Sexueller Missbrauch und der professionelle Umgang durch Sozialarbeiter
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Sexueller Missbrauch und der professionelle Umgang durch Sozialarbeiter URN:nbn:de:gbv:519-thesis 2015-0213-8 Bachelorarbeit von Jessica Nieschwitz Hochschule Neubrandenburg Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung Studiengang Soziale Arbeit Sommersemester 2015 Abgabetermin: 25.06.2015 Erstprüfer: Prof. Dr. Claudia Steckelberg Zweitprüfer: Prof. Dr. Werner Freigang
Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................................... I Tabellenverzeichnis ............................................................................................................................... II 1. Einleitung ....................................................................................................................................... 1 2. Sexueller Missbrauch .................................................................................................................... 2 2.1. Begriffliche Annährung ........................................................................................................... 2 2.2. Formen und Ausmaß ............................................................................................................... 7 2.3. Täter und Betroffene ............................................................................................................. 11 2.3.1. Die Täter und ihre Strategien ........................................................................................ 12 2.3.2. Die Betroffenen und ihr Schweigen .............................................................................. 20 3. Auswirkungen Sexueller Gewalt ................................................................................................ 24 3.1. Gibt es Anzeichen für sexuelle Gewalt? ............................................................................... 24 3.2. Folgen der sexuellen Gewalt ................................................................................................. 25 4. Umgang mit den Betroffenen im Bereich der Jugendhilfe ...................................................... 30 4.1. Aufgaben der Jugendhilfe...................................................................................................... 30 4.2. Professionelle Verdachtsabklärung ....................................................................................... 31 4.2.1. Leitfaden für die Gesprächsführung mit Betroffenen.................................................... 32 4.2.2. Anzeigepflicht, Datenschutz und Schweigepflicht ........................................................ 36 4.3. Professionelle Unterstützung ................................................................................................. 37 4.4. Interventionsmöglichkeiten ................................................................................................... 40 5. Fazit .............................................................................................................................................. 42 Literaturverzeichnis ............................................................................................................................ 44 Rechtsquellenverzeichnis .................................................................................................................... 48 Eidesstattliche Erklärung ................................................................................................................... 49
Abbildungsverzeichnis Abbildung 2-1:Die Geschlechterverteilung der Betroffenen für das Berichtsjahr 2013 ....................... 22 I
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Ausmaß der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen ................................................ 9 Tabelle 2: Geschlechts- und Altersstruktur von Tätern für das Berichtsjahr 2013 ............................... 14 II
1. Einleitung Der sexuelle Missbrauch ist ein Problem, welches in der Gesellschaft heute als allgegenwärtig wahrgenommen wird. Aufgrund der medialen Präsenz und der schnellen und leichteren Verbreitung von Informationen, hat das Thema eine allgemeine Wahrnehmung und Sensibilisierung erhalten. Insbesondere der sexuelle Missbrauch gegen Kinder und Jugendliche wird, in der Gesellschaft und in den Medien, zunehmend thematisiert. Auch diese Arbeit nimmt Bezug auf die letztgenannte Altersgruppe und setzt sich mit dem sexuellen Missbrauch sowie dem professionellen Umgang der Betroffenen, durch Sozialarbeiter 1, auseinander. Das Ziel ist eine Handlungsempfehlung für Sozialarbeiter, die den korrekten und professionellen Umgang gegenüber den (mutmaßlich) Betroffenen beschreibt. Das Verhalten der Sozialarbeiter gegenüber hilfesuchenden Mädchen und Jungen, insbesondere die verbale und nonverbale Kommunikation, ist Teil dieser Betrachtung. Des Weiteren werden potentielle Auswirkungen der sexuellen Gewalt betrachtet und mögliche Anzeichen erläutert, welche die Betroffenen eventuell zeigen, sodass Sozialarbeiter themenspezifische Verhaltensauffälligkeiten erkennen können. Zusätzlich greift die Arbeit folgendes Stigma als These auf, welche nach Ansicht der Gesellschaft die Hauptlast der sexuellen Missbrauchsfälle trägt: „Alte, fremde Männer missbrauchen freizügig gekleidete, junge Mädchen.“ Dieses Vorurteil wird im Zuge der Literaturrecherche und Analyse der Betroffenendaten bewertet. Die nachfolgende Arbeit beginnt mit der Auseinandersetzung des sexuellen Missbrauchs. Diesbezüglich wird der Begriff definiert, weiterhin werden Formen und Ausmaß erläutert und die Täter und Betroffenen2 behandelt. Danach folgt die Analyse der Auswirkungen sexueller Gewalt. Gibt es Anzeichen bei den Betroffenen? Welche potentiellen Folgen hat die sexuelle Gewalt? In Kapitel 4 wird der professionelle Umgang mit den Betroffenen illustriert. Dies ist als Handlungsempfehlung für einen Sozialarbeiter vorgesehen. Im Fazit wird die Thematik zusammengefasst und die Ergebnisse kritisch betrachtet. 1 Aufgrund der leichteren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung, wie z.B. Sozialarbeiter/Innen, verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für beide Geschlechter. Im vorliegenden Text wird durchgängig die männliche Form benutzt. Im Sinne des Gleichbehandlungsgesetzes sind diese Bezeichnungen als nicht geschlechtsspezifisch zu betrachten. 2 Zu dem Zweck, dass keine Reduzierung auf den Opferstatus erfolgt, wird der Begriff „ Betroffene“ genutzt. Jedoch wird aus Gründen der eindeutigen Zuschreibung der Verantwortlichkeit zur Entlastung der Kinder und Jugendlichen der Terminus „ Täter“ verwendet. 1
2. Sexueller Missbrauch Für die Auseinandersetzung mit der zentralen Fragestellung, ist es notwendig sich gedanklich dem Begriff des sexuellen Missbrauchs anzunähern. Zudem erfolgt eine Vertiefung in die Formenvielfalt und eine Annäherung zu dem Ausmaß sexueller Übergriffe. Ebenso werden die Täterstrategien näher erläutert, um ein Verständnis für das Schweigen der Betroffenen zu erhalten. 2.1. Begriffliche Annährung In diesem Kapitel werden die in der Fachliteratur zahlreich verwendeten Begriffe und Definitionen zu diesem Themenbereich aufgeführt, beurteilt und gegeneinander abgegrenzt. Anlässlich des Überangebotes von Termini und Definitionsansätzen und der daraus resultierenden Bedeutungsvielfalt, zielt dieses Kapitel zur Verhinderung von Missverständnissen, auf die Erarbeitung einer Definition zum Schwerpunkt des sexuellen Missbrauchs, ab.3 Auf diese ausgearbeitete Begriffsbestimmung wird sich anschließend die gesamte Arbeit beziehen. Termini zu dem Themenbereich Innerhalb der Fachliteratur finden sich zahlreiche Begriffe, welche nebeneinander oder als Synonyme genutzt werden, um den Gegenstand des sexuellen Missbrauchs zu beschreiben. Die Unterscheidung der Begrifflichkeiten liegt in den jeweils gesetzten Schwerpunkten, welche somit zu unterschiedlichen Interpretationen, innerhalb dieser Problematik, führen.4 Bei dem Terminus der „sexuellen Gewalt“ liegt der Fokus auf der Betonung der widerfahrenden Gewaltanwendung, wodurch die Gefühlslage der Betroffenen zum Ausdruck gebracht wird.5 Für die Verwendung, des am häufigsten genutzten Begriffes „ Sexueller Missbrauch“, sprechen 3 vgl. Bange 2004, S. 29 4 vgl. Bange 2002, S. 47 5 vgl. Gahleitner 2005, S. 20 2
nach Bange drei grundlegende Argumente. Der wohl ausschlaggebendste, wirkt jedem Gedankengang entgegen, der dem Kind eine Mitschuld zuträgt. Zudem entspricht diese Bezeichnung der juristischen Fachsprache und hat sich in dem Sprachgebrauch der Gesellschaft durchgesetzt. Als kritisch ist jedoch das Implizieren eines legitimen sexuellen Gebrauches von Kindern anzusehen. Dennoch wird in den weiteren Ausführungen sowohl der Begriff des sexuellen Missbrauchs, sowie der Terminus der sexuellen Gewalt Anwendung finden. Diese Begriffe werden synonym verwendet, um zum einen durch den Begriff der „Gewalt“ eindrücklich die Erniedrigung und das Machtverhältnis darzulegen, sowie das Ausmaß potenzieller traumatischer Folgen erkennen zu lassen. Zum anderen um der Durchsetzungskraft des Begriffes, des sexuellen Missbrauches, gerecht zu werden. Einige Autoren nutzen zudem den Ausdruck „sexuelle Ausbeutung“, um die Aspekte Macht und Unterdrückung hervorzuheben. Eine weitere Bezeichnung ist die sexuelle Misshandlung. Hierbei wird die Aufmerksamkeit auf die verschieden Formen der Gewalt gerichtet. Zudem wird herausgestellt, dass sich die sexuellen Formen nicht grundsätzlich von der nicht sexuellen Form unterscheiden. Da dieser Terminus die gesellschaftlichen Bedingungen, welcher die Betroffenen ausgesetzt sind, verschweigt und der sexuelle Missbrauch in zahlreichen Aspekten von den körperlichen Misshandlungen zu unterscheiden ist, wird er gerade von feministisch orientierten Autorinnen abgelehnt.6 Neben diesen bisher genannten Begriffen besteht noch eine Vielzahl an weiteren Bezeichnungen, auf welche in diesem Rahmen nicht eingegangen werden soll. Dazu zählen beispielsweise Seelenmord, sexueller Übergriff, sexualisierte Gewalt, sexuelle Belästigung, sexuelle Kindesmisshandlung oder sexuell übergriffiges Verhalten.7 Definitionen zum Themenbereich Bisher existiert keine allgemeingültige Definition zu dem Themenbereich des sexuellen Missbrauchs. Dies liegt daran, dass je nach theoretischer Herangehensweise und ethischen, sowie juristischen Hintergründen verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden.8 Die verschiedenen Begriffsbestimmungen beinhalten sowohl positive als auch negative Aspekte. 6 vgl. Bange 2002, S. 48 7 vgl. Wipplinger/ Amann 1998, S. 14f 8 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S.17 3
Einigkeit besteht lediglich in der Annahme, dass zwischen den Tätern und den Betroffenen gewöhnlich ein Gefälle bezüglich auf das Alter, die Reife oder die Macht existiert und es sich um sexuelle Übergriffe handelt, die gegen den Willen der Betroffenen erfolgen.9 Die Vielzahl an Definitionen lässt sich nach bestimmten Systemen kategorisieren. Zum einen wird zwischen ,,engen“ und „weiten“ Definitionen unterschieden und zum anderen bestehen Differenzierungsmöglichkeiten nach Kategorisierungssystemen, wie normativen, klinischen und Forschungs- Definitionen. Bei „weiten“ Definitionen bestehen die Bemühungen, jegliche als potenziell schädliche eingeschätzte Handlungen festzuhalten, d.h. es werden beispielsweise auch sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt als sexuelle Gewalt gewertet.10 Folglich zählt jede unerwünschte, gewaltsame sexuelle Handlung, wie zum Beispiel verbale und sexistische Belästigungen dazu. „Enge“ Definitionen beziehen sich ausschließlich auf direkten Körperkontakt durch oralen, analen und genitalen Geschlechtsverkehr.11 Normative Definitionen finden Anwendung in Gesetzen oder in Normen und Werten, daher beinhalten sie abstrakte Beschreibungen von Handlungen oder Ereignissen. Dabei erfolgt eine bewusste Vernachlässigung der traumatisierenden Momente und der daraus resultierenden Folgen für die Betroffenen. Die klinischen Definitionen hingegen basieren gerade darauf, da sich für die Therapie und die Beratung das subjektive Empfinden der Hilfesuchenden als maßgebend darstellt. Die Forschungsdefinitionen bilden eine Sondergruppe, weil sie sowohl Gebrauch von klinischen Erfahrungen, als auch von normativen Bewertungen machen. Für die Anwendung einer jeweiligen Definition sind das Erkenntnisinteresse und die Fragestellung von zentraler Bedeutung, d.h. befasst sich eine Arbeit mit der Fragestellung, ob Exhibitionismus traumatisierend wirkt, sollte eine „ weite“ Definition genutzt werden.12 Definitionskriterien Für die Operationalisierung der Definitionen werden zahlreiche Kriterien genutzt, welche mehr oder minder umstritten sind. Das Kriterium „gegen den Willen des Kindes“ erscheint bei erster Betrachtung als durchaus schlüssig, jedoch wird dabei die Hilflosigkeit des Kindes gegenüber dem Täter unzureichend berücksichtigt.13 Zahlreiche Betroffene begründen ihre Untätigkeit mit der Motivation, ihre Familienmitglieder vor dem Täter zu schützen. Häufig kommt es auch zu 9 vgl. Engfer 2005, S. 12 10 vgl. Bange 2002, S.48f 11 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S.17 12 vgl. Bange 2002, S. 49 13 vgl. ebd. 2002, S. 49 4
einer Umdeutung der Geschehnisse, besonders bei männlichen Betroffenen, da ein sexueller Missbrauch nicht der männlichen Geschlechtersozialisation entspricht. Dabei äußern die Geschädigten es selbst gewollt zu haben. Vor allem wenn es sich bei dem Täter um eine ältere Frau handelt, da die sexuelle Handlung von den Jungen zumeist nicht als sexueller Übergriff gewertet wird.14 Zudem kommen bei männlichen Betroffenen mit einem gleichgeschlechtlichen Täter Ängste auf, selbst homosexuell zu sein bzw. zu werden. Dabei besteht die Befürchtung dem Täter ähnlich zu sein und eventuell selbst zum Missbrauchenden zu werden. Oftmals erfolgt somit eine Umdeutung der erfahrenen sexuellen Übergriffe, d.h. es ergeht eine Beschreibung einer einvernehmlichen sexuellen Beziehung, um diesem Verdacht zu entgehen.15 Für zahlreiche Kinder und Jugendliche stellt diese Umdeutung auch eine Bewältigungsstrategie dar, um die Situation auszuhalten. Diese Abwehrmechanismen beschreibt Herman wie folgt, allerdings bezieht sie sich ausschließlich auf die innerfamiliäre sexuelle Gewalt. Obwohl sich das Mädchen oder der Junge einer gewissenlosen Macht des Täters hilflos ausgeliefert fühlt, darf es die Hoffnung nicht verlieren und muss an einen Sinn glauben. Die Kinder wollen sich das Vertrauen in ihre Eltern bewahren, da sie die absolute Verzweiflung als Alternative nicht ertragen könnten. Daher erfolgt häufig ein Freispruch der Eltern durch ihre Kinder.16 Ein Ausweg aus diesem Konflikt der „scheinbaren Einwilligung“ von Kindern stellt das Konzept des wissentlichen Einverständnisses dar. Ausgehend von der Annahme, dass Kinder gegenüber Erwachsenen keine gleichberechtigten Partner sein können, da sie körperlich, psychisch, kognitiv und sprachlich schwächer sind. Zudem können Kinder, die den Eltern rechtlich unterstellt sind, sexuelle Handlungen nicht wissentlich ablehnen bzw. zustimmen, da sie auf die emotionale und soziale Fürsorge der Eltern angewiesen sind. Daher gilt jeder sexuelle Kontakt zwischen einem Erwachsen und einem Kind generell als sexuelle Gewalt.17 Auch der „Altersunterschied zwischen Betroffenen und Tätern“ wird von verschiedenen Wissenschaftlern, in ihren jeweiligen Definitionen, genutzt. Dieses Kriterium wird besonders hervorgehoben, weil es neben der Art und der Dauer der sexuellen Handlungen am leichtesten zu operationalisieren erscheint.18 Erwähnt wird hierbei häufig eine Altersdiskrepanz von fünf Jahren, bevor überhaupt von sexueller Gewalt gesprochen wird. Diese Annahme ist jedoch 14 vgl. Engfer 2005, S. 15 15 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S 18 16 vgl. Hermann 1993, S. 142 17 vgl. Bange 2002, S. 50 18 vgl. Wipplinger/Amann 1998, S. 20; Bange 2002, S. 50; 5
schon daher umstritten, da sexueller Missbrauch auch unter gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen besteht und die verschiedenen Entwicklungsstände nicht aufführt. „Sexueller Missbrauch durch Blicke und Worte“ zählt zu dem weit gefassten Begriffsverständnis, da es sich um Übergriffe ohne Körperkontakt handelt. Zahlreiche Forscher berücksichtigen diese Handlungen in ihren Definitionen, weil sie zumindest von manchen Kindern und Jugendlichen als belastend erlebt werden.19 Ein weiteres Definitionskriterium stellt die „Abhängigkeiten von Folgen“ dar. Hartwig und Hensen beschreiben in ihrem Buch, weshalb eine Definition ausschließlich über die Folgen der sexuellen Gewalt unzureichend ist. Zum einen erleben Kinder und Jugendliche die sogenannte „wenig- intensive“ Form eines sexuellen Missbrauchs ohne maßgebende Störungen ihrer seelischen und sexuellen Entwicklung. Zum anderen treten bei den betroffenen Mädchen und Jungen nicht generell Verhaltensauffälligkeiten als Folge auf.20 Auch die „Absicht des Täters“ spielt eine entscheidende Rolle bei der Begriffsbestimmung. Sexuelle Gewalt ist ein bewusster Vorgang des Täters, welcher nicht zufällig sondern beabsichtigt erfolgt,21 d.h. in der Regel im Vorfeld einer exakten Planung bedarf. Folglich erweist sich dieses Kriterium als unbrauchbar. Nicht zu vergessen die „Beschränkung auf das Erlebte“. Zahlreiche Betroffene missbilligen die bewusste Wahrnehmung als ,,Opfer“ und wollen sich nicht permanent als dieses sehen. Diese Erkenntnisse zeigen auf, dass sich ein einziges Definitionskriterium als unzureichend erweist, um die Komplexität dieses Themenbereiches widerzuspiegeln. Daher sind Bemühungen zur Begriffsbestimmung nie vollständig, da es bei einem sexuellen Missbrauch immer Grenzfälle geben wird und dieser auch zu viele Erscheinungsformen aufweist, um sie in einer Definition festzuhalten. Diese Arbeit befasst sich mit dem Schwerpunkt des sexuellen Missbrauchs in der Jugendhilfe und dem professionellem Umgang mit dieser Thematik. Daher wird es als sinnvoll erachtet eine möglichst enge Definition von sexueller Gewalt für diese Arbeit zu verwenden, um die Handlungen möglichst operationalisierbar zu machen.22 In dieser Arbeit soll eine Definition von Bange und Deegener Anwendung finden, welche die sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen zusammenfasst: 19 vgl. Bange 2002, S. 50f 20 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S. 20 21 vgl. Steinhage 1989, S. 16 22 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S.20 6
„Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“23 2.2. Formen und Ausmaß Innerhalb dieses Kapitels wird sich mit der zentralen Frage der Häufigkeit von sexuellen Übergriffen, an Kindern und Jugendlichen, befasst. Bei dem Versuch, Ergebnisse zum Ausmaß zu erlangen, stößt die Forschung immer wieder auf verschiedenartige Schwierigkeiten, welche es bei den Ausführungen zu berücksichtigen gilt. Dennoch zeigen die folgenden Zahlen, dass sexuelle Übergriffe gerade gegenüber Mädchen und Frauen keine Seltenheit darstellen.24 Für die elementare Fragestellung dieser Arbeit erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Formen und dem Ausmaß sexueller Gewalt. Folglich können Formen eindeutiger kategorisiert werden und die Bedeutung für die Auseinandersetzung, mit der Frage des professionellen Umgangs mit Betroffenen, wird verdeutlicht. Durch eine Vielzahl an Begriffen und Definitionen bestehen zahlreiche Versuche zur Operationalisierung der sexuellen Gewalt. Einige Autoren, wie Bange und Deegener gehen noch darüber hinaus, indem sie die sexuellen Handlungen ihrer Intensität nach kategorisieren. Dabei werden sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt als leichtere Formen sexueller Gewalt eingeordnet. Dazu gehören das Zeigen von pornografischem Material, sowie anstößige Anspielungen, Exhibitionismus oder bewusste Beobachtungen in unbekleideten Momenten. Eine Steigerung dieser stellt die wenig intensive Form dar, hierzu zählen schon Bemühungen zur Berührung des Genitalbereiches bzw. der Brüste oder intensive Küsse. Bleibt es jedoch nicht bei dem Versuch der Berührungen, werden die Genitalien präsentiert oder tritt eine Masturbation ein, werden diese sexuellen Handlungen als intensive sexuelle Gewalt gewertet. Die Form der intensivsten sexuellen Gewalt besteht ab dem Versuch einer oralen, analen oder vaginalen Vergewaltigung.25 23 Bange/Deegener 1996, S. 105 24 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S.55 25 vgl. Bange/ Deegener 1996, S. 135; Engfer 2005, S.12 7
Unterschieden wird zudem zwischen dem innerfamiliären und dem außerfamiliären sexuellen Missbrauch. Gerade innerhalb der Familie, wo die Kinder und Jugendlichen sich geborgen und sicher fühlen sollen, sind die häufigsten Fälle von sexueller Gewalt zu verzeichnen. 26 Es handelt sich um einen Trugschluss, wenn hauptsächlich von Fremdtätern gewarnt wird. Ein Großteil der Täter stammt aus dem Nahbereich, d.h. aus dem Familien- und Bekanntenkreis der betroffenen Mädchen und Jungen. Es handelt sich dabei beispielsweise um Väter, Stiefväter, Brüder, Freunde der Eltern, Erzieher, Busfahrer […].27 An die Erwachsenen besteht der Auftrag die Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung anzuregen, sie zu unterstützen, zu begleiten und ihren Bedürfnissen nach Liebe, Zärtlichkeit und Schutz gerecht zu werden. Dabei müssen sich jene darauf verlassen können, dass die Erwachsenen dem nachkommen, ansonsten besteht die Gefahr, dass diese in ihrem Vertrauen verletzt und ihrer Entwicklung geschädigt werden. Gerade bei innerfamiliärer sexueller Gewalt gegenüber den Kindern und Jugendlichen, erweist es sich als schwierig klare Grenzen von zärtlicher Zuneigung gegenüber sexuellen Übergriffen abzugrenzen.28 Über die Häufigkeit der Fälle besteht innerhalb der Gesellschaft ein falsches Bild, da bis heute die Auffassung Bestand hat, dass sich nur an bestimmten Frauen/ Mädchen vergriffen wird. Vorrangig an den jungen, hübschen und provokativ Gekleideten, die nachts allein auf der Straße unterwegs sind und von fremden Triebtätern überfallen werden. Durch die Seltenheit dieser Konstellationen besteht in der Gesellschaft die allgemeine Schlussfolgerung, dass sexuelle Gewalt ein vereinzeltes Vorkommnis sei.29 Innerhalb von Fachkreisen wird sich mit der Häufigkeit von sexuellem Missbrauch durch die Begriffe Prävalenz und Inzidenz auseinander gesetzt. Inzidenz Die Schätzungen bezüglich der potenziellen, neuen Fälle innerhalb einer bestimmten Zeit, sind Angaben der Inzidenz.30 Dazu sind Angaben in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausfindig zu machen, welche jedoch nicht mit den tatsächlich auftretenden Fällen gleichgesetzt werden 26 vgl. Beglinger 1988, S. 11 27 vgl. Enders 1990, S. 12ff 28 vgl. ebd. 1990, S. 22 29 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 45f 30 vgl. Bange 2002, S. 20 8
können, da eine hohe Dunkelziffer, innerhalb dieses Themenschwerpunktes, besteht. In einer von Brockhaus aufgeführten Untersuchung wurde ersichtlich, dass lediglich einer von 20 bzw. einer von 50 Fällen, im Bereich von sexueller Gewalt, zur Anzeige gelangt. Dies entspricht einer Dunkelziffer von 1:20, respektive 1:50.31 Diese hohen Dunkelziffern resultieren aus den unterschiedlichsten Gründen, beispielsweise aufgrund von Drohungen der Täter, Ängsten, Scham und/oder durch Verdrängung der Erfahrungen. Angaben bezüglich der Inzidenz lagen im Jahr 2010 bei 14.407 Kindern, davon waren 74% der Betroffenen weiblich und 26% männlich.32 Nachdem die Anzahl der Fälle von sexueller Gewalt gegenüber Kindern von 2009 bis 2012 kontinuierlich gestiegen ist, besteht seit 2013 ein leicht rückläufiges Verhalten,33 dies wird als Erfolg von Präventionsmaßnahmen gewertet.34 Tabelle 1: Ausmaß der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen Diese Tabelle wurde in Anlehnung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2014 entworfen und verschafft einen kurzen Überblick, über die sexuellen Straftaten gegen Kinder und Jugendliche. In dieser Übersicht wird, für das Jahr 2013 ersichtlich, dass 12.437 Fälle von sexueller Gewalt gegenüber Kindern zur Anzeige gebracht wurden, dabei handelt es sich um Straftatbestände nach §§ 176, 176a und 176b StGB. Im darauffolgenden Jahr ist eine Rücklaufquote, bezüglich dieser Straftaten, von -2,4 % zu verzeichnen, d.h. im Jahr 2014 wurden 12.134 Fälle angezeigt. Jedoch gilt es auch bei diesen Angaben die erhöhte Dunkelziffer, von der ausgegangen werden muss, zu berücksichtigen. Zudem beinhalten diese Zahlen von den Jahren 2013/14 keine Angaben zu den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen gemäß §§ 174, 180, 182, 184b und 184c StGB. Unter zusätzlicher Berücksichtigung dieser 31 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 47 32 vgl. Jud 2015, S. 45 33 vgl. Bundesministerium des Inneren 2014, S. 11 (Internetquelle) 34 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S. 33 9
Straftatbestände gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen würden für das Berichtsjahr 2013 nochmals 9424 Fälle hinzukommen.35 Prävalenz Die Prävalenz hingegen, welche Brockhaus und Kolshorn, sowie einigen anderen Autoren aussagekräftiger erscheint,36 berücksichtigt den Anteil der Vergehen, die in einem bestimmten Zeitabschnitt in einer Bevölkerung eingetreten sind. Anhand von repräsentativen Befragungen, bezüglich der Prävalenz, wirken die Aussagen zum Ausmaß der sexuellen Gewalt, unter Berücksichtigung von drei Voraussetzungen, verlässlicher. Dazu zählen eine Falldefinition, eine Stichprobe und ein Befragungsinstrument. Bezüglich dieser Angaben bestehen jedoch forschungsmethodische Probleme. Zum einen aufgrund der erwähnten Definitionsvielfalt, welche keine eindeutigen Ergebnisse liefert. Zum anderen die Art und Weise bzw. die angewandte Methodik bestimmte Untersuchungsergebnisse zu erlangen. Eine repräsentative Prävalenzuntersuchung stellt die Studie des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsens dar, in welcher 1661 Frauen und 1580 Männer, mithilfe eines Fragebogens zum Ausmaß der sexuellen Gewalt, in ihrer Kindheit, befragt wurden. Diese Befragung erfolgte auf der Grundlage, dass es sich ausschließlich um sexuelle Erlebnisse in der Kindheit und Jugend handelt, bei denen der Täter mindestens fünf Jahre älter sein sollte. Ziel dieser sexuellen Handlungen sollte zudem die Erregung des Aggressors sein. Ohne die Eingrenzung, durch eine Definition, gaben 18,1% der Frauen und 6,2 % der Männer an, sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erfahren zu haben. Durch eine Festlegung auf erfüllbare Eckdaten, wie beispielsweise die Schutzaltersgrenze (z.B. 14. Lebensjahr), reduzierte sich die Zahl bei den Frauen auf 10,7 % und bei den Männern auf 3,4 %. Dies veranschaulicht eindrucksvoll, welchen Einfluss die Definition auf das erhobene Ausmaß hat.37 Nach den von Brockhaus und Kolshorn aufgeführten Forschungsergebnissen, erleben 30% bis 50% aller Mädchen, noch vor dem Erlangen der Volljährigkeit, sexuelle Gewalt. Bei den Jungen ist eine Betroffenheit von ca. 8% - 30% von körperlicher sexueller Gewalt zu verzeichnen.38 Diese großen Spannen ergeben sich durch die unterschiedlichen Auffassungen der jeweiligen engen bzw. weiten Definitionen. 35 vgl. Bundesministerium des Inneren 2013, S. 74ff (Internetquelle) 36 vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 47; Bange 2002, S. 22, Haslbeck 2007, S. 25 37 vgl. Bange 2004, S. 32ff 38 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 50 10
Innerhalb der Untersuchungen setzen Forscher sich mit zahlreichen Schwierigkeiten zur Bestimmung des Ausmaßes auseinander. Es gestaltet sich beispielsweise als problematisch Erwachsene nach ihren sexuellen Erlebnissen, in ihrer Kindheit bzw. Jugend, zu befragen. Zum einen um eine erneute Konfrontation, mit den traumatischen Ereignissen, zu verhindern und zum anderen, besteht die Gefahr, dass Erinnerungen im Laufe der Zeit verloren gegangen sind.39 Zahlreiche Betroffene Schweigen zudem aus Angst und Schamhaftigkeit über erfahrene sexuelle Übergriffe.40 Außerdem besteht keine Möglichkeit zur Befragung von betroffenen Kleinkindern, weil diese zu jung sind, um Auskunft über das Vergehen zu geben. Auch ein Gespräch mit den Eltern, als Quelle, ist auszuschließen, da diese potentielle (Mit-) Täter darstellen können. Auch äußere Anzeichen stellen selten eindeutige Hinweise für einen sexuellen Übergriff dar.41 2.3. Täter und Betroffene Dieses Kapitel behandelt die zentrale Frage, wie Täter die Voraussetzungen schaffen, um Kinder und Jugendliche zum Teil einer sexuellen Beziehung zu machen und wie sie dafür sorgen, dass diese sexuellen Handlungen, teilweise über Jahre, nicht bekannt werden. Die Auseinandersetzung mit den Tätern sowie mit den Betroffenen, wird für die Fragestellung dieser Arbeit als bedeutsam erachtet, um professionelle Helfer für die Strategien des Aggressors zu sensibilisieren und potenzielle Betroffene vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Gewiss sehnt sich jedes Mädchen und jeder Junge nach Liebe und Zuwendung von Erwachsenen, jedoch möchte mit Sicherheit niemand sexuelle Gewalt erleben.42 Dem spricht jedoch das psychoanalytische Ursachenverständnis von sexueller Gewalt gegen Kinder entgegen, wonach die Annahme besteht, dass der sexuelle Kontakt, zwischen Kindern und einem gegengeschlechtlichen Elternteil von beiden Seiten erwünscht sei.43 Demnach wird jedem Kind ein ödipaler Wunsch zu einer sexuellen Beziehung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil unterstellt. Dabei stellt der Ödipuskomplex allerdings weniger eine reale sexuelle Beziehung als mehr eine Phantasie zu dieser inzestösen Beziehung dar.44 39 vgl. Jud 2015, S. 45ff 40 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S. 32 41 vgl. Jud 2015, S. 45ff 42 vgl. Enders 1990, S. 89 43 vgl. Tigges 2015, S. 42 44 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S. 23 11
Da diese Ursachenanalyse jedoch nicht mit dem Interesse dieser Arbeit zu vereinbaren ist, wird Abstand von diesem Ansatz genommen. Sexueller Missbrauch wird eher als Gewaltdelikt verstanden, in welchem der Täter sich seine Macht und das Abhängigkeitsverhältnis zu nutzen macht.45 Daher liegt die Verantwortung der sexuellen Gewalt auch einzig und allein bei den Erwachsenen.46 In der Gesellschaft besteht die Vorstellung nach dem Dampfkesselmodell, wonach der unbefriedigte Sexualtrieb des Mannes nach Entladung drängt.47 Bei diesem Ursachenverständnis wird das Handeln des Aggressors durch ihren krankhaften Trieb und die sexuelle Frustration legitimiert.48 Demnach werden sexuelle Übergriffe als Affekthandlungen beschrieben, ausgelöst durch die Verführung der Betroffenen. Zahlreiche Autoren vertreten hingegen die Ansicht, dass eine solche Tat viel Planung und Überlegung im Vorfeld bedarf, um die sexuellen Ziele zu verfolgen.49 Falardeau zufolge besteht die Phantasie für sexuelle Handlungen gegenüber Kinder zuerst im Kopf, bis zur letztlichen Durchführung, des ersten Deliktes, vergehen im Schnitt drei Jahre.50 Auch eine aufgeführte Studie von Brockhaus und Kolshorn belegen, dass 70-94% aller Fälle im Vorfeld vollständig geplant sind.51 2.3.1. Die Täter und ihre Strategien Nach Angaben bezüglich der Inzidenzraten gehen sexuelle Gewaltdelikte hauptsächlich von Männern aus52, der Anteil der Übergriffe ausgehend von Frauen, liegt unter 10%.53 Einige Autoren vertreten dennoch die Auffassung, dass es mehr weibliche Täter gibt als in Studien aufgedeckt werden. Dies ist zum Teil darin begründet, dass männliche Betroffene aus Scham sexuelle Handlungen eher verschweigen. Zudem können Täterinnen ihre Vergehen durchaus besser geheim halten, da ihnen wesentlich mehr Körperkontakt mit Kindern zugestanden wird und sexuelle Handlungen somit eher verborgen bleiben. Zahlreiche männliche Jugendliche beschreiben sich nicht als Betroffene von sexuellem Missbrauch, wenn sie sexuelle Kontakte mit älteren Frauen erleben.54 Ein weiteres Argument für die geringe Täterquote bei Frauen 45 vgl. Enders 1990, S. 89 46 vgl ebd. 1990, S. 21 47 vgl. Quindeau 2008, S. 88; Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 206 48 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 206f 49 vgl. Deegener 2010, S. 133; Bange 2007 S. 58; Bartels 2011; S. 196 50 vgl. Falardeau 1998, S. 65 51 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 128 52 vgl. Gahleitner 2005, S. 25 53 vgl. Bange/ Deegener 1996, S. 148 54 vgl. Engfer 2005, S. 13 12
besteht in der Annahme, dass Frauen vorrangig in der eigenen Familie übergriffig werden. Aufgrund dessen, dass bei inzestuösen Vergehen das Schweigen beharrlicher ist, führt das zu einer geringeren Inzidenzrate.55 Zudem sind die Täter nicht, wie in der Gesellschaft meist angenommen, die bösen fremden Männer, sondern sind meist in Nahbereich des Betroffenen zu ermitteln. Den Ergebnissen von Statistiken zur Folge, sind gerade einmal 10% der Täter den Betroffenen fremd, die restlichen 90% stammen aus dem Nahbereich ( 45% engere Familienkreis, 45% soziale Umfeld).56 Nach einer Untersuchung, bezüglich des Ausmaßes und der Folgen sexueller Gewalt, die 1990 von Dirk Bange in Dortmund und 1995 in Homburg, als Nachfolgeuntersuchung, von Günther Deegener durchgeführt wurde, ist folgendes Durchschnittsalter für die Täter ermittelt worden. Bei der Dortmunder Befragung liegt das Durchschnittsalter bei 30 Jahren und in Homburg bei 31 Jahren. Demnach wird der allgemeinen Vorstellung, vom widerlich alten Täter, widersprochen. Gerade einmal ein Zehntel der Täter sind über 50 Jahre alt, ein Drittel sind selbst noch Kinder oder Jugendliche und der Großteil der Übergriffigen sind im Alter zwischen 19 und 50 Jahren.57 55 vgl. Bange/ Deegener 1996, S. 144 56 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S.35ff 57 vgl. Bange/ Deegener 1996, S. 144ff; Gahleitner 2005, S. 25 13
Tabelle 2: Geschlechts- und Altersstruktur von Tätern für das Berichtsjahr 2013 Diese Tabelle wurde in Anlehnung an die Polizeiliche Kriminalstatistik, aus dem Berichtsjahr 2013, entwickelt. Zu beachten gilt, dass es sich dabei nur um Zahlen von Tatverdächtigen handelt und nicht um ermittelte/ verurteilte Täter. Auch in dieser Statistik wird ersichtlich, dass sexuelle Gewalt hauptsächlich von Männern ausgeht. In der Straftatgruppe des sexuellen Missbrauchs an Kindern wurden 9232 Fälle angezeigt, davon sind 4,5 % weibliche und 95,5 % männliche Tatverdächtige. Ersichtlich wird ebenso, dass eine Vielzahl von sexuellen Übergriffen gegenüber Kindern, mit 18,2%, von Jugendlichen ausgeht.58 58 vgl. Bundesministerium des Inneren 2013, S.140 (Internetquelle) 14
Täterstrategien Zur Aufrechterhaltung bzw. zum Erhalt einer sexuellen Beziehung zu Kindern und Jugendlichen, nutzen die Täter zahlreiche Strategien. Diese zielen auf eine aktive Miteinbeziehung, der Mädchen und Jungen, in die Beziehung ab59, d.h. die Mädchen und Jungen sollen gefügig und wehrlos gemacht werden. Ebenso streben die Täter eine Beeinflussung der Bezugspersonen, durch ihre Strategien, an. Dadurch soll der Kontakt zu den Kindern ermöglicht werden sowie dafür gesorgt sein, dass die Bezugspersonen keinen Verdacht schöpfen und ein äußerer Eingriff folglich ausgeschlossen ist. Somit soll eine Weiterführung der Tat über einen langen Zeitraum gewährleistet werden.60 Im Folgenden wird Bezug auf die, von verschieden Autoren aufgeführten aber sehr ähnlichen Kenntnisse über spezifische Täterstrategien und deren Tatabläufe genommen. Dieses Wissen ermöglicht den professionellen Helfern ein frühzeitiges Wahrnehmen der Anzeichen von sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen. Durch diese Ausführungen werden zudem Ursachen für die fehlende Wahrnehmung von sexuellem Missbrauch ersichtlich, d.h. es erfolgt eine Beschreibung des manipulativen Vorgehens des Aggressors und eine Verständnisvermittlung für die fehlende Kenntnisnahme der Eltern bzw. des nicht missbrauchenden Elternteils, die häufig nichts von den Übergriffen auf ihre eigenen Kinder mitbekommen. Auswahl des zu manipulierenden Mädchen und Jungen: Jeder sexuelle Missbrauch erfordert zur Geheimhaltung und zur längerfristigen Durchführung, einer langen und systematischen Planung,61 dazu zählt auch eine sorgfältige Auswahl der Kinder. Diese sollen mit möglichst wenig Aufwand und geringstmöglichen Entdeckungsrisiko auserwählt werden,62 d.h. es handelt sich gezielt um verletzliche Mädchen und Jungen. Die Täter äußern immer wieder, dass es ihn leicht falle, die verletzlichen Opfer zu identifizieren.63 Demzufolge besteht eine höhere Gefahr für Kinder und Jugendliche von sexueller Gewalt betroffen zu sein, je größer die Defizite dieser im Bereich Sicherheit, Zuwendung, 59 vgl. Kuhle/ Grundmann/ Beier 2015, S.119 60 vgl. Bange 2011, S. 118 61 vgl. Ohlmes 2006, S. 52, Bange 2011, S. 118 62 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 128 63 vgl. Ohlmes 2006, S. 55; Deegener 1995, S. 137 15
Anerkennung, Liebe und Wärme sind. Die Täter nutzen dabei bewusst die Suche nach Anerkennung bei den Mädchen und Jungen aus.64 Bevor die Täter und Täterinnen die Übergriffe in die Tat umsetzen, bestehen vorab Missbrauchsphantasien, welche allmählich realer werden.65 Dazu wählen die Täter ein Tatsetting, in welches sie eintreten, um Kontakte zu Mädchen und Jungen zu suchen. Dies können beispielsweise Spielplätze, Schwimmhallen und Schulen darstellen. Folglich können alle Orte dazu gehören, an denen sich Kinder und Jugendliche gern bzw. lang aufhalten. Sie achten dabei gezielt darauf, welches Mädchen und welcher Junge sich besonders lang und häufig an dem besagten Ort aufhält, da die Dauer des Aufenthalts für eine fehlende emotionale Bindung zur Familie spricht.66 Kommt zu der bestehenden Einsamkeit ein ruhiges und verstörtes Verhalten der Kinder hinzu, welches aus gestörten Familienverhältnissen stammt, stellen diese, die perfekten Mädchen und Jungen für einen geplanten Übergriff dar. Zahlreiche Täter beschreiben Kinder und Jugendliche, welche bereits von sexueller Gewalt betroffen waren, ebenfalls als leicht zu Manipulierende für eine sexuelle Beziehung. 67 Das Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung, sowie die Tatsache, dass diese Kinder und Jugendlichen über keinerlei Ressourcen verfügen sich zur Wehr zu setzen, vereinfachen die sexuellen Übergriffe. Folglich ist es für die Täter leicht die Betroffenen über Zuneigung für ihre Interessen zu gewinnen. Dennoch besteht auch für aufgeweckte Mädchen und Jungen, die keinen bedürftigen Eindruck vermitteln, die Gefahr für einen sexuellen Übergriff. Bei jenen nutzen die Täter häufig das bereits bestehende Vertrauen zu Erwachsenen für ihre Taten aus.68 Bange und Deegener weisen jedoch darauf hin, dass eher die Täter aus dem Nahbereich die emotionale Bedürftigkeit ausnutzen als die Fremdentäter.69 Bei außerfamiliärer sexueller Gewalt erkundigen die Täter sich bereits vor der Kontaktaufnahme detailreich über die Kinder/ Jugendlichen und ihr soziales Umfeld. Bedeutend ist dabei die Beziehung zu den Eltern und welche sozialen Kontakte die Mädchen und Jungen zusätzlich aufweisen. Sie ermitteln ebenfalls die Vorlieben und Gewohnheiten, sowie woran es jenen fehlt. Dieses gezielte Vorbereiten auf die Tat wird in Fachkreisen als „grooming process“ bezeichnet.70 64 vgl. Heiliger 2000, S. 38 65 vgl. Kuhle/ Grundmann/ Beier 2015, S. 119 66 vgl. Bange 2011, S. 119 67 vgl. Falardeau 1998, S. 36f; Bange 2011, S. 118, Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 128f 68 vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 128 69 vgl. Bange/ Deegener 1996 S. 161 70 vgl. Bange 2011, S. 118ff; Heiliger 2000, S. 15 16
Für die gezielte Kontaktaufnahme bewegen sich die Täter nicht ausschließlich an beliebten Orten der Kinder und Jugendlichen. Eine gängige Methode, jene kennenzulernen, besteht in der Verwendung des Internets. Dort haben die Täter die Chance die Betroffenen zunächst virtuell kennenzulernen und sie anschließend zu einer Verabredung zu überzeugen. Zahlreiche Täter nutzen pädagogische Berufe oder ehrenamtliche Tätigkeiten für die Erreichung ihrer Ziele. Dabei genießen die Täter, aufgrund ihrer beruflichen Stellung, häufig einen Vertrauensvorschuss, welcher ihnen die Tat erleichtert. Dabei erfolgt eine bewusste Wahl der Institutionen nach bestimmten Kriterien. Diese müssen transparente Leistungsstrukturen und klare Arbeitsanforderungen aufweisen. Zudem werden hierarchische Institutionen, mit starken Autoritäten, in denen Entscheidungen nach eigenen Machtinteressen getroffen werden, bevorzugt.71 Einer, von Bange aufgeführten, Studie zur Folge haben 35% der Täter einen sozialpädagogischen Beruf ausgeübt.72 Andere Pädosexuelle suchen konkret nach Alleinerziehern, um einen Zugang zu den Kindern zu erhalten oder bieten sich Familien als Freund an.73 Vertrauensaufbau: Nach der Identifizierung des potentiell Betroffenen, initiieren die Täter Kontakte zu dem jeweiligen Mädchen bzw. Jungen mit dem Versuchen dabei allmählich das Vertrauen zu erlangen.74 Dieser Vertrauensaufbau ist erforderlich für die Entwicklung einer sexuellen Beziehung zum auserwählten Kind bzw. Jugendlichen, um die Abhängigkeit der Betroffenen über einen längeren Zeitraum zu gewährleisten. Die Initiierung einer tiefen Freundschaft stellt eine besonders geeignete Methode zur Vertrauensgewinnung dar, indem eine vertrauensvolle Beziehung vorgetäuscht wird.75 Zudem erweist sich ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit, Zuneigung und Zuwendung als vertrauensfördernd, dabei wird den Kindern und Jugendlichen häufig vermittelt etwas ganz Besonderes zu sein.76 Dieses entgegengebrachte Vertrauen nutzen die Täter, als „ Freund“ zur gezielten Manipulation, um eine Kooperationsbereitschaft zu einer sexuellen Aktivität des Kindes bzw. 71 vgl. Ohlmes 2006, S. 54ff 72 vgl. Bange 2011, S. 118ff 73 vgl. Ohlmes 2006, S. 54ff 74 vgl. Kuhle/ Grundmann/ Beier 2015; S. 119 75 vgl. Bartels 2011, S. 196 76 vgl. Bange 2011, S. 118ff 17
des Jugendlichen zu dem Täter zu erzielen.77 Zusätzlich erfolgt häufig ein Vertrauensaufbau zu den Eltern, um die Erfolgschance des Aggressors zu erhöhen, indem sie die Wahrnehmung der Mütter und Väter manipulieren. Durch das entgegengebrachte Vertrauen der Eltern werden Anzeichen für sexuelle Gewalt nicht wahrgenommen bzw. den eigenen Kindern kein Glauben geschenkt, weil dem Täter eine solche Tat nicht zugetraut wird.78 Desensibilisierung: Durch regelmäßige Wiederholung und Steigerung von Körperkontakten, wird die Reaktion der Betroffenen erprobt. Es erfolgt dabei ein unbewusster Übergang von nicht sexuellen Annährungsversuchen zur Sexualisierung der Beziehung. Diese (nicht-) sexuellen Kontakte ereignen sich in Alltagssituationen, wie beispielsweise in gewöhnlichen Spielaktionen, dabei überprüfen die Täter, wie weit sie gehen können ohne den Widerstand des Kindes/ Jugendlichen zu erregen.79 Anfänglich sind es unverfängliche Berührungen, in einem angemessenen Rahmen, mit dem Ziel, Körperkontakte zu dem Täter als üblich erscheinen zu lassen. Dabei verwischen die Grenzen von Nähe und Distanz und somit die Macht- und Generationsunterschiede zwischen dem Aggressor und den Betroffenen, durch das Vortäuschen eines gleichberechtigten Verhaltens.80 Es erfolgt eine Gewöhnung an die Körperkontakte, welche mit der Zeit immer intensiver werden. Die Realisierung der Mädchen und Jungen, dass der kindgerechte Rahmen für die Berührungen verlassen wurde, erfolgt aufgrund ihres Entwicklungsstandes erst relativ spät. Jedoch können diese sich aus der übergriffigen Situation nicht mehr befreien, da sie einen Verlust der Zuwendung befürchten, welche sie so dringend benötigen. Bereits ab diesem Zeitpunkt ist es gelungen dem Betroffenen Schuldgefühle zu suggerieren, da es für die Herbeiführung der Verhältnisse verantwortlich gemacht wird. Darüber hinaus wird ihnen vor Augen geführt, dass sie die Zuwendungen stets genossen haben.81 77 vgl. Kuhle/ Grundmann/ Beier 2015, S. 119; Bartels 2011, S. 196 78 vgl. Bange 2011, S. 118ff 79 vgl. Kuhle/ Grundmann/ Beier 2015, S. 119 80 vgl. Bartels 2011, S. 196 81 vgl. Heiliger 2000, S. 59ff 18
Isolierung: Zur Aufrechterhaltung und zur Beständigkeit der sexuellen Beziehung, ist den Tätern daran gelegen, die Betroffenen weitestgehend nach außen hin zu isolieren. Dazu erfolgt ein direkter Eingriff in die Eltern- Kind- Beziehung bzw. bei innerfamiliärer sexueller Gewalt zwischen den nicht übergriffigen Elternteil und deren Kind, um bewusst Störungen in dieser Beziehung hervorzurufen.82 Bei innerfamiliären sexuellen Missbrauch präsentiert sich der Täter als das bessere Elternteil und schwächt dabei systematisch die Beziehung zum anderen Elternteil. In Fällen von außerfamiliärer sexueller Gewalt erfolgt ebenfalls eine Entfremdung zwischen dem Kind und seinen Eltern, sowie gegenüber den Geschwistern und den Freunden. Diese Abgrenzung zu Geschwistern und Freunden erfolgt beispielsweise durch die Privilegierung des jeweiligen Betroffenen, um den Neid und die daraus resultierende Ablehnung hervorzurufen. Diese Sonderstellung zeigt sich beispielsweise in der besonderen Fürsorge und Zuwendung des Täters, sowie durch Belohnungen und Versprechungen. Wiederum werden die Betroffenen durch diese Geschenke, Zuneigung oder außergewöhnliche Erlebnisse immer tiefer in ein Abhängigkeitsverhältnis verstrickt.83 Abgezielt wird, durch diese Distanz/ Isolierung zu anderen sozialen Kontakten, auf eine totale Abhängigkeit des Mädchen oder Jungen, wodurch jede Möglichkeit zur Beendigung der sexuellen Übergriffe unterbunden wird. Die Betroffenen haben keine Möglichkeit sich Hilfe zu suchen, da durch die Isolation keine vertrauten Personen mehr vorhanden sind. Drohung, Zwang und Gewalt: Um den anfänglichen Widerwillen des Betroffenen zu verhindern, wird jenem ein Schuldgefühl, durch eine direkte Beteiligung, eingeredet. Durch Aussagen, wie: „Es bereitet dir doch Freude“ oder „Du wolltest es doch, schließlich hast du nie Nein gesagt“. In zahlreichen Fällen werden die Betroffenen durch Drohungen, wie „Wenn deine Eltern von unserer Beziehung erfahren, haben sie dich sicher nicht mehr lieb“ unter Druck zum Schweigen gebracht. 82 vgl. Enders 1990, S. 92; Bange 2011, S. 120 83 vgl. Bartels 2011, S. 196; Heiliger 2000, S. 71ff 19
Verstärkt sich der Unwille, wird die Bedrängnis häufig durch die Androhung, sowie wenn notwendig, die Durchführung von Gewalt erhöht.84 Durch diese Drohungen und/oder körperliche Gewalt erfolgt eine zwanghafte Intensivierung der Kooperationsbeziehung.85 Diese Methoden der Drohungen, des Zwangs oder der Gewalt führen somit zur Beständigkeit der sexuellen Beziehung. Geheimhaltung: Innerhalb des Desensibilisierungsprozesses werden die Betroffenen stets auf ihre Widerstandskraft geprüft, dabei erfolgen gezielte Beobachtungen seitens des Täters, ob trotz des Isolierungsverfahrens über die sexualisierten Grenzüberschreitungen gesprochen wird. Zur Vorbeugung dessen, erklären die Täter die sexuellen Übergriffe relativ frühzeitig zum Geheimnis.86 Eine weitere Methode zur Geheimhaltung des sexuellen Missbrauches, stellen die emotionalen Erpressungen dar. Dazu zählt beispielsweise der Entzug der Zuneigung oder der Privilegien. Zudem wird oftmals ein Gefühl der Mitschuld vermittelt, welches Scham auslöst und somit die Verschwiegenheit erhöht.87 2.3.2. Die Betroffenen und ihr Schweigen Zahlreiche Studien geben einen Einblick darüber, dass Mädchen bedeutend häufiger von sexuellen Gewalttaten betroffen sind als Männer.88 Ausgehend von der erwähnten Studie von Bange und Deegener, gaben die Frauen ein durchschnittliches Alter von 11 Jahren, als Beginn für die sexuellen Übergriffe, an. Für die männlichen Teilnehmer in Dortmund konnte ein durchschnittliches Alter von 11,5 Jahren ermittelt werden, in Homburg lag das Durchschnittsalter mit 12,3 Jahren etwas höher. Dieses Durchschnittsalter entspricht ungefähr dem, was auch in anderen Prävalenzstudien ermittelt wurde.89 84 vgl. Bange 2011, S. 118ff; Enders 1990, S. 93; Brockhaus/ Kolshorn 1993, S. 135 85 vgl. Kuhle/ Grundmann/ Beier 2015, S. 119 86 vgl. Bange 2011, S. 118ff 87 vgl. Kuhle/ Grundmann/ Beier 2015, S. 120 88 vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S. 35 89 vgl. Bange/ Deegener 1996, S. 144ff 20
Sexuelle Gewalt stellt dabei ein übergriffiges Verhalten der Täter dar, welche dabei keinerlei Rücksicht auf die persönlichen Grenzen eines Betroffenen nehmen. Dadurch durchbrechen die Täter die natürliche Schutzmauer eines Betroffenen. Resultierend aus diesen Bruchstellen werden die Mädchen und Jungen zunehmend unsicherer. Potentielle Täter erkennen diese Defizite und nutzen diese Selbstunsicherheit für ihre Taten. Anhand dessen lässt sich erklären, weshalb die Betroffenen häufig von mehreren Tätern sexuelle Gewalt erleiden müssen.90 Die Mädchen und Jungen fühlen sich dabei innerhalb ihres entgegengebrachten Vertrauens und ihrer emotionalen Zuwendung zum Täter, sowie in ihrem Wunsch nach Anerkennung, betrogen.91 Dabei stellen, bei außerfamiliären Übergriffen, die Interessen- und Lieblosigkeit der Eltern erhebliche Risikofaktoren für sexuelle Übergriffe auf ihre Kinder dar, weil diese keinerlei Bezugsperson aufweisen.92 Generell bestehen Schwierigkeiten diese ambivalenten Gefühlseindrücke von Angst, Drohungen und Aggression auf der einen Seite gegenüber denen von Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit auf der anderen Seite zu verarbeiten.93 Das bedeutet, dass die Mädchen und Jungen von Selbstzweifeln geplagt werden können, weil die Täter zwei Gesichter aufzeigen. Zum einen das Gesicht des Aggressors und auf der anderen Seite das der fürsorglichen Bezugsperson. Trotzdem der sexuelle Übergriff bereits Jahre zurück liegt, bestimmen die Erfahrungen und Gefühle das alltägliche Leben zahlreicher Betroffener. Dabei kann eine bestimmte Situation, die an die sexualisierte Gewalt erinnert, Gedanken und Gefühle bei den Betroffenen auslösen, welche das alltägliche Handeln beeinflusst und jene zum Teil einschränkt. Somit haben die Betroffenen keine Gewalt mehr über ihr eigenes Verhalten. Kinder bzw. Jugendliche, häufig Jungen, werden dabei zum Teil selbst zum Täter und agieren ihre erlebte sexuelle Gewalt an anderen Gleichaltrigen oder Haustieren ab. Dies löst wiederum Scham und Schuldgefühle aus.94 Dabei bewirkt sexuelle Gewalt, durch eine Reizüberflutung und die Ängste, mit denen die Kinder konfrontiert sind, einen gewaltigen emotionalen Stress. Es erwies sich, dass die innerfamiliäre sexuelle Gewalt wesentlich bedrohlicher wirkt als jegliche andere Stresssituationen, da diese dauerhaft mit sexuellen Übergriffen zu rechnen haben und somit unter Dauerstress stehen.95 Daher stellt sich häufig die Frage, weshalb die Betroffenen ihre Peiniger nicht zur Verantwortung ziehen, sondern so vehement über diese erlebten Übergriffe schweigen. 90 vgl. Falardeau 1998, S. 36f 91 vgl. Harnach 2011, S. 118 92 vgl. Nüchter 2013, S. 36 93 vgl. Harnach 2011, S. 117 94 vgl. Nüchter 2013, S. 27ff 95 vgl. Falardeau 1998, S. 36ff 21
Geschlechterverteilung der Betroffenen insgesamt versucht vollendet 0,0% 10,0% 20,0% 30,0% 40,0% 50,0% 60,0% 70,0% 80,0% 90,0% weibl. männl. Abbildung 2-1:Die Geschlechterverteilung der Betroffenen für das Berichtsjahr 2013 Dieses Diagramm wurde in Anlehnung an die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik, aus dem Berichtsjahr von 2013 entworfen. Es gilt zu beachten, dass es sich bei diesen Zahlen um die vollendeten und zur Anzeige gebrachten Taten handelt. Die Darstellung veranschaulicht eindrücklich, dass hauptsächlich Mädchen von sexueller Gewalt betroffen sind. Bei der sexuellen Gewalt gegenüber Kindern wird deutlich, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen den betroffenen Geschlechtern besteht. Demnach sind nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2013 76,2 % der Betroffenen Mädchen und 23,8 % Jungen.96 Ursachen für das Schweigen Für das Schweigen der Betroffenen bestehen zahlreiche Ursachen. Zum einen sind sie in den bereits beschriebenen Täterstrategien, welche auf die Geheimhaltung der Übergriffe abzielen, begründet und zum anderen liegen die Ursachen in den gesellschaftlichen Bedingungen, sowie 96 vgl. Bundesministerium des Inneren 2013, S. 142 (Internetquelle) 22
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