SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN

 
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SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
A U S D E N AKTE N D E S SOVD

         Schwarzbuch
            sozial
                              2021/2022

Sozialverband Deutschland
Landesverband Niedersachsen
SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
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VORWORT

Gemeinsam stark: Wir ste-
hen Betroffenen zur Seite
   Liebe*r Leser*in,                          Situationen sind wir natürlich gerne für
                                              unsere Mitglieder da.
    täglich sehen wir in unserer Beratung        Wir nutzen das Schwarzbuch aber auch,
Fälle, in denen unseren Mitgliedern von       um mit den Verantwortlichen ins Gespräch
Ämtern und Behörden Steine in den Weg         zu kommen – sei es mit den Institutionen
gelegt werden. Egal, ob es um Rente, Pfle-    oder mit der Politik. Denn: All das, was wir
ge, Behinderung, Gesundheit oder Hartz        in unserer Beratung sehen, ist das Ergeb-
IV geht: Häufig fühlen sich Betroffene mit
ihren Problemen alleine gelassen und in
ihrem verzweifelten Kampf nicht wahr-
genommen. Als größter Sozialverband in
Niedersachsen stehen wir ihnen deshalb
mit unserer großen SoVD-Gemeinschaft in
unseren 50 Beratungszentren im Land mit
Rat und Tat zur Seite.
    Dass das auch immer wieder nötig
ist, zeigt die aktuelle Ausgabe unseres
„Schwarzbuchs sozial“: Da wird zum Bei-
spiel der Pflegegrad einfach aberkannt,
weil das Gutachten nicht korrekt war. Da
soll eine Seniorin ihre Wohnung verlas-
sen, weil die Miete angeblich zu hoch ist.    nis einer Sozialpolitik, bei der sich einiges
Da wird eine Reha nicht genehmigt, weil       ändern muss, wenn unsere Gesellschaft
die Langzeitfolgen einer Corona-Erkran-       gerechter werden soll – zum Beispiel bei
kung vermeintlich nicht so schlimm sein       der Bekämpfung von Armut, bei der Ent-
sollen. All das passiert, weil Behörden und   lastung von Pflegebedürftigen und ihren
Krankenkassen oftmals in erster Linie ihre    Angehörigen oder bei der Inklusion von
wirtschaftlichen Interessen im Blick haben    Menschen mit Behinderung. Dafür, dass
und die Person, die hinter dem Fall und       die Betroffene zu ihrem Recht kommen
der Akte steckt, nicht ausreichend wahrge-    und ein Sprachrohr in der Politik haben,
nommen wird.                                  machen wir uns als SoVD jeden Tag stark.
    Unser Schwarzbuch zeigt auch dieses
Mal: Manchmal sind es Routinen, manch-
mal aber auch sehr spezielle Fälle. Ihnen
gemeinsam ist die Tatsache, dass die
Betroffenen in ihrer jeweiligen Situation        Bernhard Sackarendt
nicht weiterwissen und einen starken             1. Landesvorsitzender
Partner an ihrer Seite brauchen. In solchen      SoVD-Landesverband Niedersachsen
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                                                             Gesundheit /                                Behinderung /
                                                             Krankenkasse                                Inklusion /
                                                             Reha abgelehnt? Wichtige Therapien
                                                             verweigert? Krankenkassen stellen sich      Barrierefreiheit
                                                             oft quer, wenn es um die Interessen ihrer
                                                                                                          Teilhabe für alle Menschen? Das scheint
                                                             Versicherten geht.
                                                                                                                 häufig nicht das oberste Ziel von
                                                      S. 6                                                 Behörden und Ämtern zu sein. Vielmehr
                                                                                                             verschleppen sie die Ausstellung von       S. 34
                                                                                                          Schwerbehindertenausweisen oder leh-
                                                                                                                              nen Merkzeichen ab.

                      Pflege                                                                                                                              Arbeitsmarkt /
      Falsche Gutachten und lange Bearbei-
    tungszeiten – Pflegebedürftige und ihre
     Angehörigen haben oft mit zahlreichen
                                                                                                                                                          Hartz IV
                                                                                                                                                           Anstatt alles zu tun, damit Menschen
         Problemen zu kämpfen, obwohl die
                                                                                                                                                           wieder einen Job finden, legen Jobcenter
          Belastung sowieso schon groß ist.
                                                                                                                                                           gerade Hartz-IV-Empfänger*innen oft
                                                                                                                                                           Steine in den Weg.
                                              S. 18

                                                                                                                                      S. 44

                                                                   Soziales                                                      Rente
                                                                  Wenig sozial: Gerade Berufsgenossen-         Bis vor das Gericht: Behörden setzen
                                                                  schaften verweigern die Anerkennung            Betroffene häufig unter Druck und
                                                                  von Arbeitsunfällen und Zahlungen,            scheuen auch eine Klage nicht. Das
                                                                  wenn es um viel Geld geht.                kostet Geld und vor allem Zeit, die viele
                                                                                                                            Versicherte nicht haben.

                                                                                                                                                                          S. 46
                                                 S. 24
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Gesundheit/Krankenkasse   7

                                                                                                                                                 Doch die massiven gesundheitlichen Einschrän-         Für Nicole V. ist im Sommer 2021 klar: So kann
                                                                                                                                             kungen bleiben. Die Physiotherapeutin ist perma-       es nicht weitergehen. Deshalb beantragt sie eine
                                                                                                                                             nent erschöpft, hat starke Konzentrationsschwie-       Reha bei der Deutschen Rentenversicherung. Doch
                                                                                                                                             rigkeiten, leidet an Vergesslichkeit, Migräne und      diese wird abgelehnt. Die Begründung: Die Arbeits-
                                                                                                                                             Rückenbeschwerden. In den nächsten Monaten ist         fähigkeit von Nicole V. sei durch die angegebenen
                                                                                                                                             klar: Nicole V. hat Long Covid. Diese Langzeitfolgen   Gesundheitsstörungen nicht erheblich einge-
K RA N K E N KA S S E

                                                                                                                                             der Corona-Infektion werden                                                schränkt. Die Behandlung durch
GESUNDHEIT /

                                                                                                                    Baldige Genesung:        nicht so schnell nachlassen.                                               einen Nervenarzt oder einen Psy-
                                                                                                                    Bei Long Covid kann      „Ich habe vieles versucht. Ich         „Ich hatte das Gefühl,              chotherapeuten sei ausreichend.
                                                                                                                    eine Reha helfen.
                                                                                                                                             habe manuelle Therapie und                                                    „Ich hatte das Gefühl, dass
                                                                                                                    Dabei ist es jedoch
                                                                                                                                             Ergotherapie bekommen und
                                                                                                                                                                                   dass  man    mir nur  Knüp-          man mir nur Knüppel zwischen
                                                                                                                    wichtig, dass sich die
                                                                                                                    Einrichtung mit den      bin ja auch permanent in ärztli-      pel zwischen die Beine               die Beine wirft und dachte, ich
                                                                                                                    Langzeitfolgen einer     cher Behandlung. Doch nichts            wirft und dachte, ich              schaffe das nicht alleine“, sagt
                                                                                                                    Corona-Infektion
                                                                                                                                             davon hat meine Situation                                                  die Physiotherapeutin. Deshalb
                                                                                                                                             wirklich verbessert“, sagt Nico- schaffe das nicht alleine.“ wendet sie sich an den SoVD in
                                                                                                                    auskennt.

                                                                                                                    Foto: Adobe Stock        le V. Besonders schlimm sei                                                Osnabrück. SoVD-Beraterin Mirja
                                                                                                                                             die Untersuchung bei einem                                                 Mohrhenn legt sofort Wider-
                                                                                                                                             Neurologen für sie gewesen: „Er hat verschiedene       spruch ein. „Die Arztberichte von Frau V. zeigen
                                                                                                                                             Tests mit mir gemacht. Bei einem sollte ich eine Uhr ganz deutlich, dass sie bereits alles versucht hat,
                                                                                                                                             zeichnen. Das konnte ich nicht. Ich wusste einfach     um wieder komplett gesund zu werden. Leider hat

                    „Ich bin einfach nicht mehr                                                                                              nicht mehr, wie das geht. Das hat mir furchtbare
                                                                                                                                             Angst gemacht.“ Auch an Gespräche mit ihren Kin-
                                                                                                                                                                                                    das bislang nicht geholfen. Sie geht zwar weiterhin
                                                                                                                                                                                                    arbeiten, aber das geht definitiv zu Lasten ihrer

                     der Mensch, der ich vor
                                                                                                                                             dern kann sich die 52-Jährige oft nicht erinnern.      Gesundheit“, betont Mohrhenn. Zu behaupten, dass
                                                                                                                                             „Ich weiß dann nicht mehr, was sie mir erzählt         es bei der Erwerbsfähigkeit keine Einschränkun-
                                                                                                                                             haben. Als hätte ich Demenz. Ich bin einfach nicht     gen gebe, sei zynisch. Der SoVD-Widerspruch hat

                     meiner Erkrankung war“
                                                                                                                                             mehr der Mensch, der ich vor meiner Erkrankung         schließlich auch Erfolg, Nicole G. bekommt die
                                                                                                                                             war“, berichtet sie.                                   Genehmigung für eine Reha.

                        Long Covid: Rentenversicherung lehnt Reha-Antrag ab

                        Im März 2021 infiziert sich Nicole V. (Name geän-    Das kam erst kurze Zeit später“, erzählt die 52-Jäh-
                        dert) bei der Arbeit mit dem Corona-Virus. Auch      rige. Die Symptome hätten sich angefühlt wie eine
                        Monate nach der Ansteckung ist sie noch nicht wie-   schlimme Grippe. „Das Ganze hat sich auch relativ
                        der fit und leidet unter massiven gesundheitlichen   lange hingezogen“, berichtet sie weiter.
                        Einschränkungen. Deshalb beantragt die 52-Jährige       Als sie nicht mehr krankgeschrieben ist, kehrt
                        eine Reha. Doch die Deutsche Rentenversicherung      sie in ihren Job zurück. Doch wirklich fit ist sie noch
                        Bund lehnt den Antrag ab – bis sich der SoVD ein-    nicht. „Nach zwei bis drei Stunden war ich völlig
                        schaltet.                                            erschöpft. Ich konnte nur arbeiten, wenn ich mich
                           Als Physiotherapeutin arbeitet Nicole V. dicht    vorher und nachher einige Zeit ausgeruht habe“, so
                        mit ihren Patient*innen zusammen. So steckt sie      Nicole V. Damals habe sie sich noch nicht viel dabei
                        sich auch im März vergangenen Jahres mit dem         gedacht: „Ich habe mir immer gesagt: Das wird
                        Corona-Virus an. „Zu diesem Zeitpunkt konnten wir    schon. Das braucht halt seine Zeit. Mit Corona ist
                        Physiotherapeuten uns noch nicht impfen lassen.      eben nicht zu spaßen.“
SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
Schwarzbuch 2021/2022                                                                                                                                                                                   Gesundheit/Krankenkasse   9

SoVD erkämpft Reha-Buggy                                                                                         Das will Toms Mutter nicht auf sich sitzen lassen.
                                                                                                              „Der Buggy sollte uns den Alltag erleichtern. Ich
                                                                                                                                                                        Problematik wirklich auseinandergesetzt hat“,
                                                                                                                                                                        erläutert der Jurist.

für Fünfjährigen
                                                                                                              wollte ja gar nicht mehr, als ich tatsächlich brau-          Ponto legt in Toms Namen Widerspruch ein
                                                                                                              che“, betont sie. Für weitere Unterstützung wendet        und fügt eine kinderorthopädische Einschätzung
                                                                                                              sie sich an das SoVD-Beratungszentrum in Goslar.          bei. Der SoVD-Berater macht deutlich, dass der
                                                                                                                                                 Für Christoph          Reha-Buggy Tom die gleichberechtigte Teilhabe an
Kein persönlicher Eindruck: Medizinischer Dienst prüft                                                       „Ich wollte ja gar
                                                                                                                                                 Ponto, Leiter des      der Gesellschaft und einen Ausgleich seines Funkti-
                                                                                                                                                 Beratungszent-         onsdefizites ermöglichen solle.
nur nach Aktenlage                                                                                            nicht mehr, als ich                rums, ist klar: „Die      Sein Einsatz hat Erfolg: Im Januar kommt der
                                                                                                                                                                        Bewilligungsbescheid für den Reha-Buggy. Die
                                                                                                              tatsächlich brauche.“ Entscheidung der
                                                                                                                                                 Krankenkasse ist       Krankenkasse lenkt doch noch ein und übernimmt
Der fünfjährige Tom R. (Name geändert) aus dem          „Ehrlich gesagt habe ich irgendwie schon mit einer                                       nicht in Ordnung.      die Kosten.
Landkreis Goslar ist wie viele Kinder in seinem         Ablehnung gerechnet. Und so kam es dann ja auch“,     Es gab zwar eine Prüfung durch den Medizinischen
Alter: neugierig und aufgeweckt. Doch aufgrund          erklärt Maja R. Die Begründung der Krankenkasse:      Dienst, diese erfolgte allerdings nicht persönlich,
seiner Behinderung, weiterer Erkrankungen               Dass Tom Gefahren nicht einschätzen könne, sei        sondern nur nach Aktenlage. Wenn man sich den
sowie einer diagnostizierten Weglauftendenz mit         bei Kindern in seinem Alter normal. Der Buggy sei     Ablehnungsbescheid anschaut, hat man nicht das
anschließenden starken Erschöpfungssymptomen            deshalb nicht notwendig.                              Gefühl, dass sich der Medizinische Dienst mit der
benötigt er einen Reha-Buggy. Dieser soll gewähr-
leisten, dass er – wie andere Kinder ohne Behinde-
rung auch – am gesellschaftlichen Leben teilhaben
kann. Doch seine Krankenkasse stellt sich quer und
verweigert die Zahlung.
    Wenn Maja R. mit ihrem Sohn unterwegs ist, ist
das für sie häufig sehr herausfordernd. Denn: Bei
Tom wurde nicht nur Trisomie 21, sondern auch
Muskelhypotonie und eine motorische Entwick-
lungsverzögerung festgestellt. Zudem hat er einen
ausgeprägten Bewegungsdrang und selbst kein
Gefahrenbewusstsein. Im Alltag bedeutet das: Es
schließt sich bei dem Fünfjährigen an eine sehr
aktive Phase häufig eine totale Erschöpfung an.
„Er möchte dann natürlich auf den Arm und von
mir getragen werden. Er wiegt allerdings mittler-
weile 16 Kilo, das schaffe ich dauerhaft nicht mehr",
erzählt Maja R.
    Genau für solche Fälle gibt es sogenannte
Reha-Buggys. Sie sind speziell auf Kinder mit Toms
Bedürfnissen ausgerichtet. „Ein herkömmlicher
Buggy funktioniert in dem Fall leider alleine schon
                                                        Mittendrin:
aufgrund seines Gewichts nicht", so die 42-Jährige.
                                                        Für Kinder mit Behin-
Deshalb beantragt sie die Übernahme der Kos-            derung bedeuten
ten – über 2.200 Euro – bei ihrer Krankenkasse.         Reha-Buggys oder spezi-
                                                        elle Kinderwagen oft die
                                                        Möglichkeit, mit dabei
                                                        zu sein.

                                                        Foto: Adobe Stock
SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
10   Schwarzbuch 2021/2022                                                                                                                                                                            Gesundheit/Krankenkasse              11

     Nach langem Kampf:
     MS-kranker Rollstuhlfahrer
     erhält Treppenlift
     SoVD-Widerspruch hat Erfolg

     Stefan Biernath ist durch eine Erkrankung auf     Biernath ins Erdgeschoss seines Hauses ziehen.
     einen Rollstuhl angewiesen. Er wünscht sich,      Als Begründung dient der Kasse ein Gutach-
     dass er mit einem Fahrstuhl in das Obergeschoss   ten des Medizinischen Dienstes (MD). Darin
     seines Wohnhauses gelangen kann, das barrie-      wird festgestellt, dass das Erdgeschoss ebenso
     refrei ausgebaut ist. Eine Kostenübernahme für    als Wohnraum genutzt werden könne und der
     Material und Einbau lehnt die Betriebskranken-    Einbau eines Fahrstuhls unnötig sei. Das sieht
     kasse Mobil Oil zunächst ab. Gegen diese Ent-     Biernath allerdings ganz anders. „Das Erdge-
     scheidung legt der Sozialverband Deutschland      schoss ist so schlecht geschnitten, dass ich dort
     (SoVD) erfolgreich Widerspruch ein.               mit dem Rollstuhl nicht klarkomme“, erklärt er.
        Aufgrund der gesundheitlichen Folgen einer     Das bestätigt auch sein Pflegedienst „Therapie-
     Multiplen Sklerose (MS)-Erkrankung ist der        zentrum und Sozialdienste Emlichheim“, der in
                                                                                                                                                                              Unüberwindbar: Die Treppe zum Obergeschoss seines Hauses
     ehemalige Lkw-Fahrer Stefan Biernath auf einen    einer Stellungnahme deutlich macht, dass das                                                                           bedeutet für Stefan Biernath ein ernormes Hindernis. Mit Hilfe
     Rollstuhl angewiesen. Da er                                         Untergeschoss nicht barrierefrei                                                                     des SoVD hat er erreicht, dass ihm ein Rollstuhltreppenlift von
     die Diagnose MS erst erhält,                                        ist. „Oben sind die Räume von                                                                        der Krankenkasse bezahlt wird.

     als ein großer Teil seines         „Ich kann nicht                  einem großzügigen Flur aus zu
                                                                                                                                                                                                                       Foto: Heinrich Schepers
     Einfamilienhauses bereits fer-                                      erreichen und auf seine Bedürf-
     tiggestellt ist, kann nur noch
                                      verstehen, warum                   nisse abgestimmt“, heißt es in
     das Obergeschoss barrierefrei    die Lösung, die ich                der Stellungnahme. Ein vom MD
     gestaltet werden, das Biernath                                      vorgeschlagener barrierefrei-
     nun aufgrund seiner schwe-       mir wünsche und                    er Umbau des Erdgeschosses         einfachste Weg wäre, nicht bewilligt wurde“, so    heim nochmals bestätigt“, so der Sozialberater.
     ren Gehbeeinträchtigung nur
     noch sehr selten verlassen
                                      die der einfachste                 sei laut Biernath mit großen
                                                                         bautechnischen Schwierigkei-
                                                                                                            Biernath.
                                                                                                               Doch er will sich trotz dieser Rückschläge
                                                                                                                                                               Der Verweis der Kasse darauf, dass bauliche Maß-
                                                                                                                                                               nahmen wirtschaftlicher seien, sei demzufolge
     kann. „Runter geht es noch,       Weg wäre, nicht                   ten verbunden. Einen Anbau         nicht entmutigen lassen und sucht Hilfe beim       nicht nachvollziehbar. Dies sei im Widerspruch
     hoch kann ich aber kaum noch                                        würde das Bauamt der Stadt         SoVD in Nordhorn. Gegen den Bescheid der           deutlich gemacht worden.
     laufen“, sagt der 52-Jährige.     bewilligt wurde.“                 nicht genehmigen, da hierfür       Krankenkasse legt der SoVD Widerspruch ein.           Einige Wochen nach Versand des Wider-
     Dabei ist er gerne draußen und                                      der Platz fehle. Ohnehin sei ein   „Es sprachen einige Gründe dafür, dass dem         spruchs kommt für Biernath die gute Nachricht,
     möchte auch weiterhin am gesellschaftlichen       Umbau viel kostenaufwändiger als der Einbau          Wunsch von Herrn Biernath entsprochen werden       dass der Einbau eines Treppenlifts von der
     Leben teilhaben. Sein Wunsch ist es, dass ein     des gewünschten Fahrstuhls, wie der 52-Jäh-          sollte“, sagt Sozialberater Joachim Feldkamp aus   Betriebskrankenkasse Mobil Oil bewilligt wird.
     Fahrstuhl eingebaut wird, der ihn zusammen mit    rige versichert, der sich bereits über passende      dem SoVD-Beratungszentrum. „Dass er nicht ins      Der Lift wird ein paar Wochen später installiert.
     seinem Rollstuhl in die erste Etage bringt.       Fahrstuhlmodelle und deren Preise informiert         Erdgeschoss umziehen kann, hat Herr Biernath       „Ich habe mich sehr gefreut und bin sehr erleich-
        Doch eine Kostenübernahme lehnt seine          hat. „Ich kann deshalb nicht verstehen, warum        überzeugend dargelegt und wurde durch das          tert, dass ich jetzt problemlos in meine Räume
     Krankenkasse zunächst ab. Stattdessen soll        die Lösung, die ich mir wünsche und die der          beigefügte Attest des Therapiezentrums Emlich-     gelangen kann“, erzählt Biernath.
SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
12   Schwarzbuch 2021/2022                                                                                                                                                                                                          Gesundheit/Krankenkasse   13

     Blindenführhund: Kranken-                                                                                                              Daraufhin wendet sich Frank S. zur Unterstützung
                                                                                                                                            an den SoVD. „Es ist leider nicht ungewöhnlich,
                                                                                                                                            dass Krankenversicherungen Anträge aus Kos-
                                                                                                                                                                                                    nis für die Argumente der TK. Vor allem ärgert er
                                                                                                                                                                                                    sich darüber, dass die Krankenkasse den beige-
                                                                                                                                                                                                    fügten Untersuchungsbericht seines Ohrenarztes

     kasse lenkt ein                                                                                                                        tengründen ablehnen und auf andere Hilfsmittel
                                                                                                                                            verweisen“, weiß Anja Gieselmann, Sozialberaterin
                                                                                                                                            im SoVD-Beratungszentrum Hannover. Die Anschaf-
                                                                                                                                                                                                    nicht ernstgenommen hat. Für ihn ist aber klar, dass
                                                                                                                                                                                                    er nicht aufgeben wird: „Ich habe gleich gesagt:
                                                                                                                                                                                                    ‚Dann klagen wir eben.‘“ Im Juli
     SoVD-Mitglied bekommt nach langwierigem                                                                                                fungskosten für speziell ausgebildete Blindenführ-
                                                                                                                                            hunde liegen bei etwa 25.000 Euro, dazu kom-
                                                                                                                                                                                                    2020 reicht Gieselmann beim
                                                                                                                                                                                                    Sozialgericht Hannover eine
                                                                                                                                                                                                                                       „Ich habe gleich
                                                                                                                                                                                                                                        gesagt: ‚Dann
     Klageverfahren Recht                                                                                                                   men fortlaufende Haltungskosten. „Blinde haben          Klage gegen die TK ein. In der
                                                                                                                                            Anspruch auf Behinderungsausgleich, der es ihnen        Hoffnung, die Entscheidung          klagen wir eben.‘“
                                                                                                                                            ermöglicht, sich sicher und unabhängig zu bewe-         zu beschleunigen, beauftragt
                                                                                  eine Sehbehinderung auszugleichen. Anspruchsbe-           gen. Dieses Hilfsmittel muss geeignet, erforderlich     Frank S. ein Gutachten über sein Hörvermögen. Ein
                                                                                  rechtigt sind Personen, die blind oder hochgradig         und verhältnismäßig, also wirtschaftlich, sein“,        unabhängiger Arzt untersucht ihn noch einmal ganz
                                                                                  sehbehindert sind. Doch oftmals werden Ansprüche          schildert Gieselmann. Für die Sozialberaterin ist       genau und erstellt ein 21-seitiges Gutachten. Dieses
                                                                                  abgelehnt – wie im Fall des SoVD-Mitglieds Frank          jedoch unverständlich, dass die Krankenkasse nur        bestätigt, dass eine erhebliche Hörminderung
                                                                                  S. (Name geändert). Erst im Klageverfahren, das           nach Aktenlage entscheidet.                             vorliegt. Nach einem Jahr im Klageverfahren lenkt
                                                                                  der SoVD für sein Mitglied führt, lenkt die Kranken-         Der SoVD legt für Frank S. Widerspruch bei der       die TK ein und erkennt den Anspruch auf einen
                                                                                  kasse schließlich ein.                                    TK ein und begründet darin genau, warum ein             Führhund an. Seit einigen Monaten lebt der Hund
                                                                                      Aufgrund der fortschreitenden Augenerkran-            Führhund zur Fortbewegung und Orientierung              bei ihm. Damit aus Halter und Hund ein Team wird,
                                                                                  kung Retinitis pigmentosa bleibt dem 53-jährigen          erforderlich sei: Denn neben dem Sehen ist auch         gebe es eine Einweisung der Führhund-Schule, die
                                                                                  Frank S. nur ein kleiner Sehrest. Im Verlauf der nicht    sein Hörvermögen deutlich eingeschränkt. „Die Hör-      noch nicht abgeschlossen sei, berichtet Frank S.
                                                                                  heilbaren Erkrankung vermindert sich die Sehfä-                                          minderung ist so stark   Noch stimmen sich beide genau aufeinander ein.
                                                                                  higkeit durch eine zunehmende Zerstörung der                                             ausgeprägt, dass Herr    „Natürlich ist das auch mit Arbeit verbunden“, sagt
                                                                                  Netzhaut. Viele Jahre lang habe er sich gut mit dem
                                                                                                                                           „Die Krankenkasse               S. Geschwindigkeiten     er. „Aber meine Frau und ich sind sehr froh, dass der
                                                                                  Langstock fortbewegen können, sagt Frank S. Aber          hätte ein aktuelles und Entfernungen von                Hund nun da ist und freuen uns darüber, was er mir
                                                                                  da die Krankheit voranschreitet und in den vergan-                                       Fahrzeugen, vor allem    ermöglicht und zurückgibt.“
                                                                                                                                            Gutachten einho-
                                                                                  genen Jahren weitere körperliche Einschränkungen                                         von E-Autos, nicht
                                                                                  hinzugekommen sind, beantragt er 2018 bei seiner          len können.“                   einschätzen kann“,
                                                                                  Krankenversicherung, der Techniker Krankenkasse                                          sagt Gieselmann.
                                                                                  (TK), die Kostenübernahme für einen Blindenführ-          Aufgrund der Blindheit und der Hörminderung sei
                                                                                  hund. „Ich habe eine augenärztliche Verschreibung         Frank S. im Straßenverkehr sehr gefährdet und
                                                                                  für den Führhund mitgeschickt und einen Kosten-           ein Langstock nicht hilfreich, schildert sie. Zudem
                                                                                  voranschlag für die Anschaffung beigefügt“, erzählt       habe er eine Einschränkung der Wirbelsäule, die
     Fest an der Seite: Damit ein Blindenführhund gut führen lernen kann,         er. Frank S. hat gründlich über die Entscheidung          es ihm erschwere, den Langstock zu halten. Dies
     kommt er in jungen Jahren zu seinem*seiner Halter*in. Gemeinsam muss
                                                                                  nachgedacht: „Ich kenne schon sehr lange die Spre-        führe zudem zu Schwindel und Schulterschmerzen.
     ein spezielles Training absolviert werden.
                                                                  Foto: iStock   cherin einer Führhund-Gruppe und habe 15 Jahre            Frank S. hat bereits zwei große Rücken-Operatio-
                                                                                  lang überlegt, ob ich mir selbst auch einen Hund          nen hinter sich, bei denen Stäbe zur Stabilisierung
                                                                                  anschaffen sollte.“ Denn natürlich bedeute das auch       seiner Wirbelsäule eingesetzt wurden. Doch auch
     Gesetzlich Krankenversicherte haben einen                                    viel Verantwortung für ein Lebewesen, so Frank S.         den Widerspruch des SoVD weist die TK nach einem
     Anspruch auf Hilfsmittel, die eine bei ihnen                                     Doch die TK schickt einen negativen Bescheid          Jahr ab. Gieselmann kann diese Entscheidung
     vorliegende Behinderung ausgleichen. So kön-                                 und lehnt die Kostenübernahme für den Führhund            nicht nachvollziehen: „Die Krankenkasse kennt die
     nen Krankenversicherungen grundsätzlich auch                                 ab. Stattdessen schlägt die Krankenkasse vor, das         Grunderkrankungen des Mitglieds und hätte ein
     Anschaffungs- und Haltungskosten für einen                                   SoVD-Mitglied solle den Langstock benutzen und            aktuelles Gutachten über seine Einschränkungen
     Blindenführhund übernehmen, da dieser hilft,                                 verweist auf einen Hindernismelder als Hilfsmittel.       einholen können.“ Auch Frank S. hat kein Verständ-
SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
14   Schwarzbuch 2021/2022                                                                                                                                                                                   Gesundheit/Krankenkasse   15

     Krankenkasse verweigert                                                                                          dersachsen-Bremen in Celle. Eilverfahren und Klage
                                                                                                                      vor dem Sozialgericht Hannover sind zunächst
                                                                                                                                                                             gegen das Urteil des Landessozialgerichtes, das
                                                                                                                                                                             im Januar 2017 zugunsten Michael K.s ausfällt,

     Rentner lebenswichtige
                                                                                                                      erfolglos, jedoch in zweiter Instanz vor dem Landes-   Revision eingelegt. Doch das Bundessozialge-
                                                                                                                      sozialgericht erfolgreich. „Somit konnten aufgrund     richt fällt kein richtungsweisendes Urteil, sondern
                                                                                                                      der positiven Eilentscheidung des Landessozi-          verweist den Rechtsstreit zur erneuten Verhand-

     Behandlung
                                                                                                                      algerichts die Therapie mit den Immunglobuli-          lung und Entscheidung an das Landessozialgericht
                                                                                                                      nen an der MHH zumindest vorerst weiterlaufen          Niedersachsen-Bremen zurück. Die abschließen-
                                                                                                                      und lebensbedrohliche Situationen abgewendet           de juristische Auseinandersetzung findet dann
                                                                                                                      werden“, berichtet Thiede. Schließlich hätten die      abermals dort statt. „Bis dahin war es eine harte
     SoVD klagt erfolgreich für 84-Jährigen                                                                           Medikamente nachweislich geholfen. Die Verpflich-      juristische Konfrontati-
                                                                                                                      tung der Krankenkasse zur Kostenübernahme der          on“, resümiert Thiede. Das
                                                                                                                      Therapie steht jedoch unter dem Vorbehalt einer        Verfahren endet schließlich
                                                                                                                                                                                                             „Ich bin eigentlich ein
     Michael K. (Name geändert) ist durch eine Erkran-      schweren Infektionen hat sich durch die Therapie          endgültigen gerichtlichen Entscheidung, sodass         im Mai 2019. Nachdem die         ruhiger Typ, aber das
     kung auf eine regelmäßige Behandlung mit Anti-         stark reduziert“, sagt der Rentner. Auch Schmidt,         der Kläger während der gesamten weiteren Ver-          Krankenkasse selbst ein          hat mich sehr aufge-
     körpern, sogenannten Immunglobulinen, angewie-         der Michael K.s behandelnder Arzt geblieben ist,          fahrensdauer befürchten muss, die entstandenen         Gutachten in Auftrag gibt,
     sen. Doch obwohl sich der Gesundheitszustand des       zeigt sich überzeugt, dass die Behandlungsmethode         Kosten doch noch selbst tragen zu müssen. „Ich bin     welches zugunsten Michael regt und belastet.“
     84-Jährigen dadurch erheblich gebessert hat, ist       effektiv hilft.                                           eigentlich ein ruhiger Typ, aber das hat mich sehr     K.s ausfällt, erkennt sie
     Michael K.s Krankenkasse nicht mehr bereit, die            Bis 2009 hat Michael K. durch die Medikamen-          aufgeregt und belastet“, so Michael K. Vor allem der   schließlich nach zehn Jahren den Anspruch des
     Therapiekosten zu tragen. Der SoVD klagt erfolg-       te, die ihm in der MHH ambulant verordnet und             lange Zeitraum, in dem er keine Sicherheit gehabt      Klägers in vollem Umfang an und übernimmt die
     reich gegen die Entscheidung.                          verabreicht werden, ein einigermaßen sorgen-              habe, ob das Gericht endgültig zu seinen Gunsten       entstandenen Kosten aller Instanzen.
         Michael K. leidet seit 1992 an einer seltenen      freies Leben. Doch nach einer Überprüfung seines          entscheiden würde, habe ihn stark mitgenommen.             „Ich habe nun endlich Sicherheit, dass die
     Erkrankung, die dazu führt, dass sein Immunsystem      Gesundheitszustandes durch den Medizinischen                  Durch mehrere Instanzen wird von Seiten der        Behandlung auf Kosten der Krankenkasse wei-
     nicht mehr richtig arbeitet. Der ehemalige Bergar-     Dienst (MD) bestreitet seine Krankenkasse, dass           Krankenkasse immer wieder bestritten, dass die         tergeführt werden darf und ich bin deswegen
     beiter hat deshalb immer wieder Lungenentzün-          die Behandlung notwendig sei und erklärt dem              Erkrankung lebensbedrohlich sei, obwohl zwei           unheimlich erleichtert“, sagt der 84-Jährige. Dem
     dungen, die schwer verlaufen. Mehr als einmal war      Rentner, dass sie diese nicht weiter bezahlen werde.      Sachverständigengutachten aus 2011 und 2013            SoVD ist Michael K. sehr dankbar. „Ich bin froh, dass
     sein Zustand lebensbedrohlich. „Am Anfang musste       Als Begründung gibt die Krankenkasse ein Gut-             sowie die Einschätzung des behandelnden Immu-          ich mir damals Hilfe beim SoVD gesucht habe. Das
     ich bis zu sechsmal im Jahr behandelt werden. Ich      achten des MD an, in dem dargelegt wird, dass die         nologen dies feststellen und der Kläger seit 1992      war eine wichtige und gute Entscheidung“, sagt er
     kann nicht sagen, wie oft ich schon in einer Klinik    Erkrankung nicht akut lebensbedrohlich sei. „Ich          nachweislich an zahlreichen Pneumonien erkrankt        und ergänzt: „Ich bin hier richtig beraten worden,
     lag, weil es mir so schlecht ging“, sagt der 84-Jäh-   war sehr geschockt, als mir mitgeteilt wurde, dass        ist, die häufig in eine Sepsis münden. Schließlich     das Verfahren lief sehr gut für mich und auch der
     rige. Die übliche Behandlung mit Antibiotika habe      die Behandlung abgebrochen werden soll“, sagt der         kommt das Verfahren 2017 an das Bundessozi-            ermutigende Zuspruch von Frau Thiede hat mir sehr
     immer nur vorübergehend geholfen. Es stellen sich      84-Jährige. Für ihn steht fest, dass er sich mit dieser   algericht in Kassel, nachdem die Krankenkasse          geholfen.“
     zunehmend Resistenzen ein und es muss auf soge-        Haltung der Krankenkasse nicht abfinden will.
     nannte Reserveantibiotika zurückgegriffen werden.          So beginnt für K. ein zehnjähriger Kampf um die
     Erst 1998, nachdem Michael K. sich an die Medizi-      Fortführung der für ihn so wichtigen Behandlung.
     nische Hochschule Hannover (MHH) wendet, kann          Unterstützt wird er dabei vom SoVD, der umgehend
     die richtige Diagnose gestellt und eine geeignete      Widerspruch gegen die Entscheidung der Kran-
     Therapie gefunden werden. Der Direktor der Klinik      kenkasse einlegt. „Dass diese für Herrn Schulze
     für Immunologie und Rheumatologie der MHH, Prof.       notwendige Therapie nicht weitergeführt werden
     Dr. Reinhold Ernst Schmidt, diagnostiziert damals      durfte, war schon eine harte Entscheidung der
                                                                                                                                       Lebenswichtig:
     ein „Antikörpermangelsyndrom bei monoklonaler          Krankenkasse“, findet Karin Thiede, die als Juristin
                                                                                                                                       Durch die Gabe von
     Gammopathie unbestimmter Signifikanz“. Michael         für den SoVD-Landesverband Niedersachsen arbei-                            Immunglobulinen
     K. bekommt seither alle zwei bis drei Wochen Anti-     tet und das Eil- und Berufungsverfahren betreut.                           hat sich die Zahl der
     körper, die sein Immunsystem unterstützen. Durch           Nachdem die Kasse dem Widerspruch nicht                                schweren Infektionen
                                                                                                                                       bei Michael K. stark
     die Gabe dieser sogenannten Immunglobuline hat         stattgibt, klagt der SoVD in Vertretung für den
                                                                                                                                       reduziert.
     sich sein Gesundheitszustand erheblich verbes-         84-Jährigen zunächst vor dem Sozialgericht in
     sert. „Ich bin zwar nicht geheilt, aber die Zahl der   Hannover, dann vor dem Landessozialgericht Nie-                            Foto: iStock
SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
16   Schwarzbuch 2021/2022                                                                                                                                                                                           Gesundheit/Krankenkasse   17

     Wegen Blindheit:                                                                                                        Rollstuhl angewiesen ist. Dazu kommt, dass er
                                                                                                                             durch seine Erkrankung erblindet ist. Deshalb
                                                                                                                                                                                   ordnungsgemäß führen könne, widerlegt werden
                                                                                                                                                                                   konnte“, sagt Rethmeier, der Helge Sydow in der

     Krankenkasse will Elektro-
                                                                                                                             nimmt Sydow 2016 an einer Orientierungs- und          nächsten Instanz vor dem Landessozialgericht
                                                                                                                             Mobilitätsschulung für blinde Menschen teil. Durch    (LSG) Niedersachsen-Bremen vertritt. „Ich hatte
                                                                                                                             die starke Einschränkung der linken Körperhälfte ist von vorneherein das Gefühl, dass das Ganze extra

     Rollstuhl nicht zahlen
                                                                                                                             diese Schulung für Sydow jedoch nicht ohne Unter-     in die Länge gezogen wurde. Vermutlich, damit ich
                                                                                                                             stützung in einem normalen Rollstuhl möglich. Also einfach aufgebe“, mutmaßt Sydow. Doch auch das
                                                                                                                             imitiert die Schulungsleitung kurzerhand durch        LSG entscheidet im Dezember 2021 zugunsten von
                                                                                                                             Schieben ein motorisiertes Hilfsmit-                                 Sydow: Die Krankenkasse muss ihn
     Mit Hilfe des SoVD bekommt Mitglied nach über drei                                                                      tel. So bekommt Sydow die Möglich-
                                                                                                                                                                         „Das   wollte   ich      mit einem Elektro-Rollstuhl versor-
                                                                                                                             keit, auszuprobieren, ob er sich mit                                 gen. „Dass das Landessozialgericht
     Jahren Hilfsmittel                                                                                                      dieser Art von Rollstuhl und seinem         so nicht stehen selbst mit dem Fall an die Öffentlich-
                                                                                                                             Langstock sicher fortbewegen kann                                    keit gegangen ist, unterstreicht für
                                                                                                                             – mit Erfolg. Was seine Krankenkasse
                                                                                                                                                                        lassen   und   habe       uns noch einmal das inakzeptable
     Helge Sydow ist durch seine Erkrankung am              eines solchen Rollstuhls unmöglich. Mit Hilfe des                allerdings nicht anerkennt.                 mir Hilfe beim Verhalten der zuständigen Kranken-
     Devic-Syndrom, einer entzündlichen Autoimmuner-        SoVD kann er das Gegenteil beweisen und nach                         Als sich Helge Sydows Gesund-                                    kasse. Außerdem freut es uns natür-
     krankung des zentralen Nervensystems, nicht mehr       über drei Jahren bewilligt die Krankenkasse endlich              heitszustand verschlechtert und              SoVD   geholt.“         lich besonders für Herrn Sydow, dass
     im der Lage, einen gewöhnlichen Rollstuhl selbst       einen Elektro-Rollstuhl.                                         es ihm kaum noch möglich ist, mit                                    in dem Beschluss der neudefinierte,
     zu bedienen und somit ständig auf die Hilfe anderer       Der 58-jährige Helge Sydow leidet am                          einem gewöhnlichen Rollstuhl im Alltag eigenstän- dynamische Behindertenbegriff berücksichtigt
     angewiesen. Um mehr Eigenständigkeit zurückzu-         Devic-Syndrom. Im fortschreitenden Verlauf der                   dig mobil zu sein, wird ihm 2018 ein Elektro-Roll-    wurde, nachdem Teilhabe und eine Ermöglichung
     gewinnen, beantragt er bei der Krankenkasse einen      Krankheit hat er einen Schlaganfall, wodurch                     stuhl ärztlich verordnet. Aber die Krankenkasse       der individuellen Lebensplanung im Vordergrund
     Elektro-Rollstuhl – doch diese lehnt ab. Die Begrün-   besonders seine linke Körperhälfte stark bewe-                   lehnt seinen Antrag wegen Zweifel an seiner Fahr-     stehen“, so Rethmeier.
     dung: Sydows Blindheit macht das sichere Führen        gungseingeschränkt und er weitgehend auf einen                   tauglichkeit ab und der eingelegte Widerspruch           Aber auch mit dem Beschluss muss Helge Sydow
                                                                                                                             wird aufgrund eines Gutachtens des Medizinischen      noch auf sein Hilfsmittel warten. Das Problem: Den
                                                                                                                             Dienstes, das ähnlich begründet, ebenfalls zurück-    Rollstuhl, den er 2018 beantragt hatte, gibt es inzwi-
                                                                                                                             gewiesen. „Das wollte ich so nicht stehenlassen und schen nicht mehr. Daher verlangt die Krankenkasse
                                                                                                                             habe mir deshalb 2019 beim SoVD Hilfe geholt“,        nach dem Urteil des LSG vom zuständigen Roll-
                                                                                             Was lange währt, wird endlich
                                                                                                                             erklärt Sydow. Mit der Unterstützung des SoVD-Be-     stuhlhändler, Informationen zu einem möglichst
                                                                                             gut: Helge Sydow muss erst
                                                                                             vor Gericht klagen, damit       ratungszentrums klagt er dieses Mal vor dem Sozi-     ähnlichen Rollstuhl zu liefern. Dieser schickt einen
                                                                                             seine Krankenkasse ihm einen    algericht in Lüneburg. „Das Sozialgericht ist Ende    Fragebogen mit zahlreichen Fragen zum Ersatzmo-
                                                                                             E-Rolli bezahlt.                2020 zu der Einschätzung gelangt, dass von Herrn      dell und einen Kostenvoranschlag an die Kranken-
                                                                                             					Foto: Muzaffer Cat
                                                                                                                             Sydow durch die Nutzung eines Elektro-Rollstuhls      kasse. Danach vergehen einige Monate, bis Sydow
                                                                                                                             keine größere Gefahr ausgeht als von einem Fuß-       Anfang 2022 endlich positive Nachrichten erhält.
                                                                                                                             gänger und er das Hilfsmittel zwingend benötigt“,     „Ich weiß gar nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
                                                                                                                             so Frank Rethmeier, Leiter des Sachgebiets Sozial-    Über drei Jahre nach meinem Antrag bekomme ich
                                                                                                                             recht des SoVD-Landesverbands Niedersachsen.          endlich meinen so ersehnten Elektro-Rollstuhl",
                                                                                                                                 Doch die AOK stellt sich weiterhin quer und geht freut sich Helge Sydow.
                                                                                                                             in Berufung. „Es ist ein Unding, dass die Kranken-
                                                                                                                             kasse Herrn Sydow den zur Teilhabe dringend
                                                                                                                             benötigten Rollstuhl wiederholt verweigert hat,
                                                                                                                             obwohl die vorgebrachte Begründung, dass er
                                                                                                                             durch seine Blindheit einen Elektro-Rollstuhl nicht
SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
Pflege   19

                                                                                                                                   steht ein Begutachtungstermin durch den Medizi-            stützung. Das haben Ärzte ebenfalls festgestellt“,
                                                                                                                                   nischen Dienst (MD) an. Eine Mitarbeiterin des MD          erklärt Mühlenbeck. Sie könne sich deshalb nicht
                                                                                                                                   kommt dazu bei ihr zu Hause vorbei. „Da habe ich           erklären, warum dies nicht entsprechend im MD-Gut-
                                                                                                                                   mich drauf eingestellt und es ist ja auch notwendig“,      achten vermerkt worden sei. Als die Sozialberaterin
                                                                                                                                   sagt die Emsländerin. Doch mit dem Vorgehen der            den Fall mit Droste durchspricht, schildert diese ihr
                                                                                                                                   Gutachterin bei diesem Termin zeigt sich die 66-Jäh-       den Gesprächsverlauf während des Gutachtens und
                                                                                                                                   rige überhaupt nicht einverstanden. „Das ging gar          besteht sofort darauf, dass bei der Folgebegutach-
                                                                                                                                   nicht, wie sich die Frau mir gegenüber verhalten hat“,     tung ein*e andere*r MD-Mitarbeiter*in ihre gesund-
                                                                                                                                   sagt Droste: „Ich sollte mit ihr nach oben gehen und       heitliche Situation beurteilen soll. „Das verdeutlicht,
                                                                                                                                   die Räume zeigen.“ Als sie aber angibt, dass sie nach      dass die Gutachterin einen sehr negativen Eindruck
                                                                                                                                   dem Treppenaufstieg eine längere Pause brauche,            hinterlassen hat“, so Mühlenbeck.
                                                                                                  Mehr Hilfe: Menschen, die
                                                                                                  Multiple Sklerose haben,
                                                                                                                                   sei dies der MD-Mitarbeiterin nicht schnell genug             Überrascht ist Mühlenbeck zudem, dass in den
PFLEGE

                                                                                                  benötigen häufig Unter-          gegangen. „Die wurde richtig grantig“, erinnert sich       Fall nur langsam Bewegung kommt. „Den frist-
                                                                                                  stützung im Alltag. Nicht        Droste. Ihre Tochter habe dann die Räume gezeigt.          wahrenden Widerspruch haben wir schon Ende
                                                                                                  immer wird diese durch die
                                                                                                                                   Im weiteren Verlauf der Begutachtung habe sie dann         Juni 2019 erhoben. Am 14. August habe ich mich
                                                                                                  Pflegekasse gewährt.
                                                                                                                                   gemerkt, dass ihr die Mitarbeiterin offenbar nicht         telefonisch nach dem Sachstand erkundigt und die
                                                                                                             Foto: Lennart Helal   mehr wohlgesonnen zu sein scheine. „Sie war sehr           Aussage erhalten, dass die Unterlagen an den MD
                                                                                                                                   unfreundlich. Ich hatte den Eindruck, dass sie viele       weitergeleitet wurden“, so die SoVD-Beraterin. Ihr
                                                                                                                                   Dinge offensichtlich falsch aufgenommen hat, die           sei mitgeteilt worden, dass der MD bei der Vergabe
                                                                                                                                   ich ihr über meine Einschränkungen berichtet habe“,        eines Termins für die Folgebegutachtung etwa drei
                                                                                                                                   erklärt Droste. Wirklich ernst genommen fühlt sie          Monate benötige. Doch erst im November kommt

         Gutachterin schätzt                                                                                                       sich nicht. Wenig überrascht ist Droste dann auch,
                                                                                                                                   als ihr von der Techniker Krankenkasse im Juni 2019
                                                                                                                                                                                              eine Antwort der Krankenkassen mit einem neuen
                                                                                                                                                                                              Begutachtungstermin, der für Anfang Dezember

         Pflegebedarf falsch ein
                                                                                                                                   mitgeteilt wird, dass sie einen höheren Pflegegrad         angesetzt wird. „Das dauert viel zu lange“, findet
                                                                                                                                   nicht bekommen werde.                                      Mühlenbeck. Droste sei jedoch kein Einzelfall.
                                                                                                                                       Die Begründung macht Droste noch heute                 Einige Betroffene müssten sogar sechs Monate
                                                                                                                                   wütend. „Das ging völlig an dem vorbei, was tatsäch-       Wartezeit und damit entsprechende Nachteile in
         MS-Kranke wartet fünf Monate auf Entscheidung                                                                             lich gesundheitlich mit mir los ist“, findet sie. So sei   Kauf nehmen. Wenn es um eine Folgebegutachtung
                                                                                                                                   der tatsächliche Pflegeaufwand wesentlich höher            gehe, müsse schneller gehandelt werden, findet
                                                                                                                                   als in der Begründung angegeben. Auch deute das            die Sozialberaterin. Der Pflegebedarf bestehe, wie
         Mechthild Droste ist an Multipler Sklerose (MS)        hen und Laufen ist ihr nur noch sehr eingeschränkt                 Gutachten an, dass sie ihren Haushalt fast selbst-         bei Mechthild Droste, schließlich weiterhin. Wegen
         erkrankt. Nach einem schweren Schub stellt sie         und mit Hilfsmitteln wie einem Rollator möglich.                   ständig führen könne. „Wie soll ich das mit meinen         möglicher Fehler im Erstgutachten sei eine Ver-
         einen Antrag, um einen höheren Pflegegrad zu           Vor allem ihr Ehemann und ihre Tochter stehen ihr                  Einschränkungen machen? Ich kann nicht einmal              sorgung der Betroffenen durchaus gefährdet. „Frau
         erhalten. Eine Gutachterin lehnt dies jedoch mit der   in dieser schweren Zeit zur Seite und unterstützen                 das Essen in einem Topf umrühren“, erzählt Droste.         Droste hat ihren Mann und ihre Tochter, die sie
         Begründung ab, dass die schwerkranke Frau noch         sie. „Ich bin meinem Mann und meiner Tochter sehr                  Bei allen Haushaltsangelegenheiten und zum Teil            unterstützen. Bei alleinstehenden Personen käme
         selbstständig genug sei, um sich im Alltag überwie-    dankbar, dass sie für mich da sind“, sagt die 66-Jährige.          auch bei der Körperpflege und beim Anziehen sei sie        es aber zu Schwierigkeiten, wenn sie Hilfe benöti-
         gend eigenständig zu helfen. Tatsächlich ist Droste        Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Augu-                    auf Hilfe angewiesen. „Das habe ich eigentlich auch        gen, die sie aber nicht erhalten, wenn der Pflege-
         aber auf vielfältige Unterstützung angewiesen. Der     stahospital Anholt, das auf die MS-Erkrankung spe-                 deutlich gemacht“, sagt sie.                               grad nicht passt“, so Mühlenbeck.
         SoVD hilft ihr schließlich bei der Durchsetzung des    zialisiert ist, geben ihr 2019 die behandelnden Ärzte                  Droste zeigt das Gutachten ihren behandeln-               Dank des SoVD-Widerspruchs und des Einsat-
         ihr zustehenden Pflegegrades.                          zu verstehen, dass sie mit Blick auf ihre fortschrei-              den Ärzten. Die raten ihr, Widerspruch gegen den           zes der Sozialberaterin kann schließlich erreicht
             Mechthild Droste hat MS mit vorherrschendem        tende Erkrankung einen höheren Pflegegrad bei der                  Bescheid einzulegen. Dazu holt sie sich Hilfe beim         werden, dass der MD ein neues Gutachten erstellt.
         schubförmigem Verlauf. Vor rund zwei Jahren kommt      Krankenkasse beantragen solle. „Sie haben deutlich                 SoVD. Sozialberaterin Julia Mühlenbeck, die den            Daraufhin wird dem Widerspruch zum Teil statt-
         es zu einem schweren Schub. Seitdem muss sie mit       gemacht, dass ich Anspruch auf mehr Unterstützung                  Beratungsfall betreut, zeigt sich erstaunt, dass die       gegeben: Am 11. Dezember 2019 – nach über fünf
         erheblichen gesundheitlichen Folgen leben: Sie         durch die Pflegekasse habe“, so Droste.                            schwer erkrankte Frau durch das Gutachten für prak-        Monaten – wird Mechtild Droste von der Pflege-
         kann ihre Hände kaum noch benutzen, da sie kein            Den Antrag auf die Gewährung des Pflegegrades                  tisch gesund erklärt wird. „Frau Droste ist offensicht-    kasse mitgeteilt, dass sie rückwirkend ab dem 1. Juli
         Gefühl mehr in ihren Fingern hat und auch das Ste-     2 stellt sie umgehend. Nur wenige Wochen später                    lich stark eingeschränkt und braucht täglich Unter-        2019 den Pflegegrad 2 erhält.
20   Schwarzbuch 2021/2022                                                                                                                                                                                                                    Pflege     21

     Wenn der Pflegegrad auf                                                                                         Fest steht für sie, dass sie sich mit der Ein-
                                                                                                                  schätzung der MD-Mitarbeiterin nicht abfinden
                                                                                                                                                                               Der Widerspruch des SoVD hat am Ende Erfolg.
                                                                                                                                                                            Es folgt eine Einigung mit der zuständigen Kasse

     einmal weg ist: SoVD kämpft
                                                                                                                  will. Ihr Gesundheitszustand habe sich schließlich        zugunsten von Kerstin Günther. „Ich bin froh, dass
                                                                                                                  nicht verbessert, sondern verschlimmert. Arme             ich meinen Pflegegrad behalten durfte und sich die
                                                                                                                  und Hände kann sie immer schlechter bewegen.              Einstätzung der MD-Gutachterin als Fehler heraus-

     für Mitglied
                                                                                                                  „Mit den Jahren habe ich Rückenprobleme bekom-            stellte“, sagt das SoVD-Mitglied. Dem Verband sei
                                                                                                                  men, da ich ständig in einer Schonhaltung bin             sie für die Hilfe beim Widerspruch sehr dankbar.
                                                                                                                  und außerdem Bewegungen machen muss, für
                                                                                                                  die die Wirbelsäule nicht ausgelegt ist“, berichtet
     Gesundheitszustand falsch beurteilt /                                                                        Günther. Zwar überlegt sie sich einige Strategien,
                                                                                                                  um wenigsten einfache Tätigkeiten zu verrichten.
     Einschränkungen werden sich nicht bessern                                                                    Doch auch diese fallen ihr zunehmend schwerer.
                                                                                                                  So schafft sie selbst das Heben eines Glases kaum
                                                                                                                  noch. Beim Führen des Haushaltes ebenso wie bei
     Obwohl Kerstin Günther eine Fehlbildung beider         kreis Wolfsburg. Aus ihrer Sicht seien viele der im   der Körperpflege besteht Hilfebedarf. Ohne das
     Arme und Hände hat, kommt eine Gutachterin des         Gutachten aufgeführten Punkte über ihren Gesund-      Geld der Pflegekasse steht Günther nun vor großen
     Medizinischen Dienstes (MD) zu dem Schluss, dass       heitszustand nicht den Tatsachen entsprechend         Problemen. Ihre Schwester ist in dieser Situation
     sie selbstständig genug ist, um ihren Alltag ohne      dargestellt worden.                                   für sie eine wichtige Stütze. Sie kommt jeden Tag
     Hilfe zu bewältigen. Ein bestehender Pflegegrad           Warum die MD-Mitarbeiterin zu solch einer          für mehrere Stunden und hilft Günther, wo sie kann.
     wird ihr von ihrer Pflegekasse aberkannt. Der SoVD     Beurteilung ihres Gesundheitszustandes gekom-         „Ohne sie wäre ich richtig aufgeschmissen“, betont
     unterstützt sie, damit sie die Hilfe erhält, die ihr   men ist, bleibt für Günther bis heute ein Rätsel,     Günther.
     zusteht.                                               denn seit ihrer Geburt hat sie eine Fehlbildung an       Damit sie diese Auseinandersetzung um den
         Für Kerstin Günther überraschend steht im Mai      beiden Armen und Händen. Diese sind verkürzt und      Pflegegrad nicht alleine ausfechten muss, sucht
     2019 eine Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes     die Beweglichkeit aller Gelenke ist stark einge-      sich Günther Unterstützung im SoVD-Beratungs-
     (MD) vor ihrer Haustür. Sie müsse ihren Gesund-        schränkt. Zudem sind ihre Schultern nicht richtig     zentrum Wolfsburg. „Es hätte wegen der Ein-
     heitszustand überprüfen und feststellen, ob der        ausgebildet. Außerdem sind die Beine betroffen,       schränkungen, die Frau Günther aufgrund ihrer
     Pflegebedarf dem aktuellen Pflegegrad entspreche,      wenn auch nicht                                       Behinderung hat, eigentlich völlig unstrittig sein
     habe diese der 56-Jährigen mitgeteilt. Günther lässt   im gleichen          „Es kann ihr nicht zum           müssen, dass bei ihr ein Pflegebedarf besteht“, sagt
     die MD-Mitarbeiterin in ihre Wohnung, obwohl           Ausmaß wie die        Nachteil ausgelegt werden,      SoVD-Berater Dietmar Egel. Dass Günther in eini-
     ihr diese Überprüfung laut eigener Aussage nicht       Arme. Da sie auf      dass sie trotz ihrer Behinde-   gen Lebenslagen darum bemüht sei, selbstständig
     angekündigt wurde. Sie habe zahlreiche Fragen          Unterstützung                                         zu bleiben, sei indes kein Indiz dafür, dass sie völlig
                                                                                  rung das größtmögliche
     beantworten müssen, berichtet Günther. „Ich hatte      angewiesen ist                                        ohne Hilfe zurechtkommen könne. „Es kann ihr nicht        Auf dem Prüfstand: Wenn Pflegebedürftige einen Pflegegrad beantragen,
     währenddessen das Gefühl, dass mir die Frau nicht      und der Bedarf
                                                                                  Maß an Selbstständigkeit        zum Nachteil ausgelegt werden, dass sie trotz ihrer       findet eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst statt. Das kann

     richtig zuhört oder mich nicht verstehen will“, sagt   an Hilfe stetig       und Selbstbestimmtheit          Behinderung das größtmögliche Maß an Selbst-              manchmal jedoch schief gehen – wie im Fall von Kerstin Günther.

     sie. Am Ende des Besuchs habe ihr die MD-Mit-          zunimmt, erhält       erreichen will."                ständigkeit und Selbstbestimmtheit erreichen                                                                      Foto: Adobe Stock
     arbeiterin eröffnet, dass sie den Pflegegrad wohl      sie 2009 eine                                         will“, so Egel. Der SoVD legt sofort Widerspruch
     verlieren werde. Dann verlässt die MD-Mitarbeite-      Pflegestufe. Diese wird ohne weitere Überprüfung      gegen die Entscheidung der Pflegekasse ein, auch
     rin die Wohnung. Günther bleibt ratlos zurück. „Im     2017 in den sogenannten Pflegegrad 2 übergeleitet.    weil Günther überzeugend darlegt, dass sich ihre
     Juli erhielt ich dann ein Schreiben von der Techni-    Noch im Januar 2019 wird Günther von ihrer Kran-      Einschränkungen nicht bessern werden. „Wir haben
     ker Krankenkasse, in dem man mir zur Besserung         kenkasse darüber informiert, dass ihr die Leistun-    der Krankenkasse mitgeteilt, dass im Fall von Frau
     meines Gesundheitszustandes gratulierte und mir        gen der Pflegeversicherung unverändert weiterge-      Günther mit zunehmendem Alter sogar von einer
     mitteilte, dass ich nun keinen Pflegegrad mehr         währt werden. „Weshalb nur wenige Monate später       Beschwerdezunahme und damit einhergehend mit
     benötige und somit kein Pflegegeld mehr erhalte“,      trotzdem eine Überprüfung stattgefunden hat, kann     Abnahme von Kompensationsmöglichkeiten auszu-
     sagt die fassungslose 56-Jährige aus dem Land-         ich mir nicht erklären“, sagt sie.                    gehen ist“, erklärt Egel.
22   Schwarzbuch 2021/2022                                                                                                                                                                                                     Pflege    23

     SoVD geht erfolgreich gegen                                                                                         Gutachten Punkt für Punkt mit Funke durch und            wirklich für meine Situation und schlug sogar vor,

     MD-Gutachten vor
                                                                                                                         stellt ebenfalls einige Ungereimtheiten fest. „Herr      entsprechende Hilfsmittel einzuplanen, falls sich
                                                                                                                         Funke hat glaubhaft geschildert, dass es ihm nicht       mein Gesundheitszustand weiter verschlechtert“,
                                                                                                                         gut geht und er viel Unterstützung im Alltag benö-       so Funke. Tatsächlich
                                                                                                                         tigt“, so Fricke. Im Gutachten spiegele sich dies aber   kommt das Gutachten zu „Vieles, was in dem
     Krebspatient wird Pflegegrad verweigert                                                                             in keiner Weise wider. „Da sich die gesundheitliche      dem Schluss, dass Funke      Gutachten angeführt
                                                                                                                         Situation von Herrn Funke weiter verschlechterte,        der Pflegegrad 3 zusteht.
                                                                                                                         musste zügig gehandelt und Herr Funkes tatsächli-        Jetzt erhält er die Hilfe,
                                                                                                                                                                                                               war, habe ich so über-
     Weil Dieter Funke wegen einer schweren Krebs-            unproblematisch läuft“, erklärt der 58-Jährige.            cher Pflegebedarf detailliert vorgetragen werden“,       die er benötigt. „Die        haupt nicht gesagt.“
     erkrankung viel Hilfe im Alltag benötigt, beantragt          Doch bei der telefonischen Begutachtung durch          sagt der Sozialberater. Weil sich der MD einige          Sache ist am Ende gut
     er einen Pflegegrad. Doch eine mögliche Unterstüt-       den Medizinischen Dienst (MD) kommt die Gutach-            Wochen mit einer Antwort Zeit lässt, macht Fricke        für mich ausgegangen. Ich bin dem SoVD und Herrn
     zungsleistung der Pflegekasse wird ihm verweigert.       terin zu einer ganz anderen Einschätzung. Funke            mit Schreiben an die zuständige Pflegekasse Druck        Fricke für diesen Einsatz sehr dankbar“, erklärt der
     Er sei gesund genug, um sich selbst zu helfen, sagt      sei gesund genug, um seinen Alltag selbstständig           und erinnert an die Dringlichkeit der Situation.         58-Jährige.
     eine Gutachterin des Medizinischen Dienstes (MD).        zu bewältigen, so das Fazit. Eine Unterstützungs-          Am Ende wird Funke erneut telefonisch begut-
     Funke gelingt mit Hilfe des SoVD, erfolgreich gegen      leistung seitens der Pflegekasse wird folglich nicht       achtet. „Die Gutachterin, die ich nun am Telefon
     diese Einschätzung vorzugehen.                           gewährt. „Ich wusste erstmal nicht, wie es weiter-         hatte, war viel zugewandter. Sie interessierte sich
         Im Jahr 2020 bemerkt Funke erstmals Schmer-          geht“, erzählt Funke. Ohne Unterstützung durch
     zen im Brustbereich. Doch erst im März 2021 wird         die Pflegekasse ist er auf die Hilfe von Freunden
     die Diagnose Lungenkrebs gestellt. Eine Immun-           angewiesen. Die bekommt er auch, aber dennoch
     therapie schlägt fehl, der Krebs hat bereits gestreut.   wird für ihn die Gestaltung seines Alltags wegen
     Nun bekommt Funke, neben einer Chemotherapie             seiner gesundheitlichen Einschränkungen eine
     in Tablettenform, alle drei Wochen eine Chemo-           zunehmende Herausforderung. Hinzu kommt, dass
     therapie über eine Infusion. „Das belastet meinen        ihn die Situation auch psychisch belastete. Die
     Körper erheblich. Was ich früher                                            telefonische Begutachtung habe
     innerhalb von wenigen Minuten                                               ihn ständig beschäftigt. „Vieles,
     leisten konnte, dafür brauche ich      „Was ich früher                      was in dem Gutachten angeführt
     jetzt Stunden“, berichtet Funke. Er                                         war, habe ich so überhaupt nicht
     fühle sich sehr schwach. Schmer-
                                             innerhalb von                       gesagt“, ist sich Funke sicher. Eini-
     zen bestimmen seinen Alltag.          wenigen Minuten                       ge seiner Aussagen seien falsch
     Die Medikamente, die er gegen                                               verstanden worden. Darüber hin-
     die Symptome seiner Krankheit          leisten konnte,                      aus habe die Gutachterin offenbar
     einnehmen muss, schränken ihn
     bei der Verrichtung von alltägli-
                                           dafür brauche ich                     nicht bemerkt, dass eine für ihn
                                                                                 vorgesehenen Pflegerin dabei ist,
     chen Dingen zusätzlich ein. „Es        jetzt Stunden.“                      um ihn zu unterstützen, obwohl sie
     gibt gute und schlechte Tage. Aber                                          aktiv an dem Gespräch teilnimmt.
     an schlechten Tagen schaffe ich                                             Wenige Wochen später sei ihm
     kaum den Weg vom Bett zu meinem Sofa“, sagt er.          zudem ein Grad der Behinderung von 100 zugestan-
                                                                                                                          Genauer hingeguckt: Dieter
         Da er wegen der Folgen seiner Erkrankung             den worden. „Das sind für mich schon Zeichen dafür,
                                                                                                                          Funke (links) hat mit Hilfe
     immer stärker auf Unterstützung angewiesen ist,          dass einiges bei der Begutachtung des MD falsch             von Sozialberater Olav Fricke
     beantragt Funke bei seiner Pflegekasse eine Begut-       gelaufen ist“, so Funke. Ein guter Freund rät ihm           seinen ihm zustehenden
     achtung, um eine Einstufung in einen Pflegegrad          daraufhin, sich an den SoVD zu wenden.                      Pflegegrad erhalten.

     zu erreichen. Dieser hätte ihm unter anderem                 Hilfe bekommt Funke schließlich im SoVD-Bera-                    Foto: Heinrich Schepers
     ermöglicht, Pflegeleistungen und Hilfe im Alltag         tungszentrum Meppen. Sozialberater und Rechts-
     zu bekommen. „Ich war davon überzeugt, dass das          anwalt Olav Fricke geht das vom MD erstellte
Soziales    25

                                                                                                                                 SoVD. Ein Sozialberater hilft ihr und das Verfahren     rung des Sozialamtes ein. „Dass eine 81-jährige Frau
                                                                                                                                 kann schnell zu ihren Gunsten erledigt werden.          dazu aufgefordert wird, innerhalb einer so kurzen
                                                                                                                                     Doch nachdem die Grundsicherung genehmigt           Frist eine neue Wohnung zu suchen, ist schon hart“,
                                                                                                                                 ist, nimmt die zuständige Sozialbehörde Annema-         sagt Lorenz. Schließlich müsse auch das Sozialamt
                                                                                                                                                                rie S. Wohnsituation     berücksichtigen, dass eine Rentnerin im Rahmen
                                                                                                                                „Wenn man so lange              in Augenschein und       der aktuell sehr angespannten Wohnungsmarktsitu-
                                                                                                                                 gearbeitet hat, ist der stellt fest, dass sie in        ation nur geringe Chancen habe, eine neue Woh-
                                                                                                                                                                einer Wohnung lebt,      nung zu finden, die ihren Bedürfnissen entspreche.
                                                                                                                                 Gang zum Sozialamt             die zu groß und zu       Dass sich diese psychisch sehr belastende Situation
                                                                                                                                 sehr schwer.“                  teuer für eine Grund-    auch auf den Gesundheitszustand der Rentnerin
                                                                                                                                                                sicherungsbezieherin     ausgewirkt habe, müsse das Sozialamt anerkennen.
                                                                                                                                 ist. Sie erhält eine sogenannte Kostensenkungs-         Als weiteres Argument führt die Sozialberaterin an,
                                                                                                                                 aufforderung wegen der „unangemessen hohen              dass die Mieteinsparungen in keinem angemes-
                                                                                                                                 Unterkunftskosten“. Sechs Monate gibt ihr das Amt       senen Verhältnis zu den Mehrkosten für Umzug,
SOZIALES

                                                                                                      Wenig Geld:
                                                                                                      Wer – wie Annemarie
                                                                                                                                 für die Wohnungssuche und droht mit Abzügen der         Renovierung, Kaution, Maklergebühren, Doppelmie-
                                                                                                      S. – nur eine kleine       Grundsicherungsleistungen. „Das war für mich ein        te und Neuanschaffungen stünden. „Frau S. könnte
                                                                                                      Rente bekommt, hat         Schock“, erklärt Annemarie S. Schließlich sei dies      aufgrund ihres fortge-
                                                                                                      oft Anspruch auf           mit dem Rauswurf aus ihrer ebenerdigen Wohnung          schrittenen Alters und ihrer „Das war für mich ein
                                                                                                      Grundsicherung.
                                                                                                                                 gleichzusetzen. Auf dem Wohnungsmarkt sei in der        Erkrankung den Umzug
                                                                                                      								                                                                                                           Schock. Wie soll ich
                                                                                                      		     Foto: Sir_Oliver    Preisklasse von 388 Euro, die das Amt unterstüt-        nicht zumutbar alleine
                                                                                                                                 zen würde, keine geeignete Wohnung vorhanden,           bewältigen“, so Lorenz. Der     das in meinem Alter
                                                                                                                                 die ihren Bedürfnissen entspreche. „Ich habe viel       Widerspruch des SoVD hat        schaffen?“
                                                                                                                                 unternommen, aber die wenigen Wohnungen, die            zumindest vorübergehend
                                                                                                                                 in Frage kommen würden, gehen schnell unter der         Erfolg. Annemarie S. darf ihre Wohnung behalten.

           Sozialamt droht Rentnerin
                                                                                                                                 Hand weg. Es ist unmöglich, etwas zu finden“, so        Das Sozialamt übernimmt vorerst die Kosten. „Frau
                                                                                                                                 die Hannoveranerin. Ein Wechsel in einen anderen        S. muss jedoch regelmäßig nachweisen, dass ihr
                                                                                                                                 Stadtteil wäre für die 81-Jährige mit großen Schwie-    Gesundheitszustand einen Umzug nicht erlaubt“,

           mit Rauswurf aus Wohnung
                                                                                                                                 rigkeiten verbunden. „Wie soll ich das in meinem        betont Lorenz.
                                                                                                                                 Alter schaffen?“, fragt sich die Rentnerin, die schon
                                                                                                                                 lange Jahre in ihrem Stadtviertel lebt. „Ich kenne
                                                                                                                                 mich aus. Hier habe mich mein soziales Umfeld,
           Hannoveranerin soll soziales Umfeld verlassen                                                                         meine Einkaufsmöglichkeiten und meinen Haus-
                                                                                                                                 arzt“, so Annemarie S. Diese belastende Situation
                                                                                                                                 hat für sie, die an Diabetes leidet, auch schwere
              Annemarie S. (Name geändert) soll ihre Woh-        zwar auf ein erfolgreiches Berufsleben zurückbli-               gesundheitliche Folgen. „Da ist viel zusammenge-
           nung verlassen, nachdem das Sozialamt der Stadt       cken und hat hart in ihrem eigenen Betrieb gear-                kommen“, sagt sie.
           Hannover festgestellt hat, dass diese zu teuer sei.   beitet. Aufgrund mehrerer Schicksalsschläge bleibt                  Aus diesem Grund wendet sie sich erneut an den
           Obwohl die 81-Jährige keine geeignete Bleibe fin-     davon allerdings nur eine kleine Rente übrig. „Ich              SoVD. Sozialberaterin Katharina Lorenz legt sofort
           det, droht das Amt mit der Kürzung ihrer Grundsi-     musste Grundsicherung beantragen, damit ich wei-                Widerspruch gegen die Kostensenkungsaufforde-
           cherungsleistungen. Der SoVD setzt sich erfolgreich   terhin klarkomme“, sagt Annemarie S. Die Entschei-
           für die Rentnerin ein.                                dung, sich finanzielle Unterstützung „vom Staat“
              Eigentlich geht es Annemarie S. gut. Sie hat       zu holen, sei ihr nicht leichtgefallen. „Wenn man so
           einen großen Bekanntenkreis, trifft sich gerne mit    lange gearbeitet hat, ist der Gang zum Sozialamt
           Freunden, ihre Tochter und ihr Sohn unterstützen      sehr schwer“, sagt die Rentnerin. Doch eine Wahl
           sie liebevoll. Die resolute 81-Jährige hat nur dann   habe sie nicht gehabt. Damit bei der Antragstel-
           Sorgen, wenn es um das Thema Geld geht. Sie kann      lung keine Fehler passieren, wendet sie sich an den
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