Selbstbestimmung und Solidarität im Mobilen Arbeiten - Klaus ...
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spw 1 | 2021 Analyse & Strategie 79 Selbstbestimmung und Solidarität im Mobilen Arbeiten Gespräch mit Björn Böhning, Klaus Dörre und Sarah Nies1 û Björn Böhning ist seit 2018 Beamteter û Dr. Klaus Dörre ist Professor für Ar- û Sarah Nies ist Soziologin am Institut Staatssekretär im Bundesministerium für beits-, Industrie- und Wirtschaftssoziolo- für Sozialwissenschaftliche Forschung – Arbeit und Soziales (BMAS), und verant- gie an der Friedrich-Schiller-Universität ISF München und forscht zu Restruktu- wortlich für die Politikbereiche Arbeitsrecht, Jena und Mitherausgeber der spw. rierung und Wandel von Arbeit. Arbeitsschutz, internationale Beschäfti- gungs- und Sozialpolitik, Digitalisierung und Arbeitswelt sowie für die Denkfabrik Foto: © Angelika Osthues / Pressestelle FSU Foto: © Hajü Staudt des BMAS. Zuvor war er Chef der Senats- kanzlei des Landes Berlin, Mitglied des SPD-Parteivorstandes, Juso-Bundesvorsit- Blue-Collar-Bereich, aber auch im Bereich der zender und Mitglied des D64-Zentrum für digitalen Fortschritt. sozialen Dienstleistungen, nicht mobil arbeiten kann. Insofern wird sich die Arbeitsgesellschaft Foto: © J. Konrad Schmidt / BMAS ein Stück weit teilen – in Remote Worker und andere. Zweitens sehen wir in der Pandemie, spw: Wir haben in der Pandemie erlebt, dass welche Formen mobiler Arbeit sich verstär- mobiles Arbeiten eine gewisse Dynamik er- ken werden – und wir sehen die positiven und fahren hat, wobei sie in Ländern wie Däne- negativen Facetten, die damit verbunden sind. mark, Schweden oder Irland auch schon Letztere bedürfen einer politischen Antwort vorher deutlich ausgeprägter war. Wird das oder Regulierung. mobile Arbeiten auch nach der Pandemie einen dauerhaften Schub erfahren? S arah Nies: Was wir in unseren Untersu- chungen während der Corona-Pandemie B jörn Böhning: Wir haben im Rahmen der Corona-Krise diverse Szenarien für die Ar- beitsgesellschaft erstellt, denen zufolge sich der erfahren konnten, war, dass in vielen Bereichen unternehmensseitig Vorbehalte gegen das Ho- meoffice abgebaut wurden. Das gilt insbeson- Trend zum mobilen Arbeiten eher noch ver- dere im Hinblick auf Ängste, die damit verbun- stärken wird. Wir gehen davon aus, dass sich den sind, dort die Arbeit nicht kontrollieren zu mobiles Arbeiten in weiten Teilen der Erwerbs- können. Untersuchungen zeigen schon lange, gesellschaft durchsetzen wird – vielleicht nicht dass Beschäftigte im Homeoffice eher zu viel auf dem Niveau, das wir im harten Lockdown als zu wenig arbeiten. Trotzdem gab es in dieser erreicht haben, aber doch auf einem deutlich Hinsicht große Vorbehalte. Die sind glaube ich höheren Niveau als vor der Krise. Wenngleich nun in weiten Teilen abgebaut. Deshalb denke man sagen muss, dass ohnehin nur 40 Prozent ich schon, dass es einen Trend geben wird, das der Arbeitsplätze mobil arbeitsfähig sind und Homeoffice auf weitere Bereiche auszuweiten. ein Großteil der Beschäftigten, insbesondere im Gleichzeitig konnten wir sehen, dass es bislang nur einen geringen Teil regulierter Telearbeit Das Gespräch führte Stefan Stache. gibt und ganz viele Bereiche von informellem
80 Analyse & Strategie spw 1 | 2021 Homeoffice geprägt oder nur lokal geregelt Schon vor der Pandemie gab es – etwa in sind, zum Beispiel über informelle Absprachen Werbeagenturen oder Finanzinstituten – die mit Führungskräften. Die Dynamik, die sich Tendenz, nicht mehr für jeden Beschäftigten während der Pandemie entfaltet hat, ist ein Ge- einen festen Arbeitsplatz vorzuhalten. Es wurde legenheitsraum, um das Homeoffice systemati- wegrationalisiert, die Beschäftigten sollten gar scher zu regulieren. nicht fest verwurzelt sein. Das hat zu irren Ge- schichten geführt: Die Leute gingen trotzdem K laus Dörre: Die eine Frage ist, ob sich mo- biles Arbeiten durchsetzt, eine andere ist, ob es sich als ausschließliche Form des Arbeitens immer zum selben Arbeitsplatz, brachten ihre Buttons an, stellten Stofftierchen auf. Aus zwei Gründen: Sie wollten ihren eigenen Arbeits- durchsetzt. Wenn wir uns anschauen, was die platz haben und sie wollten ihre Nachbarn um Entwicklung blockieren könnte, dann haben sich haben. Die Bedeutung von Sozialbezie- wir auf der einen Seite massive Vorbehalte auf hungen am Arbeitsplatz sehen auch einige der der Unternehmerseite, bei Geschäftsführern von uns befragten Unternehmer. Sie befürchten und Eigentümern. Das ist branchenspezifisch auch Verschlechterungen für die Beschäftigten, sehr unterschiedlich, aber um eine Zahl zu wenn sie nur im Homeoffice sind. nennen: Von 600 von uns befragten Thüringer Unternehmen lehnen 74 Prozent ein Recht auf Homeoffice ab. Was steckt dahinter? Ich glau- be, da muss man trennen. Einerseits gibt es eine S .N.: Es gibt viele Punkte, denen ich mich anschließen würde. Erstens steckt aus Un- ternehmenssicht hinter dem Label „Recht auf konservierend-beharrende Mentalität bei Ge- Homeoffice“ die „Gefahr“ der Regulierung. schäftsführern und Eigentümern, die die Kon- Mit den derzeit bestehenden informellen Re- trolle nicht verlieren wollen. Diese assoziieren gelungen zum Homeoffice für diejenigen Be- mit dem Homeoffice: „Da können die machen, schäftigtengruppen, die vielleicht ohnehin was sie wollen“ oder „Da machen die verlänger- privilegierter sind, fahren die Unternehmen ten Urlaub“. Um das zu verhindern, wollen sie im Zweifel besser. Zweitens ist das „Recht auf die Zügel nicht aus der Hand geben. Homeoffice“ eine Verkürzung – denn eigentlich geht es um ein Recht auf Wahlfreiheit zwischen Davon zu trennen sind – ebenfalls auf der Büroarbeitsplatz und Homeoffice. Es kann nicht Seite der Unternehmen – berechtigte Beden- sein, dass „Recht auf Homeoffice“ bedeutet, ken. Erstens denken viele, dass die Steuerung dass es keinen adäquat ausgestatteten Arbeits- des Unternehmens über das Homeoffice nur auf platz mehr gibt und diejenigen, die konzentriert zweierlei Weise funktionieren kann: Entweder arbeiten wollen, nach Hause flüchten müssen. man hat einen Arbeitsprozess, bei dem man mit Das muss man immer mitdenken, wenn man klaren Vorgaben agieren kann. Man sagt also über die Forderung nach dem „Recht auf Ho- den Beschäftigten recht detailliert, was zu tun meoffice“ spricht. ist und kann sie auch entsprechend kontrollie- ren. Oder aber man hat ohnehin einen Betrieb, der nach dem Freelancer-Prinzip funktioniert, also mit relativ autonom agierenden Beschäf- B .B.: Ich teile die Auffassung, dass wir uns in einer Entwicklung hin zu einer hybrider werdenden Arbeitsgesellschaft befinden. Der tigten. Dann stellen das Homeoffice und andere langfristige Trend führt weg von einer starren Formen des mobilen Arbeitens keine großen Präsenzkultur, einer starken hierarchischen Schwierigkeiten dar. Dazwischen gibt es aller- Steuerung innerhalb der Unternehmen, hin dings etwas, das aus der Unternehmenspers- zu autonomeren Teams, die miteinander koo- pektive häufig betont wird: Das ist die Kreati- perieren und über eine Zielsteuerung an Pro- vität, die in der Kaffeeküche entsteht – dort, wo dukten arbeiten. Das ist nicht nur im Bereich es keine Kontrolle gibt, wo vermeintlich nicht von Verwaltung oder Dienstleistungen der gearbeitet wird. Das Ideenentwickeln, das Kre- Fall, sondern auch im Kernbereich der Indus- ative und Schöpferische, ist ein kollektiver Pro- trie. Wir sehen das zum Beispiel beim BMW- zess, der über die Koordination von Homeof- Entwicklungszentrum in München. Das ist fices nicht zu erreichen ist. keine Revitalisierung von Teamarbeit im
spw 1 | 2021 Analyse & Strategie 81 klassischen Sinne, sondern eher eine aus der spw: Nun haben die Befragungen der Hans- Computer-, Chip- und Softwareentwicklung Böckler-Stiftung gezeigt, dass zwei Drittel entliehene Organisationsstruktur von Wert- der Beschäftigten das Homeoffice als hilf- schöpfungsprozessen. In solchen Prozessen ist reich für die Vereinbarkeit von Familie der Arbeitsort, wie wir ihn klassisch kennen, und Beruf wahrnehmen. Zugleich – das ist als Arbeitsort im Betrieb, nicht mehr entschei- eben schon angeklungen – gibt es Entgren- dend – jedenfalls nicht mehr hauptsächlich zungserfahrungen und durchaus ambiva- entscheidend. lente Erfahrungen von Autonomie, eben auch in Form von Belastungen. Welche Zweitens gehe auch ich davon aus, dass für grundlegenden Mechanismen – Stichwort kreative Prozesse die persönliche Präsenz un- Selbststeuerung, Arbeitsdruck – stecken verzichtbar bleibt, jedenfalls partiell. Sowohl aus eurer Sicht dahinter? aus Sicht der Arbeitnehmer als auch aus Sicht der Arbeitgeber ist vermutlich auch hier eine hybride Form des Arbeitens wünschenswert – und nicht eine hundertprozentige Präsenzkul- S .N.: Erst einmal sollten wir uns noch ein- mal in Erinnerung rufen, dass es einen großen Unterschied macht, ob wir vom Ho- tur oder hundertprozentiges Remote Working. meoffice einmal die Woche reden oder vom permanenten Homeoffice. Aufgrund der Co- Drittens heißt das für uns als Arbeitsminis- rona-Krise befinden wir uns gerade in einer terium, dass wir zweierlei Dinge tun müssen. besonderen Situation, weil wir in vielen Berei- Einerseits müssen wir die Verhandlungsmacht chen ein dauerhaftes Homeoffice haben, unter des Arbeitnehmers im Hinblick auf den Ort erhöhten Mehrfachbelastungen, mit Betreu- der Verrichtung der Arbeit stärken. Wir wol- ungsanforderungen. Unabhängig davon: Ja, len einen Rechtsanspruch auf Erörterung des die Vor- und Nachteile oder Ambivalenzen mobilen Arbeitens einführen – am besten un- des Homeoffice sind weitgehend bekannt ter Beteiligung der Betriebsräte –, damit Ar- – einerseits die Möglichkeiten selbstbestimm- beitnehmer gegenüber Arbeitgebern, die sich teren Arbeitens, die, je nach Tätigkeit, häufig weigern, mobiles Arbeiten anzubieten, einen damit einhergehen und andererseits Effekte Auskunftsanspruch haben. Zum anderen steht von überlangem Arbeiten, von Mehrarbeit im Koalitionsvertrag, dass wir einen Rechts- oder verkürzten Ruhepausen. Ich finde, dass rahmen für mobiles Arbeiten schaffen wollen. es wichtig ist, sich dabei nicht zu sehr auf in- Das ist vielleicht noch wichtiger, denn gerade dividuelle Grenzziehungen zu konzentrieren. jetzt in der Pandemie sind positive wie negati- Natürlich kann es wichtig sein, individuell zu ve Entwicklungen zu beobachten. Nehmen wir lernen, besser Grenzen zu setzen – aber was das Thema Unfallversicherungsschutz: Kaffee steckt dahinter? Woher kommt dieser Zug- holen in der Betriebsstätte ist versichert – Kaf- zwang zu überlangen Arbeitszeiten, zu Mehr- fee holen im Homeoffice, zu Hause in der Kü- arbeit, zu verkürzten Ruhepausen? che, ist nicht versichert. Oder nehmen wir das Thema Entgrenzungserfahrungen: Damit es Der zentrale Punkt ist, dass man mobiles nicht zu einer schleichenden Ausweitung der Arbeiten – mit dieser Souveränität über das Arbeitszeit kommt, müssen wir eine obligato- „Wo“ und „Wann“ – immer sofort mit mehr rische Zeiterfassung einführen. Studien zeigen, Selbstbestimmung assoziiert. Wenn aber das dass die Produktivität im Homeoffice größer „Was“ und „Wieviel“ nicht mitgestaltet oder ist und darüber hinaus die Arbeitszeiten um mitbestimmt werden können, führt das dazu, ein bis zwei Stunden pro Tag ausgeweitet wer- dass man einem erhöhten Leistungsdruck aus- den. Das sind zwei Beispiele dafür, an welchen gesetzt und zu Mehrarbeit angehalten ist. Das Stellen wir einen Rechtsrahmen gestalten kön- ist ein Phänomen, das möglicherweise auch nen, der das Homeoffice im Sinne der Beschäf- mit einem Prozess der Vereinzelung einher- tigten besser reguliert. geht. In unseren Untersuchungen konnten wir gerade bei jüngeren Beschäftigten feststellen, dass es insbesondere in Beschäftigungsfeldern,
82 Analyse & Strategie spw 1 | 2021 wo die Leistungsparameter nicht so eindeutig Drittens ist mit einer zunehmenden Digi- messbar sind, sehr schwierig ist, zu definieren, talisierung immer auch die Möglichkeit ge- was der Normalitätsmaßstab ist, was gerecht- geben, dass sich Unternehmen die Arbeits- fertigte und legitime Anforderungen sind. Ge- kraft anderswo einkaufen. Damit könnte ein rade jüngere Beschäftigte neigen dazu, nicht zusätzlicher Druck entstehen, auch auf die die Arbeitsanforderungen in Frage zu stellen, hochqualifizierten Arbeitsplätze, gerade in sondern ihre eigene Leistungsfähigkeit. Sie ver- den Ingenieursbüros. Das alles sind wich- suchen dann, die Arbeitsanforderungen über tige Punkte, bei denen Regulierung ansetzen Mehrarbeit zu bewältigen. Diese halten sie je- müsste. doch geheim, um nicht nach außen gestehen zu müssen, dass sie der Arbeit nicht gewach- sen sein könnten. Das ist im Homeoffice eine noch größere Gefahr, weil dort der Austausch B .B.: Wir haben mehrere Studien dazu ge- macht. Folgende Aspekte sind interessant, auch für die gewerkschaftliche Strategie: Wäh- – der kollektive Prozess des Vergleichens und rend des ersten und zweiten Lockdowns der der Definition dessen, was eigentlich normale Corona-Pandemie haben wir erfasst, wie hoch und zumutbare Leistungsanforderungen sind die Zustimmung zum Homeoffice ist. Unsere – noch weiter verlorengeht. Es fehlt die Sicht- Erwartung war – aufgrund der Erfahrung des barkeit dessen, was alles dazugehört, um die Homeschoolings –, dass die Leute es leid sind. Arbeit zu bewältigen. Das genaue Gegenteil ist aber der Fall: 87 Pro- zent der Beschäftigten sagen, sie wollen wei- K .D.: Ich möchte noch einmal auf mög- lichen Konfliktstoff oder Ambivalenzen hinweisen. Die Frage ist, wie man das Homeof- terhin wenigstens teilweise mobil arbeiten. Es gibt ein großes Bedürfnis, die Arbeit ein Stück weit selbstbestimmt definieren zu können, und fice reguliert und ob wir nicht dazu übergehen zwar auch im Hinblick auf den Ort und die müssen, eine genaue Leistungserfassung zu Organisation der Arbeit. Ein weiterer wich- machen, auch über den Bildschirm. Die Frage, tiger Aspekt ist der Wegfall von Fahrtzeiten. die sich damit aber sofort verbindet, ist, ob die Für 78 Prozent der Beschäftigten ist das der Vorteile mobilen Arbeitens – autonomer zu entscheidende Grund, warum das Homeoffice sein, sich nicht dauernd reingucken zu lassen, aus ihrer Sicht eine gute Sache ist. Pausen machen zu können, wann man will, die Arbeitszeiten so zu legen, wie man will – damit Ich denke, dass die Gewerkschaften nicht nicht verlorengehen. gut beraten sind, wenn sie sich – so wie zum Teil in Österreich – gegen das Homeoffice Auf Seiten der Beschäftigten darf man nicht stellen und beispielsweise sagen, wir bräuch- unterschätzen, dass sie aus unterschiedlichen ten eher ein Recht auf einen Büroarbeitsplatz. Motiven in den Betrieb gehen. Meine Frau zum Man muss den realen Wünschen der Beschäf- Beispiel leitet ein Sozialunternehmen mit 220 tigten nach selbstbestimmter Flexibilität auch Beschäftigten. Obwohl einige die Möglichkeit im Rahmen einer kollektiven Strategie entge- hätten, geht von denen so gut wie niemand ins genkommen. Unsere Aufgabe als Politik sehe Homeoffice, weil alle zeigen wollen, dass sie ich darin, solche kollektiven Agreements zu unentbehrlich sind. Das ist der erste Punkt. unterstützen. Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf zum mobilen Arbeiten vorge- Zweitens besteht die Gefahr einer Spaltung sehen, dass man aus dem Rechtsanspruch auf der Arbeitswelt. In einigen Industriebetrieben mobiles Arbeiten dann herausoptieren kann, kommt es zu Konflikten, weil die Büro-Ange- wenn es eine tarifliche Vereinbarung über das stellten ins Homeoffice gehen können, die Be- Homeoffice für die entsprechende Branche schäftigten in den Werken aber in den Betrieb gibt. Das scheint mir ein starker Anreiz für müssen. Das ist die alte Konfliktlage zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu sein, hier Arbeitern und Angestellten: „Die machen sich zu passgenauen Lösungen zu kommen. auf unsere Kosten einen schönen Lenz und wir sind die Angeschmierten.“
spw 1 | 2021 Analyse & Strategie 83 Zu den negativen Entwicklungen gehört, dass die Situation im Betrieb im Hinblick auf Aufstiegschancen, auf Sichtbarkeit, auf die K .D.: In den Industriebetrieben ist es zum Teil so, wie bereits angedeutet wurde: Dass sich der Arbeitsprozess der Beschäftigten Wahrnehmbarkeit von Arbeitsergebnissen, in den Büros nicht stark verändert hat und dass geschlechterspezifisch sehr unterschiedlich auch diejenigen, die ins Homeoffice wechseln, ist. Frauen nehmen sehr stark wahr, dass sie nicht das Gefühl haben, dass sich hinsichtlich aus der internen unternehmerischen Bewer- ihrer Tätigkeiten und der Belastungen, die da- tungskultur ausgeschlossen werden und sich mit verbunden sind, ein großer Unterschied gleichzeitig noch um das Kind kümmern müs- feststellen lässt. sen. Die männlichen Remote Worker gehen im Vergleich zu den weiblichen Beschäftigten trotz Aber jetzt noch einmal zu dem, was im Ho- Homeschooling doppelt so häufig in den Be- meoffice fehlt, also den anderen in die Augen trieb zurück. Das ist eine sehr prekäre Entwick- schauen zu können – Personen-Vertrauen auf- lung für die Aufstiegschancen von Frauen. bauen zu können, könnte man mit Luhmann sagen. Ich frage mich, was das für Interessen- S .N.: Es sind ja immer drei Punkte, die ge- nannt werden: Einsparen von Fahrtwegen, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie vertretung bedeutet. Die Gewerkschaften sind mit entstanden im Kampf gegen die Heim- arbeit. Es war die Textilindustrie, es war das und zu Hause besser und konzentrierter arbei- Verlagswesen – wenn man so will Formen von ten zu können. Ich finde aber, dass man immer Plattformunternehmen, also Zwischenhändler noch einmal nachhaken muss: Warum ist das –, die die Familien knechteten, ihnen im Grun- eigentlich so, warum kann zu Hause besser und de die Verantwortung für den Stücklohn, für konzentrierter gearbeitet werden als im Büro? die Qualität des Produktes und für die Menge Die Frage nach den Bedingungen des Arbeitens aufhalsten und ihnen dann einen Zeitpunkt vor Ort im Betrieb sollte man nicht außer Acht setzten, bis zu dem eine bestimmte Menge in lassen, wenn man über Homeoffice-Regelungen bestimmter Qualität geliefert sein musste. Sie verhandelt. bestimmten den Preis und verkauften das Pro- dukt dann zu weit höheren Preisen am Markt. Ich würde außerdem gerne noch einmal auf Das war ein Ausbeutungssystem und einer der die Frage zurückkommen, ob es eine obligato- Hintergründe für die Weberaufstände. rische Arbeitszeiterfassung geben sollte. Das ist ein Problem, mit dem wir uns schon lange Für die Gewerkschaften galt, dass es im herumschlagen, unabhängig vom Homeoffice: Betrieb viel einfacher war, die Beschäftigten Wie reguliert man Leistungsdruck unter Bedin- zu organisieren. Das wirft die Frage auf: Wie gungen von Ergebnissteuerung? Es gibt ja auch entsteht das nötige Personen-Vertrauen – di- das Phänomen von Arbeitszeitregelungen, die ese basale Arbeitssolidarität, die oft brüchig von den Beschäftigten selbst unterlaufen wer- geworden ist, die es aber in bestimmten Be- den. Wir kennen das Bild vom Beschäftigten, reichen nachweislich gibt – in einer hoch di- der ausstempelt und dann wieder durch das gitalisierten Arbeitswelt, mit Nomaden, die Fenster einsteigt – wo der Betriebsrat auf einmal vor dem Bildschirm sitzen? Das ist glaube ich derjenige ist, der als Belastung wahrgenommen eine wichtige Frage – zumal in einer Arbeits- wird, weil er verhindert, dass man seine Ar- welt, in der die kollektivvertragliche Regelung beit fertigmachen kann. Arbeitszeitregelungen von Arbeitszeit zurückgeht, in der die Mitbe- bieten einen Schutz und müssen hochgehalten stimmung zurückgeht, der gewerkschaftliche werden. Aber möglicherweise genügt das nicht Organisationsgrad. Woher kommt da die – Arbeitszeitregelungen müssen Hand in Hand Gestaltung? Um noch einmal eine Zahl aus gehen mit Mitbestimmung im Bereich der Res- unserer Unternehmensbefragung zu nennen: sourcenausstattung, der Personalausstattung, Die Zahl der Geschäftsführer, die sagen, die der Definition von Anforderungen. Betriebsräte reden mit, die liegt bei 0,17 Pro- zent. Das unterstreicht noch einmal die Frage: Wie entsteht unter solchen Bedingungen eine
84 Analyse & Strategie spw 1 | 2021 Alltagssolidarität und was bedeutet das für In- teressenvertretungen? S .N.: Wir haben drei verschiedene Reak- tionen auf Seiten der Betriebsräte beob- achtet: Es gab Betriebsräte, die das Digitale, B .B.: Für die sozialdemokratische Linke ist das natürlich eine Kernfrage: Wie entsteht das Kollektive und wie kann man das kollek- das Homeoffice und das mobile Arbeiten vor allem als eine Einschränkung ihrer Betriebs- ratsarbeit begriffen haben. Der Großteil sieht tive Moment mobilisieren und aktivieren, um aber zumindest auch Chancen – und vor allem die Arbeitswelt progressiv zu verändern? Ich in der derzeitigen Situation die Notwendig- hätte darauf zwei Antworten. Erstens glau- keit dessen, was Björn gerade als Online-Be- be ich, dass die technologische Entwicklung fähigung bezeichnet hat. Und dann haben wir einen Beitrag zum Kollektiven leisten kann, einen kleineren Teil der Betriebsräte, der das denn wir werden erleben, dass das, was Klaus Ganze auch langfristig als Chance für neue beschreibt, diese persönliche Erfahrung und Mobilisierungsstrategien begreift, als eine Organisation am Arbeitsplatz, mit Hilfe neuer Form der Modernisierung. Es gibt sicherlich Technologien mindestens simuliert wird und auch Aspekte, die digital sogar besser funkti- dass wir nicht auf dem heutigen technischen onieren – zum Beispiel Aktionen, die besser Stand des Homeoffice verharren. organisiert werden können. Wir haben zudem in einigen unserer Unternehmen Betriebsver- Zweitens: Es hilft ein Blick in die USA, weil sammlungen erlebt, bei denen die Beteiligung wir in Deutschland relativ wenige Studien dazu weit höher war als sonst. haben und die Plattformarbeit sich immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau bewegt – un- Das alles geschieht aber auf einer Basis seren Studien zufolge sind es maximal 450.000 von kollektiven Prozessen, die schon vorher Beschäftigte, die partiell auf Plattformen ar- bestanden haben. Und ich glaube, das ist der beiten. Was passiert da eigentlich – natürlich Knackpunkt, wenn wir den Interessenbil- auf Basis anderer Tarif- und Kollektivtraditi- dungsprozess betrachten: Je weniger es um ex- onen? Dort können wir beobachten, dass über plizit definierbare Streitpunkte oder Interessen die internen Plattformen und über virtuelle geht, sondern um ganz subtile Prozesse der Auseinandersetzung ebenfalls kollektive Mei- Herausbildung von Interessen, von Bewusst- nungsbildungsprozesse stattfinden. Es gab sein – um eine Politisierung, die sich über den zum Beispiel bei Google einen Riesenaufstand informellen Austausch im Alltag, über die Ar- gegen den Einsatz von unternehmenseigener beitserfahrung ergibt –, desto skeptischer bin Technik in Drohnen, mit der Konsequenz, ich, ob das die digitale Welt einfach so abbilden dass dies gestoppt wurde. Wir sehen also eine kann. Ähnlich wie im Arbeitsprozess selbst Mobilisierung, die man jetzt als gewerkschaft- – der vorhin angesprochene Austausch in der liche Strategie antizipieren muss. Zunächst Kaffeeküche – wird auch im Interessenbil- brauchen wir dafür ein digitales Zutrittsrecht dungsprozess etwas fehlen, auch hinsichtlich für Gewerkschaften und zweitens brauchen der Frage, wie der Betriebsrat involviert ist in wir eine Online-Befähigung von Betriebsräten das, was die Beschäftigten umtreibt. Ich glau- und Gewerkschaften. Letzteres versuchen wir be nicht, dass das jetzt alles verlorengeht, aber gerade im Rahmen des Betriebsrätestärkungs- es liegt ein gutes Stück Arbeit vor uns und das gesetzes: Wir wollen Betriebsräte in die Lage Digitale wird nicht alles auffangen können. versetzen, sich auch online mit Sachverstand aufzuladen, um ihrer kollektiven Interessen- vertretung besser gerecht werden zu können. Denn ich glaube eben nicht, dass ein Ankämp- B .B.: Was aber auch damit zusammen- hängt, dass es in den Belegschaften la- tente Konflikte gibt. Das sehen wir jetzt in der fen gegen diese neuen Formen der Arbeitswelt Pandemie ganz deutlich: Die WhiteCollar- erfolgreich sein wird, sondern dass wir die be- Mitarbeiter gehen ins Homeoffice, um sich stehenden Systeme fit machen müssen für eine nicht anzustecken, während die Blue-Collar- entsprechende Interessenvertretung. Mitarbeiter arbeiten gehen – arbeiten gehen wollen – und gleichzeitig spüren, dass sie auf
spw 1 | 2021 Analyse & Strategie 85 eine gewisse Art und Weise unterprivilegiert weit über das Homeoffice hinaus – am ehesten sind. Deswegen muss man überlegen, wie man in der Lage wäre, die Professionen durch die auch hier hybride Formen der kollektiven Demokratisierung von Produktionsabläufen Interessenvertretung organisieren kann. Da zu verbinden. sind die Gewerkschaften ja schon dran. Aus Regierungssicht bedeutet das, dass wir alles Ich denke da an Debatten, die ich zum Bei- vermeiden müssen, was die Spaltung der Ar- spiel mit IT-Leuten der Fraunhofer Institute beitsgesellschaft weiter vorantreibt – und na- geführt habe. Bei einer Konferenz, die vom türlich bergen auch die neuen Arbeitsformen Betriebsrat organisiert war, haben wir uns diese Gefahr. Menschen mit Abitur haben 40 über Dinge unterhalten wie etwa das Kon- Prozent häufiger die Möglichkeit, Homeoffice trollpotenzial, das in der Digitalisierung steckt zu machen. – die Tendenz, Datenspuren, die wir im Netz gratis hinterlassen, kommerziell zu nutzen, spw: Ich würde gerne noch einmal an die De- sie in Verhaltensvorhersage-Produkte umzu- batte über die Möglichkeiten und Blo- wandeln und damit in letzter Konsequenz ver- ckierungen von solidarischer Praxis und haltenssteuernd zu wirken. Darüber war mit gewerkschaftlicher Mobilisierung an- denen eine hochqualifizierte Debatte möglich. knüpfen. Ihr habt angesprochen, dass die Für mich ergibt sich daraus die Frage, ob wir vorherigen Erfahrungen mit Solidarität, auf diese Gruppen – ich würde von einer Klas- mit Kämpfen, aber auch die Ressourcen se sprechen – nicht genauer schauen müssen. der Mitbestimmung und der Institutio- Alle Versuche, sie zu organisieren, sind bis- nen, die Mitentscheidung ermöglichen, her gescheitert. Wie man Zugang zu ihr fin- entscheidend sind. Welche Ressourcen det, ist eine entscheidende gewerkschaftliche – demokratische Ressourcen und andere – Frage. Und die Antwort kann nicht über die benötigen wir, um die Beteiligung zu er- klassischen gewerkschaftlichen Themen kom- möglichen, die für ein selbstbestimmtes men, sondern zum Beispiel über das Thema Arbeiten erforderlich ist? Digitalisierung und damit verbundene Ar- beitsformen. K .D.: Eine schwierige Frage. Ich versuche mal, das etwas positiver zu wenden. Es gab in den 1960er Jahren eine Debatte über die Eine Anmerkung zu den konventionellen Produktions-Industriearbeitern, von denen „neue Arbeiterklasse“. Damit waren die aka- die meisten männlich sind, aber nicht alle. demisch qualifizierten – hochqualifizierten Was soll eigentlich aus denen werden? Mit – Cadres gemeint, wie man sie in Frankreich Blick auf das, was die Digitalisierung mög- nannte. Die Hoffnung war, dass diese wach- licherweise bringen wird und mit Blick auf sende Gruppe, die nicht zur sozialen Mitte mögliche Gestaltungspotenziale muss die Hö- gezählt wurde, ein Bewusstsein entwickelt, herqualifizierung in diesen Arbeitsbereichen das sie in die Lage versetzt, demokratische ein entscheidendes Ziel sein. Und da stellt sich Kontrolle nicht nur über die Arbeit, sondern mir erstens die Frage: Können wir es schaffen, über die Produktionsabläufe zu gewinnen. Ich das Bildungssystem noch weit durchlässiger glaube, dass wir überprüfen müssen, ob wir es zu gestalten als derzeit? Für Menschen ohne nicht inzwischen tatsächlich mit einer lohnab- Abitur bedeutet das zum Beispiel, nach einer hängigen Klasse zu tun haben, die akademisch bestimmten Zeit im Betrieb ausscheiden zu qualifiziert ist, die nicht über Kontrollmacht, können, um eine möglichst grundfinanzierte aber über andere Macht verfügt – also nicht die Weiterbildung aufzunehmen. Beispiel „Bil- Rolle des Vorgesetzten ausübt, aber tatsächlich dungskarenz“ in Österreich: Wer aus dem qua Profession auf die Produktionsabläufe Beruf aussteigt und ein Studium aufnimmt, schaut, die auch wegen der Digitalisierung ein erhält für das erste Studienjahr mindestens Überblickswissen hat, das sich nicht auf den 60 Prozent des letzten Netto-Verdienstes. Das eigenen Arbeitsplatz beschränkt. Die Frage ist ein gewaltiger Anreiz. Verbunden werden ist, ob nicht genau diese Klasse – das geht jetzt müsste das damit, dass Menschen ohne Abi-
86 Analyse & Strategie spw 1 | 2021 tur auch an der Universität studieren können, werden. Der gegenläufige Trend dazu ist der mit einem Studienangebot, das auf diese Men- zur Singularität. Die Vereinzelung anhand von schen zugeschnitten ist. Herkunftsfragen, aber auch anhand von so- ziokulturellen Merkmalen, ist sehr stark aus- Ein zweites Element ist das Wechseln der Be- geprägt. Was wir versuchen ist, uns jetzt sehr rufe. Wenn man sagt, „ihr verliert eure Arbeits- stark dem Thema der Basisarbeiterinnen und - plätze in der Autoindustrie, dann geht doch in arbeiter – vor allem in den sozialen Dienstleis- die Pflege“, dann gibt es einen Aufschrei der tungen, aber nicht nur dort – zu widmen, also Empörung. Auch wegen der schlechten Bezah- denjenigen, die eine Gesellschaft notwendiger- lung und der geringen Aufstiegsmöglichkeiten. weise braucht und ohne die eine Wirtschaft gar Würde man aber bei den systemrelevanten nicht funktionieren kann. Wie kann man die Berufen im Sozialbereich etwas ändern, auch Wertschätzung für ihre Arbeit erhöhen? Das bezüglich der Arbeitsformen, dann würde das ist eine Frage von Lohn, aber nicht nur. Fest den Wechsel erleichtern. Wenn man über sol- steht: Das Potenzial der Basisarbeiterinnen che Elemente eine Aufwertung der konventio- und -arbeiter zu heben ist für eine kollektive nellen Arbeiterklassen erreicht, dann entschärft Strategie entscheidend: Von Gewerkschaften, das auch die Problematik, die mit dem Home- Betriebsräten, der Sozialdemokratie aber auch office verbunden ist, weil man nicht mehr das vom Staat selbst. Gefühl haben muss, immer außenvor zu sein. Zweitens: Im Hinblick auf die Frage nach S .N.: Was ich spannend finde, ist die Frage: Was sind gewerkschaftspolitische Themen und was sind Themen jenseits der eigenen einer Qualifizierungsstrategie spreche ich ger- ne darüber, dass wir in der Transformation der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre drei sichere Belastung? Es sind eben nicht nur die höher- Häfen für Beschäftigte brauchen. Der erste qualifizierten Beschäftigten, die einen Über- sichere Hafen besteht in zeitgemäßen Ant- blick über mehr als ihren eigenen Arbeitsplatz worten des Rentensystems, wenn ein Schiff haben. Gerade unter Bedingungen von ergeb- einläuft und nicht mehr kann. Zweitens brau- nisorientierter Steuerung – von einer systema- chen wir einen sicheren Hafen, in dem man tischen Erweiterung von Autonomie für die sich aufladen kann, um dann wieder in See Beschäftigten – haben wir den Effekt, dass die zu stechen. Das ist das, was Klaus Dörre als Beschäftigten auf allen Qualifikationsebenen Transformationsbrücken für die betroffenen ganz genaue Vorstellungen davon entwickeln, Beschäftigtengruppen beschrieben hat. Hier wie ihre Arbeit zu machen ist. Das bewegt sich ist entscheidend: Gibt es die entsprechenden auf der Ebene von „Was ist gute Arbeit?“ – nicht Qualifikationsangebote und werden sie finan- im Sinne von „Was sind meine guten Arbeitsbe- ziert, auch über einen längeren Zeitraum? Und dingungen?“, sondern „Welchen Zweck verfolgt was bedeutet das im Hinblick auf den Zielort, meine Arbeit?“. Und das stimmt nicht immer an dem wahrscheinlich das Gehaltsniveau ge- mit dem überein, was das Unternehmen als ringer ist? Hier müssen wir über Umverteilung Ziel setzt. Darin stecken wahnsinnig viele Kon- reden – oder auch über einen Beitrag der Ar- flikte, die grundsätzliche, systematische Wider- beitgeber, die einen Fachkräftebedarf haben, sprüche aufreißen und als interessenpolitische den sie sonst gar nicht decken könnten. Ein Konflikte aufgegriffen werden könnten. dritter sicherer Hafen für Beschäftigte kann auch sein, den Transformationsprozess in der B .B.: Ich möchte zwei Dinge dazu sagen. Erstens: Ich glaube auch, dass es einen Trend dahingehend gibt, dass die Zeit der Ego- Industrie besser zu gewährleisten. Da sind wir beim Recht auf Weiterbildung: Wir brauchen eine höhere Weiterbildungsquote in Deutsch- Taktiker auch unter den Beschäftigten bis auf land, insbesondere in den unteren und mitt- wenige Ausnahmen vorbei ist. Das ist durch- leren Qualifikationssegmenten, damit diese aus auch in den höherqualifizierten Beschäf- schritthalten können, auch mit der beschleu- tigtengruppen der Fall. Die Suche nach einem nigten digitalen Entwicklung. Kollektiv ist also schon da und kann adressiert
spw 1 | 2021 Analyse & Strategie 87 spw: Während der Pandemie haben sich Rück- ökonomischen Folgen für Frauen, weil sie zum schritte gezeigt, was die Aufteilung der Beispiel – aufgrund der Arbeitsmarktstruktu- Sorgearbeit betrifft. Wird sich diese Ent- ren und der Bereiche, in denen sie beschäftigt wicklung im Zuge mobilen Arbeitens wei- sind – stärker davon betroffen sind, dass das ter verstärken? Inwiefern kann dem entge- Kurzarbeitergeld nicht aufgestockt wird. Oder gengewirkt werden? weil sie während der Lockdowns ihre Arbeits- zeit stärker reduziert haben. B .B.: Ich finde es erschütternd, dass in der aktuellen politischen Auseinandersetzung das Homeoffice mit Kinderbetreuung gleich- Es gibt durchaus Debatten darüber, ob es nicht doch auch Modernisierungsprozesse gesetzt wird. Die zivilisatorische Errungen- gab, weil Männer für ihr Verhältnis tatsäch- schaft, die wir erkämpft haben in den letzten lich die Betreuungszeiten erheblich ausgewei- Jahrzehnten, nämlich, dass Arbeit und Kin- tet haben, neue Erfahrungen gemacht haben. derbetreuung nicht zusammengehen können, Andererseits sind die Zahlen nach dem ersten der Zugang zu Arbeit aber natürlich trotzdem Lockdown auch sofort wieder runtergegangen realisiert werden soll, die wird in Frage gestellt. – man kann also nicht behaupten, da habe sich Und sie wird nicht nur schleichend in Frage ge- etwas im progressiven Sinne verfestigt. stellt: Wichtige politische Akteure auch in der CDU/CSU verlangen, dass Menschen Kinder- betreuung und Erwerbsarbeit zusammen reali- sieren. Das ist ein fataler Weg, nicht nur für das K .D.: Ich blicke auf einen langen Zeitraum zurück und bezogen auf das Mobilisie- rungspotenzial entlang der Geschlechterachse Geschlechterverhältnis, sondern auch für den würde ich eine ziemlich optimistische Vorstel- gesellschaftlichen Fortschritt. lung entwickeln. Auf der einen Seite gibt es po- litische Kräfte, die einen Backlash wollen. Aber K .D.: Ich glaube nicht, dass sich dieser Backlash durchsetzen wird, weil ich sicher bin, dass auf Seiten der Frauen genug Power wenn ich mir das universitäre Spektrum an- schaue, die Studierendengeneration, dann kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, vorhanden ist, das zurück zu erkämpfen. Es ist dass die sich in eine solche Geschlechterspal- ja kein Zufall, dass über die Geschlechterach- tung drängen lassen, die sich über das Home- se die größten Mobilisierungen erreicht wer- office vollzieht, es würde mich stark wundern. den. Gesellschaftlich wird sich etwas anderes Aber es ist eine zukunftsoffene Frage. durchsetzen. S .N.: Ich finde es in der Debatte sehr er- staunlich, dass sich der Streit immer nur S .N.: Ich verstehe, was du sagst. Gleichzeitig sieht man genau diese Entwicklung: Frauen fahren unter den Bedingungen der Pandemie darum dreht, wer ins Homeoffice darf – als ob ihre Arbeitszeit stärker zurück als Männer. Wie damit die Betreuungsfrage schon gelöst wäre. kommt das? Individuell hat das immer ver- Darüber hinaus finde ich es schwierig, von ei- meintlich objektive Gründe – sie verdient halt ner Retraditionalisierung zu sprechen, weil es weniger, daher lohnt es sich mehr –, aber das ist unterstellt, man hätte vorher egalitäre Arran- eine Struktur, die man damit reproduziert. Und gements gehabt. Das ist nicht der Fall. Tatsäch- offensichtlich reicht die Tatsache, dass man das lich haben wir es meines Erachtens nicht un- zunehmend als Ungerechtigkeit wahrnimmt, bedingt mit einem Backlash zu tun, sondern nicht, um dagegen anzugehen. ó mit einer Zuspitzung oder Verschärfung des- sen, was vorher schon war. Tatsächlich haben Männer während des Lockdowns in absoluten Zahlen fast genauso viele zusätzliche Stun- den an Sorgearbeit geleistet wie Frauen – nur haben Frauen schon vorher einen wesentlich größeren Teil der Sorgearbeit übernommen. Ein weiteres Problem sind die langfristigen
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