Schnippeln und Ritzen - Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen
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1 Das ie sollten Sr da rü be Schnippeln wissen und Ritzen Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen
2 SCHNIPPELN UND RITZEN - SELBSTVERLETZENDES VERHALTEN BEI JUGENDLICHEN Inhalt Seite Warum wir diese Broschüre schreiben 4 Entstehung - von Alltagsgewohnheiten zum Symptom psychiatrischer Erkrankungen: Was ist Selbstverletzendes Verhalten? 5 Die besondere Bedeutung der Haut 6 Formen und Bedeutungen von Selbstverletzendem Verhalten 7 Ursachen und Auslöser 9 Was im Gehirn geschieht 10 Verbreitung und Verlauf 11 Funktionen von Selbstverletzendem Verhalten 12 Zwischen Schönheitsideal und Krankheitssymptom 14 Initiations- und Übergangsriten 15 Verflixte Schönheit oder im Krieg mit dem Körper 16 Erste Schritte: Sprachlosigkeit, Ohnmacht und Lähmung überwinden 17 Sich Verbündete suchen 18 Was hilft und was nicht hilft 20 Was ist wichtig für eine erste Einschätzung? 20 Tipps für Eltern 22 Kommunikationsregeln 24 Tipps für PädagogInnen 25 Das Thema Selbstverletzung im Internet 26 Einschub: Schweigepflicht 28 Fürsorgepflicht 29 Konsequent handeln / den „Übergriff“ der HelferInnen vermeiden 30
Wer hilft weiter? Möglichkeiten der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie 31 Information und Hilfe 33 Literatur 34 Impressum 35 „Ich wollte meinen seelischen Schmerz durch einen körperlichen ersetzen. Keiner verstand, wie es mir ging, jeder verachtete mich, weil sie beim Sport meine Narben sahen. Ich war so verletzt, weil sie mich hassten. Ich ritze jetzt schon seit knapp 11/2 Jahren. Ich bin aber im Moment auf einem guten Weg damit aufzuhören. Ich verstehe die Menschen, die sich so was zufügen. Es ist ein erleichterndes Gefühl.“ Quelle: Internetkommentare zu „Warum sich Jugendliche Schmerzen zufügen“ auf www.welt.de/wissenschaft/article1016903
WARUM WIR DIESE BROSCHÜRE SCHREIBEN Liebe Interessierte, der Kreis Pinneberg hat in den letzten zwei Jahren mit den AutorInnen dieser Broschüre vier Mal das Fachforum „Schnippeln, Ritzen, Selbstver- letzendes Verhalten“ veranstaltet. An jedem Fachforum haben über 60 Menschen teilgenommen, weitere hoff- ten über Wartelisten auf einen Platz. Ein so hohes Interesse zeigt, dass zunehmend mehr Eltern, LehrerInnen, JugendleiterInnen, TrainerInnen und ehrenamtliche MitarbeiterInnen der Jugendarbeit mit dem Phänomen des Selbstverletzenden Verhaltens konfrontiert sind. In dieser Broschüre stellen wir Ihnen Möglichkeiten vor, das Verhalten lichen ist es wichtig, unverzüglich aber der Jugendlichen zu verstehen und überlegt für die weitere Hilfe zu sorgen. angemessen darauf zu reagieren. Die Dazu ist es nicht nötig, sofort die rich- Ratlosigkeit, die zu Selbstverletzendem tige Diagnose zu stellen. Wir haben Verhalten führt, kann sich rasch auf daher bewusst auf eine detaillierte Helferinnen und Helfer übertragen und Beschreibung der verschiedenen see- lähmend wirken. Wir geben Ihnen daher lischen Erkrankungen und ihrer Unter- eine Übersicht zum Thema, die Sie scheidungen verzichtet. Zur genauen zu zielgerichtetem und besonnenem Diagnostik ist die Zusammenarbeit mit Handeln befähigen soll. erfahrenen Fachleuten unerlässlich. Informationen, die für die Ersthilfe we- Bei der ersten Begegnung mit selbst- niger wichtig sind, finden Interessierte verletzenden Kindern oder Jugend- in der weiterführenden Literatur. Christa Limmer Silvia Stolze Dr. Eberhard Weinert
Entstehung - von Alltagsgewohnheiten zum Symptom psychiatrischer Erkrankungen Was ist Selbstverletzendes Verhalten? Selbstverletzendes Verhalten liegt dann vor, wenn eine Person sich selber aktiv, direkt, bewusst oder unbewusst, wiederholt Verletzungen zufügt, die nicht zum im jewei- ligen Kulturkreis üblichen Verhaltensrepertoire zählen und keine intendierte suizidale Wirkung haben. (Neppert, 1998) Selbstverletzende Verhaltensweisen sind als eindeutige und ernst zu nehmende Zeichen einer krisenhaften Ent- wicklung zu sehen. Selbstverletzungen treten meist wie- derholt auf, teilweise nehmen Häufigkeit und Schweregrad der selbstschädigenden Aktionen im Laufe der Zeit zu.
ENTSTEHUNG Die besondere Bedeutung der Haut In unerwarteten, besonders glück- Den sonst mit Kneifen verbundenen lichen Situationen kann es sein, Schmerz bemerken wir kaum; die dass wir einen anderen Menschen Erleichterung, dass wir nicht träumen, bitten: überwiegt und lässt unsere Schmerz- schwelle sinken. „Kneif mich mal, ich glaub es nicht.“ Fassungslos über die überaus erfreu- Offensichtlich spielt die Haut mit liche Nachricht sitzt man da und möch- ihrem Schmerz- und Berührungs- te spüren, dass man nicht träumt. sinn eine besondere Rolle: Können Sie sich die Situation vorstellen oder haben Sie sie vielleicht schon u Sie gibt uns Form, ist Teil unserer einmal erlebt? Um Jugendliche, die Einzigartigkeit und unterscheidet sich selbst verletzen zu verstehen, ist uns von unserer Umgebung. Bis es dann nur noch ein kleiner Schritt. hierher existiere ich, ab meiner Legen wir die Situation doch einmal Hautoberfläche beginnt meine Um- „unter die Lupe“: gebung. („Ich fühl’ mich wohl in meiner Haut.“) Überwältigt von der besonders erfreu- lichen Nachricht beginnt die Situation u Sie ist uns Schutz und Grenze. für Sie zu verschwimmen: Haben Sie („Rück mir nicht auf die Pelle.“) wirklich richtig gehört? Können Sie sicher sein, dass wirklich Sie gemeint u Sie ist unser größtes Sinnesorgan, sind? Sind Sie wach oder träumen Sie? lässt uns den kleinsten Windhauch Wenn wir unseren Augen und Ohren spüren und kann uns über den nicht mehr richtig trauen, verlassen Schmerz warnen. („Es drückt mich wir uns offensichtlich eher auf unser was.“) Sinnesorgan Haut. Der kräftige Hautreiz, sonst eher u Sie ist ein Teil der Körpersprache, gemieden und als unangenehm emp- kann etwas mitteilen. So kennen funden, ist hier (in Maßen) willkommen, wir sehr genau den Unterschied um uns Sicherheit zu geben, um uns zwischen Erröten vor Scham und wieder „im Hier und Jetzt“ zu fühlen. Zornesröte.
Formen und Bedeutungen von Selbst- verletzendem Verhalten Da unsere Haut so viele verschiedene cken: „Ich gehöre dazu“, als Mutprobe Funktionen hat, können auch Selbstver- (die Blutsbrüderschaft) oder als Aus- letzungen der Haut ganz unterschied- druck der Zugehörigkeit - „Ich möchte liche Formen und Bedeutungen haben. das gleiche Piercing / Tattoo tragen wie Manche sind uns im Alltag geläufig und mein Idol.“ wir bemerken sie kaum noch, andere befremden uns sehr. Und dann gibt es noch die Jugend- Die häufigste Form sind Selbstverlet- lichen, die mit spitzen oder scharfen zungen aus Gewohnheit. Wir kratzen Gegenständen unterschiedlich tief am Mückenstich, bis die Haut blutig ihre eigene Haut mit einer Serie von ist. Oder wir versuchen, den lästigen Schnitten verletzen. Zwickel an der Nagelhaut abzureißen Dies wird entweder offen gezeigt und – obwohl wir wissen, dass eine kleine benannt, oder aber verschwiegen Schere viel besser wäre. und unter entsprechender Kleidung Bei diesen Gewohnheiten ignorieren versteckt. Bei der heimlichen Selbst- wir oft lange den Schmerz, bis er sich verletzung leugnen die Betroffenen deutlich bemerkbar macht. die Gründe für ihre Wunden und finden andere Erklärungen („Meine Katze hat Die Haut wird auch selbst verletzt, mich gekratzt“; „Das war der Rosen- um mit der Körpersprache auszudrü- strauch“).
8 ENTSTEHUNG Die Haut wird verletzt oder geschnit- Dort waren wir uns unserer selbst nicht ten, häufig an den Armen oder Beinen mehr sicher, Wirklichkeit und Traum oder im Brust- oder Bauchbereich, bis drohten zu verwischen. Oft haben die Wunden bluten. Sie schlagen sich Jugendliche, die schnippeln, Erlebnisse selbst oder schlagen ihren Kopf gegen gehabt, die sie nicht ausreichend ver- harte Oberflächen; sie duschen extrem arbeiten können. Das ständige Grübeln heiß, beißen sich selbst in Lippen, Hän- über Fragen wie: Habe ich das wirklich de oder andere Körperpartien, fügen erlebt? Galt es wirklich mir? sich mit Zigaretten o. Ä. Verbrennungen Kann ich das überhaupt aushalten? zu, reißen sich Haare aus und noch Wie sehr muss ich mich schämen? vieles mehr. Wie soll ich das nur jemandem er- zählen? führt zu einer steigenden Dies befremdet uns und wir denken, inneren Anspannung und zu massiven das müsse doch weh tun. Wir sind nicht Selbstzweifeln. Und da die Gedanken selten verunsichert und sprachlos. keine Entlastung bringen, Reden nicht Uns dies einzugestehen, ist ein erster möglich scheint – wird geritzt. wichtiger Schritt. Denn möglicherweise sind wir so einem ersten Verstehen Dies bringt erst einmal eine kurzfristige ganz nah. Offensichtlich findet auch die Entlastung, der Ausbruch aus dem Grü- / der Jugendliche keine Worte, keine beln gelingt sowie eine Rückkehr ins gesprochene Sprache mehr, um sich Hier und Jetzt, ins Leben, … bis die anders mit zu teilen. Scham über die Selbstverletzung einen Was geht in ihm / ihr vor? Gehen wir neuen Kreislauf auslöst oder das Selbst- noch mal zu unseren Eingangsbeispiel verletzende Verhalten durch die „positi- zurück, die Situation, die wir „unter die ve“ Erfahrung der Entlastung zur andau- Lupe“ gelegt haben. ernden Problemlösungsstrategie wird. „Dann fing auch noch meine beste Freundin mit dem Scheiß an… und ich wollte irgendwie versuchen, sie zu verstehen … und begann auch mit diesem Kram…“ Quelle: Internetkommentare zu „Warum sich Jugendliche Schmerzen zufügen“ auf www.welt.de/wissenschaft/article1016903
9 „Eine gute Freundin hat mich mal aufs Ritzen gebracht. Als sie damit anfing hab ich gesagt, sie soll es lassen, aber sie meinte nur, dass sie das brauche und nicht mehr davon loskomme.“ Quelle: Internetkommentare zu „Warum sich Jugendliche Schmerzen zufügen“ auf www.welt.de/wissenschaft/article1016903 Ursachen und Auslöser Kinder und Jugendliche, die Selbst- Es gibt sowohl innere als auch verletzendes Verhalten zeigen äußere Auslöser für Selbstverlet- uleben in einem Zustand überhöhter zendes Verhalten. Stimmungsschwankungen, die viel Diese müssen jedoch für Außenstehen- stärker ausgeprägt sein können, als de nicht immer ersichtlich sein bzw. dies in der Pubertät ohnehin der Fall ist nicht unbedingt als außergewöhnlich u können selten auf ein stabiles sozi- eingeschätzt werden. ales Netz zurückgreifen und waren in ihrem bisherigen Leben häufig Si- Innere Auslöser sind z. B. Liebeskum- tuationen ausgesetzt, die sie als mer, das Gefühl nicht akzeptiert oder massiv belastend empfunden haben gemocht zu werden, ein niedriges u leiden unter einem meist katastro- Selbstwertgefühl, ein Gefühl der Leere, phalen Selbstbild, mit tiefgreifender der Isolation oder des Unverstanden- Unkenntnis über die eigenen Stärken seins. Auch ein subjektiv erlebtes Ver- und Fähigkeiten sagen kann Auslöser für selbstschädi- u glauben, unheilbar krank, verrückt, gendes Verhalten sein. Beispiele dafür minderwertig und schlecht zu sein sind, wenn man statt einer 1 nur eine 2 in u liegen in einem ständigen „Mehr- der Klassenarbeit bekommen hat, wenn frontenkrieg“einerseits mit sich jemand, in den man sich verliebt hat, das selbst, andererseits mit ihren Be- Gefühl nicht erwidert oder aber wenn zugspersonen und der unmittelba- man sich etwas ganz fest vorgenommen ren Umgebung. hat und es dann doch nicht schafft.
10 ENTSTEHUNG Äußere Auslöser können alltägliche sie häufig nicht mehr loslassen und Belastungen sein, Veränderungen regelrecht im Kopf kreisen. Diese innerhalb der Familie, Konflikte Gedanken sorgen dafür, dass sich ein mit einer wichtigen Bezugsperson, schier unerträglicher psychischer Trennungssituationen, der Tod eines Druck bei den Betroffenen aufbaut, der geliebten Menschen oder schlechte oft nur dann nachlässt, wenn sich die Schulnoten, Traumatisierungen durch Betroffenen selbst verletzen. Gewalt und sexuellen Missbrauch, aber auch (Bürger-) Kriegserfahrungen bei Möglich ist auch eine „Ansteckung“ Flüchtlingen. durch Freunde oder Freundinnen und / oder eine falsch verstandene Solidari- Gedanken wie „Ich bin nicht gut tät in der Gleichaltrigengruppe. genug“, „Ich bin sowieso allen egal“ Einige Jugendliche fühlen sich zu be- oder „Alle schaffen das, nur ich nicht“ stimmten Jugendkulturen hingezogen werden in diesem Zusammenhang von und probieren in diesem Zusammen- Betroffenen genannt. Sie berichten, hang das Selbstverletzende Verhalten dass die oben genannten Gedanken aus, weil es scheinbar dazugehört. Was im Gehirn geschieht Aus neueren Untersuchungen ist passende Rezeptorstellen gebunden bekannt, dass das Durchhalten oder und lösen subjektive Gefühle eines Erdulden von schweren körperlichen angenehmen Erlebens und verminder- Belastungen durch ein körpereigenes ten Schmerzempfindens aus. Dieser Belohnungssystem unterstützt wird. Mechanismus ist bei allen Menschen Dabei werden im Gehirnstoffwechsel vorhanden und scheint bei allen Aus- Botenstoffe, z.B. Endorphine, die che- dauersportarten (z.B. Marathonlauf) misch den Opiaten ähneln, in winzigen eine große Bedeutung zu haben. Mengen vom Körper selbst gebildet. Inzwischen wird vermutet, dass diese Bei Belastung werden diese Botenstoffe körpereigene Reaktion auch bei Selbst- von den produzierenden Gehirnzellen verletzendem Verhalten auftritt und ausgeschüttet. Die Stoffe werden zu stereotypen Wiederholungen des dann von anderen speziellen Zellen an Verhaltens beiträgt.
11 Verbreitung und Verlauf Etwa 4% der Allgemeinbevölkerung fügen sich die hier beschriebenen Selbstverletzungen über einen Zeitraum von 6 Monaten zu. Im Jugendalter und bei Heranwachsen- den treten die Selbstverletzungen besonders ausgeprägt auf. Der Beginn dieses Verhaltens liegt meist im Alter von 13 - 16 Jahren und eher selten in der Kindheit. Zwischen 18 und 24 Jahren kommt es am stärksten vor. Selbstverletzendes Verhalten wird sowohl ritualisiert mehrfach am Tage ausgeführt als auch sporadisch in belastenden Situationen. Viele Betroffene erleben ihr Verhalten als eine Art Sucht. Es kann über Zeiträume von durchschnittlich 10 - 15 Jahren bestehen bleiben. Im Alter von 30 - 40 Jahren nehmen die Handlungen in der Häufig- keit deutlich ab. Der Heidelberger Jugendgesundheitsstudie 2006 an 14 - 16-jährigen Jugendlichen zufolge berichten 10% der Jun- gen und 20% der Mädchen von absichtlichen Selbstver- letzungen in Form von Ritzen, Schneiden oder Verbren- nungen. Bei den meisten Betroffenen sind dies einzelne Vorkommnisse (1- bis 3-mal im Jahr). Von wiederholten bis regelmäßigen Selbstverletzungen - mehr als 3 Mal pro Jahr - berichten 2% der Jungen und 6% der Mädchen. Von den Eltern werden das selbstverletzende Verhalten und die dahinter stehenden Belastungen und Nöte mas- siv unterschätzt bzw. meist gar nicht wahrgenommen. (Aus: Petermann und Nitkowski 2008; Gesundheitsbericht Rhein-Neckar-Kreis/Heidelberg 2006)
12 ENTSTEHUNG Funktionen von Selbstverletzendem Verhalten Abhängig von Ursache und Auslöser u Ausdruck von emotionalen kann Selbstverletzendes Verhalten Schmerzen, unterschiedliche Funktionen erfüllen: die häufig in ihrer Gefühlsqualität nicht benannt werden können; u Selbstvergewisserung eine Entlastung geschieht durch Um- Lebendigkeit spüren wollen bei wandlung des emotionalen Schmer- Gefühlen innerer Leere oder der Be- zes in einen körperlichen fürchtung, die Realität zu verlieren u Euphorie u Spannungsabfuhr durch Ausschüttung von Endorphinen Mit dem Blut fließt die aufgebaute Spannung ab, der einsetzende Schmerz u Selbstfürsorge wird als wohltuend beschrieben nach den Verletzungen u Selbstberuhigung u Bedürfnis nach Macht Bewältigung Angst machender Ge- Mit Selbstverletzendem Verhalten fühle wie extreme Wut oder sich sehr kann versucht werden, Macht über zu jemandem hingezogen fühlen einen anderen Menschen zu erlangen, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen u Körperkontrolle und ihn zu bezwingen Den eigenen Körper bezwingen als Bestätigung der Autonomie u Botschaft, Signal, Vorwurf, Appell Betroffene erhalten Anerkennung und u Selbstbestrafung Zuwendung (Vermeintliche) Fehler führen zu Selbsthass und Schuldgefühlen u Sucht nach Schmerz Das Erlebnis des Schmerzes steht im u Gefühl der Einzigartigkeit Vordergrund und wird als angenehm Betroffene sind stolz auf die empfunden Leistung der Selbstverletzung. („Nur wer einen starken Willen u In der Regel wird nicht die hat, kann das tun“) Selbsttötung beabsichtigt
13 u ACHTUNG! Auch bei Psychosen können, ebenso Im weiteren Verlauf kann es aber wie bei den zuvor genannten Erkran- zu suizidalen Gedanken kommen, kungen, selbstverletzende Verhaltens- wenn die Jugendlichen keine Un- weisen auftreten. Selbstverletzendes terstützung erfahren. Verhalten ist also nicht typisch für eine bestimmte seelische Erkrankung. Es Wenn Kinder oder Jugendliche in kann lediglich ein Hinweis sein, dass belastende oder traumatische Situati- eine seelische Erkrankung vorliegt onen geraten, haben Copingstrategien und eine Diagnostik notwendig wird. (die Fähigkeiten zur Überwindung Sehr schwere Formen von Selbstverlet- schwieriger Lebenssituationen) und zendem Verhalten können nicht immer Selbstheilungskräfte zunächst eine ambulant abgeklärt werden. Hier wird schützende Funktion. Diese Fähigkeiten eine stationäre Aufnahme zur weiteren können jedoch so überfordert werden, Abklärung und zum Schutz notwendig. dass sich eine seelische Krankheit In aller Deutlichkeit sei allerdings noch entwickelt. Hier sind Anpassungsstö- einmal darauf hingewiesen, dass nicht rungen, posttraumatische Belastungs- jedes Selbstverletzende Verhalten störungen, Depressionen und psycho- automatisch das Vorliegen einer somatische Erkrankungen zu nennen. seelischen Erkrankung bedeutet. Über die Diagnose „Borderline“ Diese Diagnose ist in der Psychiatrie für Erwachsene nicht unumstritten. Bei Kindern und Jugendlichen wird sie in der Regel gar nicht gebraucht. Die Verknüpfung von Selbstverletzendem Verhalten und Borderline hat schon zu oft unnötig Kinder, Jugendliche, Eltern und Helfer erschreckt, gelähmt und die notwendige Hilfe so unnötig verzögert.
14 ENTSTEHUNG Zwischen Schönheitsideal und Krankheitssymptom Selbstverletzungen Eher unauffällig KULTURABHÄNGIG u Tattoo u Piercing u Körperumfang u Narben u etc. u Schönheitsoperationen VORSICHT u Mutproben Zunehmend auffällig u Spannungs- und Aggres- HANDELN sionsabfuhr u Offen ausgeführt u Heimlich zwanghaft aus- geführt u Verfestigt als Symptom seelischer Erkrankungen
15 Initiations- und Übergangsriten In Ritualen traditioneller Kulturen, die dazu dienen schwierige, krisen- hafte Lebensphasen zu struktu- rieren, haben selbstbeschädigende Verhaltensweisen oft eine wichtige Bedeutung. Sie dienen dazu, Ord- nung in ein Chaos zu bringen, sich zu strukturieren, Bedrohliches, äu- ßere Gefahren wie böse Geister etc. und innere Gefahren wie niedere körperliche Bedürfnisse und Begeh- ren in Schach zu halten. Im Rahmen von rituellen Tänzen etc. haben sie auch die Funktion der Stärkung des Gruppenzusammenhaltes. Befreiung von Schuld, Sühne, Buße sind weitere wichtige Funktionen. Das Blut hat eine wesentliche Bedeutung im Sinne von Zeichen der Lebendigkeit, Leben, Reinheit, Kraft. Soziale Bande werden durch Blutopfer und Blut geknüpft. Man denke an die Blutsbrüderschaft, die auch bei uns noch oft in den „Indianerspielen“ der Kinder auftaucht. Initiationsrituale werden in traditionellen Kulturen zur Zeit der Pubertät/Adoleszenz, der Zeit der Irrungen und Wirrungen vollzogen, um die Jugendlichen von den Eltern abzulösen und in die Gemeinschaft einzuführen. Die kör- perlichen Verletzungen stellen hier auch ein Symbol für die inneren Schmerzen dar, die diese Zeit mit sich bringt. Annegret Eckhardt (1996)
16 ENTSTEHUNG Verflixte Schönheit oder im Krieg mit dem Körper Zu allen Zeiten und in allen Kulturen Schönheitsoperationen, der auch vor haben Menschen an ihrem Körper selbst Teenagern nicht haltmacht, da gerade Veränderungen vorgenommen, um den sie mit ihrer eigenen Erscheinung oft jeweiligen kulturellen Normen zu Schön- unzufrieden sind. heitsidealen zu entsprechen. Ob dünn Bereits zu Beginn der Pubertät werden oder dick, mit eingeschnürter Taille, auf an die eigene körperliche Erscheinung hochhackigen Schuhen oder mit Ringen und die damit empfundene Attraktivität zur Halsverlängerung: Der Grat zur bestimmte Erwartungen geknüpft. Selbstbeschädigung ist oft schmal. Diese machen die Jugendlichen sehr empfänglich für eine Anpassung an Auch Ohrlöcher, Piercings und normierte Vorstellungen von Aussehen Tätowierungen sind keine Erfindung und Verhalten. Der Körper kann so zum der Gegenwart. Neuer ist der Boom mit Schauplatz von Selbstwertproblemen und Konflikten mit dem Umfeld werden. Auch die Medien haben hier einen großen Einfluss; durch ihre stereotypen Idealisierungen lassen sie den eigenen Körper fortwährend unzulänglich erscheinen. Einerseits präsentieren sie eine Reihe Prominenter wie Michael Jackson und Pamela Anderson, die in der Manipulation ihrer Körper auch Vorbilder werden. Andererseits machen Menschen wie Lady Diana, die sich offen über ihr Selbstverletzendes Verhalten äußerten, es auch anderen Betroffenen möglich, über eigenes, sonst beschämt geheim gehaltenes Selbstverletzendes Verhal- ten zu sprechen.
17 Erste Schritte Zum Umgang mit Selbstverletzendem Verhalten - Sprachlosigkeit, Ohnmacht und Lähmung überwinden Sie wissen, dass Ihr Kind oder Ihre Unverständnis - das ist ganz normal. Schülerin / ihr Schüler sich selbst Selbstverletzendes Verhalten ist ein verletzt. sehr ernst zu nehmendes Warnsignal Zunächst einmal: Bewahren Sie und meist Anzeichen einer heftigen Ruhe. Reagieren Sie nicht mit Panik, inneren Qual. Vorwürfen oder Drohungen. Der Betroffene weiß mit einer be- stimmten Belastung nicht anders um- Vermutlich werden Sie sich hilflos und zugehen, als sich selbst zu schädigen. überfordert fühlen und entwickeln Gleichzeitig sendet er einen deutlichen Gefühle wie Ekel, Wut, Ablehnung oder Appell an die Außenwelt.
18 ERSTE SCHRITTE Sich Verbündete suchen Versuchen Sie, den jungen Men- andere Weise mitteilen, z. B. in einem schen, dessen Selbstverletzungen persönlichen Brief. Sie bemerkt haben, direkt anzu- sprechen. Falls die / der Betroffene dann doch Wenn dies nicht möglich ist, müssen gesprächsbereit ist, können Sie fra- Sie nicht untätig bleiben. Teilen Sie gen, was in seinem Leben so belastend Ihre Beobachtungen einem anderen ist, dass es nur mit Selbstverletzungen Menschen oder Kollegen, dem Sie erträglich ist, und was Sie dazu beitra- vertrauen, mit. gen können, dass die Probleme weniger Überlegen Sie gemeinsam, wer Sie in selbstschädigend verarbeitet werden dieser Situation unterstützen könnte können. oder wen Sie als Nächstes informieren sollten. Haben Sie darüber hinaus Professionelle Hilfe in akuten Kri- den Wunsch, sich direkt an das Kind sensituationen finden Sie z. B. bei oder den/die Jugendliche zu wenden, Schulpsychologischen Beratungsstel- können Sie ihr/ihm Ihre Sorge und len, in Erziehungsberatungsstellen, Ihren Wunsch helfen zu wollen, auf eine in Mädchen- und Frauentreffs und bei u Der Jugendliche befindet sich in u Der Erwachsene verharrt der Isolation, verletzt sich und lässt den nicht in der Situation Erwachsenen nicht an sich ran. sondern wendet sich an
19 Kinder- und Jugendpsychotherapeu- stehen, um für wirksame Hilfe zu tInnen/-psychiaterInnen. sorgen. Dabei muss auch der drin- gende Verdacht geklärt werden, ob Wann sollte die Kinder- und es sich bei dem Selbstverletzenden Jugendpsychiatrie eingeschaltet Verhalten um ein Symptom einer werden? kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankung handelt. Eingangs haben wir beschrieben, dass Selbstverletzendes Verhalten im wei- u Wenn das Selbstverletzende Verhal- testen Sinne zur Körpersprache gehört. ten so ausgeprägt oder schwerver- Die Hilfe der Kinder- und Jugendpsychi- letzend ist, dass der besondere atrie ist in zwei Situationen besonders Schutz und die medizinische Versor- wichtig: gung in einer Kinder- und Jugendpsy- chiatrie dringend notwendig wird. u Wenn es scheinbar unmöglich wirkt, die Körpersprache zu übersetzen Es gibt keine jederzeit und in allen und die / den Jugendlichen zu ver- Situationen gültigen Rezepte! andere Erwachsene und u Der Erwachsene findet Verbündete. Gemein sucht den Austausch. sam wird nach Möglichkeiten gesucht, sich dem Jugendlichen zu nähern.
20 ERSTE SCHRITTE Was hilft und was nicht hilft Do´s and dont´s Was hilft uOffen darüber sprechen u Kontakt halten u Unterstützung und Rückhalt geben u Sich - evtl. mit Hilfe Dritter - über eigene Gefühle klar werden u Sich vernetzen, selbst beraten lassen u Eigenes Verhalten transparent machen („Ich lehne dich nicht ab, aber ich kann kein Blut sehen“) u Wunden verbinden, aber deutlich machen, dass Zuwendung auch anders gegeben werden kann Was nicht hilft u Ignorieren, Leugnen u Ängstliche Vermeidung des Themas (dies verstärkt die ohnehin vorhan- denen Scham- und Schuldgefühle bei Jugendlichen) u Wegnehmen oder Verstecken von scharfen Gegenständen u Vorwürfe u Das Stellen eines Ultimatums u Versprechungen machen, die man nicht einhalten kann („Ich bin immer für dich da, Tag und Nacht“) u Eigene Grenzen missachten. Was ist wichtig für eine erste Einschätzung? Versuchen Sie, eine neutrale und Meinung geprägt wird. Das Gespräch fragende Grundhaltung einzunehmen, wird in der Regel unter vier Augen die zu Beginn von keiner vorgefassten geführt. Die Vertraulichkeit ist wichtig.
21 Mögliche und sinnvolle Fragen æ Wann hat das selbstverletzende Verhalten angefangen? æ Wie war die Lebenssituation? Welche Belastungen gab es? æ Wo und in welchem Kontext hat es stattgefunden? æ Gab es ein Vorbild? æ Fand es allein oder im Gruppenkontext statt? æ Wie ist es heute? æ Wie häufig tritt das Verhalten auf, hat es zu- oder abgenommen? æ Was und wie genau wird es getan? æ Welche Gefühle waren vorher spürbar und welche nachher? æ Wer weiß davon? æ Wie ist die Reaktion des Umfeldes? æ Abklären von Suizidalität: Denkt die Person auch ans Sterben? Setzt sie sich mit dem Tod auseinander? Gibt es konkrete Pläne, wie der Tod herbeigeführt werden soll oder wurden schon Vorbereitungen getroffen? Bei konkreten Plänen oder Vorbereitungen besteht akute Suizidgefahr. Hier müssen sofort Hilfemaßnahmen eingeleitet werden, z. B. durch die umgehende Vorstellung bei Fachärzten oder in einer Notfallambulanz eventuell unter Mithilfe der Ret- tungsdienste. Natürlich ist es besser, wenn der / die Jugendliche zu dieser Untersuchung freiwillig mitkommt. Bei unmittelbar drohender Gefahr kann dies aber nicht immer abgewar- tet werden.
22 ERSTE SCHRITTE Tipps für Eltern u Den Betroffenen Rückhalt geben, egal was kommt u Selbstverletzendes Verhalten als dringendes Warnsignal ernst nehmen und es nicht als Spinnerei oder Marotte abtun u Körperliche Nähe anbieten. Auf Freiwilligkeit achten und die / den Jugend- lichen nicht zur Nähe zwingen u Auch von den eigenen Problemen und Ängsten im Zusammenhang mit Selbstverletzendem Verhalten sprechen u Keine Schuldzuweisungen treffen u Die Bereitstellung von Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel zur Wundversorgung und Salben zur Narbenpflege ist sinnvoller, als Rasier- klingen und Messer einzusammeln und wegzuwerfen u Keine Verbote und Bestrafungen im Zusammenhang mit Selbstverlet- zendem Verhalten aussprechen. Liebes- entzug oder Schläge und andere körper- liche Bestrafungen sind fehl am Platz u Sich umfassend über Selbstverlet- zendes Verhalten informieren (Bücher, Internet, Austausch mit Betroffenen) u Sich selber Hilfe suchen, wenn Sie merken, dass Sie sich schlecht fühlen oder sich in Ihren normalen Aktivitäten zunehmend gelähmt fühlen u Als Eltern akzeptieren, dass gerade in der Pubertät andere Erwachsene eher ins Vertrauen der Jugendlichen gezogen werden. (in Anlehnung an: www.Selbstverletzung.com)
23 Die meisten betroffenen Kinder und Nehmen Sie diese Bedürfnisse ernst. Jugendlichen wünschen sich mehr Planen Sie bewusst Zeit für gemeinsame Beachtung, Zeit, Anteilnahme und Aner- Aktivitäten ein (Mahlzeiten, Spaziergän- kennung von den Eltern oder anderen ge, Kinobesuche, Spiele, Ausflüge etc.) wichtigen Bezugspersonen. und bieten Sie Zeiten an, in denen Sie Sie möchten, dass diese sich für ihre zur Verfügung stehen. Sorgen und Nöte interessieren und So werden sich Gelegenheiten zum Ge- ihnen mit Verständnis, Vertrauen und spräch ergeben bzw. eine Annäherung Unterstützung begegnen. möglich gemacht.
24 ERSTE SCHRITTE Kommunikationsregeln 1. Sprechen Sie von sich und den Sorgen, die Sie sich um den/die Jugend- liche machen. 2. Sichern Sie nur die Unterstützung zu, die realistisch und für Sie mach- bar ist. 3. Zeigen Sie Mitgefühl statt Mitleid: Versuchen Sie einfühlsam, die Hand- lungen, Gefühle und Motive zu verstehen ohne mitzuleiden und den Betroffenen zu bedauern („Du tust mir so leid“). 4. Unterlassen Sie jegliche „Retterhaltung“. Letztlich können nur die Betroffenen selbst ihr Leben verändern und in die Hand nehmen . 5. Vermeiden Sie Vorwürfe , nur ein neutraler Umgang mit den Ereignissen verhilft zu Lösungen. In der Schule: „Im Sportunterricht mit der 9a ist mir in letzter Zeit aufgefallen, dass Jasmin immer lange Ärmel trägt und nicht mehr mit den anderen Mädchen duschen will. Unter den Mitschülerinnen wird auch schon getuschelt, dass sie sich ritzt und ein Psycho sei. Ich überlege nun, ob ich sie ansprechen soll.“
25 In der Jugendhilfeeinrichtung: „In unserer Wohngruppe hat ein Mädchen mit Schnippeln angefangen. Die anderen bewun- dern sie deswegen. Ich weiß nicht, wie ich eingreifen soll und befürchte, dass die ande- ren Mädchen auch damit anfangen könnten.“ Tipps für PädagogInnen u Selbstverletzendes Verhalten keinesfalls ignorieren. Sie sollten immer wieder Gesprächsbereitschaft signalisieren, aber ohne zu bedrängen u Nur die Konsequenzen aufzeigen, die auch umgesetzt werden können u Jugendliche nicht unter Druck setzen: „Wenn du nicht aufhörst, dann...“ u Gemeinsam über Schule, Ausbildung oder Arbeit hinaus Gedanken zum Tagesablauf machen u Weder ein großes Drama mit Mitleidsbekundungen machen, noch ver- harmlosen. Selbstverletzendes Verhalten ist mehr als ein vorübergehen- des Stimmungstief u Stimmungsschwankungen von Betroffenen akzeptieren u Keinen Druck ausüben, um Wunden oder Narben gezeigt zu bekommen, diese Art der Kontrolle ist wenig hilfreich u Über Selbstverletzendes Verhalten informieren (Bücher, Internet, Aus- tausch mit Betroffenen) u Sich über Beratungsstellen und Therapieeinrichtungen in der Region informieren u Sich selbst Hilfe suchen, wenn Sie merken, dass Sie sich überfordert und hilflos fühlen u In Einrichtungen sollte eine Abstimmung über ein gemeinsames Vorgehen erfolgen.
26 ERSTE SCHRITTE Das Thema Selbstverletzung im Internet Das Internet hat sich gerade für Ju- Musik und selbstgedrehte Videos zum gendliche zunehmend zu einem Forum Thema, die teilweise weit über 100.000 entwickelt, das sowohl Möglichkeiten mal aufgerufen worden sind und über der Information und Selbsthilfe bietet hunderte von Kommentaren erhalten als auch Risiken. haben. In Selbsthilfeforen tauschen sich Be- Gibt man bei Google das Stichwort troffene und ihre Angehörigen über Ritzen ein, erhält man über eine halbe Sorgen und Unterstützungsmöglich- Million Seitenhinweise. Bei YouTube fin- keiten aus (empfehlenswerte Seiten det man unter dem Stichwort „Ritzen“ s. Anhang). Die Anonymität des Medi-
27 ums erleichtert es, über das oft mit Es gibt jedoch auch Foren, die das schä- Scham und Schuldgefühl beladene digende Verhalten bewusst verstärken, Thema zu kommunizieren. indem sie „Tipps“ zu Narbenversor- Wenn Betroffene sich zudem auch im gung, „Schnitttechniken“ u.Ä. geben. Freizeitbereich nur noch mit diesen Seiten beschäftigen und aus anderen Die Internetnutzung sollte deshalb sozialen Zusammenhängen zurückzie- behutsam angesprochen werden. hen, können aber auch diese positiven Verbote sind in der Regel keine Lösung. Seiten als „Trigger“, also als Auslöser Stattdessen sind konkrete Aktivitäts- wirken. und Gesprächsangebote hilfreich.
28 Einschub u Schweigepflicht und selbst nicht über das erforderliche u Fürsorgepflicht/Verantwortung Wissen oder Erfahrung verfügt, um für Kinder und Jugendliche damit umzugehen. u Konsequent handeln/den „Übergriff“ der Helfer vermeiden Wie verhält es sich dann mit der Schweigepflicht? Nach unseren Erfahrungen ist für ErsthelferInnen, die nicht zur Familie Zunächst ist es ohne Schwierigkeiten gehören, der Umgang mit der Schwei- möglich, sich innerhalb des eige- gepflicht sehr verunsichernd. Ohne nen Verantwortungsbereiches mit im Einzelnen auf die gesetzlichen Vor- KollegInnen zu beraten, wie weiter schriften einzugehen, können für Er- vorgegangen werden sollte. wachsene, die Kinder und Jugendliche betreuen, zwei wichtige Grundsätze Grundsätzlich sollten die sorgeberech- festhalten werden: tigten Eltern informiert werden. Es ist u Für alle Informationen und Beobach- ihre Aufgabe, für die weitere Abklärung tungen, die im eigenen Verantwor- und Hilfe für selbstverletzende Jugend- tungsbereich bekannt werden, ist liche zu sorgen, auch wenn manche jeder zur Verschwiegenheit ver- Jugendliche das nicht wünschen. pflichtet. u In seinem Verantwortungsbereich Scheidet die Information an die Eltern hat jeder für das Wohlergehen oder aus oder bleiben diese in der Folge Wohl der anvertrauten Kinder und untätig, so sollte als nächster Schritt Jugendlichen Sorge zu tragen und eine anonyme Besprechung mit dem ggf. entsprechende Schritte einzu- Jugendamt durchgeführt werden. leiten. Die Situation kann zunächst ohne die Nennung des Namens und der Anschrift Diese beiden Normen stehen nor- der / des Jugendlichen erörtert wer- malerweise nicht im Konflikt mitei- den, um abzuklären, welche weiteren nander. Allerdings können schwierige Schritte sinnvoll aber ggf. auch zum Situationen entstehen, wenn man von Schutz der / des Jugendlichen erfor- Selbstverletzendem Verhalten erfährt derlich sind. Die MitarbeiterInnen der
29 Jugendämter verfügen über Kenntnisse Außerdem haben Kinder und Jugend- und Erfahrungen, um Dringlichkeit und liche ein eigenes Recht, sich an das Ju- Not von selbstverletzenden Jugend- gendamt zu wenden. Sie müssen ihre lichen einzuschätzen. Eltern hierüber (zunächst) nicht infor- Scheint nach gründlicher Abwägung im mieren Die MitarbeiterInnen des Ju- Gespräch mit dem Jugendamt das Wohl gendamtes werden dann die weitere der / des Jugendlichen gefährdet, und Zuständigkeit übernehmen. Der Ge- die Information an die sorgeberech- setzgeber hat dem Jugendamt das tigten Eltern nicht angeraten, können staatliche Wächteramt über das Kindes- jetzt die persönlichen Daten der / des wohl übertragen. Somit kann das Ju- Jugendlichen genannt werden, ohne gendamt nach gründlicher Abwägung dass die Eltern hiervon vorher Kenntnis unter bestimmten Umständen ohne bekommen. das Wissen oder gegen den Willen der
30 EINSCHUB Sorgeberechtigten Maßnahmen zur auch gegen den Willen der Jugend- Sicherung des Wohls von Kindern und lichen – mit den Eltern sprechen. Jugendlichen ergreifen. Bei akuten Selbstverletzungen, die medi- Hier sei nochmals erwähnt, dass es zinisch dringend versorgt werden müs- Recht aber auch Pflicht der sorgebe- sen, gehört es zur Fürsorgepflicht jedes rechtigten Eltern ist, für Diagnostik Erwachsenen, direkt den (Not-) Arzt oder und Behandlung ihrer Kinder Sorge zu die Rettungsleitstelle zu alarmieren. tragen und die Einwilligung dazu zu Wenn kein zeitlicher Aufschub möglich erteilen. Der vorstehend beschriebene ist, kann erst die Alarmierung erfolgen, Weg sollte daher der Ausnahmefall blei- die Benachrichtigung der Eltern kann ben. Wenn das Ausmaß der Selbstver- dann nachgeholt werden oder sie wird letzungen nicht unmittelbares Handeln vom Krankenhaus aus durchgeführt. erzwingt, ist es meist günstiger, in mehreren Gesprächen die Einwilligung Mit diesen Informationen sollte es der Jugendlichen zur Information an Ihnen möglich sein, auch als PädagogIn, die Eltern zu erlangen. Wir in der Klinik JugendgruppenleiterIn oder TrainerIn sichern den Jugendlichen an dieser konsequent für Hilfe zu sorgen ohne Stelle nicht die absolute Verschwiegen- unnötig durch übertriebene Hast die heit zu, aber wir versichern ihnen, dass Grenzen der / des Jugendlichen zu wir sie informieren bevor wir – evtl. verletzen oder wie gelähmt untätig zu verharren.
31 Wer hilft weiter? In der ambulanten und stationären Fachkräfte für Diagnose, Therapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie Prävention und Rehabilitation bei und Psychotherapie finden Sie Selbstverletzendem Verhalten. Möglichkeiten der ambulanten Kinder- und Jugend- psychiatrie und –psychotherapie Die Praxen der Kinder- und Jugend- kann eine vertiefende Diagnostik sinn- psychiaterInnen verstehen sich als voll sein, um das weitere Vorgehen erste Anlaufstelle für Kindern und abzustimmen. Jugendlichen mit Selbstverletzenden Gemeinsam mit der Familie wird dann, Verhalten. wenn nötig, ein intensives Gesamt- konzept entwickelt, welches von jedem In dem vertraulichen Erstgespräch Familienmitglied getragen werden wird versucht, mit Kindern und Jugend- muss. lichen und deren Eltern ein Verständnis der verschiedenen Belaststungen zu Häufiger sind unterschiedliche Hilfen gewinnen, welches zu einem Selbst- sinnvoll, sei es die Einbeziehung von verletzenden Verhalten geführt hat. PsychotherapeutInnen und Beratungs- stellen, oder auch andere Helfersy- Grundsätzlich geschieht dies ohne Be- steme, wie z.B. ÄrztInnen, therapeu- wertungen gegenüber der beteiligten tische Kliniken oder familiäre Hilfen Personen, die sich meistens in einer über das Jugendamt. gefühlsmäßig überlasteten Situation befinden. Ziel ist es, sowohl den Kindern und Jugendlichen als auch deren Eltern zu In jedem Fall wird die Bedrohlichkeit helfen, gefühlsmäßige Belastungen zu der Situation abgeklärt, um möglichst erkennen, möglichst zu verringern und die Intensität der notwendigen Hilfe- in der Zukunft günstigere Lösungsan- stellungen einzuschätzen. Im Anschluss sätze mit der Familie zu finden.
32 WER HILFT WEITER? Möglichkeiten der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie Zunächst wird in der stationären Kin- des Selbstverletzenden Verhaltens zu der- und Jugendpsychiatrie der Versuch finden. Ist eine auch für das Kind, die / unternommen, das Vertrauen des den Jugendlichen stimmige „Überset- Kindes, der / des Jugendlichen und zung“ gefunden, können alternative seiner Familie zu gewinnen und eine Entlastungs- und Handlungsmöglich- Zusammenarbeit zu vereinbaren. Dies keiten gesucht und eingeübt werden. kann bis zu vier Wochen dauern. In Bis dahin arbeiten wir an Möglichkeiten, dieser Zeit versuchen wir gleichzeitig, wie die Jugendlichen selbst Verantwor- die Lebenssituation – auch in regel- tung für ein Vermeiden oder Vermin- mäßigen Gesprächen mit der gesamten dern von Selbstverletzendem Verhal- Familie und in Einzelgesprächen sowie ten übernehmen können, weil wir durch ein gemeinsames Erleben des wissen, dass eine äußere Kontrolle des Alltags in der Stationsgruppe – kennen Selbstverletzenden Verhaltens nicht zu lernen und eine „Übersetzung“ nachhaltig hilfreich ist.
33 Information und Hilfe Für Eltern Im Internet ist in der Seite u www.elternimnetz.de u www.kinderpsychiater.org u www.elterntelefon.de eine Klinik- und Praxensuchfunktion Telefon: 0800 111 0550 enthalten. Für Jugendliche Kliniken für Kinder- und Jugend- u Nummer gegen Kummer psychiatrie in Schleswig-Holstein Telefon: 0800 111 0333 Die Kliniken für Kinder- und Jugendpsy- www.bke-jugendberatung.de chiatrie und –psychotherapie werden mit KJPP abgekürzt. Für alle u www.svv-info.de u KJPP Elmshorn u www.selbstverletzung.com Agnes-Karll-Allee u www.rotelinien.de 25337 Elmshorn u www.rotetraenen.de Telefon: 04121/ 798-762 Adressen in Schleswig-Holstein u KJPP Kiel Alle geeigneten Angebote aufzuführen, Niemannsweg 147 würde den Rahmen dieser Broschüre 24105 Kiel sprengen, deshalb führen wir hier nur Telefon: 0431 / 9900-2669 die Adressen der Kliniken auf. u KJPP Schleswig Die Adressen ggf. der Tageskliniken, Friedrich-Ebert-Straße 5 der örtlichen niedergelassenen Kinder- 24837 Schleswig und JugendpsychotherapeutInnen oder Telefon: 04621 / 83-0 –psychiaterInnen, der Schulpsycholo- gischen Beratungsstellen und Erzie- u KJPP Lübeck hungsberatungsstellen, sowie der Frau- Vorwerker Diakonie enberatungsstellen und Mädchentreffs Triftstrasse 139 entnehmen Sie bitte dem Internet bzw. 23554 Lübeck dem Branchenverzeichnis. Telefon: 0451 / 4002 400
34 INFORMATIONEN Information und Hilfe Tageskliniken u Tagesklinik am Rosenberg Lauenburger Straße 39 u Villa Paletti 21514 Büchen Tagesklinik und Ambulanz für Kinder- Telefon: 04155 / 80830 und Jugendpsychiatrie und Psycho- therapie, Marienhölzungsweg 19 u Tagesklinik für Kinder- und Ju- 24939 Flensburg gendpsychiatrie und Psychotherapie Telefon: 0461 / 95701-20 Friedrich-Ebert-Krankenhaus Friesenstraße 11, 24534 Neumünster u Tagesklinik Baumhaus Schleswig Telefon: 04321 / 405 6274 Friedrich-Ebert-Straße 5 24837 Schleswig Telefon: 04621 / 831201 Literatur u Tagesklinik Baumhaus Husum u Ulrich Sachsse: Selbstverletzendes Theodor-Schäfer-Straße 1a Verhalten, 2002 25813 Husum u Steven Levenkron: Der Schmerz Telefon: 04841 / 77097620 sitzt tiefer, 2006 u Annegret Eckhardt: Im Krieg u Watt’n Huus Tagesklinik für mit dem Körper – Autoaggression als Psychiatrie und Psychotherapie des Krankheit 1994; Gewalt gegen sich Kindes- und Jugendalters West- selbst, Projugend Nr.3, 1996 küstenklinikum Heide u Smith, Cox, Saradjian: Selbst- Esmarchstraße 50 verletzung – damit ich den inneren 25746 Heide Schmerz nicht spüre, 2000 Telefon: 0481 / 785 4222 u Doris Neppert: Selbstverletzendes Verhalten bei Frauen, Kiel 1998 u Vorwerker Diakonie u F. Petermann, D. Nitkowski: Fachklinik für Kinder- und Jugend- „Selbstverletzendes Verhalten“, in psychiatrie und Psychotherapie Nervenarzt 9, 2008 Triftstraße 139, 23554 Lübeck u Gesundheitsbericht Rhein-Neckar- Telefon: 0451 / 4002 400 Kreis/Heidelberg Band 3, 2006
35 Impressum Herausgeber und Bezug: Druck: Kreis Pinneberg www.druckdiscount24.de Fachdienst Jugend, Lindenstraße 11, 25421 Pinneberg Fotoquellen: E-Mail: s.stolze@kreis-pinneberg.de www.fotolia.de, www.photocase.com: © Maximilian Aktion Kinder- und Jugend- Lohse, ©jarts, © Franziska Fiolka, schutz e. V. © Malte Brenneisen, © Marcus Hanisch, Fachstelle für Prävention ig3l, © Maria Arndt, © Markus Jähn, Schauenburger Str. 36, 24105 Kiel © Ben, © codsollop, © AndreasKopp E-Mail: info@akjs-sh.de www.akjs-sh.de Gefördert durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, AutorInnen: Jugend und Senioren des Landes Christa Limmer Schleswig-Holstein. (Aktion Kinder- und Jugend- schutz e. V. Kiel) Zeitzeichen® ist eine Initiative des Dr. Eberhard Weinert Kriminalpräventiven Rates der Gemein- (Kinder- und Jugendpsychiatrie de Rellingen und des Jugendschutzes Elmshorn) des Kreises Pinneberg / Fachdienst www.regiokliniken.de Jugend. Mit einem Gastbeitrag von Dr. Peter Carlsen, Kinder- und Pinneberg / Kiel Februar 2009 Jugendpsychiater in Pinneberg Für die Inhalte von Internetseiten, auf Redaktion: die die Broschüre hinweist bzw. zitiert, Silvia Stolze wird keine Haftung übernommen. (Fachdienst Jugend Kreis Pinneberg) Die Texte und die Gestaltung der Bro- schüre sind urheberrechtlich ge- Grafik und Design: schützt. Nachdruck und Nachverwen- Sabine Kuhls-Dawideit dung, auch auszugsweise, ist nur nach www.kuhls-dawideit.de ausdrücklicher Genehmigung zulässig.
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