Selbstbestimmung und Solidarität im Mobilen Arbeiten - Klaus ...

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spw 1 | 2021                                                                                             Analyse & Strategie             79

Selbstbestimmung und Solidarität im
Mobilen Arbeiten
Gespräch mit Björn Böhning, Klaus Dörre und Sarah Nies1

û Björn Böhning ist seit 2018 Beamteter          û Dr. Klaus Dörre ist Professor für Ar-       û Sarah Nies ist Soziologin am Institut
Staatssekretär im Bundesministerium für          beits-, Industrie- und Wirtschaftssoziolo-    für Sozialwissenschaftliche Forschung –
Arbeit und Soziales (BMAS), und   verant-        gie an der Friedrich-Schiller-Universität     ISF München und forscht zu Restruktu-
wortlich für die Politikbereiche Arbeitsrecht,   Jena und Mitherausgeber der spw.              rierung und Wandel von Arbeit.
Arbeitsschutz, internationale Beschäfti-
gungs- und Sozialpolitik, Digitalisierung
und Arbeitswelt sowie für die Denkfabrik         Foto: © Angelika Osthues / Pressestelle FSU   Foto: © Hajü Staudt
des BMAS. Zuvor war er Chef der Senats-
kanzlei des Landes Berlin, Mitglied des
SPD-Parteivorstandes, Juso-Bundesvorsit-                                 Blue-Collar-Bereich, aber auch im Bereich der
zender und Mitglied des D64-Zentrum für
digitalen Fortschritt.                                                   sozialen Dienstleistungen, nicht mobil arbeiten
                                                                         kann. Insofern wird sich die Arbeitsgesellschaft
Foto: © J. Konrad Schmidt / BMAS
                                                                         ein Stück weit teilen – in Remote Worker und
                                                                         andere. Zweitens sehen wir in der Pandemie,
spw: Wir haben in der Pandemie erlebt, dass                              welche Formen mobiler Arbeit sich verstär-
     mobiles Arbeiten eine gewisse Dynamik er-                           ken werden – und wir sehen die positiven und
     fahren hat, wobei sie in Ländern wie Däne-                          negativen Facetten, die damit verbunden sind.
     mark, Schweden oder Irland auch schon                               Letztere bedürfen einer politischen Antwort
     vorher deutlich ausgeprägter war. Wird das                          oder Regulierung.
     mobile Arbeiten auch nach der Pandemie
     einen dauerhaften Schub erfahren?
                                                                         S   arah Nies: Was wir in unseren Untersu-
                                                                             chungen während der Corona-Pandemie

B    jörn Böhning: Wir haben im Rahmen der
     Corona-Krise diverse Szenarien für die Ar-
beitsgesellschaft erstellt, denen zufolge sich der
                                                                         erfahren konnten, war, dass in vielen Bereichen
                                                                         unternehmensseitig Vorbehalte gegen das Ho-
                                                                         meoffice abgebaut wurden. Das gilt insbeson-
Trend zum mobilen Arbeiten eher noch ver-                                dere im Hinblick auf Ängste, die damit verbun-
stärken wird. Wir gehen davon aus, dass sich                             den sind, dort die Arbeit nicht kontrollieren zu
mobiles Arbeiten in weiten Teilen der Erwerbs-                           können. Untersuchungen zeigen schon lange,
gesellschaft durchsetzen wird – vielleicht nicht                         dass Beschäftigte im Homeoffice eher zu viel
auf dem Niveau, das wir im harten Lockdown                               als zu wenig arbeiten. Trotzdem gab es in dieser
erreicht haben, aber doch auf einem deutlich                             Hinsicht große Vorbehalte. Die sind glaube ich
höheren Niveau als vor der Krise. Wenngleich                             nun in weiten Teilen abgebaut. Deshalb denke
man sagen muss, dass ohnehin nur 40 Prozent                              ich schon, dass es einen Trend geben wird, das
der Arbeitsplätze mobil arbeitsfähig sind und                            Homeoffice auf weitere Bereiche auszuweiten.
ein Großteil der Beschäftigten, insbesondere im                          Gleichzeitig konnten wir sehen, dass es bislang
                                                                         nur einen geringen Teil regulierter Telearbeit
	 Das Gespräch führte Stefan Stache.                                    gibt und ganz viele Bereiche von informellem
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     Homeoffice geprägt oder nur lokal geregelt             Schon vor der Pandemie gab es – etwa in
     sind, zum Beispiel über informelle Absprachen       Werbeagenturen oder Finanzinstituten – die
     mit Führungskräften. Die Dynamik, die sich          Tendenz, nicht mehr für jeden Beschäftigten
     während der Pandemie entfaltet hat, ist ein Ge-     einen festen Arbeitsplatz vorzuhalten. Es wurde
     legenheitsraum, um das Homeoffice systemati-        wegrationalisiert, die Beschäftigten sollten gar
     scher zu regulieren.                                nicht fest verwurzelt sein. Das hat zu irren Ge-
                                                         schichten geführt: Die Leute gingen trotzdem

     K     laus Dörre: Die eine Frage ist, ob sich mo-
           biles Arbeiten durchsetzt, eine andere ist,
     ob es sich als ausschließliche Form des Arbeitens
                                                         immer zum selben Arbeitsplatz, brachten ihre
                                                         Buttons an, stellten Stofftierchen auf. Aus zwei
                                                         Gründen: Sie wollten ihren eigenen Arbeits-
     durchsetzt. Wenn wir uns anschauen, was die         platz haben und sie wollten ihre Nachbarn um
     Entwicklung blockieren könnte, dann haben           sich haben. Die Bedeutung von Sozialbezie-
     wir auf der einen Seite massive Vorbehalte auf      hungen am Arbeitsplatz sehen auch einige der
     der Unternehmerseite, bei Geschäftsführern          von uns befragten Unternehmer. Sie befürchten
     und Eigentümern. Das ist branchenspezifisch         auch Verschlechterungen für die Beschäftigten,
     sehr unterschiedlich, aber um eine Zahl zu          wenn sie nur im Homeoffice sind.
     nennen: Von 600 von uns befragten Thüringer
     Unternehmen lehnen 74 Prozent ein Recht auf
     Homeoffice ab. Was steckt dahinter? Ich glau-
     be, da muss man trennen. Einerseits gibt es eine
                                                         S   .N.: Es gibt viele Punkte, denen ich mich
                                                             anschließen würde. Erstens steckt aus Un-
                                                         ternehmenssicht hinter dem Label „Recht auf
     konservierend-beharrende Mentalität bei Ge-         Homeoffice“ die „Gefahr“ der Regulierung.
     schäftsführern und Eigentümern, die die Kon-        Mit den derzeit bestehenden informellen Re-
     trolle nicht verlieren wollen. Diese assoziieren    gelungen zum Homeoffice für diejenigen Be-
     mit dem Homeoffice: „Da können die machen,          schäftigtengruppen, die vielleicht ohnehin
     was sie wollen“ oder „Da machen die verlänger-      privilegierter sind, fahren die Unternehmen
     ten Urlaub“. Um das zu verhindern, wollen sie       im Zweifel besser. Zweitens ist das „Recht auf
     die Zügel nicht aus der Hand geben.                 Homeoffice“ eine Verkürzung – denn eigentlich
                                                         geht es um ein Recht auf Wahlfreiheit zwischen
         Davon zu trennen sind – ebenfalls auf der       Büroarbeitsplatz und Homeoffice. Es kann nicht
     Seite der Unternehmen – berechtigte Beden-          sein, dass „Recht auf Homeoffice“ bedeutet,
     ken. Erstens denken viele, dass die Steuerung       dass es keinen adäquat ausgestatteten Arbeits-
     des Unternehmens über das Homeoffice nur auf        platz mehr gibt und diejenigen, die konzentriert
     zweierlei Weise funktionieren kann: Entweder        arbeiten wollen, nach Hause flüchten müssen.
     man hat einen Arbeitsprozess, bei dem man mit       Das muss man immer mitdenken, wenn man
     klaren Vorgaben agieren kann. Man sagt also         über die Forderung nach dem „Recht auf Ho-
     den Beschäftigten recht detailliert, was zu tun     meoffice“ spricht.
     ist und kann sie auch entsprechend kontrollie-
     ren. Oder aber man hat ohnehin einen Betrieb,
     der nach dem Freelancer-Prinzip funktioniert,
     also mit relativ autonom agierenden Beschäf-
                                                         B    .B.: Ich teile die Auffassung, dass wir uns
                                                              in einer Entwicklung hin zu einer hybrider
                                                         werdenden Arbeitsgesellschaft befinden. Der
     tigten. Dann stellen das Homeoffice und andere      langfristige Trend führt weg von einer starren
     Formen des mobilen Arbeitens keine großen           Präsenzkultur, einer starken hierarchischen
     Schwierigkeiten dar. Dazwischen gibt es aller-      Steuerung innerhalb der Unternehmen, hin
     dings etwas, das aus der Unternehmenspers-          zu autonomeren Teams, die miteinander koo-
     pektive häufig betont wird: Das ist die Kreati-     perieren und über eine Zielsteuerung an Pro-
     vität, die in der Kaffeeküche entsteht – dort, wo   dukten arbeiten. Das ist nicht nur im Bereich
     es keine Kontrolle gibt, wo vermeintlich nicht      von Verwaltung oder Dienstleistungen der
     gearbeitet wird. Das Ideenentwickeln, das Kre-      Fall, sondern auch im Kernbereich der Indus-
     ative und Schöpferische, ist ein kollektiver Pro-   trie. Wir sehen das zum Beispiel beim BMW-
     zess, der über die Koordination von Homeof-         Entwicklungszentrum in München. Das ist
     fices nicht zu erreichen ist.                       keine Revitalisierung von Teamarbeit im
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klassischen Sinne, sondern eher eine aus der        spw: Nun haben die Befragungen der Hans-
Computer-, Chip- und Softwareentwicklung                 Böckler-Stiftung gezeigt, dass zwei Drittel
entliehene Organisationsstruktur von Wert-               der Beschäftigten das Homeoffice als hilf-
schöpfungsprozessen. In solchen Prozessen ist            reich für die Vereinbarkeit von Familie
der Arbeitsort, wie wir ihn klassisch kennen,            und Beruf wahrnehmen. Zugleich – das ist
als Arbeitsort im Betrieb, nicht mehr entschei-          eben schon angeklungen – gibt es Entgren-
dend – jedenfalls nicht mehr hauptsächlich               zungserfahrungen und durchaus ambiva-
entscheidend.                                            lente Erfahrungen von Autonomie, eben
                                                         auch in Form von Belastungen. Welche
   Zweitens gehe auch ich davon aus, dass für            grundlegenden Mechanismen – Stichwort
kreative Prozesse die persönliche Präsenz un-            Selbststeuerung, Arbeitsdruck – stecken
verzichtbar bleibt, jedenfalls partiell. Sowohl          aus eurer Sicht dahinter?
aus Sicht der Arbeitnehmer als auch aus Sicht
der Arbeitgeber ist vermutlich auch hier eine
hybride Form des Arbeitens wünschenswert –
und nicht eine hundertprozentige Präsenzkul-
                                                    S   .N.: Erst einmal sollten wir uns noch ein-
                                                        mal in Erinnerung rufen, dass es einen
                                                    großen Unterschied macht, ob wir vom Ho-
tur oder hundertprozentiges Remote Working.         meoffice einmal die Woche reden oder vom
                                                    permanenten Homeoffice. Aufgrund der Co-
    Drittens heißt das für uns als Arbeitsminis-    rona-Krise befinden wir uns gerade in einer
terium, dass wir zweierlei Dinge tun müssen.        besonderen Situation, weil wir in vielen Berei-
Einerseits müssen wir die Verhandlungsmacht         chen ein dauerhaftes Homeoffice haben, unter
des Arbeitnehmers im Hinblick auf den Ort           erhöhten Mehrfachbelastungen, mit Betreu-
der Verrichtung der Arbeit stärken. Wir wol-        ungsanforderungen. Unabhängig davon: Ja,
len einen Rechtsanspruch auf Erörterung des         die Vor- und Nachteile oder Ambivalenzen
mobilen Arbeitens einführen – am besten un-         des Homeoffice sind weitgehend bekannt
ter Beteiligung der Betriebsräte –, damit Ar-       – einerseits die Möglichkeiten selbstbestimm-
beitnehmer gegenüber Arbeitgebern, die sich         teren Arbeitens, die, je nach Tätigkeit, häufig
weigern, mobiles Arbeiten anzubieten, einen         damit einhergehen und andererseits Effekte
Auskunftsanspruch haben. Zum anderen steht          von überlangem Arbeiten, von Mehrarbeit
im Koalitionsvertrag, dass wir einen Rechts-        oder verkürzten Ruhepausen. Ich finde, dass
rahmen für mobiles Arbeiten schaffen wollen.        es wichtig ist, sich dabei nicht zu sehr auf in-
Das ist vielleicht noch wichtiger, denn gerade      dividuelle Grenzziehungen zu konzentrieren.
jetzt in der Pandemie sind positive wie negati-     Natürlich kann es wichtig sein, individuell zu
ve Entwicklungen zu beobachten. Nehmen wir          lernen, besser Grenzen zu setzen – aber was
das Thema Unfallversicherungsschutz: Kaffee         steckt dahinter? Woher kommt dieser Zug-
holen in der Betriebsstätte ist versichert – Kaf-   zwang zu überlangen Arbeitszeiten, zu Mehr-
fee holen im Homeoffice, zu Hause in der Kü-        arbeit, zu verkürzten Ruhepausen?
che, ist nicht versichert. Oder nehmen wir das
Thema Entgrenzungserfahrungen: Damit es                 Der zentrale Punkt ist, dass man mobiles
nicht zu einer schleichenden Ausweitung der         Arbeiten – mit dieser Souveränität über das
Arbeitszeit kommt, müssen wir eine obligato-        „Wo“ und „Wann“ – immer sofort mit mehr
rische Zeiterfassung einführen. Studien zeigen,     Selbstbestimmung assoziiert. Wenn aber das
dass die Produktivität im Homeoffice größer         „Was“ und „Wieviel“ nicht mitgestaltet oder
ist und darüber hinaus die Arbeitszeiten um         mitbestimmt werden können, führt das dazu,
ein bis zwei Stunden pro Tag ausgeweitet wer-       dass man einem erhöhten Leistungsdruck aus-
den. Das sind zwei Beispiele dafür, an welchen      gesetzt und zu Mehrarbeit angehalten ist. Das
Stellen wir einen Rechtsrahmen gestalten kön-       ist ein Phänomen, das möglicherweise auch
nen, der das Homeoffice im Sinne der Beschäf-       mit einem Prozess der Vereinzelung einher-
tigten besser reguliert.                            geht. In unseren Untersuchungen konnten wir
                                                    gerade bei jüngeren Beschäftigten feststellen,
                                                    dass es insbesondere in Beschäftigungsfeldern,
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     wo die Leistungsparameter nicht so eindeutig           Drittens ist mit einer zunehmenden Digi-
     messbar sind, sehr schwierig ist, zu definieren,    talisierung immer auch die Möglichkeit ge-
     was der Normalitätsmaßstab ist, was gerecht-        geben, dass sich Unternehmen die Arbeits-
     fertigte und legitime Anforderungen sind. Ge-       kraft anderswo einkaufen. Damit könnte ein
     rade jüngere Beschäftigte neigen dazu, nicht        zusätzlicher Druck entstehen, auch auf die
     die Arbeitsanforderungen in Frage zu stellen,       hochqualifizierten Arbeitsplätze, gerade in
     sondern ihre eigene Leistungsfähigkeit. Sie ver-    den Ingenieursbüros. Das alles sind wich-
     suchen dann, die Arbeitsanforderungen über          tige Punkte, bei denen Regulierung ansetzen
     Mehrarbeit zu bewältigen. Diese halten sie je-      müsste.
     doch geheim, um nicht nach außen gestehen
     zu müssen, dass sie der Arbeit nicht gewach-
     sen sein könnten. Das ist im Homeoffice eine
     noch größere Gefahr, weil dort der Austausch
                                                         B    .B.: Wir haben mehrere Studien dazu ge-
                                                              macht. Folgende Aspekte sind interessant,
                                                         auch für die gewerkschaftliche Strategie: Wäh-
     – der kollektive Prozess des Vergleichens und       rend des ersten und zweiten Lockdowns der
     der Definition dessen, was eigentlich normale       Corona-Pandemie haben wir erfasst, wie hoch
     und zumutbare Leistungsanforderungen sind           die Zustimmung zum Homeoffice ist. Unsere
     – noch weiter verlorengeht. Es fehlt die Sicht-     Erwartung war – aufgrund der Erfahrung des
     barkeit dessen, was alles dazugehört, um die        Homeschoolings –, dass die Leute es leid sind.
     Arbeit zu bewältigen.                               Das genaue Gegenteil ist aber der Fall: 87 Pro-
                                                         zent der Beschäftigten sagen, sie wollen wei-

     K     .D.: Ich möchte noch einmal auf mög-
           lichen Konfliktstoff oder Ambivalenzen
     hinweisen. Die Frage ist, wie man das Homeof-
                                                         terhin wenigstens teilweise mobil arbeiten. Es
                                                         gibt ein großes Bedürfnis, die Arbeit ein Stück
                                                         weit selbstbestimmt definieren zu können, und
     fice reguliert und ob wir nicht dazu übergehen      zwar auch im Hinblick auf den Ort und die
     müssen, eine genaue Leistungserfassung zu           Organisation der Arbeit. Ein weiterer wich-
     machen, auch über den Bildschirm. Die Frage,        tiger Aspekt ist der Wegfall von Fahrtzeiten.
     die sich damit aber sofort verbindet, ist, ob die   Für 78 Prozent der Beschäftigten ist das der
     Vorteile mobilen Arbeitens – autonomer zu           entscheidende Grund, warum das Homeoffice
     sein, sich nicht dauernd reingucken zu lassen,      aus ihrer Sicht eine gute Sache ist.
     Pausen machen zu können, wann man will, die
     Arbeitszeiten so zu legen, wie man will – damit        Ich denke, dass die Gewerkschaften nicht
     nicht verlorengehen.                                gut beraten sind, wenn sie sich – so wie zum
                                                         Teil in Österreich – gegen das Homeoffice
        Auf Seiten der Beschäftigten darf man nicht      stellen und beispielsweise sagen, wir bräuch-
     unterschätzen, dass sie aus unterschiedlichen       ten eher ein Recht auf einen Büroarbeitsplatz.
     Motiven in den Betrieb gehen. Meine Frau zum        Man muss den realen Wünschen der Beschäf-
     Beispiel leitet ein Sozialunternehmen mit 220       tigten nach selbstbestimmter Flexibilität auch
     Beschäftigten. Obwohl einige die Möglichkeit        im Rahmen einer kollektiven Strategie entge-
     hätten, geht von denen so gut wie niemand ins       genkommen. Unsere Aufgabe als Politik sehe
     Homeoffice, weil alle zeigen wollen, dass sie       ich darin, solche kollektiven Agreements zu
     unentbehrlich sind. Das ist der erste Punkt.        unterstützen. Deshalb haben wir in unserem
                                                         Gesetzentwurf zum mobilen Arbeiten vorge-
        Zweitens besteht die Gefahr einer Spaltung       sehen, dass man aus dem Rechtsanspruch auf
     der Arbeitswelt. In einigen Industriebetrieben      mobiles Arbeiten dann herausoptieren kann,
     kommt es zu Konflikten, weil die Büro-Ange-         wenn es eine tarifliche Vereinbarung über das
     stellten ins Homeoffice gehen können, die Be-       Homeoffice für die entsprechende Branche
     schäftigten in den Werken aber in den Betrieb       gibt. Das scheint mir ein starker Anreiz für
     müssen. Das ist die alte Konfliktlage zwischen      Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu sein, hier
     Arbeitern und Angestellten: „Die machen sich        zu passgenauen Lösungen zu kommen.
     auf unsere Kosten einen schönen Lenz und wir
     sind die Angeschmierten.“
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    Zu den negativen Entwicklungen gehört,
dass die Situation im Betrieb im Hinblick auf
Aufstiegschancen, auf Sichtbarkeit, auf die
                                                    K     .D.: In den Industriebetrieben ist es zum
                                                          Teil so, wie bereits angedeutet wurde:
                                                    Dass sich der Arbeitsprozess der Beschäftigten
Wahrnehmbarkeit von Arbeitsergebnissen,             in den Büros nicht stark verändert hat und dass
geschlechterspezifisch sehr unterschiedlich         auch diejenigen, die ins Homeoffice wechseln,
ist. Frauen nehmen sehr stark wahr, dass sie        nicht das Gefühl haben, dass sich hinsichtlich
aus der internen unternehmerischen Bewer-           ihrer Tätigkeiten und der Belastungen, die da-
tungskultur ausgeschlossen werden und sich          mit verbunden sind, ein großer Unterschied
gleichzeitig noch um das Kind kümmern müs-          feststellen lässt.
sen. Die männlichen Remote Worker gehen im
Vergleich zu den weiblichen Beschäftigten trotz        Aber jetzt noch einmal zu dem, was im Ho-
Homeschooling doppelt so häufig in den Be-          meoffice fehlt, also den anderen in die Augen
trieb zurück. Das ist eine sehr prekäre Entwick-    schauen zu können – Personen-Vertrauen auf-
lung für die Aufstiegschancen von Frauen.           bauen zu können, könnte man mit Luhmann
                                                    sagen. Ich frage mich, was das für Interessen-

S   .N.: Es sind ja immer drei Punkte, die ge-
    nannt werden: Einsparen von Fahrtwegen,
bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie
                                                    vertretung bedeutet. Die Gewerkschaften sind
                                                    mit entstanden im Kampf gegen die Heim-
                                                    arbeit. Es war die Textilindustrie, es war das
und zu Hause besser und konzentrierter arbei-       Verlagswesen – wenn man so will Formen von
ten zu können. Ich finde aber, dass man immer       Plattformunternehmen, also Zwischenhändler
noch einmal nachhaken muss: Warum ist das           –, die die Familien knechteten, ihnen im Grun-
eigentlich so, warum kann zu Hause besser und       de die Verantwortung für den Stücklohn, für
konzentrierter gearbeitet werden als im Büro?       die Qualität des Produktes und für die Menge
Die Frage nach den Bedingungen des Arbeitens        aufhalsten und ihnen dann einen Zeitpunkt
vor Ort im Betrieb sollte man nicht außer Acht      setzten, bis zu dem eine bestimmte Menge in
lassen, wenn man über Homeoffice-Regelungen         bestimmter Qualität geliefert sein musste. Sie
verhandelt.                                         bestimmten den Preis und verkauften das Pro-
                                                    dukt dann zu weit höheren Preisen am Markt.
    Ich würde außerdem gerne noch einmal auf        Das war ein Ausbeutungssystem und einer der
die Frage zurückkommen, ob es eine obligato-        Hintergründe für die Weberaufstände.
rische Arbeitszeiterfassung geben sollte. Das
ist ein Problem, mit dem wir uns schon lange           Für die Gewerkschaften galt, dass es im
herumschlagen, unabhängig vom Homeoffice:           Betrieb viel einfacher war, die Beschäftigten
Wie reguliert man Leistungsdruck unter Bedin-       zu organisieren. Das wirft die Frage auf: Wie
gungen von Ergebnissteuerung? Es gibt ja auch       entsteht das nötige Personen-Vertrauen – di-
das Phänomen von Arbeitszeitregelungen, die         ese basale Arbeitssolidarität, die oft brüchig
von den Beschäftigten selbst unterlaufen wer-       geworden ist, die es aber in bestimmten Be-
den. Wir kennen das Bild vom Beschäftigten,         reichen nachweislich gibt – in einer hoch di-
der ausstempelt und dann wieder durch das           gitalisierten Arbeitswelt, mit Nomaden, die
Fenster einsteigt – wo der Betriebsrat auf einmal   vor dem Bildschirm sitzen? Das ist glaube ich
derjenige ist, der als Belastung wahrgenommen       eine wichtige Frage – zumal in einer Arbeits-
wird, weil er verhindert, dass man seine Ar-        welt, in der die kollektivvertragliche Regelung
beit fertigmachen kann. Arbeitszeitregelungen       von Arbeitszeit zurückgeht, in der die Mitbe-
bieten einen Schutz und müssen hochgehalten         stimmung zurückgeht, der gewerkschaftliche
werden. Aber möglicherweise genügt das nicht        Organisationsgrad. Woher kommt da die
– Arbeitszeitregelungen müssen Hand in Hand         Gestaltung? Um noch einmal eine Zahl aus
gehen mit Mitbestimmung im Bereich der Res-         unserer Unternehmensbefragung zu nennen:
sourcenausstattung, der Personalausstattung,        Die Zahl der Geschäftsführer, die sagen, die
der Definition von Anforderungen.                   Betriebsräte reden mit, die liegt bei 0,17 Pro-
                                                    zent. Das unterstreicht noch einmal die Frage:
                                                    Wie entsteht unter solchen Bedingungen eine
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     Alltagssolidarität und was bedeutet das für In-
     teressenvertretungen?                              S   .N.: Wir haben drei verschiedene Reak-
                                                            tionen auf Seiten der Betriebsräte beob-
                                                        achtet: Es gab Betriebsräte, die das Digitale,

     B    .B.: Für die sozialdemokratische Linke ist
          das natürlich eine Kernfrage: Wie entsteht
     das Kollektive und wie kann man das kollek-
                                                        das Homeoffice und das mobile Arbeiten vor
                                                        allem als eine Einschränkung ihrer Betriebs-
                                                        ratsarbeit begriffen haben. Der Großteil sieht
     tive Moment mobilisieren und aktivieren, um        aber zumindest auch Chancen – und vor allem
     die Arbeitswelt progressiv zu verändern? Ich       in der derzeitigen Situation die Notwendig-
     hätte darauf zwei Antworten. Erstens glau-         keit dessen, was Björn gerade als Online-Be-
     be ich, dass die technologische Entwicklung        fähigung bezeichnet hat. Und dann haben wir
     einen Beitrag zum Kollektiven leisten kann,        einen kleineren Teil der Betriebsräte, der das
     denn wir werden erleben, dass das, was Klaus       Ganze auch langfristig als Chance für neue
     beschreibt, diese persönliche Erfahrung und        Mobilisierungsstrategien begreift, als eine
     Organisation am Arbeitsplatz, mit Hilfe neuer      Form der Modernisierung. Es gibt sicherlich
     Technologien mindestens simuliert wird und         auch Aspekte, die digital sogar besser funkti-
     dass wir nicht auf dem heutigen technischen        onieren – zum Beispiel Aktionen, die besser
     Stand des Homeoffice verharren.                    organisiert werden können. Wir haben zudem
                                                        in einigen unserer Unternehmen Betriebsver-
        Zweitens: Es hilft ein Blick in die USA, weil   sammlungen erlebt, bei denen die Beteiligung
     wir in Deutschland relativ wenige Studien dazu     weit höher war als sonst.
     haben und die Plattformarbeit sich immer noch
     auf einem sehr niedrigen Niveau bewegt – un-          Das alles geschieht aber auf einer Basis
     seren Studien zufolge sind es maximal 450.000      von kollektiven Prozessen, die schon vorher
     Beschäftigte, die partiell auf Plattformen ar-     bestanden haben. Und ich glaube, das ist der
     beiten. Was passiert da eigentlich – natürlich     Knackpunkt, wenn wir den Interessenbil-
     auf Basis anderer Tarif- und Kollektivtraditi-     dungsprozess betrachten: Je weniger es um ex-
     onen? Dort können wir beobachten, dass über        plizit definierbare Streitpunkte oder Interessen
     die internen Plattformen und über virtuelle        geht, sondern um ganz subtile Prozesse der
     Auseinandersetzung ebenfalls kollektive Mei-       Herausbildung von Interessen, von Bewusst-
     nungsbildungsprozesse stattfinden. Es gab          sein – um eine Politisierung, die sich über den
     zum Beispiel bei Google einen Riesenaufstand       informellen Austausch im Alltag, über die Ar-
     gegen den Einsatz von unternehmenseigener          beitserfahrung ergibt –, desto skeptischer bin
     Technik in Drohnen, mit der Konsequenz,            ich, ob das die digitale Welt einfach so abbilden
     dass dies gestoppt wurde. Wir sehen also eine      kann. Ähnlich wie im Arbeitsprozess selbst
     Mobilisierung, die man jetzt als gewerkschaft-     – der vorhin angesprochene Austausch in der
     liche Strategie antizipieren muss. Zunächst        Kaffeeküche – wird auch im Interessenbil-
     brauchen wir dafür ein digitales Zutrittsrecht     dungsprozess etwas fehlen, auch hinsichtlich
     für Gewerkschaften und zweitens brauchen           der Frage, wie der Betriebsrat involviert ist in
     wir eine Online-Befähigung von Betriebsräten       das, was die Beschäftigten umtreibt. Ich glau-
     und Gewerkschaften. Letzteres versuchen wir        be nicht, dass das jetzt alles verlorengeht, aber
     gerade im Rahmen des Betriebsrätestärkungs-        es liegt ein gutes Stück Arbeit vor uns und das
     gesetzes: Wir wollen Betriebsräte in die Lage      Digitale wird nicht alles auffangen können.
     versetzen, sich auch online mit Sachverstand
     aufzuladen, um ihrer kollektiven Interessen-
     vertretung besser gerecht werden zu können.
     Denn ich glaube eben nicht, dass ein Ankämp-
                                                        B   .B.: Was aber auch damit zusammen-
                                                            hängt, dass es in den Belegschaften la-
                                                        tente Konflikte gibt. Das sehen wir jetzt in der
     fen gegen diese neuen Formen der Arbeitswelt       Pandemie ganz deutlich: Die WhiteCollar-
     erfolgreich sein wird, sondern dass wir die be-    Mitarbeiter gehen ins Homeoffice, um sich
     stehenden Systeme fit machen müssen für eine       nicht anzustecken, während die Blue-Collar-
     entsprechende Interessenvertretung.                Mitarbeiter arbeiten gehen – arbeiten gehen
                                                        wollen – und gleichzeitig spüren, dass sie auf
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eine gewisse Art und Weise unterprivilegiert        weit über das Homeoffice hinaus – am ehesten
sind. Deswegen muss man überlegen, wie man          in der Lage wäre, die Professionen durch die
auch hier hybride Formen der kollektiven            Demokratisierung von Produktionsabläufen
Interessenvertretung organisieren kann. Da          zu verbinden.
sind die Gewerkschaften ja schon dran. Aus
Regierungssicht bedeutet das, dass wir alles           Ich denke da an Debatten, die ich zum Bei-
vermeiden müssen, was die Spaltung der Ar-          spiel mit IT-Leuten der Fraunhofer Institute
beitsgesellschaft weiter vorantreibt – und na-      geführt habe. Bei einer Konferenz, die vom
türlich bergen auch die neuen Arbeitsformen         Betriebsrat organisiert war, haben wir uns
diese Gefahr. Menschen mit Abitur haben 40          über Dinge unterhalten wie etwa das Kon-
Prozent häufiger die Möglichkeit, Homeoffice        trollpotenzial, das in der Digitalisierung steckt
zu machen.                                          – die Tendenz, Datenspuren, die wir im Netz
                                                    gratis hinterlassen, kommerziell zu nutzen,
spw: Ich würde gerne noch einmal an die De-         sie in Verhaltensvorhersage-Produkte umzu-
     batte über die Möglichkeiten und Blo-          wandeln und damit in letzter Konsequenz ver-
     ckierungen von solidarischer Praxis und        haltenssteuernd zu wirken. Darüber war mit
     gewerkschaftlicher Mobilisierung an-           denen eine hochqualifizierte Debatte möglich.
     knüpfen. Ihr habt angesprochen, dass die       Für mich ergibt sich daraus die Frage, ob wir
     vorherigen Erfahrungen mit Solidarität,        auf diese Gruppen – ich würde von einer Klas-
     mit Kämpfen, aber auch die Ressourcen          se sprechen – nicht genauer schauen müssen.
     der Mitbestimmung und der Institutio-          Alle Versuche, sie zu organisieren, sind bis-
     nen, die Mitentscheidung ermöglichen,          her gescheitert. Wie man Zugang zu ihr fin-
     entscheidend sind. Welche Ressourcen           det, ist eine entscheidende gewerkschaftliche
     – demokratische Ressourcen und andere –        Frage. Und die Antwort kann nicht über die
     benötigen wir, um die Beteiligung zu er-       klassischen gewerkschaftlichen Themen kom-
     möglichen, die für ein selbstbestimmtes        men, sondern zum Beispiel über das Thema
     Arbeiten erforderlich ist?                     Digitalisierung und damit verbundene Ar-
                                                    beitsformen.

K     .D.: Eine schwierige Frage. Ich versuche
      mal, das etwas positiver zu wenden. Es
gab in den 1960er Jahren eine Debatte über die
                                                        Eine Anmerkung zu den konventionellen
                                                    Produktions-Industriearbeitern, von denen
„neue Arbeiterklasse“. Damit waren die aka-         die meisten männlich sind, aber nicht alle.
demisch qualifizierten – hochqualifizierten         Was soll eigentlich aus denen werden? Mit
– Cadres gemeint, wie man sie in Frankreich         Blick auf das, was die Digitalisierung mög-
nannte. Die Hoffnung war, dass diese wach-          licherweise bringen wird und mit Blick auf
sende Gruppe, die nicht zur sozialen Mitte          mögliche Gestaltungspotenziale muss die Hö-
gezählt wurde, ein Bewusstsein entwickelt,          herqualifizierung in diesen Arbeitsbereichen
das sie in die Lage versetzt, demokratische         ein entscheidendes Ziel sein. Und da stellt sich
Kontrolle nicht nur über die Arbeit, sondern        mir erstens die Frage: Können wir es schaffen,
über die Produktionsabläufe zu gewinnen. Ich        das Bildungssystem noch weit durchlässiger
glaube, dass wir überprüfen müssen, ob wir es       zu gestalten als derzeit? Für Menschen ohne
nicht inzwischen tatsächlich mit einer lohnab-      Abitur bedeutet das zum Beispiel, nach einer
hängigen Klasse zu tun haben, die akademisch        bestimmten Zeit im Betrieb ausscheiden zu
qualifiziert ist, die nicht über Kontrollmacht,     können, um eine möglichst grundfinanzierte
aber über andere Macht verfügt – also nicht die     Weiterbildung aufzunehmen. Beispiel „Bil-
Rolle des Vorgesetzten ausübt, aber tatsächlich     dungskarenz“ in Österreich: Wer aus dem
qua Profession auf die Produktionsabläufe           Beruf aussteigt und ein Studium aufnimmt,
schaut, die auch wegen der Digitalisierung ein      erhält für das erste Studienjahr mindestens
Überblickswissen hat, das sich nicht auf den        60 Prozent des letzten Netto-Verdienstes. Das
eigenen Arbeitsplatz beschränkt. Die Frage          ist ein gewaltiger Anreiz. Verbunden werden
ist, ob nicht genau diese Klasse – das geht jetzt   müsste das damit, dass Menschen ohne Abi-
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     tur auch an der Universität studieren können,      werden. Der gegenläufige Trend dazu ist der
     mit einem Studienangebot, das auf diese Men-       zur Singularität. Die Vereinzelung anhand von
     schen zugeschnitten ist.                           Herkunftsfragen, aber auch anhand von so-
                                                        ziokulturellen Merkmalen, ist sehr stark aus-
        Ein zweites Element ist das Wechseln der Be-    geprägt. Was wir versuchen ist, uns jetzt sehr
     rufe. Wenn man sagt, „ihr verliert eure Arbeits-   stark dem Thema der Basisarbeiterinnen und -
     plätze in der Autoindustrie, dann geht doch in     arbeiter – vor allem in den sozialen Dienstleis-
     die Pflege“, dann gibt es einen Aufschrei der      tungen, aber nicht nur dort – zu widmen, also
     Empörung. Auch wegen der schlechten Bezah-         denjenigen, die eine Gesellschaft notwendiger-
     lung und der geringen Aufstiegsmöglichkeiten.      weise braucht und ohne die eine Wirtschaft gar
     Würde man aber bei den systemrelevanten            nicht funktionieren kann. Wie kann man die
     Berufen im Sozialbereich etwas ändern, auch        Wertschätzung für ihre Arbeit erhöhen? Das
     bezüglich der Arbeitsformen, dann würde das        ist eine Frage von Lohn, aber nicht nur. Fest
     den Wechsel erleichtern. Wenn man über sol-        steht: Das Potenzial der Basisarbeiterinnen
     che Elemente eine Aufwertung der konventio-        und -arbeiter zu heben ist für eine kollektive
     nellen Arbeiterklassen erreicht, dann entschärft   Strategie entscheidend: Von Gewerkschaften,
     das auch die Problematik, die mit dem Home-        Betriebsräten, der Sozialdemokratie aber auch
     office verbunden ist, weil man nicht mehr das      vom Staat selbst.
     Gefühl haben muss, immer außenvor zu sein.
                                                            Zweitens: Im Hinblick auf die Frage nach

     S   .N.: Was ich spannend finde, ist die Frage:
         Was sind gewerkschaftspolitische Themen
     und was sind Themen jenseits der eigenen
                                                        einer Qualifizierungsstrategie spreche ich ger-
                                                        ne darüber, dass wir in der Transformation der
                                                        nächsten zehn bis fünfzehn Jahre drei sichere
     Belastung? Es sind eben nicht nur die höher-       Häfen für Beschäftigte brauchen. Der erste
     qualifizierten Beschäftigten, die einen Über-      sichere Hafen besteht in zeitgemäßen Ant-
     blick über mehr als ihren eigenen Arbeitsplatz     worten des Rentensystems, wenn ein Schiff
     haben. Gerade unter Bedingungen von ergeb-         einläuft und nicht mehr kann. Zweitens brau-
     nisorientierter Steuerung – von einer systema-     chen wir einen sicheren Hafen, in dem man
     tischen Erweiterung von Autonomie für die          sich aufladen kann, um dann wieder in See
     Beschäftigten – haben wir den Effekt, dass die     zu stechen. Das ist das, was Klaus Dörre als
     Beschäftigten auf allen Qualifikationsebenen       Transformationsbrücken für die betroffenen
     ganz genaue Vorstellungen davon entwickeln,        Beschäftigtengruppen beschrieben hat. Hier
     wie ihre Arbeit zu machen ist. Das bewegt sich     ist entscheidend: Gibt es die entsprechenden
     auf der Ebene von „Was ist gute Arbeit?“ – nicht   Qualifikationsangebote und werden sie finan-
     im Sinne von „Was sind meine guten Arbeitsbe-      ziert, auch über einen längeren Zeitraum? Und
     dingungen?“, sondern „Welchen Zweck verfolgt       was bedeutet das im Hinblick auf den Zielort,
     meine Arbeit?“. Und das stimmt nicht immer         an dem wahrscheinlich das Gehaltsniveau ge-
     mit dem überein, was das Unternehmen als           ringer ist? Hier müssen wir über Umverteilung
     Ziel setzt. Darin stecken wahnsinnig viele Kon-    reden – oder auch über einen Beitrag der Ar-
     flikte, die grundsätzliche, systematische Wider-   beitgeber, die einen Fachkräftebedarf haben,
     sprüche aufreißen und als interessenpolitische     den sie sonst gar nicht decken könnten. Ein
     Konflikte aufgegriffen werden könnten.             dritter sicherer Hafen für Beschäftigte kann
                                                        auch sein, den Transformationsprozess in der

     B    .B.: Ich möchte zwei Dinge dazu sagen.
          Erstens: Ich glaube auch, dass es einen
     Trend dahingehend gibt, dass die Zeit der Ego-
                                                        Industrie besser zu gewährleisten. Da sind wir
                                                        beim Recht auf Weiterbildung: Wir brauchen
                                                        eine höhere Weiterbildungsquote in Deutsch-
     Taktiker auch unter den Beschäftigten bis auf      land, insbesondere in den unteren und mitt-
     wenige Ausnahmen vorbei ist. Das ist durch-        leren Qualifikationssegmenten, damit diese
     aus auch in den höherqualifizierten Beschäf-       schritthalten können, auch mit der beschleu-
     tigtengruppen der Fall. Die Suche nach einem       nigten digitalen Entwicklung.
     Kollektiv ist also schon da und kann adressiert
spw 1 | 2021                                                                    Analyse & Strategie       87

spw: Während der Pandemie haben sich Rück-            ökonomischen Folgen für Frauen, weil sie zum
     schritte gezeigt, was die Aufteilung der         Beispiel – aufgrund der Arbeitsmarktstruktu-
     Sorgearbeit betrifft. Wird sich diese Ent-       ren und der Bereiche, in denen sie beschäftigt
     wicklung im Zuge mobilen Arbeitens wei-          sind – stärker davon betroffen sind, dass das
     ter verstärken? Inwiefern kann dem entge-        Kurzarbeitergeld nicht aufgestockt wird. Oder
     gengewirkt werden?                               weil sie während der Lockdowns ihre Arbeits-
                                                      zeit stärker reduziert haben.

B    .B.: Ich finde es erschütternd, dass in der
     aktuellen politischen Auseinandersetzung
das Homeoffice mit Kinderbetreuung gleich-
                                                         Es gibt durchaus Debatten darüber, ob es
                                                      nicht doch auch Modernisierungsprozesse
gesetzt wird. Die zivilisatorische Errungen-          gab, weil Männer für ihr Verhältnis tatsäch-
schaft, die wir erkämpft haben in den letzten         lich die Betreuungszeiten erheblich ausgewei-
Jahrzehnten, nämlich, dass Arbeit und Kin-            tet haben, neue Erfahrungen gemacht haben.
derbetreuung nicht zusammengehen können,              Andererseits sind die Zahlen nach dem ersten
der Zugang zu Arbeit aber natürlich trotzdem          Lockdown auch sofort wieder runtergegangen
realisiert werden soll, die wird in Frage gestellt.   – man kann also nicht behaupten, da habe sich
Und sie wird nicht nur schleichend in Frage ge-       etwas im progressiven Sinne verfestigt.
stellt: Wichtige politische Akteure auch in der
CDU/CSU verlangen, dass Menschen Kinder-
betreuung und Erwerbsarbeit zusammen reali-
sieren. Das ist ein fataler Weg, nicht nur für das
                                                      K     .D.: Ich blicke auf einen langen Zeitraum
                                                            zurück und bezogen auf das Mobilisie-
                                                      rungspotenzial entlang der Geschlechterachse
Geschlechterverhältnis, sondern auch für den          würde ich eine ziemlich optimistische Vorstel-
gesellschaftlichen Fortschritt.                       lung entwickeln. Auf der einen Seite gibt es po-
                                                      litische Kräfte, die einen Backlash wollen. Aber

K    .D.: Ich glaube nicht, dass sich dieser
     Backlash durchsetzen wird, weil ich sicher
bin, dass auf Seiten der Frauen genug Power
                                                      wenn ich mir das universitäre Spektrum an-
                                                      schaue, die Studierendengeneration, dann kann
                                                      ich mir beim besten Willen nicht vorstellen,
vorhanden ist, das zurück zu erkämpfen. Es ist        dass die sich in eine solche Geschlechterspal-
ja kein Zufall, dass über die Geschlechterach-        tung drängen lassen, die sich über das Home-
se die größten Mobilisierungen erreicht wer-          office vollzieht, es würde mich stark wundern.
den. Gesellschaftlich wird sich etwas anderes         Aber es ist eine zukunftsoffene Frage.
durchsetzen.

S   .N.: Ich finde es in der Debatte sehr er-
    staunlich, dass sich der Streit immer nur
                                                      S   .N.: Ich verstehe, was du sagst. Gleichzeitig
                                                          sieht man genau diese Entwicklung: Frauen
                                                      fahren unter den Bedingungen der Pandemie
darum dreht, wer ins Homeoffice darf – als ob         ihre Arbeitszeit stärker zurück als Männer. Wie
damit die Betreuungsfrage schon gelöst wäre.          kommt das? Individuell hat das immer ver-
Darüber hinaus finde ich es schwierig, von ei-        meintlich objektive Gründe – sie verdient halt
ner Retraditionalisierung zu sprechen, weil es        weniger, daher lohnt es sich mehr –, aber das ist
unterstellt, man hätte vorher egalitäre Arran-        eine Struktur, die man damit reproduziert. Und
gements gehabt. Das ist nicht der Fall. Tatsäch-      offensichtlich reicht die Tatsache, dass man das
lich haben wir es meines Erachtens nicht un-          zunehmend als Ungerechtigkeit wahrnimmt,
bedingt mit einem Backlash zu tun, sondern            nicht, um dagegen anzugehen. 	                 ó
mit einer Zuspitzung oder Verschärfung des-
sen, was vorher schon war. Tatsächlich haben
Männer während des Lockdowns in absoluten
Zahlen fast genauso viele zusätzliche Stun-
den an Sorgearbeit geleistet wie Frauen – nur
haben Frauen schon vorher einen wesentlich
größeren Teil der Sorgearbeit übernommen.
Ein weiteres Problem sind die langfristigen
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