EINE Schule für ALLE Ziele - Konzept - Begründungen - Unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative EINE Schule für ALLE - länger gemeinsam lernen e.V.
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
EINE Schule für ALLE Ziele - Konzept - Begründungen Unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.
Impressum Herausgeber: Unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative "EINE Schule für ALLE - länger gemeinsam lernen e.V." Kontakt: eine-schule-fuer-alle@onlinehome.de Homepage: http://www.eine-schule-fuer-alle-rlp.de Text: Hans-Jürg Liebert Grafik + Layout: Herbert Nicklis Juni 2010
EINE Schule für ALLE Ziele - Konzept - Begründungen Inhalt Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4 1. Unsere Initiative „EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.“ . . . . . . . .6 2. Unsere Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .6 3. Zur Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 3.1. Generelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 3.2. Bildungspolitische Ausgangslage in Rheinland-Pfalz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 4. Unser Konzept „EINE Schule für ALLE“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 4.1. Grundlegende Merkmale EINER Schule für ALLE in Rheinland-Pfalz . . . . . . . . . . . .9 4.2. „EINE Schule für ALLE“: Aspekt Ganztagsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11 4.3. „EINE Schule für ALLE“: Aspekt individuelle Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13 5. Vielfältige Begründungen für „EINE Schule für ALLE“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 5.1. Heterogene Lerngruppe: eine Bereicherung für Alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 5.2. Elterninteresse am Bildungsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18 5.3. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 5.4. "EINE Schule für ALLE": Aspekt Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28 6. Gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .32 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .34 8. Homepage – Kontakt – Spendenaufruf – Unterschriftenaktion . . . . . . . . . . . . . . . .35 9. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 Seite 3
Grußwort an die unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative „EINE Schule für ALLE“ Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz; TU Berlin, Institut für Erziehungswissenschaft Die demokratische, pluralistische Gesellschaft braucht einen Ort, an dem Respekt, Anerkennung, Vielfalt und zugleich gemeinsames Arbeiten und soziales Leben Grundlage von Erziehung und Bildung sind. Das ist eine gemeinsame Schule, die alle aufnimmt, unabhängig von ihrer physischen, kognitiven und psychischen Ent- wicklung, also eine Kinder- und Jugendschule, die auf der Individualität und der Gemeinsamkeit als den beiden Säulen des Lebens und Lernens von Menschen in der „anderen Moderne“ beruht. Das gegenwärtige deutsche Schulsystem ist zwanghaft durchdrungen von der Bemühung, homogene Kindergruppen herzustellen, oft in gutem Glauben. Er täuscht: Diese fiktive Gleichheit verhindert nicht nur soziales Lernen im Umgang mit Vielfalt, es behindert auch die Bildung der Einzelnen selbst: Zurückstellungen vom Schulbeginn, Absonderungen in Förderschulen für Behinderte, zwangsweise Klassenwiederholungen, das Sortieren der Kinder nach der Grundschule in absur- derweise „begabungsgerecht“ genannte Schubladenschulen, die unflexiblen und für alle verbindlichen Stundenpläne und vieles andere verhindern, dass Kinder und Jugendliche ihre individuellen Potenziale voll entfalten können. Alle diese Merkmale herkömmlicher deutscher Schule demotivieren die Kinder und behin- dern das Lernen. Daher freue ich mich, dass auch die unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative „EINE Schule für ALLE“ einen konkreten Vorschlag vorlegt für eine zukunftsfähige, demokratische und lernwirksame Bildung. Bildung als ganzheitlicher Entwick- lungsprozess schließt den Kindergarten, die Schulzeit, die berufliche Ausbildung und das informelle lebenslange Lernen mit ein. Es ist für mich selbstverständlich, dass eine Schule für alle immer auch eine inklusive Schule ist. Die Pädagogik fragt bei allen Mädchen und Jungen: Was kannst du, wo brauchst du Unterstützung, wo willst du besser werden und wie können wir gemeinsam dieses Ziel erreichen? Ich freue mich zugleich, dass solch eine „konkrete Utopie“ von einem breiten Bündnis getragen wird und noch weitere Bündnispartner finden will und wird. Denn bei immer mehr gesellschaftlichen Kräften, unter den Arbeitnehmern und Seite 4
Arbeitgebern, den Selbsthilfegruppen und nicht-staatlichen Organisationen, in den Kirchen und Weltanschauungsgruppen, bei Gewerkschaften, lokalen Verei- nen und Vereinigungen, unter den Kommunen, Parteien und auch in der Schul- aufsicht, den Kinder- und Jugendeinrichtungen und bei vielen anderen nimmt die Erkenntnis zu, dass die Pädagogik der Vielfalt in der Gemeinsamkeit in einer gemeinsamen Schule die Grundlage produktiver und demokratiefähiger Erwach- sener ist. Ich wünsche der Initiative allen Erfolg! Ulf Preuss-Lausitz Seite 5
1. Unsere Initiative „EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.“ Den Kern unserer Initiative bilden einige Einzelpersonen, die bereits in den letz- ten Jahrzehnten in unterschiedlichen Bereichen der rheinland-pfälzischen Schul- landschaft Schulentwicklung mit initiiert und mit gestaltet haben. Wir bringen Erfahrung aus der pädagogischen Praxis, der pädagogischen Wissenschaft, der Lehrerfortbildung, der schulischen Qualitätsentwicklung, der Schulleitung und der ministeriellen Schulverwaltung und Schulpolitik mit. Weil wir alle seit vielen Jahren in unseren unterschiedlichen beruflichen Erfah- rungsbereichen erleben, wie notwendig eine grundlegende Veränderung unseres Schulsystems ist und gleichzeitig miterleben müssen, wie kleinschrittig, halbher- zig und mutlos von Seiten der Schulpolitik lediglich an den Symptomen unseres traditionellen Schulsystems herumgedoktert wird, haben wir uns entschlossen, mit unserer Initiative dazu beizutragen, die Diskussion um eine deutliche und grundlegende Veränderung unseres Schulsystems zu beleben und die Umsteue- rung zu einem inklusiven Bildungssystem – zu EINER Schule für ALLE – mit vor- anzutreiben. 2. Unsere Ziele Mit unserem Konzept wollen wir eine Schule, die jedem Kind, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, die gleichen Entwicklungs- und Bildungschancen bietet, eine zügige und grundlegende Überwindung des viergliedrigen Schulssytems hin zu einer Schule für Alle, ein längeres, gemeinsames Lernen, ohne die absurd frühe Verteilung der Kinder auf nicht gleichwertige Schulen und ohne die weiteren Selektions- mechanismen des traditionellen Schulsystems (Zurückstellen, Sitzenbleiben, erzwungene Schulartwechsel), einen individualisierenden Unterricht, der es jedem Kind ermöglicht, seine Potenziale zu entfalten und in einer Ganztagsschule vielfältige Kompetenzen zu entwickeln, die rasche Überwindung des Systems der Förderschulen und die konsequen- te Verlagerung der sonderpädagogischen Ressourcen in die allgemeinbil- denden Schulen. Mit dieser Forderung nehmen wir auch Bezug auf die von der Bundesrepublik Deutschland bereits im März 2009 ratifizierte UN-Behin- dertenrechtskonvention (BRK). Seite 6
3. Zur Ausgangslage 3.1. Generelle Aspekte Seit längerem sind breite Bevölkerungskreise in Deutschland über die Folgen un- seres permanent auslesenden, gegliederten Schulsystems zunehmend beunru- higt, halten es für ungerecht und kritisieren seine mangelnde Leistungsfähigkeit (nur mittelmäßige Leistungen im internationalen Vergleich, Zurückstellungen, hohe Wiederholerquote, Abschulungen, erzwungene Wechsel der Schulart, zu viele Jugendliche ohne Schulabschluss, reduzierte Berufschancen für Schüler mit Hauptschulabschluss, zu wenige Abiturienten, zu wenig Förderung von Hochbe- gabten). Vor allem das Fehlen von individueller Förderung bzw. die viel zu geringe individuelle Förderung der Kinder wird bemängelt (siehe [12], [14] und [15]). Insbesondere deshalb hält auch eine große Mehrheit der Eltern längeres gemein- sames Lernen und die Akzeptanz der individuellen Förderung als grundlegendes Lehrprinzip für die richtige und zeitgemäße Antwort auf die Krise des deutschen Schulsystems. Dies sowie die Forderung nach Verbesserungen der Finanzausstat- tung des Bildungssystems und nach einer grundlegenden Reform der Lehrerbil- dung stellen die wichtigsten Ergebnisse verschiedener repräsentativer Umfragen zur Situation des deutschen Schulsystems dar. 3.2. Bildungspolitische Ausgangslage in Rheinland-Pfalz Der berühmte Tropfen, der das „Fass zum Überlaufen“ brachte und den konkre- ten Anlass für die Gründung dieser Initiative bildete, war die Unfähigkeit der rheinland-pfälzischen SPD, ihre Alleinregierung für eine grundlegende Reform des Schulsystems zu nutzen, damit Chancengleichheit für alle Kinder realisiert werden kann und das Schulsystem internationalen Ansprüchen gerecht wird. Vielmehr wird durch die realisierte Strukturänderung - der Zusammenlegung von Haupt- und Realschule zur Realschule plus - am Prinzip der Selektion nach der vierten Klasse festgehalten und damit der fatale Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft, der in Deutschland besonders groß ist, weiter festgeschrieben. Mit dieser Strukturänderung widerspricht das Handeln der rheinland-pfälzischen SPD deutlich den schul- und bildungspolitischen Vorgaben des Grundsatzpro- gramms der Bundes-SPD, die in ihrem Hamburger Programm von 2007 formu- liert: „Alle Schülerinnen und Schüler sollen gemäß ihrer Potenziale und Leistungs- fähigkeit den bestmöglichen Schulabschluss erreichen können. Deshalb wollen wir, dass Kinder und Jugendliche länger gemeinsam lernen. Dies ist am besten zu erreichen in einer gemeinsamen Schule für alle Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse.“ Seite 7
Durch die Schaffung der Realschule plus wird in Rheinland-Pfalz das viergliedrige Schulsystem zementiert. Derzeit gibt es die 4 Säulen „Förderschule“, „Gymnasi- um“, „Integrierte Systeme“ (Integrierte Gesamtschule sowie integrativ arbeiten- de Realschule plus) und die „Kooperativ arbeitende Realschule plus“, die ab der 7. Klasse die alte Aufteilung in Hauptschule/Hauptschulklassen und Realschule/ Realschulklassen festschreibt. Förderschule Gymnasium Integrierte Realschule plus Systeme kooperativ IGS Realschule Hauptschul- Realschul- neun plus klassen klassen unterschiedliche integrativ 7-9 (10) 7-10 Förderschulformen Klassen 5-13 5-13 5-10 gemeinsame Orientierungsstufe Die Einführung der Realschule plus ist somit keine geeignete Maßnahme für ein längeres gemeinsames Lernen in einer gemeinsamen Schule für alle Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse. Mit dieser Strukturänderung, die das Förderschulsystem unangetastet bestehen lässt, widerspricht die rheinland-pfälzische SPD auch den Zielen der UN-Behin- dertenrechtskonvention, die für die Bundesrepublik Deutschland und auf dem Umweg über den Grundsatz der Bundestreue auch für die einzelnen Bundeslän- der die zügige Einführung eines inklusiven Schulsystems und die Abschaffung des Systems Förderschule verlangt. (siehe Rechtsgutachten [17], [21] sowie [16]) „Über den Grundsatz der Bundestreue sowie aufgrund der im Wege des Ratifizie- rungsprozesses erklärten Zustimmung zur BRK sind die Länder hier ebenfalls zur zügigen Anpassung ihrer Schulsysteme verpflichtet.“ (siehe [21]) Zugleich behält Rheinland-Pfalz nach der o.g. Strukturänderung ein Schulsystem, das weiterhin Kinder im Alter von zehn Jahren auf nicht gleichwertige Schularten verteilt. Dadurch wird eine für die Gesellschaft schädliche und gefährliche soziale Aussonderung - wider besseres Wissen - in Kauf genommen. Diese wird durch die Beibehaltung der Förderschulen, insbesondere der “Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen”, zusätzlich verschärft. “Die Datenlage (der PISA-Ergebnisse) zeigt deutlich, dass spätere schulische Se- lektion die Chancengleichheit erhöht. Gleichzeitig geht spätere Selektion nicht mit einem geringeren Leistungsniveau einher”. (siehe [29]) Seite 8
4. Unser Konzept „EINE Schule für ALLE“ 4.1. Grundlegende Merkmale EINER Schule für ALLE in Rheinland-Pfalz Elementarbereich Der Eintritt in „EINE Schule für ALLE“ sieht für alle Kinder einer Gemeinde/ eines Wohnbezirks vor dem Beginn der Schulzeit ein vorbereitendes, ver- pflichtendes und kostenfreies (in Rheinland-Pfalz bereits verwirklicht) Kin- dergartenjahr vor, um eventuelle Entwicklungsrückstände (sprachlich, sozial- emotional, psychomotorisch usw.) bei einzelnen Kindern abzubauen und die Startbedingungen für alle Kinder zu verbessern. Eine flexible Eingangsstufe in den ersten Schuljahren (s.u.) wird diesen Anspruch zusätzlich unterstützen. Primar- und Sekundarbereich Alle Kinder einer bestimmten Region (Stadtteil, Wohnbezirk, Kommune, kom- munale Verbünde) gehen gemeinsam in eine Schule. Zwischen der zuvor ge- meinsam besuchten Kindertagesstätte (s.o.) und der Schule gibt es eine enge inhaltliche und personelle Verzahnung. Die gemeinsame schulische Bildung und Erziehung erfolgt ganztägig und dauert 10 Jahre. Eine in der Regel 3-jährige flexible Eingangsstufe im Primarbereich ermög- licht den Kindern das Erreichen der notwendigen Kompetenzen in unter- schiedlichen Zeiträumen und legt somit die Grundlage für die weitere ge- meinsame Schulzeit. Basis für eine gelingende Schule für Alle ist eine schulische Gemeinschaft, in der gemeinsame Inhalte (fachlich, sozial, human, demokratisch) eine grund- legende Wertekultur bilden und alle Schülerinnen und Schüler und alle Mit- arbeiterinnen und Mitarbeiter die gleiche Wertschätzung und Ermutigung erfahren. Unterschiede zwischen den Lernenden werden als Chance für das gemeinsame Leben und Lernen gesehen. Mittelpunkt der schulischen Bildung und Erziehung ist ein an den Ergebnis- sen der Unterrichtsforschung orientierter und weitestgehend individualisie- render Unterricht (vgl. 4.3.). Ziel ist eine ganzheitliche Bildung. Neben einer gemeinsamen Grundbildung, die sich an festgelegten Bildungsstandards orientiert, steht den Schülerinnen und Schülern ein breites Angebot an inhaltlichen Lern- und Entwicklungs- Seite 9
feldern zur Verfügung, die alle wesentlichen Bereiche umfassen (fachliche Grundstandards, musische, sportliche, politisch-demokratische, handwerkliche Schwerpunkte u.v.a.m.). Die 10-jährige gemeinsame Schulzeit schließt eine Berufsvorbereitung für alle Schülerinnen und Schüler mit ein. Die Schülerinnen und Schüler schließen die 10-jährige Schule für Alle mit dem Sekundarabschluss ab, der für eine berufliche Ausbildung qualifiziert, oder mit einer Zugangsempfehlung für die gymnasiale Oberstufe (Mainzer Studienstufe – MSS) mit dem Ziel der Fachhochschul- oder Hochschulreife. Die erworbenen individuellen Kompetenzen werden dabei in Form verbaler Beschreibungen dokumentiert. Der Unterricht in EINER Schule für ALLE basiert auf dem Prinzip der individuel- len Förderung, das in einem individualisierenden Unterricht verwirklicht wird. Alle Schülerinnen und Schüler lernen auf der Grundlage eines gemeinsamen Curriculums nach individuellen Lernplänen ohne äußere Fachleistungsdif- ferenzierung. Dabei wechseln sich Phasen gemeinsamen und individuellen Lernens ab. Bestandteile des gemeinsamen Unterrichts sind z.B. eine diffe- renzierte Aufgabenkultur, unterschiedliche Materialien zum selben Inhalt, differenzierte Zielsetzungen und differenzierte Leistungsüberprüfungen. Die individuellen Lern- und Entwicklungsphasen gestalten die Schülerinnen und Schüler zunehmend selbst und in eigener Verantwortung. Dabei werden sie von den Lehrkräften und anderen pädagogischen Kräften beraten und be- gleitet. Die regelmäßige Überprüfung der erreichten Kompetenzen dient der weiteren individuellen Förderung. Um EINE Schule für ALLE zu realisieren, kooperieren Lehrkräfte unterschied- licher Ausbildungsgänge miteinander. Förderlehrkräfte werden personeller Bestandteil der allgemeinbildenden Schule für Alle. Die unterschiedlichen Kompetenzen der Lehrkräfte werden als Bereicherung für die Bildung und Erziehung der Lernenden geschätzt. Sozialpädagogen sind selbstverständli- cher Bestandteil des Personals jeder Schule. Langfristig verfügen die Lehrkräfte EINER Schule für ALLE über eine einheit- liche Grundbildung im Bereich der Bildungswissenschaften, in die Diagnostik und inklusive Pädagogik integriert sind, und über besondere fachliche, fachdi- daktische sowie pädagogisch-inhaltliche Schwerpunkte. Zusätzlich bereichern institutionalisierte Kooperationen mit Psychologen, Medizinern und Thera- peuten unterschiedlicher fachlicher Prägung die Begleitung und Beratung der Kinder und Jugendlichen. Seite 10
4.2. „EINE Schule für ALLE“: Aspekt Ganztagsschule In unserem Konzept ist formuliert „Die gemeinsame schulische Bildung und Erzie- hung erfolgt ganztägig und dauert 10 Jahre“ (s.o.). Das bedeutet für uns, dass alle Schülerinnen und Schüler am Ganztagsbetrieb teilnehmen. Ganztagsschule erfüllt zwei wesentliche Anforderungen der heutigen Gesell- schaft: Sie fördert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und sie erhöht die Chancen- gleichheit für die Schülerinnen und Schüler. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt bei der Entscheidung für eine Ganz- tagsschule eine zentrale Rolle. In einer Zeit, in der die Nettolöhne kontinuierlich sinken (siehe [9]), wird es für viele Familien immer wichtiger, dass beide Elternteile arbeiten gehen, um den gewohnten Lebensstandard bewahren zu können. Für 90% der Eltern ist es entscheidend, dass durch die Ganztagsschule Erwerbsmög- lichkeit überhaupt realisierbar wird, auch weil dadurch bei der Suche eines Arbeitsplatzes größere Flexibilität ent- Die Ganztagsschule in der heutigen steht. Dieses Motiv für die Anmeldung Gesellschaft eines Kindes an einer Ganztagsschu- le unterscheidet sich nur geringfügig fördert die Vereinbarkeit von Familie zwischen den einzelnen Berufs- und und Beruf Sozialschichten. Immer mehr Kinder werden von nur ei- erhöht die Chancengleichheit für die nem Elternteil (meistens von der Mut- Schülerinnen und Schüler. ter) erzogen. Viele dieser Familien, die nach neuesten Erkenntnissen (siehe [9]) oft an oder schon unter der Armutsgrenze leben, sind existentiell bedroht, wenn die Kinder kein Ganztagsschulangebot wahrnehmen können. Es ist daher völlig inakzeptabel, dass die Möglichkeit zum Besuch einer Ganztagsschule da- von abhängt, wo ein Kind gerade wohnt bzw. ob eine Schule in der Nähe zufällig ein Ganztagsangebot vorhält oder nicht. Die Erhöhung der Chancengleichheit an einer Ganztagsschule hat unterschiedli- che Facetten: Die Attraktivität der Ganztagsschule entsteht durch das Zusammenspiel von schulischem Lernen, professioneller Beratung und Betreuung bei Lernprozessen, zusätzlichen Fördermöglichkeiten für unterschiedlichste Bedarfe und besonde- ren Bildungs- und Freizeitangeboten. Um diese verschiedenen Elemente in einem schülergerechten Tagesrhythmus (je nach Alter der Schülerinnen und Schüler durchaus unterschiedlich) anbieten zu können, muss die Trennung von Unter- richt am Vormittag und außerunterrichtlichen Angeboten am Nachmittag, wie Seite 11
sie an offenen Ganztagsschulen noch oft vorzufinden ist, aufgehoben werden. Eine günstige Lernatmosphäre entsteht vor allem dort, wo intellektuell anspruchsvol- les Lernen im Unterricht oder in einer Lernzeit, mental entspannendes Spielen, Handwerken oder Sporttreiben, Mittagessen, Ausruhen und das Nutzen zusätzlicher För- derangebote einander abwechseln und in einem gesun- den (auch körperlich gesunden) Verhältnis zueinander stehen. Eine in diesem Sinne angebotene Tagesrhythmi- sierung ist vor allem dann realisierbar, wenn alle Schü- lerinnen und Schüler, die Lehrkräfte, die pädagogischen und die außerschulischen Fachkräfte ganztätig anwe- send sind und dadurch eine sinnvolle Rhythmisierung organisatorisch erst ermöglichen. Eine heterogene Schülerschaft sowie das Lernen und Zusammenleben in den un- terschiedlichsten Situationen mit anderen Schülerinnen und Schülern erhöhen die Chancen für eine gemeinsame fachliche und soziale Kompetenzentwicklung. Sie stützen damit das demokratische Prinzip der Chancengleichheit, das im tra- ditionellen deutschen, viergliedrigen Halbtagsschulsystem erschreckend wenig zum Tragen kommt. Mitschülerinnen und Mitschüler setzen Maßstäbe durch ihre Beiträge zum Lernen und zur inhaltlichen Auseinandersetzung, geben Impulse, fordern heraus und können helfen und fördern. Gruppen gemeinsam Lernender, die den ganzen Tag, begleitet und gefördert von Profis, miteinander verbringen und gestalten, beeinflussen Interessen, Vorlieben und Orientierungen. Sie helfen dabei, miteinander und gegenseitig jene Kultur von Wertschätzung zu entwic- keln, die die nötige persönliche Stabilität für eine positive Lebenseinstellung und für ein lebenslanges Lernen verleiht. Der 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (siehe [8]) thematisiert zu Recht die außerschulischen Lebenswelten als Orte des Lernens und damit das informelle Lernen in seiner Bedeutung für die Bildungsbiographie eines jungen Menschen. Hier liegt ein maßgeblicher Teil der Erklärung für den Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischer Kompetenzentwicklung, denn diese außer- schulischen Lebenswelten stehen in direkter Abhängigkeit von den ökonomi- schen Bedingungen und dem sozialen Kontext von Familien. Ein verpflichtendes Ganztagsangebot für alle Schülerinnen und Schüler kann hier unterschiedliche Ressourcen von Familien ausgleichen und der „Vererbung“ sozialer Ungleichheit entgegenwirken. Deshalb muss „EINE Schule für ALLE“ eine Ganztagsschule für alle Schülerinnen und Schüler sein. Seite 12
4.3. „EINE Schule für ALLE“: Aspekt individuelle Förderung Jede/r von uns kennt das grundlegende Dogma des traditionellen Unterrichts in deutschen Schulen: Alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe sollen in derselben Zeit, mit demselben Material und denselben methodischen Schritten dieselben Ziele erreichen. Um diese „Gleichheit“ zu gewährleisten, steuern die Lehrkräfte den größten Teil des Unterrichtsgeschehens selbst, sowohl bei der Vor- bereitung als auch bei der Durchführung des Unterrichts. Einerseits wird diese Grundhaltung durch den Glauben an (vermeintlich) leistungs- homogene Lerngruppen im gegliederten Schulwesen stabilisiert und andererseits wird sie noch von vielen Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften mitge- tragen, weil sie nichts anderes kennengelernt haben, und im täglichen Unterrichts- geschehen an vielen Schulen kaum Anderes zu erleben ist. So konnte diese tradi- tionelle Grundhaltung fatalerweise jahrzehntelang unhinterfragt bleiben, mit dem Begriff Gerechtigkeit gekoppelt und damit legitimiert werden. Erfreulicherweise hat durch die Veröffentlichung der Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien (v.a. der PISA-Studien) in den letzten Jahren eine notwendige Dis- kussion um Bildungsgerech- Die individuelle Förderung tigkeit eingesetzt. Mit Recht der Schülerinnen und Schüler wird in Frage gestellt, ob es denn gerecht ist, wenn ein lei- stungsschwacher Schüler ei- Grundhaltung, didaktische Strategie ner Lerngruppe dieselbe Auf- und methodisches Handwerkszeug gabe mit demselben Material in derselben Zeit lösen soll wie ein leistungsstarker Schü- ler dieser Lerngruppe. Eine solche Unterrichtsstrategie wird weder dem leistungs- schwachen noch dem leistungsstarken Schüler gerecht. Der eine ist überfordert, der andere unterfordert. Dennoch läuft der Unterricht in deutschen Schulen zu 80 % noch immer nach diesem Prinzip (siehe z.B. [2]). Wäre es für jeden Schüler nicht „gerechter“, wenn er Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt bekäme - oder sich selbst aus- suchen würde -, das seinem Leistungsstand entspricht? er dazu Frage- und Aufgabenstellungen bekäme - oder sich selbst stellen würde -, in die er sich rasch eindenken kann? Seite 13
er eine Zielsetzung angeboten bekäme - oder sich selbst setzen würde -, die seinem Leistungsvermögen dienlich ist, er verstärkt Gelegenheiten hätte, sich auch selbst Lerninhalte auszuwählen, die seinen Interessen mehr dienen als den Interessen eines Lehrplans? Im Einklang mit der aktuellen internationalen Diskussion setzt man beim schu- lischen Lernen auch in Deutschland immer stärker auf die Strategie der indivi- duellen Förderung. Diese im Unterricht didaktisch und methodisch umzusetzen, bedarf allerdings einer neuen Grundhaltung bei vielen Lehrkräften, die vom oben beschriebenen traditionellen Dogma Abschied nimmt und die individuelle För- derung jedes Schülers/jeder Schülerin im Rahmen eines individualisierenden Un- terrichts als anzustrebendes Ziel ihrer Arbeit anerkennen muss. Daraus ergeben sich veränderte Qualitätskriterien für das ganztägige Lernen und Leben in EINER Schule für ALLE: Bildung heterogener Lerngruppen und Förderung von Partner- und Grup- penarbeit, Anregung der Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler sowie Förderung von selbständigem und eigenverantwortlichem Lernen, auch durch die Ermunterung zu unterschiedlichen Wegen der Wissensaneignung und der Teilhabe an Planung von Unterricht, gemeinsames Lernen, aber mit Freiraum für unterschiedliche Lerngeschwin- digkeiten, unterschiedliche Möglichkeiten zur individuellen Vertiefung, un- terschiedlichem Material, differenzierten Leistungsüberprüfungen, Anknüpfen des schulischen Lernens an die unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungswelten der Kinder und Jugendlichen, Integration besonderer Fördermaßnahmen in das all- gemeine Unterrichtsgeschehen um Effekte von Stig- matisierung (hochbegabt, minderbegabt) zu vermei- den, Schaffung einer guten Balance zwischen gemeinsa- men Schritten einer Lerngruppe und individuellen Schritten einzelner Schülerinnen und Schüler auf der Basis individueller Förderpläne, Entwicklung einer vertrauensbasierten Feedback- und Evaluationskultur. Seite 14
5. Vielfältige Begründungen für „EINE Schule für ALLE“ 5.1. Heterogene Lerngruppe: eine Bereicherung für Alle Die Idee des individuellen Förderns verlangt die Akzeptanz von Individualität und Heterogenität. Im Vordergrund steht ein Verständnis von Unterschiedlichkeit als Normalität und die Anerkennung der Unterschiedlichkeit als Basis für gemein- sames Tun. Eine solche Grundhaltung bedeutet zunächst nichts anderes als die Übertragung einer gesellschaftlichen Realität auf das System Schule. Überall, in der Familie, im Wohnumfeld, im Beruf, in der Freizeit, sind wir in der Regel mit Menschen konfrontiert, die einen anderen Bildungsstand, einen anderen sozialen oder auch kulturellen Hintergrund, eine andere Ausbildung, eventuell eine ande- re Hautfarbe, unterschiedliche Begabungen etc. haben. Das ist für uns alle Norma- lität. Deshalb ist die Frage zu stellen, ob es ein Schulsystem überhaupt geben darf, das diese Realität nicht als Basis akzeptiert, sondern eine Einteilung von Kindern nach einer vermeintlich diagnostizierten Begabung, einer mit fragwürdigen Me- thoden festgestellten Leistungsfähigkeit und nach sozialen Kriterien vornimmt. Zu welchen gravierenden Ungerechtigkeiten diese Einteilung führt, zeigt Till- mann auf: „Je niedriger der Bildungsabschluss des Vaters, desto höher müssten die Testlei- stungen eines Kindes sein. [um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, d. Verf.]. Während dem Kind eines Vaters mit Abitur … eine Testleistung genügt, die noch unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt (65 Punkte), muss das Kind eines Va- ters, der über keinen Schulabschluss verfügt, mit 97,5 Punkten eine excellente Lei- stung vorzeigen, um fürs Gymnasium empfohlen zu werden“. (siehe [24]) Dies ist nur ein Beleg für die erzeugten Ungerechtigkeiten unseres gegliederten Schulsystems. Dennoch wird an dem vorgeblich begabungsgerechten Aussor- tieren von Kindern und Jugendlichen in ein vielgliedriges Schulsystem unbeirrt festgehalten. Zwei Gründe sind im Wesentlichen dafür ausschlaggebend: letztlich eine bisweilen rücksichtslose Durchsetzung schichtspezifischer Interessen zur Wahrung angeeigneter Bildungsbesitzstände für die eigenen Kinder, zum ande- ren der äußerst hartnäckige Mythos, dass in homogenen Lerngruppen – die es in Wirklichkeit nicht gibt, weil es sie nicht geben kann! – größere Lernerfolge erzielt würden. Die historischen Wurzeln unseres gegliederten Schulsystems und das Dogma vom Vorteil homogener Lerngruppen reichen bis ins 16. Jahrhundert und lassen sich u. a. in der „Württembergischen Schulordnung“ aus dem Jahre 1559 finden. (siehe Seite 16) Derartige Grundannahmen und Interessen haben dann auch hauptsächlich zur Errichtung und Beibehaltung unseres gegliederten Schulsystems bis auf den Seite 15
„So dann der Schulmeister die Schulkinder mit Nutz lehren will, so soll er sie in drei Häuflein einteilen. Das eine, darinnen diejenigen gesetzet, so erst anfangen zu buchstabie- ren. Das andere die, so anfangen, die Syllaben zusammenzuschlagen. Das dritte, welche anfangen zu lesen und zu schreiben. Desgleichen soll er in jedem Häuflein besondere Rotten machen, damit die- jenigen, so einander in jedem Häuflein am gleichsten sind, zusammensitzen; dadurch werden die Kinder zum Fleiß angereizt und dem Schulmeister die Arbeit geringert“ (in: Dietrich & Klink, Zur Geschichte der Volksschule, 1964) heutigen Tag geführt, eine Tatsache, die in dieser Form nur noch in Österreich auf- findbar ist. In allen anderen Ländern Europas hat man sich längst auf ein längeres gemeinsames Lernen bis zum 9. oder 10. Schuljahr verständigt. (siehe Seite17) Allerdings muss ausdrücklich betont werden, dass in allen Phasen der deutschen Geschichte, in denen es Hoffnungen und Chancen für demokratische und refor- merische Entwicklungen gab, von den demokratischen Kräften eine Überwin- dung dieser Vorstellungen formuliert und gefordert wurde. Dies gilt für die sog. preußischen Reformen in Folge der Französischen Revolution (W. v. Humboldt, Schleiermacher u. a.), für die demokratischen Kräfte von 1848/49, deren Forderun- gen dann in der Weimarer Republik wieder aufgegriffen wurden, wie auch für eine kurze Zeitspanne nach dem Zweiten Weltkrieg und für die Jahre der Bildungsre- formen in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In diesen Epochen ist vieles vorgedacht und gefordert worden, was bis heute nicht oder nur annähernd erreicht und realisiert wurde. Wir als Initiative fühlen uns als Teil dieser demokratischen Bildungstradition, die, wie gesagt, in fast allen unseren Nachbarländern längst verwirklicht ist. Hier soll, bezogen auf die schulische Realität, vor allem die Frage gestellt werden, welchen Einfluss die Heterogenität einer Gruppe auf Lernprozesse und Lerneffek- tivität hat? Wesentliche Ergebnisse der empirischen Schulforschung zur Heterogenität: Die Behauptung, dass in leistungshomogenen Gruppen insgesamt bessere Leistungen erzielt werden als in heterogenen Gruppen, konnte durch die Forschung nicht bestätigt werden. Seite 16
Leistungsschwächere profitieren stark von der sozial und leistungsmäßig he- terogenen Gruppe. Sie werden hier stärker motiviert als in sog. homogenen Gruppen, lernen im Bereich der Kulturtechniken mehr und die Schulfreude sowie die Lernbereitschaft bleiben eher erhalten. Leistungsstarke lernen in heterogenen Gruppen im Bereich der Kulturtechni- ken nicht weniger als in homogenen Gruppen. Sie erwerben aber eine grö- ßere Akzeptanz und Toleranz sowie Hilfsbereitschaft gegenüber leistungs- schwächeren und z.B. behinderten Schülerinnen und Schülern, was bedeutet, dass ihre soziale Kompetenz erheblich gefördert wird. Alle Lernenden profitieren von der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit der Anregungen, die sie aus der Gruppe erhalten. Heterogen zusammengesetzte Gruppen führen zu Leistungsvorteilen bei den Starken wie bei den Schwachen, wenn Lehrkräfte sich didaktisch und methodisch darauf einstellen. (Hierzu hat Andreas Helmke differenzierte Un- tersuchungen vorgelegt – siehe [24]) Heterogene Gruppen in einem inklusiven Schulsystem (auch behinderte Kinder besuchen die Regelschule ihres Wohnbereiches) haben durch die Einbeziehung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf oft ein günstigeres Klassenklima, weil die Lehrkräfte stärker auf soziale Lernprozesse eingehen. (siehe [20] und [24]) Kanada Norwegen Australien UK Schweden Finnland Dänemark Russland Japan Portugal Luxemburg Griechenland Frankreich Ungarn Tsech.Rep. Italien Spanien USA Türkei Irland Belgien Niederlande Neuseeland Schweiz Österreich Deutschland 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Selektionsalter im internationalen Vergleich (Grafik entnommen: [2]) Seite 17
In Deutschland konnten und können an mehreren Orten Erfahrungen mit hetero- genen Lerngruppen gemacht werden: Da ist zunächst einmal die Grundschule als integrierte Schule für fast Alle mit oft sehr heterogenen Lerngruppen. Dass hier die Heterogenität gute Leistungen nicht verhindert, sondern eher befördert, haben die Studien IGLU und TIMSS ein- drucksvoll gezeigt (siehe [5] und [6]). Allerdings sollte an dieser Stelle ehrlicher- weise erwähnt werden, dass auch in der Grundschule Verfahren eingesetzt wer- den, um die Heterogenität zu begrenzen. Schon vor dem 1. Schuljahr beginnt das Aussortieren: In Deutschland werden etwa 11 % aller Kinder zurückgestellt, was ihnen aber nur selten hilft. Danach greifen zwei andere Selektionsinstrumente: 2-3% der Kinder bleiben sitzen, und am Ende der Grundschulzeit befinden sich bundesweit etwa 4% aller Kinder in einer Förderschule/Sonderschule, mehr als die Hälfte von ihnen in einer Sonderschule für „Lernbehinderte“. „Am Ende der Grundschulzeit haben wir es längst nicht mehr mit allen Kindern eines Alters- jahrganges zu tun, sondern nur noch mit etwa 80% der ursprünglich gestarteten. Die anderen - … - wurden bereits entfernt.“ (siehe [24]) Daran wird deutlich, dass auch in der Primarstufe das individualisierende Unterrichten noch weiter entwic- kelt werden muss. Weitere Erfahrungen mit heterogenen Lerngruppen machen Lehrkräfte in Deutschland neben vereinzelten Modellschulen in den Integrierten Ge- samtschulen und in anderen Regelschulen mit gemeinsamem Unterricht (in Rheinland-Pfalz sind dies Schwerpunktschulen), die - je nach pädagogischem Konzept – den Unterricht in sogenannten Integrationsklassen organisieren, d. h. in Klassen, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam ler- nen, oder grundsätzlich integrativen Unterricht in allen Klassen durchführen. Die positiven Erfahrungen mit individueller Förderung durch binnendifferenzierten Unterricht an Integrierten Gesamtschulen und die empirischen Ergebnisse aus dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern sind deshalb so positiv, weil hier der Umgang mit Vielfalt (Heterogenität) bewusst gestaltet werden muss. Die Lehrkräfte müssen akzeptieren, dass der eine Schüler langsamer und weniger gut rechnet oder schreibt oder liest als der andere, dass die eine Schülerin ihr Lernen schon selbstständig organisiert, während die andere noch Begleitung und ständige Motivierung braucht. 5.2. Elterninteresse am Bildungsangebot Die Eltern der in Deutschland zur Schule gehenden Kinder und Jugendlichen ha- ben, teilweise ohne Absicht, in den vergangenen 10 Jahren etwas bewirkt, was pädagogische Wissenschaft und Schulpolitik jahrzehntelang nicht geschafft ha- ben: Sie haben so große Fragezeichen hinter das gegliederte Schulsystem gesetzt, dass dieses plötzlich vor dem Aus steht. Seite 18
Der erste Schritt in dieser Entwicklung war, dass die Eltern ihre Kinder immer sel- tener in den Hauptschulen angemeldet haben. Das geschah in den Stadtstaaten und in den ärmeren Flächenstaaten früher als in den reicheren. Insgesamt nahm die Zahl derjenigen Kinder, die von ihren Eltern in Hauptschulen angemeldet wur- den, in den letzten Jahren so dramatisch ab, dass immer mehr Bundesländer die Hauptschule abschaffen oder umwandeln oder unter einem neuen Namensmän- telchen zu verstecken versuchen. Eine entsprechend eingeschränkte Akzeptanz für diejenige Realschule Plus, welche die Hauptschule lediglich in einem anderen Rahmen fortsetzt, ist be- reits jetzt feststellbar. Der zweite Schritt steht unmittelbar bevor, die Stiefel dafür sind ge- schnürt, der Weg bereitet: Eltern verweigern nicht nur der Hauptschule ihre Zustimmung, sie stellen vielmehr die frühe Selek- tion der Kinder nach dem 4. Schuljahr massiv in Fra- ge und formulieren ihre Kritik bezogen auf das ge- samte schulische System. Unterstützt werden sie darin von den Ergebnissen wichtiger Studien, von immer mehr Lehrkräften und von vielen wichtigen gesell- schaftlichen Kräften. Es hat sich auch bei den Eltern herumgesprochen, dass die Grundschule als integrierte Gesamtschule für die ersten vier Schuljahre im inter- nationalen Vergleich gut abschneidet, während eine nach Schularten trennende Sekundarstufe I ihre Schülerinnen und Schüler nur zu durchschnittlichen bis un- terdurchschnittlichen Leistungen befördert. Hinzu kommt, dass die Übergangsentscheidungen von der Grundschule in die weiterführenden Schulen massiv fehlerhaft sind. Etwa 60% der Kinder, die eine sog. Hauptschulempfehlung erhalten, erbringen in „höherwertigen“ Schulformen Leistungen, die ihnen einen „höherwertigen“ Schulabschluss ermöglichen. Dies gilt für Kinder mit einer sogenannten Hauptschulempfehlung, die dennoch auf einer Realschule, einem Gymnasium oder einer Integrierten Gesamtschule ange- meldet wurden: Sie waren dort erfolgreich. Dasselbe gilt ebenso für Kinder mit einer sogenannten Realschulempfehlung, die zu einem noch höheren Prozent- satz im Gymnasium oder in den Integrierten Gesamtschulen so erfolgreich waren, dass sie nach der 10.Klasse den Weg zum Abitur beschreiten konnten. Seite 19
Auch entgegengesetzte Zahlen sind bekannt: Nach einem Gutachten der Arbeitsgruppe Bildungsforschung der Universität Duisburg-Essen (siehe [4]) hatten 73% der Schülerinnen und Schüler, die an ei- nem Gymnasium gescheitert und an eine Realschule zurückgeschickt wurden, ursprünglich eine Empfehlung fürs Gymnasium. Ähnlich hoch sind die Zahlen bei Kindern, die nach einem Scheitern in der Realschule in die Hauptschule abge- schult wurden. „Das Risiko, auf Grund einer falschen Grundschulempfehlung ei- ner nicht geeigneten … Schulform zugewiesen zu werden, ist um ein Vielfaches größer als aufgrund übersteigerter Bildungsansprüche der Eltern an einer nicht geeigneten Schulform angemeldet zu werden.“ (siehe [4]) Wer will angesichts solcher Ergebnisse eine Auslese nach der 4. Klasse in unter- schiedliche Schulformen noch rechtfertigen und sie womöglich auch noch ver- bindlich machen? All dies hat dazu beigetragen, dass die Auslese nach Klasse 4 nur noch bei 25% der Eltern Zustimmung findet. Etwa zwei Drittel wünschen eine längere gemeinsame Schulzeit, weil sie der Ansicht sind, dass hierdurch die Chancengleichheit der Ju- gendlichen erhöht wird. Denn rund 86% der Eltern meinen, dass ihre Kinder auf Grund des gegliederten Schulsystems nicht die gleichen Berufschancen haben, obwohl sie diese Chancen für ihre Kinder wünschen. (siehe [24]) In einem weiteren Punkt haben Eltern in den letzten Jahren durch ihr Anmelde- verhalten Schulpolitik betrieben. Heutzutage benötigt ein Jugendlicher, um die gleichen beruflichen Ausbildungsgänge wie seine Eltern durchlaufen zu können, einen besseren Schulabschluss als seine Eltern. Deshalb melden viele Eltern ihre Kinder in einer „höheren“ Schulform an, als sie selbst besucht haben, es sei denn, sie selbst waren schon Gymnasiasten. Das hat zu folgendem Umverteilungsmu- ster in vielen Bundesländern geführt: Die generell sinkenden Schülerzahlen ha- ben den Rückgang der Anmeldungen in den Haupt- und Realschulen verstärkt, während die Zahlen in den Gymnasien ebenso wie in den Integrierten Gesamt- schulen deutlich anstiegen. Zwar wuchsen die Schülerzahlen in den Gymnasien prozentual stärker als an den Integrierten Gesamtschulen, was aber daran liegt, dass es Integrierte Gesamtschulen meist nicht flächendeckend gibt bzw. sie in ihrer Zügigkeit begrenzt wurden, weshalb viele Anmeldewünsche nicht erfüllt werden können. In Rheinland-Pfalz müssen seit Jahren viele Integrierte Gesamt- schulen zwei- bis dreimal so viele Schülerinnen und Schüler ablehnen, wie sie auf- nehmen können. Das hat sich auch mit der steigenden Zahl der Gesamtschulen nicht geändert. Seite 20
Schüler im 8. Schuljahr, Rheinland-Pfalz 1970 und 2007 ohne Freie Walldorfschulen und Förderschulen 100 % 11,1 5,0 75 % 22,7 33,2 50 % Integrierte Gesamtschule 24,1 Gymnasium 63,3 Realschule 25 % 16,1 Schulen mit mehreren Bildungsgängen 16,6 Hauptschule 0% 1970 2007 Grafik entnommen aus [22] Insgesamt zeigt sich ein legitimes Interesse der Eltern: Sie wollen für ihr Kind eine möglichst hohe Bildung in der Sekundarstufe I, um die Chance zu wahren, da- nach auch den Weg zum Abitur beschreiten zu können. Also wählen sie in im- mer stärkerem Maße die beiden Schulformen, die diese sog.„gymnasiale“ Bildung anbieten: das Gymnasium und die Integrierte Gesamtschule. Nach Ergebnissen des Bildungsbarometers des Zentrums für empirische Forschung der Universität Koblenz-Landau würden fast 60% der Bevölkerung eine ein- oder zweigliedrige Schulstruktur der viergliedrigen vorziehen. (siehe [12] und [26]) Seite 21
Fazit aus "5.1. Heterogene Lerngruppen" und "5.2. Elterninteresse" Nimmt man die positiven Auswirkungen heterogener Lerngruppen sowohl auf schuli- sche Leistungen als auch auf die persönliche Stabilität des Einzelnen durch vielfältige soziale Lernprozesse, die gewünschte Erziehung zu demokratischem Denken und Handeln, zu Toleranz und gegenseitiger Wertschätzung, das Interesse von Eltern an hochwertigen Schulabschlüssen für ihre Kinder wirklich ernst und will die fatalen Folgen der frühen Auslese (z.B. Bildungsunge- rechtigkeit, 20% der Schüler/innen als Risikogruppe, falsche Schulformzuweisun- gen) vermeiden, dann bleibt nur eine einzige Konsequenz: EINE Schule für ALLE mit der Möglichkeit des Sekundarabschlusses als qua- lifiziertem Zugang für eine berufliche Ausbildung oder als Zugangsberechti- gung zur gymnasialen Oberstufe mit den Zielen einer Fachhochschulreife oder Hochschulreife. Seite 22
5.3. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte Grundsätzliches Unserer Initiative ist es wichtig auch den strukturellen Rahmen auszuleuchten, den unser Staat zur Verfügung stellt, um den zeitgemäßen pädagogischen Her- ausforderungen in der Realität zu entsprechen. Deshalb müssen wir auch folgen- de grundlegenden Fragen stellen: Wie erhalten unter den Prämissen einer demokratisch-humanistischen Ge- sellschaft alle Kinder die gleichen Chancen? Wie können schon die systemischen Strukturen des staatlichen Schulwesens die unterschiedlichen Lebensbedingungen, in die Kinder hineingeboren werden, so ausgleichen, dass sie dazu beitragen, Chancengleichheit in ho- hem Maße zu gewährleisten? Welche Strukturen braucht es, um Kinder und Jugendliche zur Selbstentwick- lung zu ermutigen, um sie zu Selbstbestimmung zu befähigen und zur Über- nahme von Selbst- und Mitverantwortung zu motivieren? Schule soll, so steht es in vielen Schulgesetzen, ihre Schülerinnen und Schüler auf das Leben und unsere Gesellschaft so vorbereiten, dass es ihnen möglich ist, als mündige Bürger ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Partizipation auf der Ba- sis demokratischen Handelns wahrzunehmen. Dementsprechend sollten Kinder so früh wie möglich lernen, mit einer Realität zu leben, die derjenigen entspricht, mit der sie sich später auseinandersetzen. Das staatliche Schulsystem ist eine große „Sortiermaschine“ mit unterschiedli- chen Sortierstellen. Die deutlichste und gravierendste Stelle, an der Kinder sortiert werden, ist der Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen mit oft prägenden Wirkungen weit über die Schulzeit hinaus. Aber wie bereits erwähnt, wird schon vorher sortiert bzw. aussortiert: Zuweisung von Kindern mit Beeinträchtigungen in Sonderkindergärten, Zurückstellung vom Schulbesuch mit der Zuschreibung „nicht schulfähig“, Aussortieren während der Grundschulzeit in Sonderschulen, erzwungene Klassenwiederholungen, um nur die folgenschwer- sten selektiven Maßnahmen zu nennen. „Diese Sortiermaschine stellt auch juristisch-verfassungsrechtlich eine bedenk- liche Praxis dar, weil sie mit den Rechten auf Bildung und Erziehung, auf schu- lische Ausbildung und berufliche Qualifizierung in den Verfassungen, Gesetzen und UN-Konventionen (soweit sie in der Bundesrepublik geltendes Recht sind) kollidieren.“ (siehe [11]) Seite 23
Die Beibehaltung dieser frühen Auslese ist auf den Einzelnen gesehen unverant- wortlich und mit der Verfassung nicht vereinbar. Deshalb muss ein solches Schul- system abgeschafft werden. Diese Konsequenz basiert auf den grundlegenden Elementen unserer staatlichen Verfassung und unserer Gesetze, die den Grundsatz der Teilhabe- und Verteilungs- gerechtigkeit zu beachten haben. Dabei muss der Staat, um diesen Grundsatz zu erfüllen, die Zugangsgerechtigkeit, d. h. den ungehinderten Zugang zu Bildung und Kultur garantieren. Offenkundig leistet aber das bestehende Schulsystem dies nicht sondern reproduziert täglich diese Ungerechtigkeit. Die Abschaffung des gegliederten Schulsystems ist also keine schulpolitische oder pädagogische Geschmacksfrage, sondern ein Gebot, das neben vielen an- deren empirisch gestützten Argumenten aus den staatlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik und ihrer Bundesländer resultiert. Das war u.a. auch der Grund dafür, dass die OECD und der UN-Sonderbeauftragte Munoz ein grundsätzliches Fragezeichen hinter das gegliederte, deutsche Schul- system und die Selektion der Kinder nach der 4. Klasse gesetzt haben. Die besondere Situation von Kindern mit Behinderungen Die Fragwürdigkeit des Sonderschulsystems - nicht der Arbeit der Sonderpäd- agogen und auch nicht der Sonderpädagogik an sich - und der noch immer regelmäßig praktizierten Zwangszuweisung von Kindern in dieses System wird schon lange thematisiert und in der deutschen Politik zum Teil auch gesehen. Das dokumentiert sich in unterschiedlichen politischen Schritten: 1973 1973 bereits förderte der Deutsche Bildungsrat den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern in der Regelschule. 1989 1989 ratifizierte die Bundesrepublik die UN-Kinderrechtskonvention. Nach Artikel 23 ist durch entsprechende Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse eines behinderten Kindes sicherzustellen, dass ihm vor allem Erziehung und Bildung tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die seiner möglichst vollständigen so- zialen Integration und individuellen Entfaltung förderlich ist. 1994 1994 wurde der § 3 des Grundgesetzes durch ein Diskriminierungsverbot auf Grund einer Behinderung ergänzt. 1994 unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der UNESCO Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ die Seite 24
sog. „Salamanca-Erklärung“ und anerkannte damit (siehe [10]), dass „jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbe- dürfnisse hat“, „Schulsysteme entworfen und Lernprogramme eingerichtet werden sollten, die dieser Vielfalt an Eigenschaften und Bedürfnissen Rechnung tragen“, „jene Kinder mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen ha- ben müssen, die sie mit einer kindzentrierten Pädagogik, die ihren Bedürfnis- sen gerecht werden kann, aufnehmen sollen“, „Regelschulen mit dieser integrativen Orientierung das beste Mittel sind, um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, um Gemeinschaften zu schaffen, die alle willkommen heißen, um eine integrierende Gesellschaft aufzubauen und um Bildung für Alle zu erreichen; darüber hinaus gewährleisten integra- tive Schulen eine effektive Bildung für den Großteil aller Kinder und erhöhen die Effizienz sowie schließlich das Kosten-Nutzen-Verhältnis des gesamten Schulsystems“. 1994 wurden die „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland“ von der Kultusministerkonferenz (KMK) verabschiedet (siehe [23]). Dort wird zum ersten Mal von der KMK formu- liert, dass Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf allge- meine Schulen besuchen können, wenn dort die notwendigen Voraussetzungen gewährleistet sind. Neben diesem einschränkenden „Ressourcenvorbehalt“ wird aber deutlich formuliert, dass die Sonderpädagogik eine die allgemeine Pädago- gik unterstützende Funktion haben soll. „Wenn sonderpädagogisches Handeln subsidiären Charakter haben soll, dann folgt daraus, dass im Rahmen schulischer Förderung stets Integration vor Separation geht.“ In den Folgejahren wurde das Recht behinderter Kinder auf gleichberechtigten Zugang zur allgemeinen Bildung und auf gleichberechtigte Teilhabe an allen öffentlichen Angeboten in weiteren Gesetzen (z.B. Gleichstellungsgesetze, Sozi- algesetzbücher IX und XII) und Verlautbarungen (Sozialcharta Rheinland-Pfalz) festgehalten. Trotz dieser gesetzlichen Entwicklung und trotz des nachweisbaren Erfolges integrativer Schulmodelle mussten und müssen die Eltern behinderter Kinder weiterhin - je nach Bundesland mehr oder weniger erfolgreich - um integrative Beschulung kämpfen. Der UN-Sonderberichtserstatter Munoz kritisierte nach seiner Deutschlandrei- 2006 se 2006 daher u. a., dass die Bundesrepublik Deutschland keine Fortschritte in Richtung Inklusion (Das bedeutet: Alle Kinder gehen in eine gemeinsame Schule!) Seite 25
gemacht habe und dass nach wie vor behinderten Kindern ein Zugangsrecht zu allgemeinen Schulen fehle. In Rheinland-Pfalz werden seit 2002 (nach vorausgehenden Schulversuchen) in einer zahlenmäßig begrenzten Regelschulform, den sog. Schwerpunktschulen, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet. Dennoch ha- ben bundesweit - diese Zahl gilt in etwa auch für Rheinland-Pfalz - erst ca. 15% aller behinderten Kinder den Vorteil eines gemeinsamen Unterrichts mit nichtbe- hinderten an allgemeinbildenden Schulen. 2009 Bewegung in die Diskussion und vor allem in die Umsetzung von schon lange anerkannten pädagogischen, rechtlichen und menschlichen Standards für behin- derte Menschen bringt die im März 2009 erfolgte Ratifizierung der UN-Behinder- tenrechtskonvention (BRK) und des anhängenden Fakultativprotokolls durch die Bundesrepublik. Die unterzeichnenden Staaten haben nach Artikel 24 ein „inclusive education sy- stem at all levels“ (inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen) zu gewährleisten und verpflichten sich dazu, „dass Menschen mit Behinderungen nicht auf Grund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“, „dass Kinder mit Behinderungen nicht auf Grund ihrer Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder von der Se- kundarbildung ausgeschlossen werden“, „dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Ge- meinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeldlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“, „dass Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssy- stems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre wirksame Bil- dung zu ermöglichen“. Außer der erfreulichen Stärkung des Rechtes behinderter Menschen auf gleichbe- rechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen hat diese UN-Konvention aber noch einen grundsätzlichen Stellenwert, der auf die gesamte Gesellschaft, also auch auf das allgemeine Schulwesen, ausstrahlt. Die Vertragsstaaten müssen die Einhaltung der Menschenrechte sicherstellen, müssen Benachteiligungen verhindern und ihre eigene Gesetzgebung so anpassen, dass die Konventions- regeln beachtet werden. Die BRK nimmt den Rang eines Bundesgesetzes ein. Mit ihrer Ratifizierung erlangen Teile der Konvention sofortige Gültigkeit, z.B. Artikel 4 mit der allgemeinen Verpflichtung zum Handeln wie auch die Einbeziehung der Seite 26
Sie können auch lesen