforschung 8 2.3 Ansätze für die Operationalisierung räumlicher Transformation im Feld der Mobilität: Verkehrsbezogene Raumtypologien 10 3 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Umsetzung 14 3.1 Das Mehrebenenmodell sozio-technischer Transformation 14 3.2 Ein relationales Raumverständnis als Grundlage für eine raumsensible Transformationsforschung 16 3.3 Räumliche Perspektiven auf Transformationsprozesse: Mehrwert und Stand der Diskussion 17 3.4 Ein vierdimensionales Raumverständnis als konzeptioneller Rahmen 19 4 Schlüsselthemen einer sozio-räumlichen Transformation von Mobilität 22 4.1 Das sozio-räumliche Brückenkonzept in der Mobilitätsforschung 22 4.2 Potentiale von Shared Mobility Angeboten und neuen Angeboten der Perso- nenbeförderung 22 4.2.1 Zentrale Grundbegriffe und Fragestellungen 22 4.2.2 Die Rolle neuer Mobilitätsangebote aus der Perspektive eines mehrdimen- sionalen Raumverständnisses 25 4.3 Digitalbasierte Arbeitsformen und verkehrssparsame Quartiersentwick- lung 27 4.3.1 Zentrale Grundbegriffe und Fragestellungen 27 4.3.2 Die Rolle digitaler Arbeit aus der Perspektive eines mehrdimensionalen 29 Raumverständnisses 4.4 Akzeptanz der Neuaufteilung von Verkehrsräumen zugunsten nachhaltiger Mobilitätsformen 32 4.4.1 Zentrale Grundbegriffe und Fragestellungen 32 4.4.2 Die Rolle von Maßnahmen zur Neuaufteilung von Verkehrsräumen aus der Perspektive eines mehrdimensionalen Raumverständnisses 33 5 Mehrwert und Fazit eines sozio-räumlichen Brückenkonzepts 38 Literatur 40 Seite 3
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Abbildungsverzeichnis S. Abb. 1: Regelkreis Flächennutzung und Verkehr (Wegener, 1999). 9 Abb. 2: Modal-Split-Ziele 2050 (Stadtregionen). Eigene Darstellung nach Regling et al. (2020), S.74. 12 Abb. 3: Wandel der Arbeit. Eigene Darstellung nach Diefenbacher et al. (2016). 28 Tabellenverzeichnis Tab. 1: Regionalstatistische Raumtypologie für die Mobilitäts- und Verkehrsfor- schung (BMVI, 2018b). 12 Seite 4
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität 1 Eine sozio-räumliche Perspektive auf die Transformation zu nachhaltiger Mobilität Die Nachwuchsforschungsgruppe Move- Rahmen des Projekts unter einer Trans- Me untersucht die Voraussetzungen für formation zu nachhaltiger Mobilität ver- eine Transformation zu nachhaltiger Mo- standen wird. Auf Basis einer kurzen bilität aus einer sozio-räumlichen Pers- Darstellung des Forschungsstands wird pektive. Ein besonderer Fokus liegt dabei aufgezeigt, warum der Raumdimension auf den Chancen und Risiken, die sich aus bei einer solchen Transformation eine den aktuell schon sichtbaren Verände- zentrale Rolle zukommt. In Kapitel 3 wer- rungsdynamiken einer Digitalisierung der den wesentliche theoretische Grundlagen Mobilität ergeben. Im Zentrum des Pro- des Brückenkonzepts dargestellt. Dieses jekts steht die Frage, wie Verkehrsverla- verbindet Elemente der interdisziplinären gerung und Verkehrsvermeidung als zen- Forschung zu sozio-technischen Trans- trale Bausteine einer Transformation zu formationen mit theoretischen Zugängen nachhaltiger Mobilität nicht nur in hoch der Raumforschung. Den Ausgangspunkt verdichteten urbanen Großstadtberei- bildet das Mehrebenenmodell sozio- chen, sondern auch in suburbanen Räu- technischer Transformation (Geels, 2002). men im Stadt-Umland-Bereich umgesetzt Als Weiterentwicklung dieses Modells werden können. Um diese Frage zu unter- wird das relationale Raumverständnis von suchen verfolgt die Nachwuchsgruppe Sturm (2000) aus der Raumforschung auf- den Ansatz einer raumsensiblen Erfor- gegriffen. Kapitel 4 schlägt den Bogen zu schung sozio-technischer Transformatio- Schlüsselthemen einer Transformation zu nen. Eine Besonderheit des Projekts liegt nachhaltiger Mobilität: neue Mobilitäts- in seiner interdisziplinären Ausrichtung. angebote, verkehrssparsame Quartiers- Perspektiven der Raum- und Verkehrspla- entwicklung und die Neuaufteilung von nung sowie der interdisziplinären Trans- Verkehrsräumen. Dabei werden in einem formationsforschung werden mit sozial- ersten Schritt zentrale Grundbegriffe wissenschaftlichen und psychologischen dieser drei Schlüsselthemen definiert. In Zugängen kombiniert. einem zweiten Schritt werden deren so- zio-räumliche Implikationen anhand des Ziel des Projektes ist es, die Schnittstel- Brückenkonzepts aufgezeigt. Dabei wird len zwischen diesen disziplinären Zugän- deutlich, wie ein relationales Raumver- gen in Bezug auf eine Transformation zu ständnis dazu beitragen kann, die viel- nachhaltiger Mobilität herauszuarbeiten. schichtigen Wechselwirkungen zwischen Dazu wird ein theoretisches Brückenkon- Raum und Mobilität im Kontext von Trans- zept entwickelt, das für unterschiedliche formationsprozessen zu analysieren. disziplinäre Fragestellungen anschluss- fähig ist und zugleich ein gemeinsames Analyseraster darstellt. In der vorliegen- den Publikation werden zentrale Eck- punkte dieses Brückenkonzepts darge- stellt. In Kapitel 2 wird definiert, was im Seite 5
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität 2 Nachhaltige Mobilität im räumlichen Kontext 2.1 Transformation zu nachhaltiger Mobi- Zahl der PKW wuchs vor der Corona-Krise lität: Eine Begriffsbestimmung jährlich um rund eine halbe Million Fahr- zeuge pro Jahr (Statista, 2020). Mit der Spätestens seit erste Anzeichen der Ver- Fahrzeugmenge steigt auch der Gesamt- änderung des Klimas auch in Deutschland ressourcenverbrauch des Verkehrssek- spürbar werden, wird die Notwendigkeit tors weiter an (Brunnengräber et al. , 2020). zu einem Umbau des Verkehrssystems in Im Gegensatz zu allen anderen Sektoren Richtung ökologischer Nachhaltigkeit von konnten im Verkehr bisher keine Erfolge einer breiten Mehrheit des politischen bei der Reduktion der Treibhausgasemis- Spektrums erkannt (Sachverständigenrat sionen erzielt werden. Vor allem das stei- für Umweltfragen, 2020). Die Bundesre- gende Verkehrsaufkommen kompensierte gierung hat sich das Ziel gesetzt, den CO2- dabei die erzielten Effizienzgewinne bei Ausstoß des Verkehrs bis 2030 um mehr den Fahrzeugantrieben. Erst die massiven als 40% im Vergleich zu 1990 zu senken. Einschränkungen des gesellschaftlichen Verschiedene Klimaschutzszenarien für Lebens und insbesondere der Reisetä- den Verkehr haben gezeigt, dass für die tigkeiten durch die Maßnahmen zur Be- Erreichung der Klimaschutzziele ein Um- kämpfung der Corona-Pandemie führen stieg auf Nullemissionsfahrzeuge nicht nun erstmals dazu, dass für das Jahr 2020 ausreichen wird (Prognos et al., 2020; Zim- mit sinkenden CO2-Emissionen im Verkehr mer et al., 2016): Damit der gesamte Ver- zu rechnen ist (Umweltbundesamt, 2021). kehrssektor mit erneuerbaren Energien versorgt werden kann, muss zusätzlich In den Entwicklungstrends, die vor der die Verkehrsnachfrage gesenkt und eine Corona-Pandemie den Verkehrssektor Verlagerung von Verkehr auf ressourcen- prägten, spiegeln sich auch die bisherigen sparende Verkehrsträger erreicht werden verkehrspolitischen Prioritätensetzun- (Regling et al., 2020). Dies bedeutet einen gen. Während die Klimaschutzziele selbst Umbau hin zu einem Mobilitätssystem mit in Deutschland in den meisten Teilen des weniger Autos und weniger Verkehr. Hier- politischen Spektrums als konsensfä- für wird oftmals der Begriff der „Mobili- hig gelten können, sind die politischen tätswende“ in Abgrenzung zu einer reinen Weichenstellungen in Richtung Ver- „Antriebswende“, also der Umstellung auf kehrsvermeidung und -verlagerung weit- klimaneutrale Fahrzeugantriebe, verwen- aus umstrittener. Verkehrspolitik war in det (Agora Verkehrswende, 2020). Deutschland über Jahrzehnte durch eine Strategie der „Doppelförderung“ (Haefe- Die bisherige verkehrliche Entwicklung li, 2008) charakterisiert: Zwar wurde eine steht diesen Zielen allerdings diametral Verlagerung von Verkehr auf öffentliche entgegen. Bis zum Beginn der Corona-Kri- Verkehrsmittel und auch auf den Fahr- se stieg die Gesamtverkehrsleistung kon- rad- und Fußverkehr schon lange als wün- tinuierlich an: laut der Studie „Mobilität schenswertes Ziel anerkannt, gleichzeitig in Deutschland“ zwischen 2002 und 2017 wurde aber auch die Motorisierung der um 18 % (Nobis & Kuhnimhof, 2018). Die Bevölkerung und die Automobilität ins- Seite 6
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität gesamt massiv gefördert. Den zumindest ter entfallen (Nobis & Kuhnimhof, 2018). verbal angestrebten Steigerungen der In einem nachhaltigen Verkehrssystem Attraktivität des Umweltverbunds – be- müsste dieser Anteil zukünftig viel hö- stehend aus Bus, Bahn, Fahrrad und Fuß- her liegen – nicht nur in den Großstäd- verkehr – standen lange Zeit kaum ver- ten, sondern auch in deren Umland und in kehrspolitische Maßnahmen gegenüber, kleineren Städten (Prognos et al., 2020). die die Attraktivität des Autofahrens deut- Gleichzeitig müsste der Anteil des PKW- lich verringert hätten (Schwedes, 2019). Verkehrs deutlich abnehmen. Eine Studie Insbesondere in den Städten werden zwar von Regling et al. (2020) geht davon aus, seit Jahrzehnten durch Verkehrsberuhi- dass bis 2050 der Anteil des öffentlichen gung, Geschwindigkeitsbegrenzungen Verkehrs an der Gesamtverkehrsleistung und Parkgebühren in Innenstadtbereichen verdoppelt werden müsste. Der Anteil des die negativen Nebenfolgen des Autover- Autoverkehrs an allen gefahrenen Kilome- kehrs eingedämmt; das weitere Wachs- tern müsste im selben Zeitraum von rund tum von Autonutzung und -besitz konnte 75 % auf 50 % sinken (ebd.). Insbesondere so jedoch bisher nur in den am stärksten im Nahbereich müsste zudem das Fahr- verdichteten Bereichen der Metropolen rad und der Fußverkehr zukünftig eine viel verlangsamt werden (Gerike et al., 2020). größere Rolle spielen. Die ambitionierten Klimaschutzziele im Die Erreichung dieser Ziele macht einen Verkehr stellen diese verkehrspolitische umfassenden Wandel gesellschaftlicher Strategie nun auf den Prüfstand. Statt Mobilitätspraktiken erforderlich, der weit vor allem auf eine Förderung des öffent- über rein technische oder planerische An- lichen Verkehrs und des nicht-motorisier- passungen hinausgeht. Für einen solchen ten Verkehrs zu setzen, erfordern diese Wandlungsprozess wird daher hier der Ziele einen Umbau des gesamten Mobili- Begriff der sozio-technischen Transfor- tätssystems und eine Neuausrichtung der mation verwendet (Geels, 2002), der die Raumentwicklung am Umweltverbund. intensive Verflechtung zwischen sozialen Um den Anteil des privaten PKW am Mo- und technischen Strukturen in der mo- dal Split zu senken, müsste in einem kli- dernen Gesellschaft betont. Aus dieser magerechten Verkehrssystem der öffent- Perspektive wird deutlich, wie vorausset- liche Verkehr zukünftig eine viel größere zungsvoll ein Umbau solcher sozio-tech- Rolle einnehmen als heute (Regling et al., nischer Strukturen wie dem Mobilitäts- 2020). Aktuell ist die Nutzung von Bus und system sowohl auf individueller als auch Bahn auf die Großstädte konzentriert, wo auf politischer Ebene ist. Mit Blick auf öffentliche Verkehrsmittel Anteile von bis die heute dominanten Muster der Ver- zu 26 % an den Wegen erreichen (Nobis, kehrsmittelwahl betont der Begriff der 2019); insgesamt aber macht der öffent- sozio-technischen Transformation, dass liche Nah- und Fernverkehr zusammen insbesondere das Automobil fest in den nur rund 10 % der Wege und 19 % des gewachsenen gesellschaftlichen Struk- Verkehrsaufwands aus, während auf das turen – vom Wirtschaftssystem über Auto rund 75 % der gefahrenen Kilome- gesetzliche Regularien, von Mobilitäts- Seite 7
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität routinen, bis hin zu kulturellen Vorstellun- dabei die deutlichen Unterschiede in den gen eines „guten Lebens“ – verankert ist Mobilitätsmustern und insbesondere der (vgl. z. B. Canzler et al., 2018; Mattioli et Verkehrsmittelwahl zwischen urbanen al., 2020; Paterson, 2007; Ruhrort, 2019; Zentren, suburbanen und ländlichen Ge- Urry, 2004). Eine besondere Rolle neh- bieten (Nobis & Kuhnimhof, 2018): Zum men dabei räumliche Strukturen ein. Aus Beispiel besitzen in den Metropolen 42 verschiedenen disziplinären Zugängen, % der Haushalte kein Auto, während es unter anderem der sozialwissenschaftli- im ländlichen Raum nur 11 % sind; der chen Mobilitätsforschung, der Technikge- Anteil des öffentlichen Verkehrs liegt in schichte sowie der Raumforschung wurde einigen Städten bei über 25 % der Wege, immer wieder herausgearbeitet, wie stark während er im ländlichen Raum bei unter das Automobil, ebenso wie vorher ande- 7 % liegt (ebd.). Bei der Untersuchung der re Verkehrsmittel, die Entwicklung von Determinanten des Verkehrsverhaltens räumlichen Strukturen geprägt hat (Kut- und insbesondere der Verkehrsmittelwahl ter, 2016). Durch die enge Wechselwir- zeigt sich, dass den Siedlungsstrukturen kung zwischen Siedlungsstrukturen, Ver- neben individuellen Merkmalen wie Alter, kehrsinfrastrukturen und Verkehrsmitteln Geschlecht, sozio-ökonomischer Status wurden die räumlichen Verflechtungen, und Lebenslage eine wichtige Bedeutung entfernungsintensiven Lebensstile und zukommt (für eine Übersicht vgl. Scheiner Wirtschaftsbeziehungen erst ermöglicht, 2015). Dies ist auch dadurch zu erklären, die für die moderne Gesellschaft prägend dass mit den Siedlungsstrukturen oftmals sind (Schwedes, 2019). Um die möglichen das Angebot an Alternativen zum Auto va- Ansatzpunkte für eine sozio-technische riiert (Kutter, 2016). Auch der Einfluss von Transformation im Verkehr zu verstehen, Einstellungen und Lebensstilen auf Ver- ist es mithin zentral, die Raumdimen- kehrsverhalten und Verkehrsmittelwahl sion in den Blick zu nehmen. Im Folgen- wurde umfangreich untersucht (Bamberg den werden daher die Wechselwirkungen et al., 2003; Hunecke, 2015; Kandt et al., zwischen Raum und Verkehr anhand von 2015; Steg, 2003). Insgesamt wird den Kernerkenntnissen der interdisziplinären Raum- und Siedlungsstrukturen eine zen- Raum- und Verkehrsforschung vorgestellt. trale, wenn auch nicht allein bestimmen- de Rolle für das Verkehrsverhalten attes- 2.2 Wechselwirkungen zwischen Raum tiert (Scheiner, 2015). und Mobilität: Kernerkenntnisse der in- terdisziplinären Mobilitätsforschung Doch wird nicht nur das Verkehrshandeln von den räumlichen Strukturen mit be- Die Nachwuchsforschungsgruppe Move- einflusst, sondern Verkehrsmuster prä- Me knüpft in Hinblick auf die Wechsel- gen umgekehrt auch die Raumstrukturen. wirkungen zwischen Raum und Mobilität Der Regelkreis „Flächennutzung und Ver- an eine breite Wissensbasis an (Beck- kehr“ (Abb. 1) verdeutlicht schematisch mann et al., 2011; Matthes & Gertz, 2014; die Wirkungszusammenhänge zwischen Scheiner, 2015; Scheiner & Holz-Rau, räumlicher Stadtentwicklung und Stand- 2007). Ein zentraler Ausgangspunkt sind ortwahl- und Mobilitätsentscheidungen Seite 8
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität (Wegener, 1999). lativ wenig Verkehrsaufwand gesichert werden. Auch die Möglichkeit, ein attrak- tives ÖPNV-Angebot als Alternative zum privaten PKW-Verkehr bereitzustellen, hängt direkt mit der Siedlungsdichte zu- sammen (Kutter, 2016) – insofern ist das Potential zur Verlagerung auf ökologisch vergleichsweise effiziente Verkehrsmittel auch stark von den Raumstrukturen ab- hängig. Raumpolitische Leitbilder einer „Stadt der kurzen Wege“ und der „dezen- tralen Konzentration“ gelten somit auch als zentrale – wenn auch nicht unumstrit- tene – Stellschrauben einer ressourcen- schonenden Verkehrsentwicklungspolitik, Abb. 1: Regelkreis Flächennutzung und Verkehr die auf Verkehrsvermeidung und -verlage- (Wegener, 1999). rung abzielt (Beckmann et al., 2011). Demnach bestimmen Flächennutzungen wie Wohngebiete bzw. Industrie- und Ge- In der Forschung zu den Determinan- werbegebiete die Standorte der Haus- ten des Verkehrsverhaltens wird dabei halte sowie Betriebe und daraus folgend allerdings kritisch diskutiert, wie stark auch die Standorte für Aktivitäten wie der relative Einfluss der Siedlungsstruk- Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Bildung und turen und Raumqualitäten im Verhält- Erholung. Damit einher gehen notwendi- nis zu personenbezogenen Faktoren wie ge Ortsveränderungen, um die räumliche Wohnstandortpräferenzen, Einkommen Entfernung zwischen diesen Aktivitäts- und Lebenslage ist. Vor allem die For- standorten zu überwinden. Reisezeiten, schung zum Effekt der „residentiellen Wegelängen und Wegekosten beeinflus- Selbstselektion“ hat dazu beigetragen, sen Erreichbarkeiten und somit die Mög- den direkten Einfluss von Raumcharak- lichkeiten für Ortsveränderungen. Die teristika auf das Verkehrsverhalten und Folge dieser Ortsveränderungen sind Ver- insbesondere die Verkehrsmittelwahl zu kehrsströme (Wegener, 1999). relativieren: Zum Teil lässt sich demnach etwa die verstärkte Nutzung des ÖPNV in Die daraus abzuleitende Bedeutung einer verdichteten Quartieren damit erklären, verkehrssparsamen Raum- und Sied- dass Menschen mit ÖV-Affinität bevor- lungsentwicklung für eine nachhaltige zugt in diese Quartiere ziehen (van Wee & Mobilität ist vielfach beschrieben worden Boarnet, 2014). Andererseits finden etwa (Beckmann et al., 2011; Kutter, 2016): Nur Scheiner und Holz-Rau (2013) mit ihrem unter den Bedingungen einer gewissen mobilitätsbiografischen Ansatz deutliche Dichte von Versorgungs-, Arbeits- und Hinweise auf direkte Effekte der raum- Wohnraumangeboten kann Mobilität im strukturellen Gegebenheiten am Wohnort Sinne gesellschaftlicher Teilhabe mit re- auf die Verkehrsmittelwahl. Der relative Seite 9
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Einfluss von residentieller Selbstselek- werdende Bedeutung zugesprochen wird, tion auf das Verkehrsverhalten bleibt so bleiben strukturelle Rahmenbedingungen Gegenstand einer kontroversen Diskus- für die Verkehrsplanung jedoch weiter re- sion in den Verkehrswissenschaften (Cao, levant, da personenbezogene Faktoren 2014; Naess, 2014). durch traditionelle Verkehrsplanung und Verkehrspolitik schwer steuerbar sind Eine weitere Relativierung betrifft die (Scheiner, 2015). Frage, inwieweit Planung und insbeson- dere lokale und regionale Raum- und Ver- Insgesamt macht die Vielzahl der vor- kehrsplanung die Entwicklung von Ver- handenen Studien deutlich, dass das Ver- kehrsmustern überhaupt steuern können. kehrsverhalten ein komplexes Gesche- So verknüpft etwa der oben dargestellte hen ist, dass nur unter Berücksichtigung Regelkreis Flächennutzung und Verkehr unterschiedlicher Faktoren verstanden (Wegener, 1999). Jedoch zeigen die kom- werden kann (Scheiner, 2015). Raumbe- plexen Wirkungszusammenhänge der zogene Faktoren spielen dabei eine wich- Entstehung von Verkehr, wie schwierig es tige, wenn auch nicht allein dominante ist, diese zu steuern. Prägende Faktoren Rolle (Beckmann et al., 2006). Zudem der Raum- und Verkehrsentwicklung wie sind die Möglichkeiten, Verkehrsentwick- z. B. die Angleichung von Geschlechterrol- lung gezielt durch planerische Eingriffe len, die Spezialisierung auf dem Arbeits- auf der lokalen oder regionalen Ebene zu markt oder ökonomische Entwicklungen steuern, grundsätzlich begrenzt. Dessen werden nicht berücksichtigt (Holz-Rau ungeachtet erscheint es notwendig, die & Scheiner, 2016). Insbesondere in der unterschiedlichen Voraussetzungen für Pendlerforschung zeigt sich, dass Ver- Verkehrsverlagerung und -vermeidung in kehrsaufkommen und Verkehrsaufwand verschiedenen Raumtypen systematisch zunehmend von individuellen Faktoren zu untersuchen. Einen ersten Ansatz- beeinflusst werden. Haas und Hamann punkt dafür bilden planerische Raumka- (2008) zeigen, dass die Pendelbereit- tegorisierungen, die versuchen, die ver- schaft mit zunehmender beruflicher kehrsrelevanten Merkmale von Räumen Qualifikation steigt. Höher qualifizierte systematisch zu erfassen. Arbeitskräfte nehmen zudem längere Ar- beitswege auf sich, entweder durch ihre 2.3 Ansätze für die Operationalisierung eigene Bereitschaft für einen gut entlohn- räumlicher Transformation im Feld der ten Job längere Distanzen zu bewältigen, Mobilität: Verkehrsbezogene Raumtypo- oder durch die hohe Spezialisierung des logien Arbeitsmarktes und den damit verbunde- nen Schwierigkeiten, die geeignete Stelle Mobilität wird maßgeblich durch die für sich zu finden (Dauth & Haller, 2018; räumlichen Ausprägungen beeinflusst, Holz-Rau et al., 2014; Papanikolaou, 2009; von Dichtekriterien über die Wohnstand- Pütz, 2015). Obwohl individuelle Einfluss- ortwahl oder die Infrastrukturausstat- faktoren im Vergleich zu raumstruktu- tung. Eine erste Betrachtungsdimension rellen Determinanten eine immer größer unterscheidet zwischen der regionalen und lokalen Ebene. Darüber hinaus wird in Seite 10
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität der Mobilitätsforschung zwischen urba- siedlungsstrukturellen Kriterien, berück- nen, hoch verdichteten Großstadtberei- sichtigt jedoch keine regionalen Lagefak- chen und ländlich-geprägten Räumen un- toren (BMVI, 2018a). Das Bundesministe- terschieden. Für die Forschung innerhalb rium für Verkehr und digitale Infrastruktur der Forschungsgruppe MoveMe bedarf es (BMVI) hat deshalb mit Unterstützung darüber hinaus einer räumlichen Typisie- des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und rung, die quantifizierbare Unterschiede Raumforschung (BBSR) die Regionalsta- der Struktur- und Mobilitätskennwerte tistische Raumtypologie (RegioStaR) für innerhalb einer Region aufzeigt. Während die Mobilitäts- und Verkehrsforschung die Typisierung von Newman et al. (2016) entwickelt. Diese Raumtypologie bietet der „urban fabrics“ eine gesamte Stadt mit mehreren aufeinander aufbauenden auf Grundlage der im jeweiligen Raum siedlungsstrukturellen Raumtypen ein dominanten Verkehrssysteme und dem Instrument, Wirkungszusammenhänge Reisezeit-Budget unterteilt, entwickelten zwischen Verkehr und Raumstrukturen Matthes & Gertz (2014) eine Raumtypisie- zu analysieren (BMVI, 2018b). Sie unter- rung, die eine hierarchische Abstufung von scheidet auf verschiedenen hierarchi- Räumen auf Basis kleinräumiger, hoch- schen Ebenen bis zu 17 verschiedene aufgelöster Struktur- und Verkehrsdaten, Raumtypen, vom kleinstädtischen, dörf- unter Verwendung eines städtischen Ver- lichen Raum, bis hin zur Metropole. Die kehrsmodells nach dem Kriterium ihrer Zuordnung der Typisierung erfolgt auf Verkehrssparsamkeit zulässt. Neben die- Grundlage der Daten auf Gemeindeebene. sem großräumigen ersteren Ansatz und Unterschieden werden zunächst Stadt- dem kleinräumigen zweiteren Ansatz be- regionen und ländliche Regionen. Diese darf es der Analyse auf regionaler Ebene beiden Regionstypen werden dann weiter einer Typisierung, welche Unterschiede in differenziert, indem Metropolitane und einer Region auf Gemeindeebene deut- Regiopolitane Stadtregionen auf der einen lich aufzeigt. Einen viel verwendeten An- Seite und Stadtregionsnahe ländliche Re- satz zur Typisierung von Räumen für die gionen und Periphere ländliche Regionen Zwecke der Mobilitäts- und Verkehrs- unterschieden werden. Durch eine weitere forschung stellt die Regionalstatistische Untergliederung in je vier bzw. fünf Unter- Raumtypologie (RegioStaR) dar. Bis vor kategorien ergeben sich so 17 Raumtypen wenigen Jahren galten die siedlungs- (Tab. 1) (BMVI, 2018b). Diese dienen im strukturellen Kreistypen (später auch Rahmen des Projekts MoveMe als Aus- auf Gemeindeebene) des Bundesinsti- gangspunkt der räumlichen Beschreibung tuts für Bau-, Stadt- und Raumforschung der Untersuchungsregion. (BBSR) als wichtigste Raumtypisierung für die Analyse räumlicher Entwicklung in Deutschland. Auf europäischer Ebene wurde 2003 die TERCET-Raumtypisierung rechtlich als räumliche Auswertungs- systematik verankert. Diese territoriale Raumtypisierung basiert zwar auch auf Seite 11
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Tab. 1: Regionalstatistische Raumtypologie für die Mobilitäts- und Verkehrsforschung (BMVI, 2018b). Abb. 2: Modal-Split-Ziele 2050 (Stadtregionen). Eigene Darstellung nach Regling et al., 2020: 74. Seite 12
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Die Raumtypisierung des BBSR bildet eine modell sozio-technischer Transformatio- Grundlage, um auf Gemeindeebene Räu- nen eingeführt und mit einem relationalen me mit unterschiedlichen Voraussetzun- Raumverständnis verschränkt. gen für eine Transformation im Feld der Mobilität zu unterscheiden. So kann da- von ausgegangen werden, dass in Stadt- regionen die Voraussetzungen für eine Verlagerung von Verkehren auf den Um- weltverbund einfacher zu realisieren sind als in ländlichen Regionen. In einer Met- ropolregion dürften wiederum die Zielset- zung, Verkehre auf den Umweltverbund zu verlagern, innerhalb der Metropole auf günstigere Voraussetzungen treffen als in den Umlandgemeinden. Regling et al. (2020) kommen auf dieser Basis zu stark unterschiedlichen Zielen der Verkehrsver- lagerung auch innerhalb der Stadtregio- nen (Abb. 2). Die räumliche Typisierung kann jedoch lediglich begrenzt die lokalspezifischen Voraussetzungen einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltigem Mobili- tätsverhalten abbilden. Wie oben bereits ausgeführt muss eine Transformation zu nachhaltiger Mobilität als vieldimensio- naler gesellschaftlicher Prozess betrach- tet werden. Das bestehende sozio-techni- sche System der Mobilität umfasst nicht nur physische Raumstrukturen, sondern auch eine Vielzahl von kulturellen, regula- tiven und institutionellen Strukturen. Um diese Mehrdimensionalität interdiszipli- när zu untersuchen, greifen wir daher auf ein differenzierteres Modell sozio-tech- nischer Transformationsprozesse zurück. Zugleich muss ein theoretisches Rahmen- konzept eine vielschichtige Analyse von Raumdimensionen und Raumprozessen ermöglichen. Im folgenden Kapitel wird vor diesem Hintergrund das Mehrebenen- Seite 13
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität 3 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Umsetzung 3.1 Das Mehrebenenmodell sozio-techni- kerungsgruppen gegenüber (verkehrs-) scher Transformation politischen Maßnahmen und Leitbildern abbilden (Ruhrort, 2019). Der Begriff des Die Ausgangsbasis des hier vorgeschlage- Regimes betont, dass bestehende sozio- nen theoretischen Brückenkonzepts bil- technische Arrangements insbesondere det das Mehrebenenmodell sozio-techni- auch durch implizite Vorstellungen und scher Transformation (MLP) (Geels, 2002; Orientierungen, die für bestimmte sozia- Kemp et al., 1998). Dieser Forschungsan- le Gruppen als unhinterfragte Normalität satz bietet einen analytischen Rahmen für gelten. die Untersuchung sozio-technischer Ver- änderungsprozesse, wie etwa die Durch- Insgesamt hebt der Begriff des „Regimes“ setzung von alternativen Antriebsformen, die Festigkeit etablierter Strukturen in aber auch den tiefgreifenden Umbau von gewachsenen sozio-technischen Arran- bisher dominanten Mustern der Mobilität gements hervor, die in der Regel lediglich (Geels, 2012). Der Fokus des Modells liegt inkrementellen Wandlungsprozessen un- auf der Untersuchung der Beharrungs- terworfen sind. In Bezug auf die Möglich- kräfte, die sozio-technischen Arrange- keiten für die Verlagerung und Vermeidung ments ihre Stabilität verleihen sowie der von Verkehr stellt sich demgegenüber die Umstände und Systemdynamiken, durch Frage, unter welchen Bedingungen etab- die Veränderungsprozesse möglich wer- lierte sozio-technische Regime verändert den (Geels et al., 2018). Im Zentrum des werden können: Wie kann insbesondere Modells steht die analytische Unterschei- ein Wandel hin zu einem Verkehrssystem dung von drei Ebenen, Regime, Nische mit wesentlich weniger Autoverkehr mög- und Landschaft, die wechselseitig aufein- lich werden? Der Regime-Begriff verweist ander einwirken. Vorhandene sozio-tech- dabei darauf, dass es hierbei nicht um nische Arrangements verfestigen sich den Austausch einzelner Elemente gehen nach Geels (2002) in Form von sozio-tech- kann, sondern um einen tiefgreifenden nischen Systemen. Hinter diesen stehen Umbau, der auch die Ebene von institutio- wiederum sozio-technische Regimes, die nellen Rahmenbedingungen, Interessen- als geteiltes Set von Regeln und Interpre- strukturen, Denk- und Verhaltensmustern tationen verstanden werden können, an umfasst. denen sich die Systemakteure in ihrem Handeln orientieren. Entscheidend für die Solche umfassenden Wandlungsprozes- Beschreibung von sozio-technischen Re- se können laut Geels (2002) sowohl von gimes sind sowohl materielle und mess- Nischeninnovationen, als auch von Ver- bare Elemente wie materielle Artefakte, schiebungen auf der Ebene der sogenann- Marktanteile, Infrastrukturen, gesetzliche ten „sozio-technischen Landschaft“ bzw. Rahmenbedingungen, Konsummuster, einem Zusammenspiel von beiden ausge- aber auch Diskurse, die sich zum Beispiel hen. Die sozio-technische Landschaft be- in der Meinung verschiedener Bevöl- zeichnet dabei den übergeordneten Kon- Seite 14
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität text, innerhalb dessen sich Regime- und (2012) geht davon aus, dass umfassende Nischenaktivitäten abspielen und umfasst Transformationsprozesse nicht anhand z. B. räumliche Strukturen (wie die Stadt- von linearen Trendfortschreibungen vor- gestalt oder lokale Planungskulturen), po- hergesagt werden können. Stattdessen litische Ideologien, gesellschaftliche Wer- betont er die Bedeutung sich gegenseitig te, Überzeugungen, die Medienlandschaft verstärkender Entwicklungen (Feedback und makroökonomische Trends (Geels, Cycles), Hype-Enttäuschungs-Zyklen so- 2012). Unterhalb der Ebene des etablier- wie von Prozessen der Ko-Evolution (Ge- ten sozio-technischen Regimes liegt bei els, 2012). Ein zentrales Konzept in einem Geels die Ebene der Nischen, in denen al- solchen nicht-linearen Modell sozio- ternative sozio-technische Arrangements technischen Wandels ist das der “Tipping entwickelt und getestet werden. Diese Points”, an denen eine bisher lineare Ent- Nischen werden als geschützte Räume wicklung sich radikal verändert oder be- wie Forschungs- und Entwicklungslabore, schleunigt. Urry (2004) nimmt an, dass nur subventionierte Demonstrationsprojekte durch eine solche nicht-lineare Entwick- oder kleine Marktnischen gesehen (Geels, lung eine umfassende Transformation des 2012). Von diesen Nischen können Impul- bisherigen Verkehrssystems denkbar ist. se für eine Veränderung des dominanten Mehrere Einflussfaktoren müssen dabei sozio-technischen Regimes ausgehen – zusammenkommen, um durch selbstver- seien es radikale Veränderungen, inkre- stärkende Effekte einen Tipping Point her- mentelle Anpassungen oder räumlich be- beizuführen. Seine Analyse erinnert damit schränkte Ergänzungen des bestehenden daran, vor allem nach Wechselwirkungen Regimes. Unter bestimmten Umständen zwischen verschiedenen Entwicklungsli- kann die Mehrebenendynamik „windows nien und Faktoren Ausschau zu halten. Ein of opportunity“ eröffnen, die es Nischen- Wandel hin zu einem nachhaltigeren Mo- innovationen ermöglichen, an Dynamik zu bilitätssystem mit deutlich weniger pri- gewinnen und das gegebene soziotech- vatem Autoverkehr ist aus Sicht von Urry nische Regime zu bedrohen. Dies kann zunächst einmal ein unwahrscheinliches zu Veränderungen der Regimestrukturen Ergebnis. Nur wenn sich verschiedene oder zur Etablierung eines neuen sozio- Einflussfaktoren auf womöglich schwer technischen Regimes führen. vorhersehbare Weise gegenseitig verstär- ken, wird ein solcher Wandel denkbar. In Bezug auf den Personenverkehr betont Geels (2012) wie schon Urry (2004) die ex- Aktuell gibt es im Feld der Mobilität einige treme Stabilität des automobilzentrier- Hinweise auf solch beginnenden Wand- ten Mobilitätssystems (vgl. auch Mattioli lungsdynamiken (Canzler et al., 2018). et al., 2020). Urry (ebd.) zieht daraus den Dazu gehören zunehmende verkehrspoli- Schluss, dass eine umfassende Transfor- tische Diskussionen in vielen Städten über mation dieses Systems nur dann möglich die Rolle der verschiedenen Verkehrsträ- sein wird, wenn nicht-lineare selbst ver- ger und deren Ansprüche auf die Nutzung stärkende Effekte auf Basis von mehreren öffentlicher Räume (Becker et al., 2020). Faktoren zusammenkommen. Auch Geels Dazu gehört auch der intensive politische Seite 15
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität Diskurs über die Klimaschutzziele, die Transformationen in jedwedem Bereich insbesondere in den Jahren 2018/2019 finden im Raum statt, verändern diesen, einen vorläufigen Höhepunkt erreichten. und die so entstehenden Räume sind Auch die Corona-Pandemie mit den dazu- wiederum Ausgangspunkt neuer Verän- gehörenden drastischen Einschränkun- derungen. Dabei spielt nicht nur der phy- gen gewohnter Mobilitätsmuster kann als sisch-materielle Platz eine wichtige Rolle, potentieller Faktor Druck auf bestehen- sondern auch die bestehenden Nutzun- den Regime-Strukturen auslösen. Im Feld gen, Funktionen oder Regulationen, die der Automobilität sind diese zudem seit den Raum kennzeichnen. Diese Multi- mehreren Jahren unter verstärkten Ver- dimensionalität von Raum spielt bei der änderungsdruck durch die zunehmende Betrachtung von sozio-räumlichen Trans- Marktbedeutung digitaler Technologien formationsprozessen eine tragende Rolle und der entsprechenden neuen Markt- (Wirth & Levin-Keitel, 2020). Grundlage akteure geraten (Canzler et al., 2018). einer räumlichen Perspektive auf Trans- Während sich allerdings im Bereich der formationsprozesse ist dementspre- alternativen Antriebstechnologien bereits chend ein relationales Raumverständnis, eine entscheidende Destabilisierung bis- welches Raum gleichermaßen als Natur- heriger Regime-Strukturen vollzogen hat und Kulturprodukt versteht. Raum gibt (Agora Verkehrswende, 2019a), ist bisher somit Handlungen vor, wird gleichzeitig offen, inwieweit auch eine Transformati- durch Handlungen konstituiert (doppel- onsdynamik im Sinne von Verkehrsverla- te Konstituierung) und ist immer an die gerung und -vermeidung eingeleitet wer- jeweiligen Wechselwirkungen zwischen den könnte. den physisch-materiellen und den sozial- konstruierten Raumdimensionen gekop- 3.2 Ein relationales Raumverständnis als pelt. Die physisch-materielle Dimension Grundlage für eine raumsensible Trans- von Raum entspricht einem Euklidischen formationsforschung Raumverständnis und wird auch Con- tainerraum genannt. Der Raum als neu- Unter dem Begriff der sozio-technischen traler Container kann dabei beliebig mit Transformation beschäftigen sich unter- gesellschaftlichem Handeln und Gegen- schiedliche Disziplinen mit den Ansatz- ständen gefüllt werden oder eben leer punkten für nachhaltige Entwicklung bleiben (Löw & Sturm, 2005). Den Gegen- auch im Bereich der Mobilität. In der brei- pol zu einem absoluten Raumverständnis ten interdisziplinären Literatur, die sich bildet eine sozial-konstruierte Raumvor- mit Nachhaltigkeitstransformationen be- stellung. Die sozial-konstruierte Raumdi- schäftigt, spielt die räumliche Dimension mension beschreibt Räume als Ergebnis bisher allerdings noch eine relativ unter- der Anordnung von Körpern und wird als geordnete Rolle. Ansätze einer raumsen- Beziehungsraum verstanden, der sowohl siblen Transformationsforschung versu- als Gesellschaft strukturierend, wie auch chen die Raumdimension stärker in dieses als gesellschaftlich strukturiert und ver- Forschungsfeld zu integrieren (Binz et al., änderbar begriffen werden muss (Löw & 2020; Coenen & Truffer, 2012). Sturm, 2005). Seite 16
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität In den Raumwissenschaften wurde das re- räumlicher Daten, Analysen und Bewer- lationale Raumverständnis von Autor*in- tungen, die auch in der Transformations- nen wie Dieter Läpple, Gabriele Sturm, forschung wertvoll sein können. Erstens Martina Löw und Benno Werlen in den haben räumlich verankerte Daten die deutschsprachigen Diskurs übertragen. Eigenschaften, sektorale bzw. disziplinä- Werlens Konzeption der handlungsorien- re Wissensarten zu integrieren („Spatial tierten Sozialgeografie beschreibt das analysis examines data in cross-section”, Verhältnis von Raum und Gesellschaft und 2004: 4), da sich bereits durch die Veror- versucht, die Bedeutung des Räumlichen tung der Daten Verknüpfungen zu anderen für die Konstitution gesellschaftlicher Daten im selben Raum machen lassen. In Wirklichkeiten zu erfassen (Werlen, 1997). Bezug auf die Transformationsforschung Seine Arbeiten begründen ein Verständnis wie auch auf die planungsbezogene For- von „Geographie-Machen“, in dem die all- schung ist solch eine integrierte Betrach- täglichen Handlungen der Subjekte aus- tungsweise elementar, um die zukünftige schlaggebend sind, und der Raum selbst Entwicklung eines komplexen Systems nicht als Forschungsgegenstand akzep- wie einem Stadtviertel, einer Stadt oder tiert wird. Raum wird dabei stets auch einer Region neu zu denken (z. B. auch aus der relationalen Bezugnahme auf den Raum als Brückenkonzept in Levin-Keitel physisch-materiellen Kontext des Han- et al., 2018), und zwar nicht nur in Bezug delns generiert (Werlen, 1995). Ein relatio- auf Mobilität, sondern auch in Hinblick nales Raumverständnis liegt auch den Ar- auf die Auswirkungen auf Arbeiten und beiten des Forschungsprojektes MoveMe Wohnen oder Fragen der Nahversorgung. zugrunde. Im Sinne einer raumsensiblen Zweitens identifizieren Goodchild & Ja- Transformationsforschung bedeutet dies, nelle (2004) räumliche Perspektiven als die komplexen Wechselwirkungen zwi- Brücke von forschungsrelevantem Wissen schen räumlicher Lage, raumstrukturellen zu politischen Inhalten („space can provi- Merkmalen sowie spezifischen Nutzun- de an integrating mechanism for the soci- gen und Funktionen oder Regulationen zu al sciences, and a mechanism for linking identifizieren und Möglichkeiten der Ana- science to policy”, 2004: 4). In Form von lyse von Wirkungszusammenhängen auf- normativem Zielwissen wie Leitbildern, zuzeigen. Masterplänen oder Zielbildern werden wissenschaftliche Erkenntnisse in räum- 3.3 Räumliche Perspektiven auf Transfor- lich konkrete Zielvorstellungen übersetzt: mationsprozesse: Mehrwert und Stand Wie soll die Mobilitätswende in einem der Diskussion bestimmten Stadtteil aussehen, wie in der Innenstadt einer großen Metropole Der Mehrwert einer explizit räumlichen und wie in einer ländlich geprägten Um- Perspektive auf Transformationsprozesse landgemeinde? Drittens kann von räum- wurde insbesondere im Kontext des ‚spa- lich verorteten Daten und Analysen eine tial turn’ in den Sozialwissenschaften all- Handlungsorientierung abgeleitet werden gemein hervorgehoben. Goodchild & Ja- (Levin-Keitel et al., 2018). Damit bedie- nelle (2004) identifizieren Eigenschaften nen räumliche Perspektiven auf Transfor- Seite 17
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität mationsprozesse gerade im Hinblick auf sowie auf Maßstabsfragen konzentrieren. transdisziplinäre Forschung eine wichti- Sie begannen, lokalspezifische institu- ge Aufgabe in der Vermittlung zwischen tionelle Rahmenbedingungen zu analysie- Wissenschaft und Praxis, zwischen wis- ren (e.g. Truffer et al., 2015; Raven et al., senschaftlichem Wissen und praktischer 2012; Nevens et al., 2013), um Kontexte Anwendung. Sowohl die integrierte Sicht- und Potentiale einzelner Nachhaltigkeits- weise als auch die Übersetzungsbrücke experimente zu verstehen (e.g. Coenen & zwischen Wissenschaft und Praxis sowie Truffer, 2012; Coenen et al., 2010). Dieser die konkrete Übertragung in lokalspezi- deutlich von der Wirtschaftsgeographie fische Handlungsalternativen zeigen die geprägte Ansatz fokussiert sich stark auf nicht zu unterschätzende Bedeutung ei- die Analyse von (oftmals technischen) Ni- nes räumlichen Verständnisses für lang- schen und deren Implementationen in das fristigen Wandel auf. sozio-technische Regime. Wenig berück- sichtigt bleiben lokalspezifische Voraus- Die „Geographies of Transition“ (Binz et setzungen, wie städtische und ländliche al., 2020; Loorbach et al., 2017; Markard Settings, schrumpfende und wachsende et al., 2012; Raven et al., 2012; Binz et Städte, sozialräumliche Verflechtungen al., 2014; Truffer et al., 2015), ein relativ innerhalb von Quartieren sowie regionale junger Ansatz innerhalb der Transition und nationale Einflüsse (Boschma et al., Studies, zielen darauf ab, eine räumliche 2017). Der urbane Raum hat in der Trans- Perspektive auf Transformationsprozesse formationsforschung eine besondere Be- zu entwickeln. Dabei werden Fragen nach deutung, was durch die Prominenz des räumlichen Kontexten und dem allgemei- Begriffs der „Urban Transitions“ deutlich nen Verständnis von Raum ins Zentrum wird (vgl. Publikationsreihen Urban Tran- gerückt (Köhler et al., 2019; Binz et al., sitions, Urban Transformation etc.). Auch 2020): Inwieweit spielen räumliche Ebe- in den Geographies of Transition betonen nen (national, regional, lokal) eine Rolle, Hansen und Coenen (2015: 15) die Be- um Transformationsprozesse zu initiie- deutung der geographischen Nähe für ge- ren? Wie wirken sich lokale Interventio- meinsame Interaktionen und Experimen- nen und Experimente in Nischen auf den te und beziehen sich damit auf den stark lokalen Kontext aus? In welchen sozial- verdichteten städtischen Raum. In einer räumlichen Arrangements entfalten Maß- interdisziplinären virtuellen Webinarreihe nahmen ihre volle Wirkung, in welchen in 2020 (Youtube channel: Geography of Räumen braucht es andere Maßnahmen? Sustainability Transitions) wurden unter- Und wie sind Transformationsprozesse schiedliche Forschungsansätze der Geo- in formalisierte Planungs- und Entschei- gephies of Transition diskutiert und dabei dungskontexte zu integrieren? Hansen ein Ruf nach einem systematisch-verglei- und Coenen (2015) begannen beispiels- chendem Forschungsansatz formuliert, weise, Raum und räumlichen Kontext um den Einfluss räumlicher Kontexte und als grundlegenden Einflussfaktor in die Prozesse besser herauszuarbeiten (Han- Transformationsforschung einzubringen, sen & Coenen, 2015; Wolfram & Frantzes- indem sie sich auf das Lokalspezifische kaki, 2016; Hodson et al., 2017; Köhler et Seite 18
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität al., 2019; Sengers et al., 2019). Im Hinblick Ansätze wie inkrementelle Planung oder auf verschiedene Forschungsansätze, die Planung als politischer Prozess eignen sich explizit mit Raum und Orten befassen sich für eine Einordnung und Analyse von (wie Raumplanung, Humangeographie, Transformationsprozessen, z. B. für den Urban Studies etc.), konzentrieren sich die experimentellen Ansatz von Nachhaltig- Transitionforschung und die „Geographies keitslaboren, um die Reichweite der Tran- of Transition“-Forschung bisher lediglich sitionsforschung unter Echtzeitbedingun- auf einen Teil der räumlichen Forschungs- gen zu überprüfen (Wirth & Levin-Keitel, perspektive. 2020). Unter dem Schlagwort der Räumlichen 3.4 Ein vierdimensionales Raumverständ- Transformation haben Levin-Keitel et al. nis als konzeptioneller Rahmen (2018) bereits eine erste konzeptionel- le Rahmung von Raumverständnissen in Auf Basis grundlegender Raumtheorien die Transformationsforschung eingeführt. und -konzeptionen wie von Läpple (1991) Ergänzend zu den Arbeiten der Geogra- und darauf aufbauend Sturm (2000), ent- phies of Transition steht hier ein stärker wickeln wir als Arbeitsgrundlage für die raumplanungsbezogener Ansatz im Vor- Forschung der Nachwuchsgruppe Move- dergrund. Raumplanung, hier als Stadt- Me einen konzeptionellen Rahmen einer und Regionalplanung sowie räumliche räumlichen Perspektive auf Transforma- Entwicklung allgemein verstanden, ad- tionsprozesse, der über die rein physikali- ressiert explizit eine stärker prozedurale sche Verteilung von Nischenprojekten und Sichtweise auf Transformationsprozesse. deren räumliche Verortung hinausgeht. Als transformative sustainable planning Neben Läpple und Sturm existieren zahl- oder transformative socio-spatial planing reiche weitere Annäherungen an Raum- führen auch Horlings (2017) und Grenni et theorien, die aber in unterschiedlichen al. (2020) diese Perspektive in die Transi- Konzeptionen stets die Ergänzung eines tion Studies ein. Horlings (2017) betont physisch-materiellen Raumverständnis- dabei, dass transformative socio-spatial ses um sozial-konstruierte Aspekte the- planning nicht nur die Erforschung von matisieren (Malpas, 2012; Kuhlicke & Kru- Praktiken und Institutionen beinhaltet, se, 2009; Keim, 2003; Hilger, 2014; Werlen, sondern auch eine wertebasierte Pers- 1997). Die Modelle von Läpple und Sturm pektive der Planenden und deren Rollen- wurden hier als Basis gewählt, weil die verständnisse mit sich bringt. Eine Vertie- Unterscheidung in die vier Raumdimensi- fung und weitere Auseinandersetzung mit onen besonders zielführend erscheint und räumlichen Transformationsprozessen bereits empirisch Anwendung fand. So- allgemein scheint notwendig, insbeson- wohl Läpple (1991) als auch Sturm (2000) dere mit Blick auf deren bisher kaum be- gehen von vier Komponenten beziehungs- leuchteten prozeduralen Aspekte an der weise Quadranten eines gesellschaftlich Schnittstelle zwischen räumlicher Pla- konstituierten Raums aus. Beide betonen nung und Transformationsforschung. Ge- in ihren Ausführungen die wechselseitige rade verschiedene planungstheoretische Abhängigkeit aller Komponenten und Qua- Seite 19
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität dranten voneinander, aber auch die Not- Handlungsbezogen-prozedurale Raumdi- wendigkeit einer analytischen Trennung mension als eigenständige Facetten (Läpple, 1991: 196f.; Sturm, 2000: 199f.). Sturm (2000) Die handlungsbezogen-prozedurale unterscheidet in Form eines Vier-Quad- Raumdimension befasst sich mit der ge- ranten-Modells verschiedene Dimensio- sellschaftlichen Praxis der Produktion, nen von Raum, die materiale Gestalt des Nutzung und Aneignung des Raums durch Raumes, die strukturierende Regulation die Menschen als soziale Akteure (Läp- im Raum und des Raumes (Steuerungsop- ple, 1991). Darunter fallen die Nutzungen tionen/ Governance Arrangements), das und Funktionen eines Raums, z. B. dessen historische Konstituieren des Raumes Nutzung als Radweg, Fußweg oder Stra- und den kulturellen Ausdruck im Raum ße oder Parkplatz. Eine Umnutzung von und des Raumes. Diese vier Dimensionen Parkplätzen z. B. verändert einen Raum wurden bereits in die Transformationsfor- sichtbar und wirkungsvoll, obwohl mate- schung am Beispiel von Nachhaltigkeits- riell-physisch keine Veränderungen vor- experimenten (Wirth & Levin-Keitel, 2020) genommen wurden. Auch lokale Tradi- und einem psychologisch-räumlichen tionen und Identitäten sind hier prägend, Forschungskonzept (Bögel et al., i. E.) ein- gerade wenn es um Auswirkungen auf die geführt und weiterentwickelt. In diesem alltäglichen Routinen geht (der Parkplatz, für die Transformationsforschung ange- der immer genutzt wurde, die Straße, die passten mehrdimensionalen Raummodell direkt zum Wohnort führt etc.). Nutzungs- können die vier Dimensionen wie folgt be- muster können dabei auch von den bau- schrieben werden: lich oder regulatorisch vorgesehenen Nutzungen abweichen – z. B. wenn ein Materiell-physische Raumdimension Bürgersteig zunehmend auch von Fahr- radfahrenden genutzt wird, weil die mit Die materiell-physische Raumdimension den Autos geteilte Straße als zu gefährlich von Transformationsprozessen nimmt Be- empfunden wird. Oftmals überschneiden zug auf das Konzept des Containerraums sich verschiedene Nutzungsformen, was und umfasst alle unmittelbar sichtbaren zu Konflikten führen kann. Elemente im Raum. Während sich phy- sisch im Wortstamm eher auf „die Natur Regulativ-institutionalisierte Raumdi- betreffend“ bezieht, fallen unter mate- mension riell „sich vergegenständlicht habende Produkte menschlichen Lebens und Sie- Die regulativ-institutionalisierte Raum- delns“ (Sturm, 2000: 200). In Bezug auf das dimension kann als Vermittlungsglied Mobilitätssystem sind dies z. B. gebaute zwischen der materiell-physischen Straßen und asphaltierte Wege als orts- Raumdimension und der handlungsbezo- gebundene Artefakte oder die Stadtstruk- gen-prozeduralen Raumdimension ange- tur mit ihrer gebauten Umwelt in Form von sehen werden. Diese gesellschaftlichen Gebäuden und Freiräumen. Regulationssysteme, die aus Eigentums- formen, Macht- und Kontrollbeziehungen, Seite 20
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität rechtlichen Regelungen oder sozialen und die Möglichkeit, das Zusammenspiel von ästhetischen Normen bestehen können, unterschiedlichen Raumdimensionen ver- regeln den Umgang mit den raumstruk- tieft zu untersuchen. Dabei bietet gerade turierenden Artefakten (Läpple, 1991). So die Berücksichtigung der verschiedenen regelt zum Beispiel die Straßenverkehrs- Dimensionen, beispielsweise der phy- ordnung, wer wie am Straßenverkehr sisch-materiellen, aber auch der kultu- teilnehmen darf und ist damit ein struk- rell-symbolischen Dimension von Räumen turbildender Ausgangspunkt des Mobili- vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für tätssystems auch auf lokaler Ebene. unterschiedliche disziplinäre Perspekti- ven. Kulturell-symbolische Raumdimension Die kulturell-symbolische Raumdimen- sion repräsentiert das mit der materiell- physischen Raumdimension verbundene räumliche Zeichen-, Symbol- und Re- präsentationssystem. In Form von räum- lichen Artefakten beispielsweise bilden diese vergegenständlichte Formen gesell- schaftlichen Handelns (sozio-kultureller Aspekt) als auch kristallisierte Geschich- te und kollektive Symbolik (symbolischer Aspekt). Bezogen auf das Mobilitätssys- tem können dies das teure Erst-, Zweit- und Drittauto in der Einfahrt des Einfami- lienhauses sein oder das (gesellschaftlich anerkannte) Privileg nicht zur Rushhour im vollen ÖPNV fahren zu müssen. Das hier vorgeschlagene vierdimensionale Raummodell bildet somit eine Konkreti- sierung eines relationalen Raumverständ- nisses. Mithilfe dieses analytischen Rah- mens können Ansatzpunkte und Prozesse für Transformationsprozesse im Feld der Mobilität raumsensibel untersucht wer- den. Während das oben beschriebene Mehrebenenmodell sozio-technischer Transformation die zeitliche Dynamik von Wandlungsprozessen betont und Akteurs- konstellationen in den Vordergrund stellt, bietet das vier-dimensionale Raummodell Seite 21
Perspektiven einer sozio-räumlichen Transformation zu nachhaltiger Mobilität 4 Schlüsselthemen einer sozio-räumlichen Transformation von Mobilität 4.1 Das sozio-räumliche Brückenkonzept Schlüsselthema 3 analysiert die Umge- in der Mobilitätsforschung staltung von Verkehrsräumen zuguns- ten nachhaltigerer Verkehrsträger und Das vorgestellte Brückenkonzept in Form nicht-verkehrlicher Nutzungen. Aus einer der theoretischen Fundierung einer so- psychologischen Sicht wird untersucht, zio-räumlichen Perspektive auf Trans- unter welchen Bedingungen Umgestal- formationen wird nun anhand von drei tungsmaßnahmen, die zulasten des Au- Schlüsselthemen in das Feld der Mobili- toverkehrs gehen, Unterstützung finden tätsforschung übersetzt und weiter aus- könnten – insbesondere auch in Räumen geführt. Die Schlüsselthemen nehmen die jenseits der Großstadt. Chancen und Risiken einer zunehmenden Digitalisierung sowie gesellschaftliche 4.2 Potentiale von Shared Mobility Ange- Veränderungen auf und betreffen (1) neue boten und neuen Angeboten der Perso- Mobilitätsangebote, (2) verkehrsspar- nenbeförderung same Quartiersentwicklung sowie (3) die Neuaufteilung von Verkehrsräumen. 4.2.1 Zentrale Grundbegriffe und Frage- stellungen Schlüsselthema 1 behandelt die Rolle neuer digitalbasierter Mobilitätsdienst- Ein zentrales Forschungsthema des Pro- leistungen im Kontext inter- und multi- jekt betrifft die Rolle, welche „digitalba- modaler Mobilitätsmuster. Fokus des sierte“ Mobilitätsangebote für Verkehrs- Schlüsselthemas ist zu untersuchen, in- verlagerung in verschiedenen Raumtypen wieweit bisher nur in urbanen Bereichen spielen können. Die Ausgangsthese lau- verbreitete „Shared Mobility Services“, tet, dass diese neuen Angebotsformen also etwa E-Scooter oder Bikesharing, unter bestimmten Rahmenbedingungen aber auch flexible Dienste der Personen- als Bausteine in einem ökologisch nach- beförderung, auch in anderen räumlichen haltigeren „multioptionalen“ Mobilitäts- Settings einer Region eingesetzt werden system fungieren könnten, in dem das könnten. private Auto an Bedeutung verliert und multimodale sowie intermodale Mobili- Schlüsselthema 2 thematisiert die Rolle tätsmuster an Bedeutung gewinnen. Unter von digitalbasierten Formen des mobilen multimodalen Mobilitätsmustern wird da- Arbeitens, insbesondere Home-Office und bei in der Verkehrsforschung in der Regel Co-Working-Spaces, für die Vermeidung die Nutzung unterschiedlicher Verkehrs- von Verkehr: Aus einer planerischen Sicht mittel bei der Durchführung von Wegen wird untersucht, wie diese neuen Arbeits- innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls formen in die Gestaltung von verkehrs- (i.d.R. innerhalb einer Woche) verstanden sparsamen Quartieren insbesondere auch (Nobis, 2015). Unter Intermodalität wird in den Umlandgemeinden der Region Han- hingegen die Nutzung unterschiedlicher nover integriert werden könnten. Verkehrsmittel innerhalb eines Weges Seite 22
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