SCHWARZBUCH SOZIAL 2021/2022 - AUS DEN AKTEN DES SOVD - SOVD LANDESVERBAND NIEDERSACHSEN
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A U S D E N AKTE N D E S SOVD Schwarzbuch sozial 2021/2022 Sozialverband Deutschland Landesverband Niedersachsen
3 VORWORT Gemeinsam stark: Wir ste- hen Betroffenen zur Seite Liebe*r Leser*in, Situationen sind wir natürlich gerne für unsere Mitglieder da. täglich sehen wir in unserer Beratung Wir nutzen das Schwarzbuch aber auch, Fälle, in denen unseren Mitgliedern von um mit den Verantwortlichen ins Gespräch Ämtern und Behörden Steine in den Weg zu kommen – sei es mit den Institutionen gelegt werden. Egal, ob es um Rente, Pfle- oder mit der Politik. Denn: All das, was wir ge, Behinderung, Gesundheit oder Hartz in unserer Beratung sehen, ist das Ergeb- IV geht: Häufig fühlen sich Betroffene mit ihren Problemen alleine gelassen und in ihrem verzweifelten Kampf nicht wahr- genommen. Als größter Sozialverband in Niedersachsen stehen wir ihnen deshalb mit unserer großen SoVD-Gemeinschaft in unseren 50 Beratungszentren im Land mit Rat und Tat zur Seite. Dass das auch immer wieder nötig ist, zeigt die aktuelle Ausgabe unseres „Schwarzbuchs sozial“: Da wird zum Bei- spiel der Pflegegrad einfach aberkannt, weil das Gutachten nicht korrekt war. Da soll eine Seniorin ihre Wohnung verlas- sen, weil die Miete angeblich zu hoch ist. nis einer Sozialpolitik, bei der sich einiges Da wird eine Reha nicht genehmigt, weil ändern muss, wenn unsere Gesellschaft die Langzeitfolgen einer Corona-Erkran- gerechter werden soll – zum Beispiel bei kung vermeintlich nicht so schlimm sein der Bekämpfung von Armut, bei der Ent- sollen. All das passiert, weil Behörden und lastung von Pflegebedürftigen und ihren Krankenkassen oftmals in erster Linie ihre Angehörigen oder bei der Inklusion von wirtschaftlichen Interessen im Blick haben Menschen mit Behinderung. Dafür, dass und die Person, die hinter dem Fall und die Betroffene zu ihrem Recht kommen der Akte steckt, nicht ausreichend wahrge- und ein Sprachrohr in der Politik haben, nommen wird. machen wir uns als SoVD jeden Tag stark. Unser Schwarzbuch zeigt auch dieses Mal: Manchmal sind es Routinen, manch- mal aber auch sehr spezielle Fälle. Ihnen gemeinsam ist die Tatsache, dass die Betroffenen in ihrer jeweiligen Situation Bernhard Sackarendt nicht weiterwissen und einen starken 1. Landesvorsitzender Partner an ihrer Seite brauchen. In solchen SoVD-Landesverband Niedersachsen
4 5 Gesundheit / Behinderung / Krankenkasse Inklusion / Reha abgelehnt? Wichtige Therapien verweigert? Krankenkassen stellen sich Barrierefreiheit oft quer, wenn es um die Interessen ihrer Teilhabe für alle Menschen? Das scheint Versicherten geht. häufig nicht das oberste Ziel von S. 6 Behörden und Ämtern zu sein. Vielmehr verschleppen sie die Ausstellung von S. 34 Schwerbehindertenausweisen oder leh- nen Merkzeichen ab. Pflege Arbeitsmarkt / Falsche Gutachten und lange Bearbei- tungszeiten – Pflegebedürftige und ihre Angehörigen haben oft mit zahlreichen Hartz IV Anstatt alles zu tun, damit Menschen Problemen zu kämpfen, obwohl die wieder einen Job finden, legen Jobcenter Belastung sowieso schon groß ist. gerade Hartz-IV-Empfänger*innen oft Steine in den Weg. S. 18 S. 44 Soziales Rente Wenig sozial: Gerade Berufsgenossen- Bis vor das Gericht: Behörden setzen schaften verweigern die Anerkennung Betroffene häufig unter Druck und von Arbeitsunfällen und Zahlungen, scheuen auch eine Klage nicht. Das wenn es um viel Geld geht. kostet Geld und vor allem Zeit, die viele Versicherte nicht haben. S. 46 S. 24
Gesundheit/Krankenkasse 7 Doch die massiven gesundheitlichen Einschrän- Für Nicole V. ist im Sommer 2021 klar: So kann kungen bleiben. Die Physiotherapeutin ist perma- es nicht weitergehen. Deshalb beantragt sie eine nent erschöpft, hat starke Konzentrationsschwie- Reha bei der Deutschen Rentenversicherung. Doch rigkeiten, leidet an Vergesslichkeit, Migräne und diese wird abgelehnt. Die Begründung: Die Arbeits- Rückenbeschwerden. In den nächsten Monaten ist fähigkeit von Nicole V. sei durch die angegebenen klar: Nicole V. hat Long Covid. Diese Langzeitfolgen Gesundheitsstörungen nicht erheblich einge- K RA N K E N KA S S E der Corona-Infektion werden schränkt. Die Behandlung durch GESUNDHEIT / Baldige Genesung: nicht so schnell nachlassen. einen Nervenarzt oder einen Psy- Bei Long Covid kann „Ich habe vieles versucht. Ich „Ich hatte das Gefühl, chotherapeuten sei ausreichend. eine Reha helfen. habe manuelle Therapie und „Ich hatte das Gefühl, dass Dabei ist es jedoch Ergotherapie bekommen und dass man mir nur Knüp- man mir nur Knüppel zwischen wichtig, dass sich die Einrichtung mit den bin ja auch permanent in ärztli- pel zwischen die Beine die Beine wirft und dachte, ich Langzeitfolgen einer cher Behandlung. Doch nichts wirft und dachte, ich schaffe das nicht alleine“, sagt Corona-Infektion davon hat meine Situation die Physiotherapeutin. Deshalb wirklich verbessert“, sagt Nico- schaffe das nicht alleine.“ wendet sie sich an den SoVD in auskennt. Foto: Adobe Stock le V. Besonders schlimm sei Osnabrück. SoVD-Beraterin Mirja die Untersuchung bei einem Mohrhenn legt sofort Wider- Neurologen für sie gewesen: „Er hat verschiedene spruch ein. „Die Arztberichte von Frau V. zeigen Tests mit mir gemacht. Bei einem sollte ich eine Uhr ganz deutlich, dass sie bereits alles versucht hat, zeichnen. Das konnte ich nicht. Ich wusste einfach um wieder komplett gesund zu werden. Leider hat „Ich bin einfach nicht mehr nicht mehr, wie das geht. Das hat mir furchtbare Angst gemacht.“ Auch an Gespräche mit ihren Kin- das bislang nicht geholfen. Sie geht zwar weiterhin arbeiten, aber das geht definitiv zu Lasten ihrer der Mensch, der ich vor dern kann sich die 52-Jährige oft nicht erinnern. Gesundheit“, betont Mohrhenn. Zu behaupten, dass „Ich weiß dann nicht mehr, was sie mir erzählt es bei der Erwerbsfähigkeit keine Einschränkun- haben. Als hätte ich Demenz. Ich bin einfach nicht gen gebe, sei zynisch. Der SoVD-Widerspruch hat meiner Erkrankung war“ mehr der Mensch, der ich vor meiner Erkrankung schließlich auch Erfolg, Nicole G. bekommt die war“, berichtet sie. Genehmigung für eine Reha. Long Covid: Rentenversicherung lehnt Reha-Antrag ab Im März 2021 infiziert sich Nicole V. (Name geän- Das kam erst kurze Zeit später“, erzählt die 52-Jäh- dert) bei der Arbeit mit dem Corona-Virus. Auch rige. Die Symptome hätten sich angefühlt wie eine Monate nach der Ansteckung ist sie noch nicht wie- schlimme Grippe. „Das Ganze hat sich auch relativ der fit und leidet unter massiven gesundheitlichen lange hingezogen“, berichtet sie weiter. Einschränkungen. Deshalb beantragt die 52-Jährige Als sie nicht mehr krankgeschrieben ist, kehrt eine Reha. Doch die Deutsche Rentenversicherung sie in ihren Job zurück. Doch wirklich fit ist sie noch Bund lehnt den Antrag ab – bis sich der SoVD ein- nicht. „Nach zwei bis drei Stunden war ich völlig schaltet. erschöpft. Ich konnte nur arbeiten, wenn ich mich Als Physiotherapeutin arbeitet Nicole V. dicht vorher und nachher einige Zeit ausgeruht habe“, so mit ihren Patient*innen zusammen. So steckt sie Nicole V. Damals habe sie sich noch nicht viel dabei sich auch im März vergangenen Jahres mit dem gedacht: „Ich habe mir immer gesagt: Das wird Corona-Virus an. „Zu diesem Zeitpunkt konnten wir schon. Das braucht halt seine Zeit. Mit Corona ist Physiotherapeuten uns noch nicht impfen lassen. eben nicht zu spaßen.“
Schwarzbuch 2021/2022 Gesundheit/Krankenkasse 9 SoVD erkämpft Reha-Buggy Das will Toms Mutter nicht auf sich sitzen lassen. „Der Buggy sollte uns den Alltag erleichtern. Ich Problematik wirklich auseinandergesetzt hat“, erläutert der Jurist. für Fünfjährigen wollte ja gar nicht mehr, als ich tatsächlich brau- Ponto legt in Toms Namen Widerspruch ein che“, betont sie. Für weitere Unterstützung wendet und fügt eine kinderorthopädische Einschätzung sie sich an das SoVD-Beratungszentrum in Goslar. bei. Der SoVD-Berater macht deutlich, dass der Für Christoph Reha-Buggy Tom die gleichberechtigte Teilhabe an Kein persönlicher Eindruck: Medizinischer Dienst prüft „Ich wollte ja gar Ponto, Leiter des der Gesellschaft und einen Ausgleich seines Funkti- Beratungszent- onsdefizites ermöglichen solle. nur nach Aktenlage nicht mehr, als ich rums, ist klar: „Die Sein Einsatz hat Erfolg: Im Januar kommt der Bewilligungsbescheid für den Reha-Buggy. Die tatsächlich brauche.“ Entscheidung der Krankenkasse ist Krankenkasse lenkt doch noch ein und übernimmt Der fünfjährige Tom R. (Name geändert) aus dem „Ehrlich gesagt habe ich irgendwie schon mit einer nicht in Ordnung. die Kosten. Landkreis Goslar ist wie viele Kinder in seinem Ablehnung gerechnet. Und so kam es dann ja auch“, Es gab zwar eine Prüfung durch den Medizinischen Alter: neugierig und aufgeweckt. Doch aufgrund erklärt Maja R. Die Begründung der Krankenkasse: Dienst, diese erfolgte allerdings nicht persönlich, seiner Behinderung, weiterer Erkrankungen Dass Tom Gefahren nicht einschätzen könne, sei sondern nur nach Aktenlage. Wenn man sich den sowie einer diagnostizierten Weglauftendenz mit bei Kindern in seinem Alter normal. Der Buggy sei Ablehnungsbescheid anschaut, hat man nicht das anschließenden starken Erschöpfungssymptomen deshalb nicht notwendig. Gefühl, dass sich der Medizinische Dienst mit der benötigt er einen Reha-Buggy. Dieser soll gewähr- leisten, dass er – wie andere Kinder ohne Behinde- rung auch – am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Doch seine Krankenkasse stellt sich quer und verweigert die Zahlung. Wenn Maja R. mit ihrem Sohn unterwegs ist, ist das für sie häufig sehr herausfordernd. Denn: Bei Tom wurde nicht nur Trisomie 21, sondern auch Muskelhypotonie und eine motorische Entwick- lungsverzögerung festgestellt. Zudem hat er einen ausgeprägten Bewegungsdrang und selbst kein Gefahrenbewusstsein. Im Alltag bedeutet das: Es schließt sich bei dem Fünfjährigen an eine sehr aktive Phase häufig eine totale Erschöpfung an. „Er möchte dann natürlich auf den Arm und von mir getragen werden. Er wiegt allerdings mittler- weile 16 Kilo, das schaffe ich dauerhaft nicht mehr", erzählt Maja R. Genau für solche Fälle gibt es sogenannte Reha-Buggys. Sie sind speziell auf Kinder mit Toms Bedürfnissen ausgerichtet. „Ein herkömmlicher Buggy funktioniert in dem Fall leider alleine schon Mittendrin: aufgrund seines Gewichts nicht", so die 42-Jährige. Für Kinder mit Behin- Deshalb beantragt sie die Übernahme der Kos- derung bedeuten ten – über 2.200 Euro – bei ihrer Krankenkasse. Reha-Buggys oder spezi- elle Kinderwagen oft die Möglichkeit, mit dabei zu sein. Foto: Adobe Stock
10 Schwarzbuch 2021/2022 Gesundheit/Krankenkasse 11 Nach langem Kampf: MS-kranker Rollstuhlfahrer erhält Treppenlift SoVD-Widerspruch hat Erfolg Stefan Biernath ist durch eine Erkrankung auf Biernath ins Erdgeschoss seines Hauses ziehen. einen Rollstuhl angewiesen. Er wünscht sich, Als Begründung dient der Kasse ein Gutach- dass er mit einem Fahrstuhl in das Obergeschoss ten des Medizinischen Dienstes (MD). Darin seines Wohnhauses gelangen kann, das barrie- wird festgestellt, dass das Erdgeschoss ebenso refrei ausgebaut ist. Eine Kostenübernahme für als Wohnraum genutzt werden könne und der Material und Einbau lehnt die Betriebskranken- Einbau eines Fahrstuhls unnötig sei. Das sieht kasse Mobil Oil zunächst ab. Gegen diese Ent- Biernath allerdings ganz anders. „Das Erdge- scheidung legt der Sozialverband Deutschland schoss ist so schlecht geschnitten, dass ich dort (SoVD) erfolgreich Widerspruch ein. mit dem Rollstuhl nicht klarkomme“, erklärt er. Aufgrund der gesundheitlichen Folgen einer Das bestätigt auch sein Pflegedienst „Therapie- Multiplen Sklerose (MS)-Erkrankung ist der zentrum und Sozialdienste Emlichheim“, der in Unüberwindbar: Die Treppe zum Obergeschoss seines Hauses ehemalige Lkw-Fahrer Stefan Biernath auf einen einer Stellungnahme deutlich macht, dass das bedeutet für Stefan Biernath ein ernormes Hindernis. Mit Hilfe Rollstuhl angewiesen. Da er Untergeschoss nicht barrierefrei des SoVD hat er erreicht, dass ihm ein Rollstuhltreppenlift von die Diagnose MS erst erhält, ist. „Oben sind die Räume von der Krankenkasse bezahlt wird. als ein großer Teil seines „Ich kann nicht einem großzügigen Flur aus zu Foto: Heinrich Schepers Einfamilienhauses bereits fer- erreichen und auf seine Bedürf- tiggestellt ist, kann nur noch verstehen, warum nisse abgestimmt“, heißt es in das Obergeschoss barrierefrei die Lösung, die ich der Stellungnahme. Ein vom MD gestaltet werden, das Biernath vorgeschlagener barrierefrei- nun aufgrund seiner schwe- mir wünsche und er Umbau des Erdgeschosses einfachste Weg wäre, nicht bewilligt wurde“, so heim nochmals bestätigt“, so der Sozialberater. ren Gehbeeinträchtigung nur noch sehr selten verlassen die der einfachste sei laut Biernath mit großen bautechnischen Schwierigkei- Biernath. Doch er will sich trotz dieser Rückschläge Der Verweis der Kasse darauf, dass bauliche Maß- nahmen wirtschaftlicher seien, sei demzufolge kann. „Runter geht es noch, Weg wäre, nicht ten verbunden. Einen Anbau nicht entmutigen lassen und sucht Hilfe beim nicht nachvollziehbar. Dies sei im Widerspruch hoch kann ich aber kaum noch würde das Bauamt der Stadt SoVD in Nordhorn. Gegen den Bescheid der deutlich gemacht worden. laufen“, sagt der 52-Jährige. bewilligt wurde.“ nicht genehmigen, da hierfür Krankenkasse legt der SoVD Widerspruch ein. Einige Wochen nach Versand des Wider- Dabei ist er gerne draußen und der Platz fehle. Ohnehin sei ein „Es sprachen einige Gründe dafür, dass dem spruchs kommt für Biernath die gute Nachricht, möchte auch weiterhin am gesellschaftlichen Umbau viel kostenaufwändiger als der Einbau Wunsch von Herrn Biernath entsprochen werden dass der Einbau eines Treppenlifts von der Leben teilhaben. Sein Wunsch ist es, dass ein des gewünschten Fahrstuhls, wie der 52-Jäh- sollte“, sagt Sozialberater Joachim Feldkamp aus Betriebskrankenkasse Mobil Oil bewilligt wird. Fahrstuhl eingebaut wird, der ihn zusammen mit rige versichert, der sich bereits über passende dem SoVD-Beratungszentrum. „Dass er nicht ins Der Lift wird ein paar Wochen später installiert. seinem Rollstuhl in die erste Etage bringt. Fahrstuhlmodelle und deren Preise informiert Erdgeschoss umziehen kann, hat Herr Biernath „Ich habe mich sehr gefreut und bin sehr erleich- Doch eine Kostenübernahme lehnt seine hat. „Ich kann deshalb nicht verstehen, warum überzeugend dargelegt und wurde durch das tert, dass ich jetzt problemlos in meine Räume Krankenkasse zunächst ab. Stattdessen soll die Lösung, die ich mir wünsche und die der beigefügte Attest des Therapiezentrums Emlich- gelangen kann“, erzählt Biernath.
12 Schwarzbuch 2021/2022 Gesundheit/Krankenkasse 13 Blindenführhund: Kranken- Daraufhin wendet sich Frank S. zur Unterstützung an den SoVD. „Es ist leider nicht ungewöhnlich, dass Krankenversicherungen Anträge aus Kos- nis für die Argumente der TK. Vor allem ärgert er sich darüber, dass die Krankenkasse den beige- fügten Untersuchungsbericht seines Ohrenarztes kasse lenkt ein tengründen ablehnen und auf andere Hilfsmittel verweisen“, weiß Anja Gieselmann, Sozialberaterin im SoVD-Beratungszentrum Hannover. Die Anschaf- nicht ernstgenommen hat. Für ihn ist aber klar, dass er nicht aufgeben wird: „Ich habe gleich gesagt: ‚Dann klagen wir eben.‘“ Im Juli SoVD-Mitglied bekommt nach langwierigem fungskosten für speziell ausgebildete Blindenführ- hunde liegen bei etwa 25.000 Euro, dazu kom- 2020 reicht Gieselmann beim Sozialgericht Hannover eine „Ich habe gleich gesagt: ‚Dann Klageverfahren Recht men fortlaufende Haltungskosten. „Blinde haben Klage gegen die TK ein. In der Anspruch auf Behinderungsausgleich, der es ihnen Hoffnung, die Entscheidung klagen wir eben.‘“ ermöglicht, sich sicher und unabhängig zu bewe- zu beschleunigen, beauftragt eine Sehbehinderung auszugleichen. Anspruchsbe- gen. Dieses Hilfsmittel muss geeignet, erforderlich Frank S. ein Gutachten über sein Hörvermögen. Ein rechtigt sind Personen, die blind oder hochgradig und verhältnismäßig, also wirtschaftlich, sein“, unabhängiger Arzt untersucht ihn noch einmal ganz sehbehindert sind. Doch oftmals werden Ansprüche schildert Gieselmann. Für die Sozialberaterin ist genau und erstellt ein 21-seitiges Gutachten. Dieses abgelehnt – wie im Fall des SoVD-Mitglieds Frank jedoch unverständlich, dass die Krankenkasse nur bestätigt, dass eine erhebliche Hörminderung S. (Name geändert). Erst im Klageverfahren, das nach Aktenlage entscheidet. vorliegt. Nach einem Jahr im Klageverfahren lenkt der SoVD für sein Mitglied führt, lenkt die Kranken- Der SoVD legt für Frank S. Widerspruch bei der die TK ein und erkennt den Anspruch auf einen kasse schließlich ein. TK ein und begründet darin genau, warum ein Führhund an. Seit einigen Monaten lebt der Hund Aufgrund der fortschreitenden Augenerkran- Führhund zur Fortbewegung und Orientierung bei ihm. Damit aus Halter und Hund ein Team wird, kung Retinitis pigmentosa bleibt dem 53-jährigen erforderlich sei: Denn neben dem Sehen ist auch gebe es eine Einweisung der Führhund-Schule, die Frank S. nur ein kleiner Sehrest. Im Verlauf der nicht sein Hörvermögen deutlich eingeschränkt. „Die Hör- noch nicht abgeschlossen sei, berichtet Frank S. heilbaren Erkrankung vermindert sich die Sehfä- minderung ist so stark Noch stimmen sich beide genau aufeinander ein. higkeit durch eine zunehmende Zerstörung der ausgeprägt, dass Herr „Natürlich ist das auch mit Arbeit verbunden“, sagt Netzhaut. Viele Jahre lang habe er sich gut mit dem „Die Krankenkasse S. Geschwindigkeiten er. „Aber meine Frau und ich sind sehr froh, dass der Langstock fortbewegen können, sagt Frank S. Aber hätte ein aktuelles und Entfernungen von Hund nun da ist und freuen uns darüber, was er mir da die Krankheit voranschreitet und in den vergan- Fahrzeugen, vor allem ermöglicht und zurückgibt.“ Gutachten einho- genen Jahren weitere körperliche Einschränkungen von E-Autos, nicht hinzugekommen sind, beantragt er 2018 bei seiner len können.“ einschätzen kann“, Krankenversicherung, der Techniker Krankenkasse sagt Gieselmann. (TK), die Kostenübernahme für einen Blindenführ- Aufgrund der Blindheit und der Hörminderung sei hund. „Ich habe eine augenärztliche Verschreibung Frank S. im Straßenverkehr sehr gefährdet und für den Führhund mitgeschickt und einen Kosten- ein Langstock nicht hilfreich, schildert sie. Zudem voranschlag für die Anschaffung beigefügt“, erzählt habe er eine Einschränkung der Wirbelsäule, die Fest an der Seite: Damit ein Blindenführhund gut führen lernen kann, er. Frank S. hat gründlich über die Entscheidung es ihm erschwere, den Langstock zu halten. Dies kommt er in jungen Jahren zu seinem*seiner Halter*in. Gemeinsam muss nachgedacht: „Ich kenne schon sehr lange die Spre- führe zudem zu Schwindel und Schulterschmerzen. ein spezielles Training absolviert werden. Foto: iStock cherin einer Führhund-Gruppe und habe 15 Jahre Frank S. hat bereits zwei große Rücken-Operatio- lang überlegt, ob ich mir selbst auch einen Hund nen hinter sich, bei denen Stäbe zur Stabilisierung anschaffen sollte.“ Denn natürlich bedeute das auch seiner Wirbelsäule eingesetzt wurden. Doch auch Gesetzlich Krankenversicherte haben einen viel Verantwortung für ein Lebewesen, so Frank S. den Widerspruch des SoVD weist die TK nach einem Anspruch auf Hilfsmittel, die eine bei ihnen Doch die TK schickt einen negativen Bescheid Jahr ab. Gieselmann kann diese Entscheidung vorliegende Behinderung ausgleichen. So kön- und lehnt die Kostenübernahme für den Führhund nicht nachvollziehen: „Die Krankenkasse kennt die nen Krankenversicherungen grundsätzlich auch ab. Stattdessen schlägt die Krankenkasse vor, das Grunderkrankungen des Mitglieds und hätte ein Anschaffungs- und Haltungskosten für einen SoVD-Mitglied solle den Langstock benutzen und aktuelles Gutachten über seine Einschränkungen Blindenführhund übernehmen, da dieser hilft, verweist auf einen Hindernismelder als Hilfsmittel. einholen können.“ Auch Frank S. hat kein Verständ-
14 Schwarzbuch 2021/2022 Gesundheit/Krankenkasse 15 Krankenkasse verweigert dersachsen-Bremen in Celle. Eilverfahren und Klage vor dem Sozialgericht Hannover sind zunächst gegen das Urteil des Landessozialgerichtes, das im Januar 2017 zugunsten Michael K.s ausfällt, Rentner lebenswichtige erfolglos, jedoch in zweiter Instanz vor dem Landes- Revision eingelegt. Doch das Bundessozialge- sozialgericht erfolgreich. „Somit konnten aufgrund richt fällt kein richtungsweisendes Urteil, sondern der positiven Eilentscheidung des Landessozi- verweist den Rechtsstreit zur erneuten Verhand- Behandlung algerichts die Therapie mit den Immunglobuli- lung und Entscheidung an das Landessozialgericht nen an der MHH zumindest vorerst weiterlaufen Niedersachsen-Bremen zurück. Die abschließen- und lebensbedrohliche Situationen abgewendet de juristische Auseinandersetzung findet dann werden“, berichtet Thiede. Schließlich hätten die abermals dort statt. „Bis dahin war es eine harte SoVD klagt erfolgreich für 84-Jährigen Medikamente nachweislich geholfen. Die Verpflich- juristische Konfrontati- tung der Krankenkasse zur Kostenübernahme der on“, resümiert Thiede. Das Therapie steht jedoch unter dem Vorbehalt einer Verfahren endet schließlich „Ich bin eigentlich ein Michael K. (Name geändert) ist durch eine Erkran- schweren Infektionen hat sich durch die Therapie endgültigen gerichtlichen Entscheidung, sodass im Mai 2019. Nachdem die ruhiger Typ, aber das kung auf eine regelmäßige Behandlung mit Anti- stark reduziert“, sagt der Rentner. Auch Schmidt, der Kläger während der gesamten weiteren Ver- Krankenkasse selbst ein hat mich sehr aufge- körpern, sogenannten Immunglobulinen, angewie- der Michael K.s behandelnder Arzt geblieben ist, fahrensdauer befürchten muss, die entstandenen Gutachten in Auftrag gibt, sen. Doch obwohl sich der Gesundheitszustand des zeigt sich überzeugt, dass die Behandlungsmethode Kosten doch noch selbst tragen zu müssen. „Ich bin welches zugunsten Michael regt und belastet.“ 84-Jährigen dadurch erheblich gebessert hat, ist effektiv hilft. eigentlich ein ruhiger Typ, aber das hat mich sehr K.s ausfällt, erkennt sie Michael K.s Krankenkasse nicht mehr bereit, die Bis 2009 hat Michael K. durch die Medikamen- aufgeregt und belastet“, so Michael K. Vor allem der schließlich nach zehn Jahren den Anspruch des Therapiekosten zu tragen. Der SoVD klagt erfolg- te, die ihm in der MHH ambulant verordnet und lange Zeitraum, in dem er keine Sicherheit gehabt Klägers in vollem Umfang an und übernimmt die reich gegen die Entscheidung. verabreicht werden, ein einigermaßen sorgen- habe, ob das Gericht endgültig zu seinen Gunsten entstandenen Kosten aller Instanzen. Michael K. leidet seit 1992 an einer seltenen freies Leben. Doch nach einer Überprüfung seines entscheiden würde, habe ihn stark mitgenommen. „Ich habe nun endlich Sicherheit, dass die Erkrankung, die dazu führt, dass sein Immunsystem Gesundheitszustandes durch den Medizinischen Durch mehrere Instanzen wird von Seiten der Behandlung auf Kosten der Krankenkasse wei- nicht mehr richtig arbeitet. Der ehemalige Bergar- Dienst (MD) bestreitet seine Krankenkasse, dass Krankenkasse immer wieder bestritten, dass die tergeführt werden darf und ich bin deswegen beiter hat deshalb immer wieder Lungenentzün- die Behandlung notwendig sei und erklärt dem Erkrankung lebensbedrohlich sei, obwohl zwei unheimlich erleichtert“, sagt der 84-Jährige. Dem dungen, die schwer verlaufen. Mehr als einmal war Rentner, dass sie diese nicht weiter bezahlen werde. Sachverständigengutachten aus 2011 und 2013 SoVD ist Michael K. sehr dankbar. „Ich bin froh, dass sein Zustand lebensbedrohlich. „Am Anfang musste Als Begründung gibt die Krankenkasse ein Gut- sowie die Einschätzung des behandelnden Immu- ich mir damals Hilfe beim SoVD gesucht habe. Das ich bis zu sechsmal im Jahr behandelt werden. Ich achten des MD an, in dem dargelegt wird, dass die nologen dies feststellen und der Kläger seit 1992 war eine wichtige und gute Entscheidung“, sagt er kann nicht sagen, wie oft ich schon in einer Klinik Erkrankung nicht akut lebensbedrohlich sei. „Ich nachweislich an zahlreichen Pneumonien erkrankt und ergänzt: „Ich bin hier richtig beraten worden, lag, weil es mir so schlecht ging“, sagt der 84-Jäh- war sehr geschockt, als mir mitgeteilt wurde, dass ist, die häufig in eine Sepsis münden. Schließlich das Verfahren lief sehr gut für mich und auch der rige. Die übliche Behandlung mit Antibiotika habe die Behandlung abgebrochen werden soll“, sagt der kommt das Verfahren 2017 an das Bundessozi- ermutigende Zuspruch von Frau Thiede hat mir sehr immer nur vorübergehend geholfen. Es stellen sich 84-Jährige. Für ihn steht fest, dass er sich mit dieser algericht in Kassel, nachdem die Krankenkasse geholfen.“ zunehmend Resistenzen ein und es muss auf soge- Haltung der Krankenkasse nicht abfinden will. nannte Reserveantibiotika zurückgegriffen werden. So beginnt für K. ein zehnjähriger Kampf um die Erst 1998, nachdem Michael K. sich an die Medizi- Fortführung der für ihn so wichtigen Behandlung. nische Hochschule Hannover (MHH) wendet, kann Unterstützt wird er dabei vom SoVD, der umgehend die richtige Diagnose gestellt und eine geeignete Widerspruch gegen die Entscheidung der Kran- Therapie gefunden werden. Der Direktor der Klinik kenkasse einlegt. „Dass diese für Herrn Schulze für Immunologie und Rheumatologie der MHH, Prof. notwendige Therapie nicht weitergeführt werden Dr. Reinhold Ernst Schmidt, diagnostiziert damals durfte, war schon eine harte Entscheidung der Lebenswichtig: ein „Antikörpermangelsyndrom bei monoklonaler Krankenkasse“, findet Karin Thiede, die als Juristin Durch die Gabe von Gammopathie unbestimmter Signifikanz“. Michael für den SoVD-Landesverband Niedersachsen arbei- Immunglobulinen K. bekommt seither alle zwei bis drei Wochen Anti- tet und das Eil- und Berufungsverfahren betreut. hat sich die Zahl der körper, die sein Immunsystem unterstützen. Durch Nachdem die Kasse dem Widerspruch nicht schweren Infektionen bei Michael K. stark die Gabe dieser sogenannten Immunglobuline hat stattgibt, klagt der SoVD in Vertretung für den reduziert. sich sein Gesundheitszustand erheblich verbes- 84-Jährigen zunächst vor dem Sozialgericht in sert. „Ich bin zwar nicht geheilt, aber die Zahl der Hannover, dann vor dem Landessozialgericht Nie- Foto: iStock
16 Schwarzbuch 2021/2022 Gesundheit/Krankenkasse 17 Wegen Blindheit: Rollstuhl angewiesen ist. Dazu kommt, dass er durch seine Erkrankung erblindet ist. Deshalb ordnungsgemäß führen könne, widerlegt werden konnte“, sagt Rethmeier, der Helge Sydow in der Krankenkasse will Elektro- nimmt Sydow 2016 an einer Orientierungs- und nächsten Instanz vor dem Landessozialgericht Mobilitätsschulung für blinde Menschen teil. Durch (LSG) Niedersachsen-Bremen vertritt. „Ich hatte die starke Einschränkung der linken Körperhälfte ist von vorneherein das Gefühl, dass das Ganze extra Rollstuhl nicht zahlen diese Schulung für Sydow jedoch nicht ohne Unter- in die Länge gezogen wurde. Vermutlich, damit ich stützung in einem normalen Rollstuhl möglich. Also einfach aufgebe“, mutmaßt Sydow. Doch auch das imitiert die Schulungsleitung kurzerhand durch LSG entscheidet im Dezember 2021 zugunsten von Schieben ein motorisiertes Hilfsmit- Sydow: Die Krankenkasse muss ihn Mit Hilfe des SoVD bekommt Mitglied nach über drei tel. So bekommt Sydow die Möglich- „Das wollte ich mit einem Elektro-Rollstuhl versor- keit, auszuprobieren, ob er sich mit gen. „Dass das Landessozialgericht Jahren Hilfsmittel dieser Art von Rollstuhl und seinem so nicht stehen selbst mit dem Fall an die Öffentlich- Langstock sicher fortbewegen kann keit gegangen ist, unterstreicht für – mit Erfolg. Was seine Krankenkasse lassen und habe uns noch einmal das inakzeptable Helge Sydow ist durch seine Erkrankung am eines solchen Rollstuhls unmöglich. Mit Hilfe des allerdings nicht anerkennt. mir Hilfe beim Verhalten der zuständigen Kranken- Devic-Syndrom, einer entzündlichen Autoimmuner- SoVD kann er das Gegenteil beweisen und nach Als sich Helge Sydows Gesund- kasse. Außerdem freut es uns natür- krankung des zentralen Nervensystems, nicht mehr über drei Jahren bewilligt die Krankenkasse endlich heitszustand verschlechtert und SoVD geholt.“ lich besonders für Herrn Sydow, dass im der Lage, einen gewöhnlichen Rollstuhl selbst einen Elektro-Rollstuhl. es ihm kaum noch möglich ist, mit in dem Beschluss der neudefinierte, zu bedienen und somit ständig auf die Hilfe anderer Der 58-jährige Helge Sydow leidet am einem gewöhnlichen Rollstuhl im Alltag eigenstän- dynamische Behindertenbegriff berücksichtigt angewiesen. Um mehr Eigenständigkeit zurückzu- Devic-Syndrom. Im fortschreitenden Verlauf der dig mobil zu sein, wird ihm 2018 ein Elektro-Roll- wurde, nachdem Teilhabe und eine Ermöglichung gewinnen, beantragt er bei der Krankenkasse einen Krankheit hat er einen Schlaganfall, wodurch stuhl ärztlich verordnet. Aber die Krankenkasse der individuellen Lebensplanung im Vordergrund Elektro-Rollstuhl – doch diese lehnt ab. Die Begrün- besonders seine linke Körperhälfte stark bewe- lehnt seinen Antrag wegen Zweifel an seiner Fahr- stehen“, so Rethmeier. dung: Sydows Blindheit macht das sichere Führen gungseingeschränkt und er weitgehend auf einen tauglichkeit ab und der eingelegte Widerspruch Aber auch mit dem Beschluss muss Helge Sydow wird aufgrund eines Gutachtens des Medizinischen noch auf sein Hilfsmittel warten. Das Problem: Den Dienstes, das ähnlich begründet, ebenfalls zurück- Rollstuhl, den er 2018 beantragt hatte, gibt es inzwi- gewiesen. „Das wollte ich so nicht stehenlassen und schen nicht mehr. Daher verlangt die Krankenkasse habe mir deshalb 2019 beim SoVD Hilfe geholt“, nach dem Urteil des LSG vom zuständigen Roll- Was lange währt, wird endlich erklärt Sydow. Mit der Unterstützung des SoVD-Be- stuhlhändler, Informationen zu einem möglichst gut: Helge Sydow muss erst vor Gericht klagen, damit ratungszentrums klagt er dieses Mal vor dem Sozi- ähnlichen Rollstuhl zu liefern. Dieser schickt einen seine Krankenkasse ihm einen algericht in Lüneburg. „Das Sozialgericht ist Ende Fragebogen mit zahlreichen Fragen zum Ersatzmo- E-Rolli bezahlt. 2020 zu der Einschätzung gelangt, dass von Herrn dell und einen Kostenvoranschlag an die Kranken- Foto: Muzaffer Cat Sydow durch die Nutzung eines Elektro-Rollstuhls kasse. Danach vergehen einige Monate, bis Sydow keine größere Gefahr ausgeht als von einem Fuß- Anfang 2022 endlich positive Nachrichten erhält. gänger und er das Hilfsmittel zwingend benötigt“, „Ich weiß gar nicht, ob ich lachen oder weinen soll. so Frank Rethmeier, Leiter des Sachgebiets Sozial- Über drei Jahre nach meinem Antrag bekomme ich recht des SoVD-Landesverbands Niedersachsen. endlich meinen so ersehnten Elektro-Rollstuhl", Doch die AOK stellt sich weiterhin quer und geht freut sich Helge Sydow. in Berufung. „Es ist ein Unding, dass die Kranken- kasse Herrn Sydow den zur Teilhabe dringend benötigten Rollstuhl wiederholt verweigert hat, obwohl die vorgebrachte Begründung, dass er durch seine Blindheit einen Elektro-Rollstuhl nicht
Pflege 19 steht ein Begutachtungstermin durch den Medizi- stützung. Das haben Ärzte ebenfalls festgestellt“, nischen Dienst (MD) an. Eine Mitarbeiterin des MD erklärt Mühlenbeck. Sie könne sich deshalb nicht kommt dazu bei ihr zu Hause vorbei. „Da habe ich erklären, warum dies nicht entsprechend im MD-Gut- mich drauf eingestellt und es ist ja auch notwendig“, achten vermerkt worden sei. Als die Sozialberaterin sagt die Emsländerin. Doch mit dem Vorgehen der den Fall mit Droste durchspricht, schildert diese ihr Gutachterin bei diesem Termin zeigt sich die 66-Jäh- den Gesprächsverlauf während des Gutachtens und rige überhaupt nicht einverstanden. „Das ging gar besteht sofort darauf, dass bei der Folgebegutach- nicht, wie sich die Frau mir gegenüber verhalten hat“, tung ein*e andere*r MD-Mitarbeiter*in ihre gesund- sagt Droste: „Ich sollte mit ihr nach oben gehen und heitliche Situation beurteilen soll. „Das verdeutlicht, die Räume zeigen.“ Als sie aber angibt, dass sie nach dass die Gutachterin einen sehr negativen Eindruck dem Treppenaufstieg eine längere Pause brauche, hinterlassen hat“, so Mühlenbeck. Mehr Hilfe: Menschen, die Multiple Sklerose haben, sei dies der MD-Mitarbeiterin nicht schnell genug Überrascht ist Mühlenbeck zudem, dass in den PFLEGE benötigen häufig Unter- gegangen. „Die wurde richtig grantig“, erinnert sich Fall nur langsam Bewegung kommt. „Den frist- stützung im Alltag. Nicht Droste. Ihre Tochter habe dann die Räume gezeigt. wahrenden Widerspruch haben wir schon Ende immer wird diese durch die Im weiteren Verlauf der Begutachtung habe sie dann Juni 2019 erhoben. Am 14. August habe ich mich Pflegekasse gewährt. gemerkt, dass ihr die Mitarbeiterin offenbar nicht telefonisch nach dem Sachstand erkundigt und die Foto: Lennart Helal mehr wohlgesonnen zu sein scheine. „Sie war sehr Aussage erhalten, dass die Unterlagen an den MD unfreundlich. Ich hatte den Eindruck, dass sie viele weitergeleitet wurden“, so die SoVD-Beraterin. Ihr Dinge offensichtlich falsch aufgenommen hat, die sei mitgeteilt worden, dass der MD bei der Vergabe ich ihr über meine Einschränkungen berichtet habe“, eines Termins für die Folgebegutachtung etwa drei erklärt Droste. Wirklich ernst genommen fühlt sie Monate benötige. Doch erst im November kommt Gutachterin schätzt sich nicht. Wenig überrascht ist Droste dann auch, als ihr von der Techniker Krankenkasse im Juni 2019 eine Antwort der Krankenkassen mit einem neuen Begutachtungstermin, der für Anfang Dezember Pflegebedarf falsch ein mitgeteilt wird, dass sie einen höheren Pflegegrad angesetzt wird. „Das dauert viel zu lange“, findet nicht bekommen werde. Mühlenbeck. Droste sei jedoch kein Einzelfall. Die Begründung macht Droste noch heute Einige Betroffene müssten sogar sechs Monate wütend. „Das ging völlig an dem vorbei, was tatsäch- Wartezeit und damit entsprechende Nachteile in MS-Kranke wartet fünf Monate auf Entscheidung lich gesundheitlich mit mir los ist“, findet sie. So sei Kauf nehmen. Wenn es um eine Folgebegutachtung der tatsächliche Pflegeaufwand wesentlich höher gehe, müsse schneller gehandelt werden, findet als in der Begründung angegeben. Auch deute das die Sozialberaterin. Der Pflegebedarf bestehe, wie Mechthild Droste ist an Multipler Sklerose (MS) hen und Laufen ist ihr nur noch sehr eingeschränkt Gutachten an, dass sie ihren Haushalt fast selbst- bei Mechthild Droste, schließlich weiterhin. Wegen erkrankt. Nach einem schweren Schub stellt sie und mit Hilfsmitteln wie einem Rollator möglich. ständig führen könne. „Wie soll ich das mit meinen möglicher Fehler im Erstgutachten sei eine Ver- einen Antrag, um einen höheren Pflegegrad zu Vor allem ihr Ehemann und ihre Tochter stehen ihr Einschränkungen machen? Ich kann nicht einmal sorgung der Betroffenen durchaus gefährdet. „Frau erhalten. Eine Gutachterin lehnt dies jedoch mit der in dieser schweren Zeit zur Seite und unterstützen das Essen in einem Topf umrühren“, erzählt Droste. Droste hat ihren Mann und ihre Tochter, die sie Begründung ab, dass die schwerkranke Frau noch sie. „Ich bin meinem Mann und meiner Tochter sehr Bei allen Haushaltsangelegenheiten und zum Teil unterstützen. Bei alleinstehenden Personen käme selbstständig genug sei, um sich im Alltag überwie- dankbar, dass sie für mich da sind“, sagt die 66-Jährige. auch bei der Körperpflege und beim Anziehen sei sie es aber zu Schwierigkeiten, wenn sie Hilfe benöti- gend eigenständig zu helfen. Tatsächlich ist Droste Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Augu- auf Hilfe angewiesen. „Das habe ich eigentlich auch gen, die sie aber nicht erhalten, wenn der Pflege- aber auf vielfältige Unterstützung angewiesen. Der stahospital Anholt, das auf die MS-Erkrankung spe- deutlich gemacht“, sagt sie. grad nicht passt“, so Mühlenbeck. SoVD hilft ihr schließlich bei der Durchsetzung des zialisiert ist, geben ihr 2019 die behandelnden Ärzte Droste zeigt das Gutachten ihren behandeln- Dank des SoVD-Widerspruchs und des Einsat- ihr zustehenden Pflegegrades. zu verstehen, dass sie mit Blick auf ihre fortschrei- den Ärzten. Die raten ihr, Widerspruch gegen den zes der Sozialberaterin kann schließlich erreicht Mechthild Droste hat MS mit vorherrschendem tende Erkrankung einen höheren Pflegegrad bei der Bescheid einzulegen. Dazu holt sie sich Hilfe beim werden, dass der MD ein neues Gutachten erstellt. schubförmigem Verlauf. Vor rund zwei Jahren kommt Krankenkasse beantragen solle. „Sie haben deutlich SoVD. Sozialberaterin Julia Mühlenbeck, die den Daraufhin wird dem Widerspruch zum Teil statt- es zu einem schweren Schub. Seitdem muss sie mit gemacht, dass ich Anspruch auf mehr Unterstützung Beratungsfall betreut, zeigt sich erstaunt, dass die gegeben: Am 11. Dezember 2019 – nach über fünf erheblichen gesundheitlichen Folgen leben: Sie durch die Pflegekasse habe“, so Droste. schwer erkrankte Frau durch das Gutachten für prak- Monaten – wird Mechtild Droste von der Pflege- kann ihre Hände kaum noch benutzen, da sie kein Den Antrag auf die Gewährung des Pflegegrades tisch gesund erklärt wird. „Frau Droste ist offensicht- kasse mitgeteilt, dass sie rückwirkend ab dem 1. Juli Gefühl mehr in ihren Fingern hat und auch das Ste- 2 stellt sie umgehend. Nur wenige Wochen später lich stark eingeschränkt und braucht täglich Unter- 2019 den Pflegegrad 2 erhält.
20 Schwarzbuch 2021/2022 Pflege 21 Wenn der Pflegegrad auf Fest steht für sie, dass sie sich mit der Ein- schätzung der MD-Mitarbeiterin nicht abfinden Der Widerspruch des SoVD hat am Ende Erfolg. Es folgt eine Einigung mit der zuständigen Kasse einmal weg ist: SoVD kämpft will. Ihr Gesundheitszustand habe sich schließlich zugunsten von Kerstin Günther. „Ich bin froh, dass nicht verbessert, sondern verschlimmert. Arme ich meinen Pflegegrad behalten durfte und sich die und Hände kann sie immer schlechter bewegen. Einstätzung der MD-Gutachterin als Fehler heraus- für Mitglied „Mit den Jahren habe ich Rückenprobleme bekom- stellte“, sagt das SoVD-Mitglied. Dem Verband sei men, da ich ständig in einer Schonhaltung bin sie für die Hilfe beim Widerspruch sehr dankbar. und außerdem Bewegungen machen muss, für die die Wirbelsäule nicht ausgelegt ist“, berichtet Gesundheitszustand falsch beurteilt / Günther. Zwar überlegt sie sich einige Strategien, um wenigsten einfache Tätigkeiten zu verrichten. Einschränkungen werden sich nicht bessern Doch auch diese fallen ihr zunehmend schwerer. So schafft sie selbst das Heben eines Glases kaum noch. Beim Führen des Haushaltes ebenso wie bei Obwohl Kerstin Günther eine Fehlbildung beider kreis Wolfsburg. Aus ihrer Sicht seien viele der im der Körperpflege besteht Hilfebedarf. Ohne das Arme und Hände hat, kommt eine Gutachterin des Gutachten aufgeführten Punkte über ihren Gesund- Geld der Pflegekasse steht Günther nun vor großen Medizinischen Dienstes (MD) zu dem Schluss, dass heitszustand nicht den Tatsachen entsprechend Problemen. Ihre Schwester ist in dieser Situation sie selbstständig genug ist, um ihren Alltag ohne dargestellt worden. für sie eine wichtige Stütze. Sie kommt jeden Tag Hilfe zu bewältigen. Ein bestehender Pflegegrad Warum die MD-Mitarbeiterin zu solch einer für mehrere Stunden und hilft Günther, wo sie kann. wird ihr von ihrer Pflegekasse aberkannt. Der SoVD Beurteilung ihres Gesundheitszustandes gekom- „Ohne sie wäre ich richtig aufgeschmissen“, betont unterstützt sie, damit sie die Hilfe erhält, die ihr men ist, bleibt für Günther bis heute ein Rätsel, Günther. zusteht. denn seit ihrer Geburt hat sie eine Fehlbildung an Damit sie diese Auseinandersetzung um den Für Kerstin Günther überraschend steht im Mai beiden Armen und Händen. Diese sind verkürzt und Pflegegrad nicht alleine ausfechten muss, sucht 2019 eine Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes die Beweglichkeit aller Gelenke ist stark einge- sich Günther Unterstützung im SoVD-Beratungs- (MD) vor ihrer Haustür. Sie müsse ihren Gesund- schränkt. Zudem sind ihre Schultern nicht richtig zentrum Wolfsburg. „Es hätte wegen der Ein- heitszustand überprüfen und feststellen, ob der ausgebildet. Außerdem sind die Beine betroffen, schränkungen, die Frau Günther aufgrund ihrer Pflegebedarf dem aktuellen Pflegegrad entspreche, wenn auch nicht Behinderung hat, eigentlich völlig unstrittig sein habe diese der 56-Jährigen mitgeteilt. Günther lässt im gleichen „Es kann ihr nicht zum müssen, dass bei ihr ein Pflegebedarf besteht“, sagt die MD-Mitarbeiterin in ihre Wohnung, obwohl Ausmaß wie die Nachteil ausgelegt werden, SoVD-Berater Dietmar Egel. Dass Günther in eini- ihr diese Überprüfung laut eigener Aussage nicht Arme. Da sie auf dass sie trotz ihrer Behinde- gen Lebenslagen darum bemüht sei, selbstständig angekündigt wurde. Sie habe zahlreiche Fragen Unterstützung zu bleiben, sei indes kein Indiz dafür, dass sie völlig rung das größtmögliche beantworten müssen, berichtet Günther. „Ich hatte angewiesen ist ohne Hilfe zurechtkommen könne. „Es kann ihr nicht Auf dem Prüfstand: Wenn Pflegebedürftige einen Pflegegrad beantragen, währenddessen das Gefühl, dass mir die Frau nicht und der Bedarf Maß an Selbstständigkeit zum Nachteil ausgelegt werden, dass sie trotz ihrer findet eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst statt. Das kann richtig zuhört oder mich nicht verstehen will“, sagt an Hilfe stetig und Selbstbestimmtheit Behinderung das größtmögliche Maß an Selbst- manchmal jedoch schief gehen – wie im Fall von Kerstin Günther. sie. Am Ende des Besuchs habe ihr die MD-Mit- zunimmt, erhält erreichen will." ständigkeit und Selbstbestimmtheit erreichen Foto: Adobe Stock arbeiterin eröffnet, dass sie den Pflegegrad wohl sie 2009 eine will“, so Egel. Der SoVD legt sofort Widerspruch verlieren werde. Dann verlässt die MD-Mitarbeite- Pflegestufe. Diese wird ohne weitere Überprüfung gegen die Entscheidung der Pflegekasse ein, auch rin die Wohnung. Günther bleibt ratlos zurück. „Im 2017 in den sogenannten Pflegegrad 2 übergeleitet. weil Günther überzeugend darlegt, dass sich ihre Juli erhielt ich dann ein Schreiben von der Techni- Noch im Januar 2019 wird Günther von ihrer Kran- Einschränkungen nicht bessern werden. „Wir haben ker Krankenkasse, in dem man mir zur Besserung kenkasse darüber informiert, dass ihr die Leistun- der Krankenkasse mitgeteilt, dass im Fall von Frau meines Gesundheitszustandes gratulierte und mir gen der Pflegeversicherung unverändert weiterge- Günther mit zunehmendem Alter sogar von einer mitteilte, dass ich nun keinen Pflegegrad mehr währt werden. „Weshalb nur wenige Monate später Beschwerdezunahme und damit einhergehend mit benötige und somit kein Pflegegeld mehr erhalte“, trotzdem eine Überprüfung stattgefunden hat, kann Abnahme von Kompensationsmöglichkeiten auszu- sagt die fassungslose 56-Jährige aus dem Land- ich mir nicht erklären“, sagt sie. gehen ist“, erklärt Egel.
22 Schwarzbuch 2021/2022 Pflege 23 SoVD geht erfolgreich gegen Gutachten Punkt für Punkt mit Funke durch und wirklich für meine Situation und schlug sogar vor, MD-Gutachten vor stellt ebenfalls einige Ungereimtheiten fest. „Herr entsprechende Hilfsmittel einzuplanen, falls sich Funke hat glaubhaft geschildert, dass es ihm nicht mein Gesundheitszustand weiter verschlechtert“, gut geht und er viel Unterstützung im Alltag benö- so Funke. Tatsächlich tigt“, so Fricke. Im Gutachten spiegele sich dies aber kommt das Gutachten zu „Vieles, was in dem Krebspatient wird Pflegegrad verweigert in keiner Weise wider. „Da sich die gesundheitliche dem Schluss, dass Funke Gutachten angeführt Situation von Herrn Funke weiter verschlechterte, der Pflegegrad 3 zusteht. musste zügig gehandelt und Herr Funkes tatsächli- Jetzt erhält er die Hilfe, war, habe ich so über- Weil Dieter Funke wegen einer schweren Krebs- unproblematisch läuft“, erklärt der 58-Jährige. cher Pflegebedarf detailliert vorgetragen werden“, die er benötigt. „Die haupt nicht gesagt.“ erkrankung viel Hilfe im Alltag benötigt, beantragt Doch bei der telefonischen Begutachtung durch sagt der Sozialberater. Weil sich der MD einige Sache ist am Ende gut er einen Pflegegrad. Doch eine mögliche Unterstüt- den Medizinischen Dienst (MD) kommt die Gutach- Wochen mit einer Antwort Zeit lässt, macht Fricke für mich ausgegangen. Ich bin dem SoVD und Herrn zungsleistung der Pflegekasse wird ihm verweigert. terin zu einer ganz anderen Einschätzung. Funke mit Schreiben an die zuständige Pflegekasse Druck Fricke für diesen Einsatz sehr dankbar“, erklärt der Er sei gesund genug, um sich selbst zu helfen, sagt sei gesund genug, um seinen Alltag selbstständig und erinnert an die Dringlichkeit der Situation. 58-Jährige. eine Gutachterin des Medizinischen Dienstes (MD). zu bewältigen, so das Fazit. Eine Unterstützungs- Am Ende wird Funke erneut telefonisch begut- Funke gelingt mit Hilfe des SoVD, erfolgreich gegen leistung seitens der Pflegekasse wird folglich nicht achtet. „Die Gutachterin, die ich nun am Telefon diese Einschätzung vorzugehen. gewährt. „Ich wusste erstmal nicht, wie es weiter- hatte, war viel zugewandter. Sie interessierte sich Im Jahr 2020 bemerkt Funke erstmals Schmer- geht“, erzählt Funke. Ohne Unterstützung durch zen im Brustbereich. Doch erst im März 2021 wird die Pflegekasse ist er auf die Hilfe von Freunden die Diagnose Lungenkrebs gestellt. Eine Immun- angewiesen. Die bekommt er auch, aber dennoch therapie schlägt fehl, der Krebs hat bereits gestreut. wird für ihn die Gestaltung seines Alltags wegen Nun bekommt Funke, neben einer Chemotherapie seiner gesundheitlichen Einschränkungen eine in Tablettenform, alle drei Wochen eine Chemo- zunehmende Herausforderung. Hinzu kommt, dass therapie über eine Infusion. „Das belastet meinen ihn die Situation auch psychisch belastete. Die Körper erheblich. Was ich früher telefonische Begutachtung habe innerhalb von wenigen Minuten ihn ständig beschäftigt. „Vieles, leisten konnte, dafür brauche ich „Was ich früher was in dem Gutachten angeführt jetzt Stunden“, berichtet Funke. Er war, habe ich so überhaupt nicht fühle sich sehr schwach. Schmer- innerhalb von gesagt“, ist sich Funke sicher. Eini- zen bestimmen seinen Alltag. wenigen Minuten ge seiner Aussagen seien falsch Die Medikamente, die er gegen verstanden worden. Darüber hin- die Symptome seiner Krankheit leisten konnte, aus habe die Gutachterin offenbar einnehmen muss, schränken ihn bei der Verrichtung von alltägli- dafür brauche ich nicht bemerkt, dass eine für ihn vorgesehenen Pflegerin dabei ist, chen Dingen zusätzlich ein. „Es jetzt Stunden.“ um ihn zu unterstützen, obwohl sie gibt gute und schlechte Tage. Aber aktiv an dem Gespräch teilnimmt. an schlechten Tagen schaffe ich Wenige Wochen später sei ihm kaum den Weg vom Bett zu meinem Sofa“, sagt er. zudem ein Grad der Behinderung von 100 zugestan- Genauer hingeguckt: Dieter Da er wegen der Folgen seiner Erkrankung den worden. „Das sind für mich schon Zeichen dafür, Funke (links) hat mit Hilfe immer stärker auf Unterstützung angewiesen ist, dass einiges bei der Begutachtung des MD falsch von Sozialberater Olav Fricke beantragt Funke bei seiner Pflegekasse eine Begut- gelaufen ist“, so Funke. Ein guter Freund rät ihm seinen ihm zustehenden achtung, um eine Einstufung in einen Pflegegrad daraufhin, sich an den SoVD zu wenden. Pflegegrad erhalten. zu erreichen. Dieser hätte ihm unter anderem Hilfe bekommt Funke schließlich im SoVD-Bera- Foto: Heinrich Schepers ermöglicht, Pflegeleistungen und Hilfe im Alltag tungszentrum Meppen. Sozialberater und Rechts- zu bekommen. „Ich war davon überzeugt, dass das anwalt Olav Fricke geht das vom MD erstellte
Soziales 25 SoVD. Ein Sozialberater hilft ihr und das Verfahren rung des Sozialamtes ein. „Dass eine 81-jährige Frau kann schnell zu ihren Gunsten erledigt werden. dazu aufgefordert wird, innerhalb einer so kurzen Doch nachdem die Grundsicherung genehmigt Frist eine neue Wohnung zu suchen, ist schon hart“, ist, nimmt die zuständige Sozialbehörde Annema- sagt Lorenz. Schließlich müsse auch das Sozialamt rie S. Wohnsituation berücksichtigen, dass eine Rentnerin im Rahmen „Wenn man so lange in Augenschein und der aktuell sehr angespannten Wohnungsmarktsitu- gearbeitet hat, ist der stellt fest, dass sie in ation nur geringe Chancen habe, eine neue Woh- einer Wohnung lebt, nung zu finden, die ihren Bedürfnissen entspreche. Gang zum Sozialamt die zu groß und zu Dass sich diese psychisch sehr belastende Situation sehr schwer.“ teuer für eine Grund- auch auf den Gesundheitszustand der Rentnerin sicherungsbezieherin ausgewirkt habe, müsse das Sozialamt anerkennen. ist. Sie erhält eine sogenannte Kostensenkungs- Als weiteres Argument führt die Sozialberaterin an, aufforderung wegen der „unangemessen hohen dass die Mieteinsparungen in keinem angemes- Unterkunftskosten“. Sechs Monate gibt ihr das Amt senen Verhältnis zu den Mehrkosten für Umzug, SOZIALES Wenig Geld: Wer – wie Annemarie für die Wohnungssuche und droht mit Abzügen der Renovierung, Kaution, Maklergebühren, Doppelmie- S. – nur eine kleine Grundsicherungsleistungen. „Das war für mich ein te und Neuanschaffungen stünden. „Frau S. könnte Rente bekommt, hat Schock“, erklärt Annemarie S. Schließlich sei dies aufgrund ihres fortge- oft Anspruch auf mit dem Rauswurf aus ihrer ebenerdigen Wohnung schrittenen Alters und ihrer „Das war für mich ein Grundsicherung. gleichzusetzen. Auf dem Wohnungsmarkt sei in der Erkrankung den Umzug Schock. Wie soll ich Foto: Sir_Oliver Preisklasse von 388 Euro, die das Amt unterstüt- nicht zumutbar alleine zen würde, keine geeignete Wohnung vorhanden, bewältigen“, so Lorenz. Der das in meinem Alter die ihren Bedürfnissen entspreche. „Ich habe viel Widerspruch des SoVD hat schaffen?“ unternommen, aber die wenigen Wohnungen, die zumindest vorübergehend in Frage kommen würden, gehen schnell unter der Erfolg. Annemarie S. darf ihre Wohnung behalten. Sozialamt droht Rentnerin Hand weg. Es ist unmöglich, etwas zu finden“, so Das Sozialamt übernimmt vorerst die Kosten. „Frau die Hannoveranerin. Ein Wechsel in einen anderen S. muss jedoch regelmäßig nachweisen, dass ihr Stadtteil wäre für die 81-Jährige mit großen Schwie- Gesundheitszustand einen Umzug nicht erlaubt“, mit Rauswurf aus Wohnung rigkeiten verbunden. „Wie soll ich das in meinem betont Lorenz. Alter schaffen?“, fragt sich die Rentnerin, die schon lange Jahre in ihrem Stadtviertel lebt. „Ich kenne mich aus. Hier habe mich mein soziales Umfeld, Hannoveranerin soll soziales Umfeld verlassen meine Einkaufsmöglichkeiten und meinen Haus- arzt“, so Annemarie S. Diese belastende Situation hat für sie, die an Diabetes leidet, auch schwere Annemarie S. (Name geändert) soll ihre Woh- zwar auf ein erfolgreiches Berufsleben zurückbli- gesundheitliche Folgen. „Da ist viel zusammenge- nung verlassen, nachdem das Sozialamt der Stadt cken und hat hart in ihrem eigenen Betrieb gear- kommen“, sagt sie. Hannover festgestellt hat, dass diese zu teuer sei. beitet. Aufgrund mehrerer Schicksalsschläge bleibt Aus diesem Grund wendet sie sich erneut an den Obwohl die 81-Jährige keine geeignete Bleibe fin- davon allerdings nur eine kleine Rente übrig. „Ich SoVD. Sozialberaterin Katharina Lorenz legt sofort det, droht das Amt mit der Kürzung ihrer Grundsi- musste Grundsicherung beantragen, damit ich wei- Widerspruch gegen die Kostensenkungsaufforde- cherungsleistungen. Der SoVD setzt sich erfolgreich terhin klarkomme“, sagt Annemarie S. Die Entschei- für die Rentnerin ein. dung, sich finanzielle Unterstützung „vom Staat“ Eigentlich geht es Annemarie S. gut. Sie hat zu holen, sei ihr nicht leichtgefallen. „Wenn man so einen großen Bekanntenkreis, trifft sich gerne mit lange gearbeitet hat, ist der Gang zum Sozialamt Freunden, ihre Tochter und ihr Sohn unterstützen sehr schwer“, sagt die Rentnerin. Doch eine Wahl sie liebevoll. Die resolute 81-Jährige hat nur dann habe sie nicht gehabt. Damit bei der Antragstel- Sorgen, wenn es um das Thema Geld geht. Sie kann lung keine Fehler passieren, wendet sie sich an den
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