EINE Schule für ALLE Ziele - Konzept - Begründungen - Unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative EINE Schule für ALLE - länger gemeinsam lernen e.V.

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EINE Schule für ALLE Ziele - Konzept - Begründungen - Unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative EINE Schule für ALLE - länger gemeinsam lernen e.V.
EINE Schule für ALLE
  Ziele - Konzept - Begründungen

               Unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative
       EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.
Impressum

Herausgeber: Unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative
		           "EINE Schule für ALLE - länger gemeinsam lernen e.V."

Kontakt: 		        eine-schule-fuer-alle@onlinehome.de
Homepage:          http://www.eine-schule-fuer-alle-rlp.de
Text:		            Hans-Jürg Liebert
Grafik + Layout:   Herbert Nicklis
		                 Juni 2010
EINE Schule für ALLE
                                     Ziele - Konzept - Begründungen

Inhalt

       Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4
1.     Unsere Initiative „EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.“ . . . . . . . .6
2.     Unsere Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .6
3.     Zur Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
3.1.   Generelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
3.2.   Bildungspolitische Ausgangslage in Rheinland-Pfalz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
4.     Unser Konzept „EINE Schule für ALLE“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9
4.1.   Grundlegende Merkmale EINER Schule für ALLE in Rheinland-Pfalz . . . . . . . . . . . .9
4.2.   „EINE Schule für ALLE“: Aspekt Ganztagsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11
4.3.   „EINE Schule für ALLE“: Aspekt individuelle Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13
5.     Vielfältige Begründungen für „EINE Schule für ALLE“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15
5.1.   Heterogene Lerngruppe: eine Bereicherung für Alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15
5.2.   Elterninteresse am Bildungsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18
5.3.     Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23
5.4.   "EINE Schule für ALLE": Aspekt Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28
6.     Gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .32
7.     Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .34
8.     Homepage – Kontakt – Spendenaufruf – Unterschriftenaktion . . . . . . . . . . . . . . . .35
9.     Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36

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Grußwort an die unabhängige,
                              rheinland-pfälzische Initiative
                              „EINE Schule für ALLE“

                              Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz;
                              TU Berlin, Institut für Erziehungswissenschaft

Die demokratische, pluralistische Gesellschaft braucht einen Ort, an dem Respekt,
Anerkennung, Vielfalt und zugleich gemeinsames Arbeiten und soziales Leben
Grundlage von Erziehung und Bildung sind. Das ist eine gemeinsame Schule, die
alle aufnimmt, unabhängig von ihrer physischen, kognitiven und psychischen Ent-
wicklung, also eine Kinder- und Jugendschule, die auf der Individualität und der
Gemeinsamkeit als den beiden Säulen des Lebens und Lernens von Menschen in
der „anderen Moderne“ beruht.
Das gegenwärtige deutsche Schulsystem ist zwanghaft durchdrungen von der
Bemühung, homogene Kindergruppen herzustellen, oft in gutem Glauben. Er
täuscht: Diese fiktive Gleichheit verhindert nicht nur soziales Lernen im Umgang
mit Vielfalt, es behindert auch die Bildung der Einzelnen selbst: Zurückstellungen
vom Schulbeginn, Absonderungen in Förderschulen für Behinderte, zwangsweise
Klassenwiederholungen, das Sortieren der Kinder nach der Grundschule in absur-
derweise „begabungsgerecht“ genannte Schubladenschulen, die unflexiblen und
für alle verbindlichen Stundenpläne und vieles andere verhindern, dass Kinder
und Jugendliche ihre individuellen Potenziale voll entfalten können. Alle diese
Merkmale herkömmlicher deutscher Schule demotivieren die Kinder und behin-
dern das Lernen.
Daher freue ich mich, dass auch die unabhängige, rheinland-pfälzische Initiative
„EINE Schule für ALLE“ einen konkreten Vorschlag vorlegt für eine zukunftsfähige,
demokratische und lernwirksame Bildung. Bildung als ganzheitlicher Entwick-
lungsprozess schließt den Kindergarten, die Schulzeit, die berufliche Ausbildung
und das informelle lebenslange Lernen mit ein. Es ist für mich selbstverständlich,
dass eine Schule für alle immer auch eine inklusive Schule ist. Die Pädagogik fragt
bei allen Mädchen und Jungen: Was kannst du, wo brauchst du Unterstützung, wo
willst du besser werden und wie können wir gemeinsam dieses Ziel erreichen?
Ich freue mich zugleich, dass solch eine „konkrete Utopie“ von einem breiten
Bündnis getragen wird und noch weitere Bündnispartner finden will und wird.
Denn bei immer mehr gesellschaftlichen Kräften, unter den Arbeitnehmern und

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Arbeitgebern, den Selbsthilfegruppen und nicht-staatlichen Organisationen, in
den Kirchen und Weltanschauungsgruppen, bei Gewerkschaften, lokalen Verei-
nen und Vereinigungen, unter den Kommunen, Parteien und auch in der Schul-
aufsicht, den Kinder- und Jugendeinrichtungen und bei vielen anderen nimmt
die Erkenntnis zu, dass die Pädagogik der Vielfalt in der Gemeinsamkeit in einer
gemeinsamen Schule die Grundlage produktiver und demokratiefähiger Erwach-
sener ist.
Ich wünsche der Initiative allen Erfolg!

Ulf Preuss-Lausitz

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1. Unsere Initiative „EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.“

Den Kern unserer Initiative bilden einige Einzelpersonen, die bereits in den letz-
ten Jahrzehnten in unterschiedlichen Bereichen der rheinland-pfälzischen Schul-
landschaft Schulentwicklung mit initiiert und mit gestaltet haben. Wir bringen
Erfahrung aus der pädagogischen Praxis, der pädagogischen Wissenschaft, der
Lehrerfortbildung, der schulischen Qualitätsentwicklung, der Schulleitung und
der ministeriellen Schulverwaltung und Schulpolitik mit.
Weil wir alle seit vielen Jahren in unseren unterschiedlichen beruflichen Erfah-
rungsbereichen erleben, wie notwendig eine grundlegende Veränderung unseres
Schulsystems ist und gleichzeitig miterleben müssen, wie kleinschrittig, halbher-
zig und mutlos von Seiten der Schulpolitik lediglich an den Symptomen unseres
traditionellen Schulsystems herumgedoktert wird, haben wir uns entschlossen,
mit unserer Initiative dazu beizutragen, die Diskussion um eine deutliche und
grundlegende Veränderung unseres Schulsystems zu beleben und die Umsteue-
rung zu einem inklusiven Bildungssystem – zu EINER Schule für ALLE – mit vor-
anzutreiben.

2. Unsere Ziele

Mit unserem Konzept wollen wir

ƒƒ   eine Schule, die jedem Kind, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, die
     gleichen Entwicklungs- und Bildungschancen bietet,

ƒƒ   eine zügige und grundlegende Überwindung des viergliedrigen Schulssytems
     hin zu einer Schule für Alle,

ƒƒ   ein längeres, gemeinsames Lernen, ohne die absurd frühe Verteilung der
     Kinder auf nicht gleichwertige Schulen und ohne die weiteren Selektions-
     mechanismen des traditionellen Schulsystems (Zurückstellen, Sitzenbleiben,
     erzwungene Schulartwechsel),

ƒƒ   einen individualisierenden Unterricht, der es jedem Kind ermöglicht, seine
     Potenziale zu entfalten und in einer Ganztagsschule vielfältige Kompetenzen
     zu entwickeln,

ƒƒ   die rasche Überwindung des Systems der Förderschulen und die konsequen-
     te Verlagerung der sonderpädagogischen Ressourcen in die allgemeinbil-
     denden Schulen. Mit dieser Forderung nehmen wir auch Bezug auf die von
     der Bundesrepublik Deutschland bereits im März 2009 ratifizierte UN-Behin-
     dertenrechtskonvention (BRK).

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3. Zur Ausgangslage

3.1. Generelle Aspekte

Seit längerem sind breite Bevölkerungskreise in Deutschland über die Folgen un-
seres permanent auslesenden, gegliederten Schulsystems zunehmend beunru-
higt, halten es für ungerecht und kritisieren seine mangelnde Leistungsfähigkeit
(nur mittelmäßige Leistungen im internationalen Vergleich, Zurückstellungen,
hohe Wiederholerquote, Abschulungen, erzwungene Wechsel der Schulart, zu
viele Jugendliche ohne Schulabschluss, reduzierte Berufschancen für Schüler mit
Hauptschulabschluss, zu wenige Abiturienten, zu wenig Förderung von Hochbe-
gabten). Vor allem das Fehlen von individueller Förderung bzw. die viel zu geringe
individuelle Förderung der Kinder wird bemängelt (siehe [12], [14] und [15]).
Insbesondere deshalb hält auch eine große Mehrheit der Eltern längeres gemein-
sames Lernen und die Akzeptanz der individuellen Förderung als grundlegendes
Lehrprinzip für die richtige und zeitgemäße Antwort auf die Krise des deutschen
Schulsystems. Dies sowie die Forderung nach Verbesserungen der Finanzausstat-
tung des Bildungssystems und nach einer grundlegenden Reform der Lehrerbil-
dung stellen die wichtigsten Ergebnisse verschiedener repräsentativer Umfragen
zur Situation des deutschen Schulsystems dar.

3.2. Bildungspolitische Ausgangslage in Rheinland-Pfalz

Der berühmte Tropfen, der das „Fass zum Überlaufen“ brachte und den konkre-
ten Anlass für die Gründung dieser Initiative bildete, war die Unfähigkeit der
rheinland-pfälzischen SPD, ihre Alleinregierung für eine grundlegende Reform
des Schulsystems zu nutzen, damit Chancengleichheit für alle Kinder realisiert
werden kann und das Schulsystem internationalen Ansprüchen gerecht wird.
Vielmehr wird durch die realisierte Strukturänderung - der Zusammenlegung
von Haupt- und Realschule zur Realschule plus - am Prinzip der Selektion nach
der vierten Klasse festgehalten und damit der fatale Zusammenhang zwischen
Schulerfolg und sozialer Herkunft, der in Deutschland besonders groß ist, weiter
festgeschrieben.
Mit dieser Strukturänderung widerspricht das Handeln der rheinland-pfälzischen
SPD deutlich den schul- und bildungspolitischen Vorgaben des Grundsatzpro-
gramms der Bundes-SPD, die in ihrem Hamburger Programm von 2007 formu-
liert: „Alle Schülerinnen und Schüler sollen gemäß ihrer Potenziale und Leistungs-
fähigkeit den bestmöglichen Schulabschluss erreichen können. Deshalb wollen
wir, dass Kinder und Jugendliche länger gemeinsam lernen. Dies ist am besten
zu erreichen in einer gemeinsamen Schule für alle Kinder von der ersten bis zur
zehnten Klasse.“

                                      Seite 7
Durch die Schaffung der Realschule plus wird in Rheinland-Pfalz das viergliedrige
Schulsystem zementiert. Derzeit gibt es die 4 Säulen „Förderschule“, „Gymnasi-
um“, „Integrierte Systeme“ (Integrierte Gesamtschule sowie integrativ arbeiten-
de Realschule plus) und die „Kooperativ arbeitende Realschule plus“, die ab der
7. Klasse die alte Aufteilung in Hauptschule/Hauptschulklassen und Realschule/
Realschulklassen festschreibt.

     Förderschule          Gymnasium                 Integrierte           Realschule plus
                                                      Systeme                kooperativ

                                                      IGS    Realschule     Hauptschul- Realschul-
             neun                                                plus        klassen     klassen
        unterschiedliche                                      integrativ     7-9 (10)      7-10
       Förderschulformen    Klassen 5-13              5-13       5-10
                                                                                 gemeinsame
                                                                              Orientierungsstufe

Die Einführung der Realschule plus ist somit keine geeignete Maßnahme für ein
längeres gemeinsames Lernen in einer gemeinsamen Schule für alle Kinder von
der ersten bis zur zehnten Klasse.
Mit dieser Strukturänderung, die das Förderschulsystem unangetastet bestehen
lässt, widerspricht die rheinland-pfälzische SPD auch den Zielen der UN-Behin-
dertenrechtskonvention, die für die Bundesrepublik Deutschland und auf dem
Umweg über den Grundsatz der Bundestreue auch für die einzelnen Bundeslän-
der die zügige Einführung eines inklusiven Schulsystems und die Abschaffung
des Systems Förderschule verlangt. (siehe Rechtsgutachten [17], [21] sowie [16])
„Über den Grundsatz der Bundestreue sowie aufgrund der im Wege des Ratifizie-
rungsprozesses erklärten Zustimmung zur BRK sind die Länder hier ebenfalls zur
zügigen Anpassung ihrer Schulsysteme verpflichtet.“ (siehe [21])
Zugleich behält Rheinland-Pfalz nach der o.g. Strukturänderung ein Schulsystem,
das weiterhin Kinder im Alter von zehn Jahren auf nicht gleichwertige Schularten
verteilt. Dadurch wird eine für die Gesellschaft schädliche und gefährliche soziale
Aussonderung - wider besseres Wissen - in Kauf genommen. Diese wird durch
die Beibehaltung der Förderschulen, insbesondere der “Förderschulen mit dem
Förderschwerpunkt Lernen”, zusätzlich verschärft.
“Die Datenlage (der PISA-Ergebnisse) zeigt deutlich, dass spätere schulische Se-
lektion die Chancengleichheit erhöht. Gleichzeitig geht spätere Selektion nicht
mit einem geringeren Leistungsniveau einher”. (siehe [29])

                                           Seite 8
4. Unser Konzept „EINE Schule für ALLE“

4.1. Grundlegende Merkmale EINER Schule für ALLE in Rheinland-Pfalz

Elementarbereich

Der Eintritt in „EINE Schule für ALLE“ sieht für alle Kinder einer Gemeinde/
eines Wohnbezirks vor dem Beginn der Schulzeit ein vorbereitendes, ver-
pflichtendes und kostenfreies (in Rheinland-Pfalz bereits verwirklicht) Kin-
dergartenjahr vor, um eventuelle Entwicklungsrückstände (sprachlich, sozial-
emotional, psychomotorisch usw.) bei einzelnen Kindern abzubauen und die
Startbedingungen für alle Kinder zu verbessern. Eine flexible Eingangsstufe
in den ersten Schuljahren (s.u.) wird diesen Anspruch zusätzlich unterstützen.

Primar- und Sekundarbereich

ƒƒ   Alle Kinder einer bestimmten Region (Stadtteil, Wohnbezirk, Kommune, kom-
     munale Verbünde) gehen gemeinsam in eine Schule. Zwischen der zuvor ge-
     meinsam besuchten Kindertagesstätte (s.o.) und der Schule gibt es eine enge
     inhaltliche und personelle Verzahnung. Die gemeinsame schulische Bildung
     und Erziehung erfolgt ganztägig und dauert 10 Jahre.

ƒƒ   Eine in der Regel 3-jährige flexible Eingangsstufe im Primarbereich ermög-
     licht den Kindern das Erreichen der notwendigen Kompetenzen in unter-
     schiedlichen Zeiträumen und legt somit die Grundlage für die weitere ge-
     meinsame Schulzeit.

ƒƒ   Basis für eine gelingende Schule für Alle ist eine schulische Gemeinschaft, in
     der gemeinsame Inhalte (fachlich, sozial, human, demokratisch) eine grund-
     legende Wertekultur bilden und alle Schülerinnen und Schüler und alle Mit-
     arbeiterinnen und Mitarbeiter die gleiche Wertschätzung und Ermutigung
     erfahren. Unterschiede zwischen den Lernenden werden als Chance für das
     gemeinsame Leben und Lernen gesehen.

ƒƒ   Mittelpunkt der schulischen Bildung und Erziehung ist ein an den Ergebnis-
     sen der Unterrichtsforschung orientierter und weitestgehend individualisie-
     render Unterricht (vgl. 4.3.).

ƒƒ   Ziel ist eine ganzheitliche Bildung. Neben einer gemeinsamen Grundbildung,
     die sich an festgelegten Bildungsstandards orientiert, steht den Schülerinnen
     und Schülern ein breites Angebot an inhaltlichen Lern- und Entwicklungs-

                                       Seite 9
feldern zur Verfügung, die alle wesentlichen Bereiche umfassen (fachliche
     Grundstandards, musische, sportliche, politisch-demokratische, handwerkliche
     Schwerpunkte u.v.a.m.).

ƒƒ   Die 10-jährige gemeinsame Schulzeit schließt eine Berufsvorbereitung für
     alle Schülerinnen und Schüler mit ein.

ƒƒ   Die Schülerinnen und Schüler schließen die 10-jährige Schule für Alle mit
     dem Sekundarabschluss ab, der für eine berufliche Ausbildung qualifiziert,
     oder mit einer Zugangsempfehlung für die gymnasiale Oberstufe (Mainzer
     Studienstufe – MSS) mit dem Ziel der Fachhochschul- oder Hochschulreife.
     Die erworbenen individuellen Kompetenzen werden dabei in Form verbaler
     Beschreibungen dokumentiert.

ƒƒ   Der Unterricht in EINER Schule für ALLE basiert auf dem Prinzip der individuel-
     len Förderung, das in einem individualisierenden Unterricht verwirklicht wird.
     Alle Schülerinnen und Schüler lernen auf der Grundlage eines gemeinsamen
     Curriculums nach individuellen Lernplänen ohne äußere Fachleistungsdif-
     ferenzierung. Dabei wechseln sich Phasen gemeinsamen und individuellen
     Lernens ab. Bestandteile des gemeinsamen Unterrichts sind z.B. eine diffe-
     renzierte Aufgabenkultur, unterschiedliche Materialien zum selben Inhalt,
     differenzierte Zielsetzungen und differenzierte Leistungsüberprüfungen. Die
     individuellen Lern- und Entwicklungsphasen gestalten die Schülerinnen und
     Schüler zunehmend selbst und in eigener Verantwortung. Dabei werden sie
     von den Lehrkräften und anderen pädagogischen Kräften beraten und be-
     gleitet. Die regelmäßige Überprüfung der erreichten Kompetenzen dient der
     weiteren individuellen Förderung.

ƒƒ   Um EINE Schule für ALLE zu realisieren, kooperieren Lehrkräfte unterschied-
     licher Ausbildungsgänge miteinander. Förderlehrkräfte werden personeller
     Bestandteil der allgemeinbildenden Schule für Alle. Die unterschiedlichen
     Kompetenzen der Lehrkräfte werden als Bereicherung für die Bildung und
     Erziehung der Lernenden geschätzt. Sozialpädagogen sind selbstverständli-
     cher Bestandteil des Personals jeder Schule.

ƒƒ   Langfristig verfügen die Lehrkräfte EINER Schule für ALLE über eine einheit-
     liche Grundbildung im Bereich der Bildungswissenschaften, in die Diagnostik
     und inklusive Pädagogik integriert sind, und über besondere fachliche, fachdi-
     daktische sowie pädagogisch-inhaltliche Schwerpunkte. Zusätzlich bereichern
     institutionalisierte Kooperationen mit Psychologen, Medizinern und Thera-
     peuten unterschiedlicher fachlicher Prägung die Begleitung und Beratung
     der Kinder und Jugendlichen.

                                      Seite 10
4.2. „EINE Schule für ALLE“: Aspekt Ganztagsschule

In unserem Konzept ist formuliert „Die gemeinsame schulische Bildung und Erzie-
hung erfolgt ganztägig und dauert 10 Jahre“ (s.o.). Das bedeutet für uns, dass alle
Schülerinnen und Schüler am Ganztagsbetrieb teilnehmen.
Ganztagsschule erfüllt zwei wesentliche Anforderungen der heutigen Gesell-
schaft:
Sie fördert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und sie erhöht die Chancen-
gleichheit für die Schülerinnen und Schüler.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt bei der Entscheidung für eine Ganz-
tagsschule eine zentrale Rolle. In einer Zeit, in der die Nettolöhne kontinuierlich
sinken (siehe [9]), wird es für viele Familien immer wichtiger, dass beide Elternteile
arbeiten gehen, um den gewohnten Lebensstandard bewahren zu können. Für
90% der Eltern ist es entscheidend, dass durch die Ganztagsschule Erwerbsmög-
lichkeit überhaupt realisierbar wird,
auch weil dadurch bei der Suche eines
Arbeitsplatzes größere Flexibilität ent-        Die Ganztagsschule in der heutigen
steht. Dieses Motiv für die Anmeldung           Gesellschaft
eines Kindes an einer Ganztagsschu-
le unterscheidet sich nur geringfügig
                                                ƒƒ fördert die Vereinbarkeit von Familie
zwischen den einzelnen Berufs- und
                                                    und Beruf
Sozialschichten.
Immer mehr Kinder werden von nur ei-        ƒƒ erhöht die Chancengleichheit für die
nem Elternteil (meistens von der Mut-          Schülerinnen und Schüler.
ter) erzogen. Viele dieser Familien, die
nach neuesten Erkenntnissen (siehe
[9]) oft an oder schon unter der Armutsgrenze leben, sind existentiell bedroht,
wenn die Kinder kein Ganztagsschulangebot wahrnehmen können. Es ist daher
völlig inakzeptabel, dass die Möglichkeit zum Besuch einer Ganztagsschule da-
von abhängt, wo ein Kind gerade wohnt bzw. ob eine Schule in der Nähe zufällig
ein Ganztagsangebot vorhält oder nicht.
Die Erhöhung der Chancengleichheit an einer Ganztagsschule hat unterschiedli-
che Facetten:
Die Attraktivität der Ganztagsschule entsteht durch das Zusammenspiel von
schulischem Lernen, professioneller Beratung und Betreuung bei Lernprozessen,
zusätzlichen Fördermöglichkeiten für unterschiedlichste Bedarfe und besonde-
ren Bildungs- und Freizeitangeboten. Um diese verschiedenen Elemente in einem
schülergerechten Tagesrhythmus (je nach Alter der Schülerinnen und Schüler
durchaus unterschiedlich) anbieten zu können, muss die Trennung von Unter-
richt am Vormittag und außerunterrichtlichen Angeboten am Nachmittag, wie

                                      Seite 11
sie an offenen Ganztagsschulen noch oft vorzufinden
                          ist, aufgehoben werden. Eine günstige Lernatmosphäre
                          entsteht vor allem dort, wo intellektuell anspruchsvol-
                          les Lernen im Unterricht oder in einer Lernzeit, mental
                          entspannendes Spielen, Handwerken oder Sporttreiben,
                          Mittagessen, Ausruhen und das Nutzen zusätzlicher För-
                          derangebote einander abwechseln und in einem gesun-
                          den (auch körperlich gesunden) Verhältnis zueinander
                          stehen. Eine in diesem Sinne angebotene Tagesrhythmi-
                          sierung ist vor allem dann realisierbar, wenn alle Schü-
                          lerinnen und Schüler, die Lehrkräfte, die pädagogischen
                          und die außerschulischen Fachkräfte ganztätig anwe-
                          send sind und dadurch eine sinnvolle Rhythmisierung
                          organisatorisch erst ermöglichen.
Eine heterogene Schülerschaft sowie das Lernen und Zusammenleben in den un-
terschiedlichsten Situationen mit anderen Schülerinnen und Schülern erhöhen
die Chancen für eine gemeinsame fachliche und soziale Kompetenzentwicklung.
Sie stützen damit das demokratische Prinzip der Chancengleichheit, das im tra-
ditionellen deutschen, viergliedrigen Halbtagsschulsystem erschreckend wenig
zum Tragen kommt. Mitschülerinnen und Mitschüler setzen Maßstäbe durch ihre
Beiträge zum Lernen und zur inhaltlichen Auseinandersetzung, geben Impulse,
fordern heraus und können helfen und fördern. Gruppen gemeinsam Lernender,
die den ganzen Tag, begleitet und gefördert von Profis, miteinander verbringen
und gestalten, beeinflussen Interessen, Vorlieben und Orientierungen. Sie helfen
dabei, miteinander und gegenseitig jene Kultur von Wertschätzung zu entwic-
keln, die die nötige persönliche Stabilität für eine positive Lebenseinstellung und
für ein lebenslanges Lernen verleiht.
Der 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (siehe [8]) thematisiert
zu Recht die außerschulischen Lebenswelten als Orte des Lernens und damit das
informelle Lernen in seiner Bedeutung für die Bildungsbiographie eines jungen
Menschen. Hier liegt ein maßgeblicher Teil der Erklärung für den Zusammenhang
von sozialer Herkunft und schulischer Kompetenzentwicklung, denn diese außer-
schulischen Lebenswelten stehen in direkter Abhängigkeit von den ökonomi-
schen Bedingungen und dem sozialen Kontext von Familien. Ein verpflichtendes
Ganztagsangebot für alle Schülerinnen und Schüler kann hier unterschiedliche
Ressourcen von Familien ausgleichen und der „Vererbung“ sozialer Ungleichheit
entgegenwirken.

  Deshalb muss „EINE Schule für ALLE“ eine Ganztagsschule für alle Schülerinnen
  und Schüler sein.

                                      Seite 12
4.3. „EINE Schule für ALLE“: Aspekt individuelle Förderung

Jede/r von uns kennt das grundlegende Dogma des traditionellen Unterrichts
in deutschen Schulen: Alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe sollen in
derselben Zeit, mit demselben Material und denselben methodischen Schritten
dieselben Ziele erreichen. Um diese „Gleichheit“ zu gewährleisten, steuern die
Lehrkräfte den größten Teil des Unterrichtsgeschehens selbst, sowohl bei der Vor-
bereitung als auch bei der Durchführung des Unterrichts.
Einerseits wird diese Grundhaltung durch den Glauben an (vermeintlich) leistungs-
homogene Lerngruppen im gegliederten Schulwesen stabilisiert und andererseits
wird sie noch von vielen Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften mitge-
tragen, weil sie nichts anderes kennengelernt haben, und im täglichen Unterrichts-
geschehen an vielen Schulen kaum Anderes zu erleben ist. So konnte diese tradi-
tionelle Grundhaltung fatalerweise jahrzehntelang unhinterfragt bleiben, mit dem
Begriff Gerechtigkeit gekoppelt und damit legitimiert werden.
Erfreulicherweise hat durch die Veröffentlichung der Ergebnisse internationaler
Vergleichsstudien (v.a. der
PISA-Studien) in den letzten
Jahren eine notwendige Dis-
kussion um Bildungsgerech-                    Die individuelle Förderung
tigkeit eingesetzt. Mit Recht               der Schülerinnen und Schüler
wird in Frage gestellt, ob es
denn gerecht ist, wenn ein lei-
stungsschwacher Schüler ei-                Grundhaltung, didaktische Strategie
ner Lerngruppe dieselbe Auf-               und methodisches Handwerkszeug
gabe mit demselben Material
in derselben Zeit lösen soll
wie ein leistungsstarker Schü-
ler dieser Lerngruppe. Eine solche Unterrichtsstrategie wird weder dem leistungs-
schwachen noch dem leistungsstarken Schüler gerecht. Der eine ist überfordert,
der andere unterfordert. Dennoch läuft der Unterricht in deutschen Schulen zu
80 % noch immer nach diesem Prinzip (siehe z.B. [2]).

Wäre es für jeden Schüler nicht „gerechter“, wenn

ƒƒ   er Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt bekäme - oder sich selbst aus-
     suchen würde -, das seinem Leistungsstand entspricht?

ƒƒ   er dazu Frage- und Aufgabenstellungen bekäme - oder sich selbst stellen
     würde -, in die er sich rasch eindenken kann?

                                     Seite 13
ƒƒ   er eine Zielsetzung angeboten bekäme - oder sich selbst setzen würde -, die
     seinem Leistungsvermögen dienlich ist,

ƒƒ   er verstärkt Gelegenheiten hätte, sich auch selbst Lerninhalte auszuwählen,
     die seinen Interessen mehr dienen als den Interessen eines Lehrplans?
Im Einklang mit der aktuellen internationalen Diskussion setzt man beim schu-
lischen Lernen auch in Deutschland immer stärker auf die Strategie der indivi-
duellen Förderung. Diese im Unterricht didaktisch und methodisch umzusetzen,
bedarf allerdings einer neuen Grundhaltung bei vielen Lehrkräften, die vom oben
beschriebenen traditionellen Dogma Abschied nimmt und die individuelle För-
derung jedes Schülers/jeder Schülerin im Rahmen eines individualisierenden Un-
terrichts als anzustrebendes Ziel ihrer Arbeit anerkennen muss.
Daraus ergeben sich veränderte Qualitätskriterien für das ganztägige Lernen und
Leben in EINER Schule für ALLE:

ƒƒ   Bildung heterogener Lerngruppen und Förderung von Partner- und Grup-
     penarbeit, Anregung der Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler sowie
     Förderung von selbständigem und eigenverantwortlichem Lernen, auch
     durch die Ermunterung zu unterschiedlichen Wegen der Wissensaneignung
     und der Teilhabe an Planung von Unterricht,

ƒƒ   gemeinsames Lernen, aber mit Freiraum für unterschiedliche Lerngeschwin-
     digkeiten, unterschiedliche Möglichkeiten zur individuellen Vertiefung, un-
     terschiedlichem Material, differenzierten Leistungsüberprüfungen,

ƒƒ   Anknüpfen des schulischen Lernens an die unterschiedlichen Lebens- und
     Erfahrungswelten der Kinder und Jugendlichen,

                      ƒƒ Integration besonderer Fördermaßnahmen in das all-
                         gemeine Unterrichtsgeschehen um Effekte von Stig-
                         matisierung (hochbegabt, minderbegabt) zu vermei-
                         den,

                      ƒƒ Schaffung einer guten Balance zwischen gemeinsa-
                         men Schritten einer Lerngruppe und individuellen
                         Schritten einzelner Schülerinnen und Schüler auf der
                         Basis individueller Förderpläne,

                      ƒƒ Entwicklung einer vertrauensbasierten Feedback- und
                         Evaluationskultur.

                                     Seite 14
5. Vielfältige Begründungen für „EINE Schule für ALLE“

5.1. Heterogene Lerngruppe: eine Bereicherung für Alle

Die Idee des individuellen Förderns verlangt die Akzeptanz von Individualität und
Heterogenität. Im Vordergrund steht ein Verständnis von Unterschiedlichkeit als
Normalität und die Anerkennung der Unterschiedlichkeit als Basis für gemein-
sames Tun. Eine solche Grundhaltung bedeutet zunächst nichts anderes als die
Übertragung einer gesellschaftlichen Realität auf das System Schule. Überall, in
der Familie, im Wohnumfeld, im Beruf, in der Freizeit, sind wir in der Regel mit
Menschen konfrontiert, die einen anderen Bildungsstand, einen anderen sozialen
oder auch kulturellen Hintergrund, eine andere Ausbildung, eventuell eine ande-
re Hautfarbe, unterschiedliche Begabungen etc. haben. Das ist für uns alle Norma-
lität. Deshalb ist die Frage zu stellen, ob es ein Schulsystem überhaupt geben darf,
das diese Realität nicht als Basis akzeptiert, sondern eine Einteilung von Kindern
nach einer vermeintlich diagnostizierten Begabung, einer mit fragwürdigen Me-
thoden festgestellten Leistungsfähigkeit und nach sozialen Kriterien vornimmt.
Zu welchen gravierenden Ungerechtigkeiten diese Einteilung führt, zeigt Till-
mann auf:
„Je niedriger der Bildungsabschluss des Vaters, desto höher müssten die Testlei-
stungen eines Kindes sein. [um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, d. Verf.].
Während dem Kind eines Vaters mit Abitur … eine Testleistung genügt, die noch
unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt (65 Punkte), muss das Kind eines Va-
ters, der über keinen Schulabschluss verfügt, mit 97,5 Punkten eine excellente Lei-
stung vorzeigen, um fürs Gymnasium empfohlen zu werden“. (siehe [24])
Dies ist nur ein Beleg für die erzeugten Ungerechtigkeiten unseres gegliederten
Schulsystems. Dennoch wird an dem vorgeblich begabungsgerechten Aussor-
tieren von Kindern und Jugendlichen in ein vielgliedriges Schulsystem unbeirrt
festgehalten. Zwei Gründe sind im Wesentlichen dafür ausschlaggebend: letztlich
eine bisweilen rücksichtslose Durchsetzung schichtspezifischer Interessen zur
Wahrung angeeigneter Bildungsbesitzstände für die eigenen Kinder, zum ande-
ren der äußerst hartnäckige Mythos, dass in homogenen Lerngruppen – die es in
Wirklichkeit nicht gibt, weil es sie nicht geben kann! – größere Lernerfolge erzielt
würden.
Die historischen Wurzeln unseres gegliederten Schulsystems und das Dogma
vom Vorteil homogener Lerngruppen reichen bis ins 16. Jahrhundert und lassen
sich u. a. in der „Württembergischen Schulordnung“ aus dem Jahre 1559 finden.
(siehe Seite 16)
Derartige Grundannahmen und Interessen haben dann auch hauptsächlich zur
Errichtung und Beibehaltung unseres gegliederten Schulsystems bis auf den

                                      Seite 15
„So dann der Schulmeister die Schulkinder mit Nutz lehren will, so soll er sie
      in drei Häuflein einteilen.
      ƒ   Das eine, darinnen diejenigen gesetzet, so erst anfangen zu buchstabie-
          ren.

      ƒ   Das andere die, so anfangen, die Syllaben zusammenzuschlagen.

      ƒ   Das dritte, welche anfangen zu lesen und zu schreiben.
      Desgleichen soll er in jedem Häuflein besondere Rotten machen, damit die-
      jenigen, so einander in jedem Häuflein am gleichsten sind, zusammensitzen;
      dadurch werden die Kinder zum Fleiß angereizt und dem Schulmeister die
      Arbeit geringert“

      (in: Dietrich & Klink, Zur Geschichte der Volksschule, 1964)

heutigen Tag geführt, eine Tatsache, die in dieser Form nur noch in Österreich auf-
findbar ist. In allen anderen Ländern Europas hat man sich längst auf ein längeres
gemeinsames Lernen bis zum 9. oder 10. Schuljahr verständigt. (siehe Seite17)
Allerdings muss ausdrücklich betont werden, dass in allen Phasen der deutschen
Geschichte, in denen es Hoffnungen und Chancen für demokratische und refor-
merische Entwicklungen gab, von den demokratischen Kräften eine Überwin-
dung dieser Vorstellungen formuliert und gefordert wurde. Dies gilt für die sog.
preußischen Reformen in Folge der Französischen Revolution (W. v. Humboldt,
Schleiermacher u. a.), für die demokratischen Kräfte von 1848/49, deren Forderun-
gen dann in der Weimarer Republik wieder aufgegriffen wurden, wie auch für eine
kurze Zeitspanne nach dem Zweiten Weltkrieg und für die Jahre der Bildungsre-
formen in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
In diesen Epochen ist vieles vorgedacht und gefordert worden, was bis heute
nicht oder nur annähernd erreicht und realisiert wurde. Wir als Initiative fühlen
uns als Teil dieser demokratischen Bildungstradition, die, wie gesagt, in fast allen
unseren Nachbarländern längst verwirklicht ist.
Hier soll, bezogen auf die schulische Realität, vor allem die Frage gestellt werden,
welchen Einfluss die Heterogenität einer Gruppe auf Lernprozesse und Lerneffek-
tivität hat?
Wesentliche Ergebnisse der empirischen Schulforschung zur Heterogenität:

ƒ   Die Behauptung, dass in leistungshomogenen Gruppen insgesamt bessere
    Leistungen erzielt werden als in heterogenen Gruppen, konnte durch die
    Forschung nicht bestätigt werden.

                                              Seite 16
ƒƒ   Leistungsschwächere profitieren stark von der sozial und leistungsmäßig he-
     terogenen Gruppe. Sie werden hier stärker motiviert als in sog. homogenen
     Gruppen, lernen im Bereich der Kulturtechniken mehr und die Schulfreude
     sowie die Lernbereitschaft bleiben eher erhalten.

ƒƒ   Leistungsstarke lernen in heterogenen Gruppen im Bereich der Kulturtechni-
     ken nicht weniger als in homogenen Gruppen. Sie erwerben aber eine grö-
     ßere Akzeptanz und Toleranz sowie Hilfsbereitschaft gegenüber leistungs-
     schwächeren und z.B. behinderten Schülerinnen und Schülern, was bedeutet,
     dass ihre soziale Kompetenz erheblich gefördert wird.

ƒƒ   Alle Lernenden profitieren von der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit der
     Anregungen, die sie aus der Gruppe erhalten.

ƒƒ   Heterogen zusammengesetzte Gruppen führen zu Leistungsvorteilen bei
     den Starken wie bei den Schwachen, wenn Lehrkräfte sich didaktisch und
     methodisch darauf einstellen. (Hierzu hat Andreas Helmke differenzierte Un-
     tersuchungen vorgelegt – siehe [24])

ƒƒ   Heterogene Gruppen in einem inklusiven Schulsystem (auch behinderte
     Kinder besuchen die Regelschule ihres Wohnbereiches) haben durch die
     Einbeziehung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf oft ein
     günstigeres Klassenklima, weil die Lehrkräfte stärker auf soziale Lernprozesse
     eingehen. (siehe [20] und [24])

                 Kanada
              Norwegen
              Australien
                        UK
              Schweden
                Finnland
              Dänemark
               Russland
                   Japan
                Portugal
             Luxemburg
           Griechenland
              Frankreich
                 Ungarn
             Tsech.Rep.
                   Italien
                Spanien
                      USA
                  Türkei
                    Irland
                 Belgien
            Niederlande
            Neuseeland
                Schweiz
              Österreich
           Deutschland
                             0     2      4      6      8      10     12     14     16     18       20

                             Selektionsalter im internationalen Vergleich (Grafik entnommen: [2])

                                                      Seite 17
In Deutschland konnten und können an mehreren Orten Erfahrungen mit hetero-
genen Lerngruppen gemacht werden:
Da ist zunächst einmal die Grundschule als integrierte Schule für fast Alle mit
oft sehr heterogenen Lerngruppen. Dass hier die Heterogenität gute Leistungen
nicht verhindert, sondern eher befördert, haben die Studien IGLU und TIMSS ein-
drucksvoll gezeigt (siehe [5] und [6]). Allerdings sollte an dieser Stelle ehrlicher-
weise erwähnt werden, dass auch in der Grundschule Verfahren eingesetzt wer-
den, um die Heterogenität zu begrenzen. Schon vor dem 1. Schuljahr beginnt das
Aussortieren: In Deutschland werden etwa 11 % aller Kinder zurückgestellt, was
ihnen aber nur selten hilft. Danach greifen zwei andere Selektionsinstrumente:
2-3% der Kinder bleiben sitzen, und am Ende der Grundschulzeit befinden sich
bundesweit etwa 4% aller Kinder in einer Förderschule/Sonderschule, mehr als
die Hälfte von ihnen in einer Sonderschule für „Lernbehinderte“. „Am Ende der
Grundschulzeit haben wir es längst nicht mehr mit allen Kindern eines Alters-
jahrganges zu tun, sondern nur noch mit etwa 80% der ursprünglich gestarteten.
Die anderen - … - wurden bereits entfernt.“ (siehe [24]) Daran wird deutlich, dass
auch in der Primarstufe das individualisierende Unterrichten noch weiter entwic-
kelt werden muss.
Weitere Erfahrungen mit heterogenen Lerngruppen machen Lehrkräfte
in Deutschland neben vereinzelten Modellschulen in den Integrierten Ge-
samtschulen und in anderen Regelschulen mit gemeinsamem Unterricht
(in Rheinland-Pfalz sind dies Schwerpunktschulen), die - je nach pädagogischem
Konzept – den Unterricht in sogenannten Integrationsklassen organisieren, d.
h. in Klassen, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam ler-
nen, oder grundsätzlich integrativen Unterricht in allen Klassen durchführen. Die
positiven Erfahrungen mit individueller Förderung durch binnendifferenzierten
Unterricht an Integrierten Gesamtschulen und die empirischen Ergebnisse aus
dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern
sind deshalb so positiv, weil hier der Umgang mit Vielfalt (Heterogenität) bewusst
gestaltet werden muss. Die Lehrkräfte müssen akzeptieren, dass der eine Schüler
langsamer und weniger gut rechnet oder schreibt oder liest als der andere, dass
die eine Schülerin ihr Lernen schon selbstständig organisiert, während die andere
noch Begleitung und ständige Motivierung braucht.

5.2. Elterninteresse am Bildungsangebot

Die Eltern der in Deutschland zur Schule gehenden Kinder und Jugendlichen ha-
ben, teilweise ohne Absicht, in den vergangenen 10 Jahren etwas bewirkt, was
pädagogische Wissenschaft und Schulpolitik jahrzehntelang nicht geschafft ha-
ben: Sie haben so große Fragezeichen hinter das gegliederte Schulsystem gesetzt,
dass dieses plötzlich vor dem Aus steht.

                                       Seite 18
Der erste Schritt in dieser Entwicklung war, dass die Eltern ihre Kinder immer sel-
tener in den Hauptschulen angemeldet haben. Das geschah in den Stadtstaaten
und in den ärmeren Flächenstaaten früher als in den reicheren. Insgesamt nahm
die Zahl derjenigen Kinder, die von ihren Eltern in Hauptschulen angemeldet wur-
den, in den letzten Jahren so dramatisch ab, dass immer mehr Bundesländer die
Hauptschule abschaffen oder umwandeln oder unter einem neuen Namensmän-
telchen zu verstecken versuchen. Eine entsprechend eingeschränkte Akzeptanz
für diejenige Realschule Plus, welche die Hauptschule lediglich in einem anderen
Rahmen fortsetzt, ist be-
reits jetzt feststellbar.
Der zweite Schritt steht
unmittelbar bevor, die
Stiefel dafür sind ge-
schnürt, der Weg bereitet:
Eltern verweigern nicht
nur der Hauptschule ihre
Zustimmung, sie stellen
vielmehr die frühe Selek-
tion der Kinder nach dem
4. Schuljahr massiv in Fra-
ge und formulieren ihre
Kritik bezogen auf das ge-
samte schulische System.
Unterstützt werden sie
darin von den Ergebnissen
wichtiger Studien, von immer mehr Lehrkräften und von vielen wichtigen gesell-
schaftlichen Kräften. Es hat sich auch bei den Eltern herumgesprochen, dass die
Grundschule als integrierte Gesamtschule für die ersten vier Schuljahre im inter-
nationalen Vergleich gut abschneidet, während eine nach Schularten trennende
Sekundarstufe I ihre Schülerinnen und Schüler nur zu durchschnittlichen bis un-
terdurchschnittlichen Leistungen befördert.
Hinzu kommt, dass die Übergangsentscheidungen von der Grundschule in die
weiterführenden Schulen massiv fehlerhaft sind. Etwa 60% der Kinder, die eine
sog. Hauptschulempfehlung erhalten, erbringen in „höherwertigen“ Schulformen
Leistungen, die ihnen einen „höherwertigen“ Schulabschluss ermöglichen. Dies
gilt für Kinder mit einer sogenannten Hauptschulempfehlung, die dennoch auf
einer Realschule, einem Gymnasium oder einer Integrierten Gesamtschule ange-
meldet wurden: Sie waren dort erfolgreich. Dasselbe gilt ebenso für Kinder mit
einer sogenannten Realschulempfehlung, die zu einem noch höheren Prozent-
satz im Gymnasium oder in den Integrierten Gesamtschulen so erfolgreich waren,
dass sie nach der 10.Klasse den Weg zum Abitur beschreiten konnten.

                                      Seite 19
Auch entgegengesetzte Zahlen sind bekannt:
Nach einem Gutachten der Arbeitsgruppe Bildungsforschung der Universität
Duisburg-Essen (siehe [4]) hatten 73% der Schülerinnen und Schüler, die an ei-
nem Gymnasium gescheitert und an eine Realschule zurückgeschickt wurden,
ursprünglich eine Empfehlung fürs Gymnasium. Ähnlich hoch sind die Zahlen bei
Kindern, die nach einem Scheitern in der Realschule in die Hauptschule abge-
schult wurden. „Das Risiko, auf Grund einer falschen Grundschulempfehlung ei-
ner nicht geeigneten … Schulform zugewiesen zu werden, ist um ein Vielfaches
größer als aufgrund übersteigerter Bildungsansprüche der Eltern an einer nicht
geeigneten Schulform angemeldet zu werden.“ (siehe [4])
Wer will angesichts solcher Ergebnisse eine Auslese nach der 4. Klasse in unter-
schiedliche Schulformen noch rechtfertigen und sie womöglich auch noch ver-
bindlich machen?
All dies hat dazu beigetragen, dass die Auslese nach Klasse 4 nur noch bei 25% der
Eltern Zustimmung findet. Etwa zwei Drittel wünschen eine längere gemeinsame
Schulzeit, weil sie der Ansicht sind, dass hierdurch die Chancengleichheit der Ju-
gendlichen erhöht wird. Denn rund 86% der Eltern meinen, dass ihre Kinder auf
Grund des gegliederten Schulsystems nicht die gleichen Berufschancen haben,
obwohl sie diese Chancen für ihre Kinder wünschen. (siehe [24])
In einem weiteren Punkt haben Eltern in den letzten Jahren durch ihr Anmelde-
verhalten Schulpolitik betrieben. Heutzutage benötigt ein Jugendlicher, um die
gleichen beruflichen Ausbildungsgänge wie seine Eltern durchlaufen zu können,
einen besseren Schulabschluss als seine Eltern. Deshalb melden viele Eltern ihre
Kinder in einer „höheren“ Schulform an, als sie selbst besucht haben, es sei denn,
sie selbst waren schon Gymnasiasten. Das hat zu folgendem Umverteilungsmu-
ster in vielen Bundesländern geführt: Die generell sinkenden Schülerzahlen ha-
ben den Rückgang der Anmeldungen in den Haupt- und Realschulen verstärkt,
während die Zahlen in den Gymnasien ebenso wie in den Integrierten Gesamt-
schulen deutlich anstiegen. Zwar wuchsen die Schülerzahlen in den Gymnasien
prozentual stärker als an den Integrierten Gesamtschulen, was aber daran liegt,
dass es Integrierte Gesamtschulen meist nicht flächendeckend gibt bzw. sie in
ihrer Zügigkeit begrenzt wurden, weshalb viele Anmeldewünsche nicht erfüllt
werden können. In Rheinland-Pfalz müssen seit Jahren viele Integrierte Gesamt-
schulen zwei- bis dreimal so viele Schülerinnen und Schüler ablehnen, wie sie auf-
nehmen können. Das hat sich auch mit der steigenden Zahl der Gesamtschulen
nicht geändert.

                                     Seite 20
Schüler im 8. Schuljahr, Rheinland-Pfalz 1970 und 2007
ohne Freie Walldorfschulen und Förderschulen

   100 %
                     11,1                    5,0

    75 %             22,7                    33,2

    50 %
                                                               Integrierte Gesamtschule
                                             24,1
                                                               Gymnasium
                     63,3
                                                               Realschule
    25 %                                     16,1
                                                               Schulen mit mehreren Bildungsgängen

                                             16,6              Hauptschule

      0%
                   1970                    2007

Grafik entnommen aus [22]

Insgesamt zeigt sich ein legitimes Interesse der Eltern: Sie wollen für ihr Kind eine
möglichst hohe Bildung in der Sekundarstufe I, um die Chance zu wahren, da-
nach auch den Weg zum Abitur beschreiten zu können. Also wählen sie in im-
mer stärkerem Maße die beiden Schulformen, die diese sog.„gymnasiale“ Bildung
anbieten: das Gymnasium und die Integrierte Gesamtschule. Nach Ergebnissen
des Bildungsbarometers des Zentrums für empirische Forschung der Universität
Koblenz-Landau würden fast 60% der Bevölkerung eine ein- oder zweigliedrige
Schulstruktur der viergliedrigen vorziehen. (siehe [12] und [26])

                                        Seite 21
Fazit aus "5.1. Heterogene Lerngruppen" und "5.2. Elterninteresse"

Nimmt man

ƒƒ   die positiven Auswirkungen heterogener Lerngruppen sowohl auf schuli-
     sche Leistungen als auch auf die persönliche Stabilität des Einzelnen durch
     vielfältige soziale Lernprozesse,

ƒƒ   die gewünschte Erziehung zu demokratischem Denken und Handeln, zu
     Toleranz und gegenseitiger Wertschätzung,

ƒƒ   das Interesse von Eltern an hochwertigen Schulabschlüssen für ihre Kinder
wirklich ernst und will die fatalen Folgen der frühen Auslese (z.B. Bildungsunge-
rechtigkeit, 20% der Schüler/innen als Risikogruppe, falsche Schulformzuweisun-
gen) vermeiden, dann bleibt nur eine einzige Konsequenz:

  EINE Schule für ALLE mit der Möglichkeit des Sekundarabschlusses als qua-
  lifiziertem Zugang für eine berufliche Ausbildung oder als Zugangsberechti-
  gung zur gymnasialen Oberstufe mit den Zielen einer Fachhochschulreife oder
  Hochschulreife.

                                     Seite 22
5.3. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte

Grundsätzliches

Unserer Initiative ist es wichtig auch den strukturellen Rahmen auszuleuchten,
den unser Staat zur Verfügung stellt, um den zeitgemäßen pädagogischen Her-
ausforderungen in der Realität zu entsprechen. Deshalb müssen wir auch folgen-
de grundlegenden Fragen stellen:

ƒƒ   Wie erhalten unter den Prämissen einer demokratisch-humanistischen Ge-
     sellschaft alle Kinder die gleichen Chancen?

ƒƒ   Wie können schon die systemischen Strukturen des staatlichen Schulwesens
     die unterschiedlichen Lebensbedingungen, in die Kinder hineingeboren
     werden, so ausgleichen, dass sie dazu beitragen, Chancengleichheit in ho-
     hem Maße zu gewährleisten?

ƒƒ   Welche Strukturen braucht es, um Kinder und Jugendliche zur Selbstentwick-
     lung zu ermutigen, um sie zu Selbstbestimmung zu befähigen und zur Über-
     nahme von Selbst- und Mitverantwortung zu motivieren?

Schule soll, so steht es in vielen Schulgesetzen, ihre Schülerinnen und Schüler auf
das Leben und unsere Gesellschaft so vorbereiten, dass es ihnen möglich ist, als
mündige Bürger ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Partizipation auf der Ba-
sis demokratischen Handelns wahrzunehmen. Dementsprechend sollten Kinder
so früh wie möglich lernen, mit einer Realität zu leben, die derjenigen entspricht,
mit der sie sich später auseinandersetzen.
Das staatliche Schulsystem ist eine große „Sortiermaschine“ mit unterschiedli-
chen Sortierstellen. Die deutlichste und gravierendste Stelle, an der Kinder sortiert
werden, ist der Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen
mit oft prägenden Wirkungen weit über die Schulzeit hinaus. Aber wie bereits
erwähnt, wird schon vorher sortiert bzw. aussortiert: Zuweisung von Kindern mit
Beeinträchtigungen in Sonderkindergärten, Zurückstellung vom Schulbesuch mit
der Zuschreibung „nicht schulfähig“, Aussortieren während der Grundschulzeit in
Sonderschulen, erzwungene Klassenwiederholungen, um nur die folgenschwer-
sten selektiven Maßnahmen zu nennen.
„Diese Sortiermaschine stellt auch juristisch-verfassungsrechtlich eine bedenk-
liche Praxis dar, weil sie mit den Rechten auf Bildung und Erziehung, auf schu-
lische Ausbildung und berufliche Qualifizierung in den Verfassungen, Gesetzen
und UN-Konventionen (soweit sie in der Bundesrepublik geltendes Recht sind)
kollidieren.“ (siehe [11])

                                       Seite 23
Die Beibehaltung dieser frühen Auslese ist auf den Einzelnen gesehen unverant-
     wortlich und mit der Verfassung nicht vereinbar. Deshalb muss ein solches Schul-
     system abgeschafft werden.
     Diese Konsequenz basiert auf den grundlegenden Elementen unserer staatlichen
     Verfassung und unserer Gesetze, die den Grundsatz der Teilhabe- und Verteilungs-
     gerechtigkeit zu beachten haben. Dabei muss der Staat, um diesen Grundsatz zu
     erfüllen, die Zugangsgerechtigkeit, d. h. den ungehinderten Zugang zu Bildung
     und Kultur garantieren. Offenkundig leistet aber das bestehende Schulsystem
     dies nicht sondern reproduziert täglich diese Ungerechtigkeit.
     Die Abschaffung des gegliederten Schulsystems ist also keine schulpolitische
     oder pädagogische Geschmacksfrage, sondern ein Gebot, das neben vielen an-
     deren empirisch gestützten Argumenten aus den staatlichen Verpflichtungen der
     Bundesrepublik und ihrer Bundesländer resultiert.
     Das war u.a. auch der Grund dafür, dass die OECD und der UN-Sonderbeauftragte
     Munoz ein grundsätzliches Fragezeichen hinter das gegliederte, deutsche Schul-
     system und die Selektion der Kinder nach der 4. Klasse gesetzt haben.

     Die besondere Situation von Kindern mit Behinderungen

     Die Fragwürdigkeit des Sonderschulsystems - nicht der Arbeit der Sonderpäd-
     agogen und auch nicht der Sonderpädagogik an sich - und der noch immer
     regelmäßig praktizierten Zwangszuweisung von Kindern in dieses System wird
     schon lange thematisiert und in der deutschen Politik zum Teil auch gesehen. Das
     dokumentiert sich in unterschiedlichen politischen Schritten:

1973
  1973 bereits förderte der Deutsche Bildungsrat den gemeinsamen Unterricht von
     behinderten und nichtbehinderten Kindern in der Regelschule.

1989
  1989 ratifizierte die Bundesrepublik die UN-Kinderrechtskonvention. Nach Artikel
     23 ist durch entsprechende Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse eines
     behinderten Kindes sicherzustellen, dass ihm vor allem Erziehung und Bildung
     tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die seiner möglichst vollständigen so-
     zialen Integration und individuellen Entfaltung förderlich ist.

1994
  1994 wurde der § 3 des Grundgesetzes durch ein Diskriminierungsverbot auf
     Grund einer Behinderung ergänzt.
     1994 unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der UNESCO
     Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ die

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sog. „Salamanca-Erklärung“ und anerkannte damit (siehe [10]), dass

ƒƒ   „jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbe-
     dürfnisse hat“,

ƒƒ   „Schulsysteme entworfen und Lernprogramme eingerichtet werden sollten,
     die dieser Vielfalt an Eigenschaften und Bedürfnissen Rechnung tragen“,

ƒƒ   „jene Kinder mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen ha-
     ben müssen, die sie mit einer kindzentrierten Pädagogik, die ihren Bedürfnis-
     sen gerecht werden kann, aufnehmen sollen“,

ƒƒ   „Regelschulen mit dieser integrativen Orientierung das beste Mittel sind, um
     diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, um Gemeinschaften zu schaffen,
     die alle willkommen heißen, um eine integrierende Gesellschaft aufzubauen
     und um Bildung für Alle zu erreichen; darüber hinaus gewährleisten integra-
     tive Schulen eine effektive Bildung für den Großteil aller Kinder und erhöhen
     die Effizienz sowie schließlich das Kosten-Nutzen-Verhältnis des gesamten
     Schulsystems“.
1994 wurden die „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den
Schulen der Bundesrepublik Deutschland“ von der Kultusministerkonferenz
(KMK) verabschiedet (siehe [23]). Dort wird zum ersten Mal von der KMK formu-
liert, dass Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf allge-
meine Schulen besuchen können, wenn dort die notwendigen Voraussetzungen
gewährleistet sind. Neben diesem einschränkenden „Ressourcenvorbehalt“ wird
aber deutlich formuliert, dass die Sonderpädagogik eine die allgemeine Pädago-
gik unterstützende Funktion haben soll. „Wenn sonderpädagogisches Handeln
subsidiären Charakter haben soll, dann folgt daraus, dass im Rahmen schulischer
Förderung stets Integration vor Separation geht.“
In den Folgejahren wurde das Recht behinderter Kinder auf gleichberechtigten
Zugang zur allgemeinen Bildung und auf gleichberechtigte Teilhabe an allen
öffentlichen Angeboten in weiteren Gesetzen (z.B. Gleichstellungsgesetze, Sozi-
algesetzbücher IX und XII) und Verlautbarungen (Sozialcharta Rheinland-Pfalz)
festgehalten.
Trotz dieser gesetzlichen Entwicklung und trotz des nachweisbaren Erfolges
integrativer Schulmodelle mussten und müssen die Eltern behinderter Kinder
weiterhin - je nach Bundesland mehr oder weniger erfolgreich - um integrative
Beschulung kämpfen.

Der UN-Sonderberichtserstatter Munoz kritisierte nach seiner Deutschlandrei-
                                                                              2006
se 2006 daher u. a., dass die Bundesrepublik Deutschland keine Fortschritte in
Richtung Inklusion (Das bedeutet: Alle Kinder gehen in eine gemeinsame Schule!)

                                      Seite 25
gemacht habe und dass nach wie vor behinderten Kindern ein Zugangsrecht zu
   allgemeinen Schulen fehle.
   In Rheinland-Pfalz werden seit 2002 (nach vorausgehenden Schulversuchen) in
   einer zahlenmäßig begrenzten Regelschulform, den sog. Schwerpunktschulen,
   behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet. Dennoch ha-
   ben bundesweit - diese Zahl gilt in etwa auch für Rheinland-Pfalz - erst ca. 15%
   aller behinderten Kinder den Vorteil eines gemeinsamen Unterrichts mit nichtbe-
   hinderten an allgemeinbildenden Schulen.

2009
 Bewegung in die Diskussion und vor allem in die Umsetzung von schon lange
   anerkannten pädagogischen, rechtlichen und menschlichen Standards für behin-
   derte Menschen bringt die im März 2009 erfolgte Ratifizierung der UN-Behinder-
   tenrechtskonvention (BRK) und des anhängenden Fakultativprotokolls durch die
   Bundesrepublik.
   Die unterzeichnenden Staaten haben nach Artikel 24 ein „inclusive education sy-
   stem at all levels“ (inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen) zu gewährleisten
   und verpflichten sich dazu,

   ƒƒ   „dass Menschen mit Behinderungen nicht auf Grund ihrer Behinderung vom
        allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“,

   ƒƒ   „dass Kinder mit Behinderungen nicht auf Grund ihrer Behinderung vom
        unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder von der Se-
        kundarbildung ausgeschlossen werden“,

   ƒƒ   „dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Ge-
        meinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und
        unentgeldlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen
        haben“,

   ƒƒ   „dass Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssy-
        stems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre wirksame Bil-
        dung zu ermöglichen“.
   Außer der erfreulichen Stärkung des Rechtes behinderter Menschen auf gleichbe-
   rechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen hat diese UN-Konvention
   aber noch einen grundsätzlichen Stellenwert, der auf die gesamte Gesellschaft,
   also auch auf das allgemeine Schulwesen, ausstrahlt. Die Vertragsstaaten müssen
   die Einhaltung der Menschenrechte sicherstellen, müssen Benachteiligungen
   verhindern und ihre eigene Gesetzgebung so anpassen, dass die Konventions-
   regeln beachtet werden. Die BRK nimmt den Rang eines Bundesgesetzes ein. Mit
   ihrer Ratifizierung erlangen Teile der Konvention sofortige Gültigkeit, z.B. Artikel 4
   mit der allgemeinen Verpflichtung zum Handeln wie auch die Einbeziehung der

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