Sichtbarkeit Überlegungen zu einer kritischen Menschenrechtsbildung nach Adorno - Ingenta Connect
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PR 2020, 74. Jahrgang, S. 233-250 © 2020 Peter Poth - DOI https://doi.org/10.3726/PR032020.0025 Peter Poth Sichtbarkeit Überlegungen zu einer kritischen Menschenrechtsbildung nach Adorno 1. Menschenrechtsbildung – Trägerinnen gekannt und eingefordert ein kritischer Zuspruch, der werden können. Zugleich ist dieser Fokus- sierung das „Recht auf die volle Entfaltung sich zu entziehen droht der Persönlichkeit“1 vorgeordnet, womit der Anschluss gesucht wird an die Tra- Menschenrechtsbildung empfiehlt sich dition des (europäischen?) Bildungsden- als doppelt verheißungsvolles Konzept, kens. Menschen sind demnach elementar bündelt sie doch wie in einem Brenn- auf Erziehungs- und Bildungsprozesse glas zwei der zentralen Versprechungen angewiesen und damit auch auf die ge- der Moderne. Zum einen ist das, objek- sellschaftliche Dimension verwiesen, da tiv gesehen, die politische, soziale, wirt- Bildung die natürlichen Möglichkeiten eines schaftliche und kulturelle Sicherung der Einzelnen übersteigt. Entfaltungsmöglichkeiten des Individu- Mit dieser Weichenstellung ist der ums, in negativ-schützender sowie positiv- Diskurs über die Menschenrechtsbildung stützender Hinsicht; zum anderen, dann auf einen zweifachen Begründungszu- individuell gefasst, steht sie ein für seine sammenhang verwiesen, der, wie noch bewahrende Formung zum bewussten zu zeigen sein wird, vor die schwierige und selbst-bewussten Subjekt, das, so Aufgabe stellt, beide Aspekte bei der gebildet, seine Welt- und Selbstbezüge Konzeptionalisierung so zu berücksich- anhand des kritischen Maßstabs der tigen, dass Bildungsprozesse auf ihre Menschenwürde und ihrer rechtlichen Ent- menschenrechtliche Relevanz hin wirklich faltung reflektieren und verändern kann. durchsichtig werden. Die Problematik ist Aus dieser Konstellation hat schon die schon daran zu erkennen, dass gemeinhin Allgemeine Erklärung der Menschrechte das „Recht auf Menschenrechtsbildung“2 in ihrem Art. 26 die Konsequenzen gezo- in seiner bildungstheoretischen Bedeutung gen und das Recht auf Bildung als solches kaum Aufmerksamkeit findet. und das Recht auf Menschenrechtsbil- Mit dieser Einseitigkeit – so meine dung statuiert, in dem Bewusstsein, dass Vermutung – verbaut man sich Chancen Menschenrechte nur dann ihre Wirkung und verfehlt die umfassende Entfaltung entfalten können, wenn sie von ihren 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 233 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
des kritischen Potenzials der Menschen- den Umstand, dass der geläufige Begriff rechtsbildung, das mich hier besonders „Human Rights Education“ Menschen- interessiert. Eine Reflexion der kritischen rechtserziehung und Menschenrechts- Möglichkeiten ist auch deswegen un- bildung zugleich abdeckt. Ich möchte es umgänglich, da das Objekt der Kritik zu zunächst bei dieser Unklarheit belassen entschwinden droht. Denn wir leben in und hoffen, dass der jeweilige Kontext zur Zeiten, die sich selbst nicht mehr auf Vereindeutigung beiträgt. Die Unschärfe ist den Begriff zu bringen wissen und ihre vielleicht auch gar nicht so schlimm, wenn Selbstdeutung auf längst geschwunde- man es so sieht wie Koller: „An die Stelle ne Plausibilitätsstrukturen – als (Post) des erzieherischen Einwirkens tritt beim Postmoderne, Postsozialismus, Postkapi- Bildungsbegriff in systematischer Hinsicht talismus, Postkolonialismus, Postindust- also der Vorgang des Sich-Bildens und rialismus, Postdemokratie usw. – gründen, des Selbst-Bildens.“4 Bedenkt man aller- was sich ohne Weiteres als auf Dauer dings, dass das Sichbilden ein durchaus gestellter Krisenmodus deuten lässt. Zu- voraussetzungsreicher Prozess ist, den schreibungen wie „Globalisierung“ oder man auch Erziehung nennen könnte, ver- „Digitalisierung“ können diesen Verlust liert diese Akzentuierung zwar etwas von nicht kompensieren, da sie ihre – letztlich ihrer Eleganz, bleibt aber doch stimmig. ökonomistische – Normativität hinter ihrer Mit dem Bildungsbegriff ist damit formal-deskriptiven Hülle verstecken und zunächst ein systematischer Anspruch ihre gesellschaftspolitisch durchaus prob- erhoben, der sich dann auch auf die lematische Substanz erst dem interpretati- Menschenrechte erstreckt, folglich wäre ven Zugriff erschließen. deren Beitrag zum Bildungsgeschehen zu Bildungspolitisch und praktisch bestimmen. Soweit ich sehe, gibt es dafür gehen mit diesen Zeitläuften – nicht nur kaum Ansätze, was sich aber – vermutlich – im Namen von PISA – die weitgehende pragmatisch erklären lässt. Denn viele Entbindung der pädagogischen Alltags- wissenschaftliche Texte zur Menschen- praxis von Referenzsystemen, die über rechtsbildung sind mit ihrem Bezug auf die die ökonomische Funktionalität hinausrei- „Erklärung zur Menschenrechtsbildung“ chen, meist Bildungsstandards genannt,3 entweder exegetischer, dokumentarischer sowie die „Austreibung der Bildung aus oder typologisierender Art, um die unüber- der Bildungswissenschaft“ (L. Pongratz) schaubare Zahl der praktisch realisierten einher. Damit muss ein kritisches Bil- Konzepte einer Diskussion zugänglich zu dungsverständnis sich aufs Neue seiner machen, und besitzen damit von vorneher- Grundlagen versichern. ein einen anderen Fokus. Angesichts dieses Befundes kann es Frei von diesen Einschränkungen hilfreich sein, die orientierende Kraft der will ich meinen Ausgangspunkt bei der Menschenrechte erneut in den Blick zu Spannung nehmen, die dem juridischen nehmen und bildungstheoretisch zu reflek- Indikativ der Menschenrechte und dem tieren. Leuchtet die Bezugnahme auf die praktischen Imperativ zu ihrer Realisierung Menschenrechte als globaler politischer eingeschrieben ist. Diese ist notwendig als Minimalkonsens und kritischer Maßstab politische zu verstehen und verlangt nach in der modernen Welt unmittelbar ein, einer entsprechenden Perspektivierung ist damit aber noch nichts gesagt über menschenrechtlicher Bildungsprozesse. ihre „bildende“ Kraft und was nun unter Historisch wie aktuell ist „politisch“ hier Bildung zu verstehen sei. Zusätzlich er- immer auch als – in kritischer Perspektive schwert wird die Diskussion noch durch – „staatspolitisch“ zu lesen: „Staaten sind 234 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
die ersten und hauptsächlichen Verletzer noch angedeutet werden, vor welchen von Menschenrechten. Bedrohen oder aktuellen Problemlagen eine kritische Men- beeinträchtigen sie die Entfaltungs-, Integ- schenrechtsbildung heute steht. Dieser ritäts- und generell: die Freiheitsrechte des kurze Ausblick thematisiert zum einen das Individuums, so hat dies eine grundsätzlich Phänomen des Rechtspopulismus, zum andere, weil strukturell schwerwiegendere anderen das neueste neoliberale Projekt, Bedeutung als ähnlich gelagerte Übergrif- den so genannten „digitalen Überwachu- fe von Privaten.“5 ngskapitalismus“ (S. Zuboff). (5) So banal und trivial diese Einsicht sein mag, ich werde im Folgenden nachzu- weisen versuchen, dass sich zumindest 2. Menschenrechtsbildung auf im deutschsprachigen Menschenrechts- Abwegen? – eine Nachfrage bildungsdiskurs problematisch individua- lisierende, gleichwohl programmatische Um nicht falsch verstanden zu werden: Tendenzen ausmachen lassen. Im Zent- Weder die praktische Arbeit noch die rum meiner Überlegungen wird der Ansatz konzeptionellen Überlegungen der inter- von K. Peter Fritzsche stehen, der wohl nationalen Bewegung der Menschen- als der elaborierteste im deutschspra- rechtsbildung sollen hier pauschal kritisiert chigen Raum gelten kann. Da Fritzsches werden, kann man deren Leistungen doch Überlegungen über das Programmatische nur mit Respekt und Bewunderung begeg- hinaus auch theoretische Ansprüche er- nen, zumal angesichts der Bedingungen, heben, will ich der Vermutung nachgehen, vor allem im globalen Süden, unter denen dass in seinen konzeptionellen Überlegun- diese Bildungsarbeit statthat. gen die Weichenstellungen zu finden sind, Mein Ziel ist es hier, mich an einem die diesen reduktionistischen Individualis- exemplarischen Ansatz abzuarbeiten, mus bewirken. (2) Diese sind im Weite- der zum einen seinen Kontext nicht ver- ren zu identifizieren als Reflexionsdefizit, schweigt, zum anderen aber in seinen das verhindert, die durchweg kritische theoretischen Ambitionen doch ein hohes Funktion der Menschenrechte in ihrer Maß an Allgemeingültigkeit erhebt7. Diese fundamentalen Bedeutung angemessen gilt es beim Wort zu nehmen, aber doch zu explizieren. Dieses Defizit soll mit der nicht ganz, was mit der gebotenen Kürze der Entwicklung eines substantiellen Kri- zusammenhängt. Deswegen werde ich tikbegriffs in Anknüpfung an die Kritische mich zunächst mit einer Skizze von Fritz- Theorie, der seine bildungstheoretische sches Ansatz begnügen, der sich auf seine Relevanz in der Diskussion mit Ansätzen „15 Thesen zur Menschenrechtsbildung“ der „Kritischen Politischen Bildung“ aus dem Jahre 2007 stützt. Sie bieten den bewähren soll, aufgehoben werden. (3) Vorteil, in konzentrierter Form wesentliche Dabei wird sich zeigen, dass dies nur gelin- Aspekte darzustellen; in einem zweiten gen kann, wenn man den menschenrecht- Schritt sollen diese dann inhaltlich noch lichen Diskurs nach 1945 bis an seinen etwas angereichert werden. Nullpunkt zurückverfolgt, indem die ne- Vorweg ist anzuerkennen, dass auch gativ vermittelte Positivität, die schon der er seinen Ausgangspunkt bei dem oben „Allgemeinen Erklärung der Menschen- kurz angesprochenen „Zivilisationsbruch“ rechte“ eingeschrieben ist, aufgegriffen nimmt: „In Deutschland ist Menschen- wird. 6 Dazu hat Adorno mit seinem neuen rechtsbildung immer auch Erziehung nach kategorischen Imperativ Grundlegendes Auschwitz und steht damit unter dem Im- geleistet. (4) Abschließend soll zumindest perativ: Nie wieder!“ (3).8 So plausibel es 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 235 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
ist, aus dieser historischen Situation eine Institutionalisierung und Professionalisie- besondere Verantwortung der Deutschen rung des Lehrpersonals angewiesen (15). abzuleiten, vermieden wird eine begriffliche In dieser pragmatisch-funktionalen Fassung der Bedeutung von „Auschwitz“ Grundlegung der Menschenrechtsbildung (in seiner Universalität!). Notierenswert ist betonen die Thesen neben der kognitiven auch, dass diese doch fundamentale Posi- vor allem die praktische Dimension sowie tionsbestimmung im weiteren Verlauf kei- die Notwendigkeit der umwelt- und anlass- nerlei (strukturierende) Rolle mehr spielt.9 sensiblen konkretisierenden Übersetzung Doch nun der Reihe nach; einleitend des globalen Konzepts. In diesen formalen wird nach Hinweisen auf die Heraus- Rahmen lässt sich nun die inhaltliche Aus- bildung der eigenständigen Rolle der gestaltung entlang dreier Leitkategorien Menschenrechtsbildung im Rahmen des eintragen: Diskussionsprozesses der UNESCO mit ihren unterschiedlichen Konferenzen und – Individualisierung als Ausgangspunkt: deren Implementierung im bundesdeut- MRB macht den einzelnen als „Opfer“ schen Schulwesen auf der Grundlage von oder „Täter“ (5) zum Zentrum des KMK-Beschlüssen verwiesen (vgl. vor 1). menschenrechtlichen Handelns und Dass hier jeder weitere Verweis auf „Bil- damit auch der Bildungsbemühungen, dung“ unterbleibt, mag man der gebote- die sowohl reflexiv auf Selbst-Bildung nen Kürze zuschreiben. als auch auf die gesellschaftlichen Im Folgenden will ich nun anhand und politischen Rahmenbedingungen von vier Merkmalbündeln das inhaltliche bezogen werden; Bildung soll gelin- Profil der Thesen – zugegebenermaßen gen nach Maßgabe einer „Toleranz- etwas zugespitzt – nachzeichnen; zuvor erziehung“, die das „Menschenrecht aber soll der schulpädagogisch-didakti- auf Freiheit und Anderssein“ in den sche Rahmen umrissen werden, in den Mittelpunkt rückt (8) sowie rechen- diese eingeschrieben werden. Die Be- schaftspflichtig gegenüber der Frage sonderheit der Menschenrechtsbildung ist, „was Menschenrechte konkret für erfährt hier eine zweifache Grundlegung: das eigene Leben bedeuten.“ (11) zum einen durch die exklusive Auszeich- Diese doch eher enge Fokussierung nung als eigenes Menschenrecht und als wird systematisch begründet mit der ein besonderer menschenrechtlicher An- – behaupteten – individualisierenden spruch (1), zum anderen durch ihren ra- Tendenz des internationalen Men- dikal inklusiven Charakter, will sie doch schenrechtsdiskurses (vgl. 5), dann alle denkbaren Lernarrangements sowohl aber auch didaktisch durch eine Dia- in pädagogischer als auch institutioneller lektik der globalen Menschenrechts- Hinsicht menschenrechtskonform struk- Lerngeschichte, die einhergeht mit turiert wissen (12, 13) Praktisch orien- ihrer erfolgreichen Erkämpfung und tiert, gewinnt sie ihren lebensweltlichen immer auf den Einzelnen ziele. (11) Anschluss durch die aufklärend-kritische – inhaltliche Perspektivierung und Erschließung aktueller Unrechtserfahrun- grundlegende Profilierung: Um in- gen (11). In der Folge – so der Anspruch haltlich leisten zu können, was di- – wirkt sie praktisch-transformierend daktisch gefordert ist, müssen die durch das menschenrechtliche „emp- Lernprozesse auf allen Dimension owerment“ in Konfliktsituationen (15); (moralisch, juristisch …) der Men- Menschenrechtsbildung ist weiterhin ge- schenrechte gründen; neben der nuin auf Interdisziplinarität, sachgerechte „Wissens- und Wertevermittlung“ (7) 236 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
sollen praktische und institutionelle In- Machtkritik scheinen nur am Rande auf formationen das konkrete „empower- (vgl. 11). Ein weiterer Hinweis kann uns ment“ ermöglichen (7); die negative noch hilfreich sein, denn im Rahmen des Abgrenzung zu verwandten Binde- „Nie wieder!“ wird die Möglichkeit der strich-Pädagogiken, vor allem zur De- „radikalen“ Aufklärung (über die Folgen mokratieerziehung, will von außen das von Menschenrechtsverletzungen) am Profil nochmals schärfen (9, 10). Beispiel des Holocaust unterstrichen (3). – reflexive Habitualisierung: Diese wird Damit transformiert sich die Holocaust- im engeren Sinn durch eine adäquate Education zu einer kritischen und unserer Methodik erreicht (vgl. oben), stellt Untersuchung ist ein doppelter Weg ge- sich aber im Weiteren als Aufgabe wiesen. Zuvor sei allerdings noch fest- von „Schulphilosophie und Schulkul- gehalten, dass der individualisierende tur“ dar, die alle Beteiligten auf die Eindruck vor allem durch die recht überholt Realisierung der Menschenrechte ver- wirkende Appell-Pädagogik, die alle ge- pflichtet, wobei die besondere Bedeu- sellschaftlichen Bedingungen ausblendet, tung der Kinder als Primäradressaten erzeugt wird, wenn es dann an erster unterstrichen wird (12, 13). Stelle heißt: „Kenne und verteidige deine – historische Exemplifizierung: Eine Menschenrechte! Respektiere die Rechte zweipolige Bezugnahme spannt den der Anderen!“ (4) Unterstützt wird dieser historischen Rahmen auf: zu einem Eindruck noch durch die (nur behauptete) auf die schon erwähnte universale „Individualisierungstendenz“ (s. o.) und die Lerngeschichte, aktualisierend auf die Tatsache, dass als einziges Modell die To- „Diktaturerfahrungen“ (11) fokussiert; leranzerziehung genannt wird, die explizit zum anderen wird eine besondere den Einzelnen anspricht: „Menschen sol- deutsche Verantwortungsperspekti- len sich wechselseitig tolerieren, gerade ve konstatiert, die aus dem Imperativ weil sie ein Menschenrecht auf Freiheit „Nie wieder Auschwitz!“ resultiere (3). und Anderssein haben“ (8). So richtig und wichtig diese einzelnen Punkte an sich Dem rhetorischen Eigensinn von Thesen auch sein mögen, in ihrer Komposition ver- Rechnung tragend und um sie interpretativ schiebt sich die Gewichtung doch sehr auf nicht zu überlasten, soll die weitere Aus- den individuellen Aspekt, so dass der poli- einandersetzung nun zunächst auf eine tische, der natürlich auch genannt wird, in breitere Basis gestellt werden. Allerdings den Hintergrund gerät und recht unvermit- beschränke ich mich dabei auf zwei Punk- telt stehen bleibt. Hier käme es darauf an, te, die für meinen Argumentationsgang diese Vermittlung als kritischen Bildungs- besonders relevant sind, weil sie ins sys- prozess zu denken. Sehen wir zu, ob Fritz- tematische Zentrum führen. sche das an anderer Stelle gelungen ist. Anzuknüpfen ist zunächst an den Zunächst ist anzuerkennen, dass er dezidierten Hinweis auf den kategorialen sich bemüht, das kritische Profil seines Zuschnitt der MRB: „Menschenrechts- Ansatzes zu schärfen10, indem er später bildung ist kritisch“ (15). Allerdings wird die Menschenrechtsbildung innerhalb diese Behauptung dann nur mit der kri- einer anthropologisch gewendeten Dia- tischen Funktion von Aufklärung und lektik der Aufklärung, der hier als ein Pol menschenrechtlichem Wissen überhaupt die von der Menschenrechtsbildung zu verbunden, aber kaum eine Richtung bearbeitenden „Schattenseiten unseres gewiesen; der Bezug auf die Toleranzer- Menschseins“ zugeordnet werden, ver- ziehung bleibt allgemein, Herrschafts- und ortet und ihren Einsatz bei der Autonomie 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 237 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
des (politischen) Subjekts sieht, womit zu sagen: Die Darstellung führt über eine eigentlich ein kritischer Maßstab zur Be- dokumentarisch-additive Gegenüberstel- urteilung gesellschaftspolitischer Entwick- lung von Holocaust Education und Men- lung gewonnen wäre: „MRB ist … deshalb schenrechtsbildung kaum hinaus. eine Art Schule des kritischen Denkens Einführend werden zunächst einige und des auf Veränderung zielenden Han- einschlägige Institutionen, die sich mit delns.“ So vielversprechend dieser Ansatz Holocaust Education beschäftigen, ge- ausfällt, er wird hier nicht weiter aus- nannt; dann erfolgt eine schulbuchartige geführt. An anderer Stelle, an der es um Aufzählung von Wissensbeständen zum die „Unteilbarkeit der Menschenrechtsbil- Nationalsozialismus und einigen gutge- dung“ geht, scheint auch – allerdings eher meinten methodischen Ratschlägen.14 implizit – ein überindividueller Zusammen- Damit ist nicht einmal die Ebene der his- hang auf, wenn es heißt, „dass es sich bei torischen Bildung, geschweige denn die Menschenrechtsverletzungen meist nicht der Holocaust Education berührt. Dies um Einzelfälle, sondern um Gesamtzu- zeigt sich vor allem dort, wo es heißt, sammenhänge handelt, deren politische „dass Holocaust Education […] vor allem und strukturelle Eigenart zu erkennen und auf Wissenserweiterung abzielt. Im Zent- benennen sind.“ Die gesellschaftspoli- rum stehen dabei die Fakten darüber, was tische Makroperspektive wird hier zum damals passiert ist.“15 Mit diesem positi- tragenden Verständnismoment der Ein- vistischen Zugriff – etwa auf das „Faktum zelphänomene. Gleichwohl wird auch an Auschwitz“ – ist der Weg zu einer weite- dieser Stelle der damit eigentlich erhobene ren systematischen Auseinandersetzung Anspruch nicht entfaltet. An keiner Stelle wohl verbaut. So fällt sein abschließendes werden bildungstheoretische Konsequen- Gesprächsprotokoll auch entsprechend zen gezogen. mager aus; neben dem unterschiedlichen Da, wenn ich recht sehe, Fritzsche Fokus steht die Behauptung, „dass die sich zu dem Thema „Erziehung nach MRB mit dem Humanum anfängt,“16 um Auschwitz“ (bzw. Holocaust-Education) sie dann sofort wieder zurückzunehmen selbst nicht weiter geäußert hat, will ich mit dem Hinweis auf die negative Lern- hier ersatzweise auf ein von ihm mitverant- geschichte der Menschenrechte als eine wortetes Werk zurückgreifen, das explizit Gemeinsamkeit mit der Holocaust Educa- beansprucht, unter anderem „theoretische tion. Zugleich dient das „Nie wieder“ als Überlegungen“ zu den „Grundlagen der „direkte Verbindung“ zur Menschenrechts- Menschenrechtsbildung“11 zu bieten. Hier bildung, wobei der Holocaust Education sollen allerdings nur die Ausführungen nun recht überraschend die „Berücksich- über den Zusammenhang von Menschen- tigung der universellen ethischen Folgen rechtsbildung und Holocaust Education (sc. des Holocaust)“17 zugetraut wird. interessieren. Auch Kirchschläger, von Wir halten fest: Auch hier finden wir keine dem das Kapitel12 stammt, setzt bei der Auseinandersetzung mit der eigentlich Super-Integrationsformel aller politischen systematischen Frage, warum Holocaust Bemühungen nach 1945 an, dem „Nie Education notwendigerweise mit der Men- wieder“.13 Diese dient Kirchschläger zur schenrechtsbildung – zumindest in ihrer Verhältnisbestimmung von Menschen- kritischen Funktion – zu verbinden ist. Die rechtsbildung und „Holocaust Education“, Positivität der Menschenrechte und die um das besondere Profil von ersterer zu Negativität des Holocaust werden lediglich schärfen, was aber doch auch ein Einge- historisch aufeinander bezogen und blei- hen auf die HE nötig macht. Um es vorweg ben letztlich unvermittelt stehen.18 Bleibt 238 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
der Holocaust in seiner „Gegenwartsbe- Denkmöglichkeit, ja sogar Denknotwen- deutung“ weitgehend unbedacht, kann digkeit nach Auschwitz eröffnen, die Menschenrechtsbildung nicht als Antwort grundsätzlich und auch bildungstheore- auf ihn begriffen werden. Nur wenn man tisch als genuin kritische zu konzipieren ist. die Menschenrechte – in Form der „Allge- meinen Erklärung der Menschenrechte“ – als historische und systematische Antwort 3. (K)eine Leerstelle: auf den Holocaust zu rekonstruieren und das kritische Herz der diese in ihrer grundlegenden Bedeutung Menschenrechtsbildung für die pädagogische „Menschwerdung“ zu explizieren sucht, kann der Bezug auf – „Sichtbarkeit“ in ihrer das „Human“ Inhalt und Bestimmtheit ge- bildungstheoretischen winnen und mehr sein als ein loser Bezug. Bedeutung Wenig ist bisher auch gewonnen für die Grundlegung eines Begriffs von Kri- Dazu will ich an die inzwischen allgemein tik im substantiellen Sinne, als Kritik an akzeptierte Lesart der Geschichte der allen Verhältnissen, in denen der Mensch Menschenrechte als kritische Lernge- ein geknechtetes, ein unfreies, ein fremd- schichte anschließen.20 Denn allein diese bestimmtes Wesen ist. Ist sein traditio- Perspektive gibt den „richtigen“ Blick frei nell bürgerlich-liberales Fundament noch auf ihre bildungstheoretische Bedeutung, tragfähig, wenn als neuer transzendentaler die dann ins Gespräch zu bringen ist mit Grundsatz zu gelten hat: „‚Ich denke an der (Nicht)Erfahrung Auschwitz, um eine Auschwitz‘, muss alle meine Vorstellungen Vermittlung von Menschenrechtsbildung begleiten können“?19 Weder Fritsche noch und Holocaust Education zu versuchen. Kirchschläger haben Wert darauf gelegt, in Ohne das Anregungspotenzial der diesem Sinn das der Menschenrechtsbil- kritischen Tradition der Erziehungswis- dung an sich und einer Bildung, die sich an senschaft gering zu schätzen, möchte ich Auschwitz orientiert, eingeschriebene Kri- dieser anspruchsvollen Alternative aus tikpotenzial zu ent- und mit der Holocaust dem Weg gehen und einen pragmatische- Education zu verbinden. So verdienstvoll ren einschlagen, um mich von den theoreti- die Thesen zur knappen Profilierung we- schen Begründungslasten zu befreien, die sentlicher Inhalte der Menschenrechtsbil ein unmittelbarer Anschluss an die (ältere) dung auch sein mögen, entscheidende kritische Theorie mit sich brächte. Ich Perspektiven bleiben unterbelichtet. Von werde von einem weiten gesellschaftstheo- vorneherein hätte der Kritikbegriff so an- retischen Kritikbegriff ausgehen, der mit gelegt werden müssen, dass er in doppel- einigen wenigen „allgemeinverträglichen“ ter Reflexion auch gängige Deutungen des Basisannahmen auskommt. Dazu greife Politischen aufgreift und noch einmal auf ich auf Maeve Cook zurück. Da ihr Kritik- ihre gesellschaftliche Vermitteltheit hin hin- verständnis ethisch orientiert ist, werde terfragt sowie bildungstheoretisch auf ihre ich es dann mit Rainer Forst moralphilo- Relevanz für den Weg aus Unmündigkeit sophisch so präzisieren, dass es uns dazu zur Mündigkeit befragt. dienen kann, einen universalen, men- Nach dieser Vergewisserung will ich schenrechtlichen Maßstab auf der Basis der oben schon angedeuteten Vermutung der Menschenwürde zu entwickeln. nachgehen, dass die Menschenrechte mit Cooke legt ihren Kritikbegriff drei- ihrer bildenden Kraft, die noch genauer zu dimensional an:21 Ausgehend von einem bestimmen sein wird, eine pädagogische anthropologischen Interesse an einem 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 239 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
gelingenden Leben sei der Mensch not- Es sei dahingestellt, wie überzeugend wendig an der Kritik der Rahmenbedin- diese Begründung ausfällt; interessant für gungen, also der Gesellschaft interessiert; unseren Zusammenhang ist, dass sie den dies setze – zweitens – eine Urteilskom- „Ideen“26 auch noch orientierende Kraft petenz voraus - eventuell erst herzustellen in gesellschaftlichen Alltagskonflikten zu- durch eine „kognitive Transformation“. Als schreibt und damit so eine Art kritisches drittes Merkmal wird der negative Grund- Modell entwickelt hat. zug der Gesellschaftskritik betont, der Ich möchte nun die formale Struktur aber getragen werde von der impliziten Po- des cookeschen Kritikbegriffs aufgreifen, sitivität eines „utopischen Kerns“. Dieser aber eine moralische Lesart akzentuieren, bildet die normative Basis, deren theoreti- die in ihrer ethischen wohl angelegt ist, schen Sinn Cooke als „rationale Imagina- aber nun deutlicher herausgearbeitet wer- tion“ fasst, die nötig sei, um ihre zentralen den soll, denn es wird sich zeigen, dass Kategorien der „ethischen Autonomie“ und sich so als quasi-transzendentaler Orien- des „theoretischen Antiautoritarismus“ tierungspunkt (der ethisch-moralischen grundlegen zu können, die als „die Freiheit Orientierung) zwanglos das einzige Men- der Menschen, Lebenspläne zu entwi- schenrecht begründen lässt: „Freiheit (Un- ckeln bzw. zu verfolgen, für die sie Gründe abhängigkeit von eines anderen nötigender angeben können, die sie als ihre eigenen Willkür), sofern sie mit jedes anderen Gründe betrachten können,“ zu explizieren Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz sind.22 Die epistemologische Basis dieses zusammen bestehen kann, ist dieses einzi- „Raumes der Gründe“, also deren Gel- ge, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft tungsbasis, fasst Cooke recht unspekta- seiner Menschheit, zustehende Recht.“27 kulär als prozessuale – als den „Austausch Auch wenn wir heute gute Gründe haben, von Gründen in öffentlichen, inklusiven Kants transzendentalphilosophische Argu- und offenen Argumentationen“23, deren mentation nicht mehr zu teilen, bleibt doch Horizonte aber bis an die Grenze der der Anspruch an eine universale, alle Men- Verständigung reichen, wo die Kontexttrans- schen qua ihres Menschseins verpflichten- zendenz quasi-transzendentalen Charakter de Geltungsbasis für praktisch-kritische gewinne: „Ohne Bezugnahme auf einen Urteile gültig. Üblicherweise spricht man universal verstandenen kontexttranszen- dabei von Menschenwürde. dierenden Begriff von Geltung würde Eine aussichtsreiche aktuelle Reformu- den Teilnehmern am Dialog die Motiva- lierung scheint mir mit Rainer Forsts „Recht tion fehlen, sich in Geltungsfragen mit- auf Rechtfertigung“ vorzuliegen. Auch er einander auseinanderzusetzen […].“24 knüpft zunächst mit Bloch an die negative Was Cooke hier psychologisch deutet, Lerngeschichte der Menschenwürde an, lässt sich logisch so fassen, dass ohne die er als Kampf sieht, der „einen normati- diesen externen Bezugspunkt auch die ven Anker hat, der als schlechterdings nicht Basis einer gegenseitigen Kritik von Gel- verrückbar gilt,“ der „als ideale() normative tungsansprüchen fehlt. Inhaltlich schreibt Dimension()“28 somit als Basis der Kritik Cooke dieser – also „Begriffe(n) wie dient. Damit verschiebt sich der Fokus Gerechtigkeit, Legitimität, Universalität vom „gelingenden Leben“ (M. Cooke) auf und Glück“ – mehr oder weniger plato- ein „normatives Verständnis der Person nistisch einen „ahistorischen, absoluten als Grundlage basaler Ansprüche und als Charakter“ zu, der dann als kritischer ‚Grund der Kritik‘ an gesellschaftlichen Maßstab für die jeweiligen „historischen Normen überhaupt“29. Auch wenn man Repräsentationen“ zur Verfügung stehe.25 seinen weiteren Ausführungen zu einem 240 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
eher „entmaterialisierten“ Würdebegriff meiner Sichtbarkeit offenzuhalten – nicht unbedingt folgen will, hebt er mit der ansonsten verfallen sie der Kritik. Anders Bestimmung der verweigerten Mensch- gewendet kann so auch eine – in Maßen – enwürde als „Unsichtbarkeit“ doch einen positive Perspektive auf Herrschaft fal- wesentlichen Aspekt ins Licht, den er als len, die allerdings permanent unter Kritik Phänomen „des Beherrschtwerdens ohne steht, die ja nun auf ein explizites Funda- zureichende Begründung“ sieht.30 Dies ment zurückgreifen kann. Und damit ist legt eine Deutung der Menschenrechte auch „dies einzige und ursprüngliche […] als den Modus der „Sichtbarmachung des Recht“ (I. Kant) gesichert. Menschen“ nahe, die ihren Ausgangs- Blicken wir von hieraus zurück, so ist punkt bei der Menschenwürde nimmt, die gelungen, die ethische Autonomie Cookes Forst so versteht: „Es geht um ein Nicht- in eine moralische zu transformieren und Beherrschtwerden durch fremde nicht den transzendent(al)en Maßstab der Kritik legitimierte Kräfte, darum in seiner Autono- auf die Erde zu holen, indem wir ihn als mie als eigenständiges Wesen respektiert Ergebnis des langen Kampfes um die Men- zu werden.“31 Und diese Autonomie zeigt schenrechte gedeutet haben. Damit ist – sich in der reziprok-allgemeinen Anerken- und das ist die wesentliche Perspektive nung von Handlungsnormen im „Raum für die Begründung einer kritischen Men- der Rechtfertigung“. Für Forst folgt: „Es schenrechtsbildung – der moralisch-poli- ergibt sich daraus die Möglichkeit einer tische Kern der Menschenrechte so zu ‚moralischen Konstruktion‘ bestimmter fassen, dass sie als universales Kritikins- Menschenrechte, von denen schlechter- trument zur Denunziation aller Verhältnisse dings nicht erkennbar wäre, wie man sie dienen können, in denen der Mensch droht, anderen verweigern könne, ohne die Rezi- als Mensch zum Verschwinden gebracht prozität und Allgemeinheit zu verletzen.“32 zu werden. Und von hier aus kann es uns Zugleich ist aber auch das Artikulations- auch gelingen, die juridische Dimension recht der so sichtbar gemachten Individu- genauer zu fassen. In den verschiedenen en gesetzt: „Das basale Grund-Recht auf Sphären des menschlichen Zusammen- Rechtfertigung führt nicht nur zu inhalt- lebens gibt es natürlich konkurrierende lichen Grundrechten, sondern zunächst Vorstellungen und Werthaltungen, die dis- einmal zur Sicherstellung der Teilnahme an kursiv bearbeitet werden. Dies findet aller- den Prozessen, in denen solche Grund- dings bei den basalen Grundforderungen rechte formuliert und begründet werden.“33 ihre Grenzen; diese sind rechtlich fixiert Schreitet man nun den Kreis der Men- und entlasten uns von dem ständigen ar- schenrechte aus – von den Abwehr- über gumentativen Eintreten für die Sicherung die Teilnahme- bis zu den Teilhaberechten – unserer Menschenwürde. Nicht stillge- ergibt sich eine „Sichtbarkeitsordnung“, stellt ist damit allerdings die Meta-Ebene, die das Menschsein in seiner individuellen auf der sich die kritische Interpretation und sozialen Dimension erst konstituiert und Weiterentwicklung der Menschen- und die an keiner Stelle eingeschränkt rechte (und ihrer Verwirklichungsmöglich- werden darf, da dies den Anspruch auf uni- keiten) bewegen. Dieser Diskussions- und versale Sichtbarkeit beschädigen würde. Realisierungsprozess bedarf aber eines Somit wird auch von dieser Seite die Un- Mindestmaßes an Menschenrechtsbil- teilbarkeit der Menschenrechte einsichtig. dung, die nunmehr als kritische verstan- Menschenrechtlich legitimierte Macht- den werden kann und weiterentwickelt verhältnisse dürfen in dieser Perspektive werden muss. Da Menschenrechtsbildung nur dazu dienen, Wege zur Realisierung – bei aller Eigenständigkeit – sich im Raum 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 241 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
der politischen Bildung bewegt, soll ihr Damit steht eine „an Affirmation und Profil zunächst im Gespräch mit der Kriti- Anpassung sowie an Erwerbsfähigkeit und schen Politischen Bildung weiter entfaltet wirtschaftlicher Verwertbarkeit orientierten werden. Bildung von Humankapital“36 im Zent- Unser Interesse richtet sich primär auf rum des Interesses. Diese Umstellung in die Fassung der kritischen „Subjektivität“ den Grundlagen von Bildung reagiert auf und die jeweilige Konzeption von politischer die neoliberale Entleerung und Formali- Bildung. Voranzuschicken ist ein allgemei- sierung des „liberalen „Bürgerleitbildes“ ner Befund: Vielen dieser Ansätze dient die (A. Eis), das als „eine irreführende, weil Problematisierung der autonomen Subjek- die tatsächlichen Machtverhältnisse ver- tivität, meist auf den Spuren Foucaults, deckende Illusion“ aufzufassen ist.37 Zur als Ausgangspunkt – bei gleichzeitigem Rettung politischer Mündigkeit müssen Festhalten am mündigen Subjekt, das sie folglich die gesellschaftlichen Macht- durch die strukturelle Ambivalenz der Mo- strukturen als konkrete so der Analy- dernisierungszwänge geprägt, aber auch se zugänglich gemacht werden, dass aktuell durch die zunehmende Neolibera- sie reflektiert und bearbeitbar werden: lisierung der Lebenswelt bedroht sehen. „Kritische Politische Bildung ist subjekt- Dies wird dann etwa konkretisiert durch und gesellschaftskritische Bildung und klärt die angestrebte Enttarnung der schein- die Bedingungen von Selbst-Bildungen, baren Naturwüchsigkeit gesellschaftlicher politischer Teilhabe und hegemonialer Sozialisationsmuster als herrschaftsförmig Diskurse.“38 Menschenrechtsbildung tut gesteuerte Exklusionsmechanismen, die gut daran, diese reflexive Fokussierung damit der Kritik zugänglich werden und aufzugreifen, weil sie so zur Kritikerin ge- als Moment der politischen Bildung auf- sellschaftlicher Verhältnisse wird, die die scheinen.34 Auch dort, wo mit Kant und Verwirklichung von Menschenrechten Adorno der Anschluss an das Konzept bedrohen; sie muss vermehrt die Struk- der Mündigkeit gesucht wird, gelangt man turfrage stellen – in politischer, ökonomi über Bourdieu und Foucault zu einem scher und pädagogischer Perspektive. Ihr radikalisierten Kritikkonzept, das seine Engagement muss sich auch konkret auf eigenen Ermöglichungsbedingungen mit das Offenhalten des politischen Feldes reflektiert und dem Individuum gegenüber richten, damit sich Mündigkeit entfalten allen Selbstverständlichkeiten sowie Kon- kann als „die Fähigkeit zum ‚Widerspruch ventionen einen eigenen Standpunkt ver- und zum Widerstand‘ (Adorno) gegen schafft – bis hin zur Definitionsmacht über Formen gesellschaftlicher Subjektivie- Politik.35 Damit ist auch Menschenrechts- rung, aber auch gegen Prozesse der bildung gehalten, ihren Subjektbegriff Entdemokratisierung.“39 verstärkt als politischen zu reflektieren. Kritische politische und mit ihr die Doch die Kritik wird über die Einbezie- Menschenrechtsbildung sehen, dass hung der Konstitutionsdynamik des Sub- der „Dualismus von Heteronomie und jekts noch hinausgetrieben, da auch sein Autonomie […] allgemein auf ein für die Formationsprozess als prekär anzusehen Gesellschaftswissenschaft bedeutendes ist. Die Gefahr der Verhinderung von Spannungsfeld, in dem sich Fragen nach Mündigkeit – und damit einer Bedrohung möglicher Selbstbestimmung von Sub- der Autonomie des Subjekts – ist angelegt jekten im gesellschaftlichen Kontext situ- in der Kolonialisierung der Bildung durch ieren lassen,“ verweist.40 Mit Adorno fällt Kompetenzen und Bildungsstandards. hier der Blick auf die Übermächtigkeit der 242 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Heteronomie, wenn die gesellschaftlich 4. Auschwitz, der neue vermittelten Ermöglichungsbedingungen kategorische Imperativ und von Subjektivität zu deren Unmöglichkeits- die Menschenrechtsbildung bedingungen sich transformieren. Wie weit man diese Dialektik histo- Die Zeitenwende Auschwitz bedeutet nicht risch treiben kann, haben Horkheimer und mehr und nicht weniger als das Scheitern Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ der Humanität; nach Auschwitz ist alles gezeigt: über deren Stichhaltigkeit zu urtei- anders. Der Menschheit ist seitdem auf- len, ist hier nicht der Ort. Der permanente gegeben, das Unausdenkbare zu denken Rückbezug auf Adorno verlangt dagegen – in dem Bewusstsein, daran notwendig etwas anderes: der Tragfähigkeit seiner zu scheitern, verstrickt in einen „Schuld- „Wendung aufs Subjekt“ und seines Ansat- zusammenhang“41, der nicht individual- zes einer „Erziehung nach Auschwitz“ ge- psychologisch misszuverstehen, sondern danklich nachzugehen. Zugleich ist dieser ontologisch dahingehend zu deuten ist, Rückgang auch geboten, da die Vermitt- dass wir alle „Überlebende“ sind und in lung von Menschenrechten und Bildung dieser Welt weiterleben, als wäre nichts eigentlich nur vorläufig geleistet worden ist. geschehen. Menschliche „Kälte“ (356), als Denn diese vollzog sich noch diesseits von gesellschaftliche Kategorie Lebens- und Auschwitz. Was haben uns aber Begriffe Todeselixier der bürgerlichen Gesellschaft wie Menschenrechte und Menschenwürde zugleich, vor und nach Auschwitz, harrt jenseits von Auschwitz noch zu sagen? der Erklärung und zwingt zur Rekonstruk- Auschwitz verstanden als Zeitenwende, tion der fortdauernden Zusammenhänge, nach der nichts mehr ist, wie es war. die (die Möglichkeit von) Auschwitz noch Deshalb interessiert mich Adorno hier immer in sich tragen. Will man den Zugang auch nur als „Kant in Auschwitz“, material offenhalten, sich nicht mit letztlich leerlau- gefasst als der Punkt, auf den alles hin- fenden ideologischen Abstraktionen als ausläuft bzw. von dem alles ausgeht. Denn Wirkursachen zufriedengeben, will man bleibt das (mündige) Subjekt auf der Basis Auschwitz nicht aus der menschlichen seiner Selbstbestimmung der universale Geschichte „herausdividieren“, bleibt nur Bezugspunkt für die Menschenrechte, für die Versenkung in die gesellschaftlichen die Menschenrechtsbildung und für die Triebkräfte als Mechanismen, die den politische Bildung überhaupt, so hängt Völkermord – im umfassenden Sinne – an ihm, dem Subjekt, als dem „höchsten ermöglicht haben. Punkt“ in praktischer Absicht die Kritikfähig- Niemand hat diesem Ursprungszusam- keit. Damit bleiben die Autonomie im Sinne menhang tiefer nachgedacht als Adorno. Kants und der kategorische Imperativ – wie Auch wenn das Projekt „Kritische Theorie“ immer man ihn auch reformulieren mag – als überholt gilt, so ist es doch mein Anlie- notwendig gesetzt und in Geltung. Genau gen, die bleibende Aktualität Adornos vor dies bestreitet aber Adorno – im Angesicht dem aufgerissenen Problemhorizont zu er- von Auschwitz formuliert er einen neuen weisen. Wenn ich recht sehe, ist das Auf- kategorischen Imperativ. Damit ist der greifen der Rede vom „Zivilisationsbruch“ Nullpunkt erreicht, aus dem – wenn das Auschwitz inzwischen Allgemeingut, wird möglich ist – herauszuarbeiten ist, ob eine aber kaum – auch nicht im Rahmen der „Erziehung nach Auschwitz“ denkbar und Holocaust-Education – in seiner Radikalität wie Menschenrechtsbildung als deren not- ins Zentrum der Überlegungen gerückt. wendige Implikation zu verstehen ist. 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 243 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Wenn die Universalität von Auschwitz deren Eindruck sich der Mensch verwei- als vollendete Negativität nun aber wirk- gern will. Das real „Aufgezwungene“ harrt lich „alles“ affiziert, auch den Geist, bleibt der geistigen Verarbeitung, die aber inso- eigentlich nur noch das Denken in Aporien, weit unmöglich ist, als Auschwitz zumin- ein Denken, das um die Vergeblichkeit dest auch ein Produkt dieses Geistes ist. seines Tuns weiß. Damit ist für Adorno Damit sind alle Um- und Auswege verbaut, auch jeder Ansatzpunkt für eine metaphy- die schon von der „Stunde null“ an gegan- sisch sinnverbürgende Erfahrung zergan- gen wurden und seitdem in wilder Veräste- gen, die Unausdenkbarkeit einer besseren lung wuchern. Adorno denkt anders: Welt ist sistiert, der Raum für transzen- „Nur im ungeschminkt materialistischen dente Rettungsversuche verloren und das Motiv überlebt die Moral.“ (358) Hier ist transzendentale Ich endgültig im empiri- der rationale Ansatzpunkt für seine somati- schen untergegangen. Die damit gesetzte sche Impuls-Theorie, die über den Gegen- Haltlosigkeit des kategorischen Imperativs satz Triebhaftigkeit – Geistigkeit hinaus verlangt angesichts des Schreckens eine ist und das Residuum für den humanen Neufassung,42 da sein höchster Punkt Widerstand bildet. Sie setzt einem – undia- „in den Lagern […] verbrannte.“ (358)43 lektisch vereindeutigenden – Verständnis Diese metaphorische Wendung erschließt Widerstand entgegen. Adorno selbst das reale Grauen, das sich der Erfas- gibt mehrere Hinweise; einmal reagieren sung entzieht, aber doch genannt werden die Impulse abwehrend auf intensive Ge- muss. Kein Begriff, sondern ein realer Ort: walt, die aber wegen des übermächtigen Auschwitz, einbezogen in die negative gesellschaftlichen Zwangsmechanismus Geschichte der bürgerlichen Welt, steht als moralische Praxisimpulse wirkungslos metonymisch dafür. „Daß es geschehen bleiben. Dort allein wäre aber der Ort ihrer konnte inmitten aller Tradition der Philo- Wahrheit, da eine begrifflich-allgemeine sophie, der Kunst und der aufklärenden „Rationalisierung“ nicht in der Lage wäre, Wissenschaften, sagt mehr als nur, dass die je individuelle Reaktion unverfälscht diese, der Geist, es nicht vermochte, die zu erfassen. Gleichwohl ist ihr ein mora- Menschen zu ergreifen und zu verändern lisches Moment eingeschrieben. Neben […] Alle Kultur nach Auschwitz, samt der der „nackte(n) physische(n) Angst“ lebt dringlichen Kritik daran ist Müll.“ (359) „das Gefühl der Solidarität mit den […] Will man angesichts dieses Befundes quälbaren Körpern.“ (281) Noch einmal überhaupt noch weiterdenken, weiter- scheitert begriffliches Erfassen, weil alle machen, bleibt dem Leben nur eine be- kategorischen Ansprüche an der Fortexis- stimmende Perspektive: „Hitler hat den tenz des Grauens zergehen. Diesen objek- Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen tiven Antagonismus kann das moralische neuen kategorischen Imperativ aufgezwun- „Bewusstsein“ nicht aufheben. Allerdings gen: ihr Denken und Handeln so einzurich- gilt auch für dieses: „Die vermeintlichen ten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, Grundtatsachen des Bewusstseins sind nichts Ähnliches geschehe.“ (358) Was ein anderes als bloß solche […] Aller bei Kant in formaler Glätte aufging, fügt Schmerz und alle Negativität, Motor des sich bei Adorno nicht mehr, Ausdruck dialektischen Gedankens, sind die vielfach einer hoffnungslosen Hoffnung. Keinen vermittelte, manchmal unkenntlich ge- Halt findet „im Stande der Unfreiheit“ wordene Gestalt von Physischem.“ (202) mehr der Anspruch des Kategorischen, Doch bietet auch, wenn Alfred Schäfer dennoch bleibt der nicht abzuweisende, Recht hat, die vergesellschaftete „Natur“ absolute Anspruch einer historischen Tat, keinen sicheren Rückhalt mehr, da „das 244 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Eintreten des Impulses nicht selbst etwas Verstanden als den so massenhaften wie ist, mit dem man selbstverständlich rech- sinnlosen Tod, der für Adorno zugleich nen kann.“44 Dann muss man wohl auch auch die äußerste – gesellschaftliche – die dialektische Konsequenz ziehen: Realisierung der (idealistischen) Iden- „Der leibliche Impuls überwältigt unmit- titätsphilosophie darstellt, die ihm als telbar: Er ist nicht an eine abwägende Grundzug der bürgerlichen Gesellschaft Einschätzung der Situation gebunden. gilt; „Das allherrschende Identitätsprin- Insofern bildet er das Andere der Vernunft. zip, die abstrakte Vergleichbarkeit ihrer Zugleich setzt er aber diese voraus.“ Die gesellschaftlichen Arbeit treibt sie bis zur schwierigen Vermittlungswege bleiben Auslöschung ihrer Identität.“45 in dieser Lesart unaufgeklärt. Wichtig Und diese Identitätspolitik kennt kei- ist, und da ist Schäfer recht zu geben, nen Halt: „Daß in den Lagern nicht mehr dass er die Vermitteltheit von Wissen das Individuum starb, sondern das Exem- und „mimetischer Identifikation mit dem plar, muß das Sterben auch derer affizie- Leiden der Opfer“ betont. Dieser Identi- ren, die der Maßnahmen entgingen. Der fikationsanspruch in seiner psychologi- Völkermord ist die absolute Integration, schen Achronie scheint aber fehlzugehen, die überall sich vorbereitet, wo Menschen da er den Zeitindex des Eingedenkens gleichgemacht werden, geschliffen, wie übersieht. Die notwendig historisch ge- man beim Militär es nannte, bis man sie, wordene Wissensbasis kann nicht mehr Abweichungen vom Begriff ihrer vollkom- umstandslos zum Moment der Mimesis menen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt.“ werden. Die „sinnlich-leibliche Reaktion“ (355) Konzentrierter kann man es nicht (der Nachgeborenen) braucht mehr, um sagen, präziser der historischen For- zum Moralprinzip sich zu integrieren. Sie schung die Richtung nicht weisen. kann den Zeithorizont von sich aus nicht Damit ist nun zweierlei gewonnen: mehr überspringen, sondern muss zum Zum einen muss man, will man im Sinne Moment im historischen Vermittlungspro- Adornos sich mit Auschwitz auseinander- zess werden und damit zur Voraussetzung setzen, die gesellschaftlichen Ermögli- und Folge des Bildungsprozesses zu- chungsbedingungen im Blick haben, die gleich. Dies konstituiert unsere (nur noch) den notwendigen Verständnisrahmen moralische Zeitgenossenschaft; der histo- bilden. Jede Konzentration auf einsinnige rische Ort wird zur kognitiven Basis des ideologische Ableitungen – etwa aus der neuen Moralprinzips, in seiner vermittelten Ideologie des Antisemitismus – müssen Gleichursprünglichkeit. als historisch wirksame Momente im Rah- Damit ist aller Erziehung als eine Frage men der Ausbeutungsgeschichte des Indi- aufgegeben: Wie kann der Mensch nach viduums gelesen werden. So erhält auch Auschwitz überhaupt Auschwitz noch be- der Rassismus als entscheidendes Mo- gegnen? Hier ist man notwendigerweise ment der Verwertungslogik und des damit auf die historische Erkenntnis verwiesen, einhergehenden Selbstverständnisses als die den sinnlichen Impuls trägt. Der wie- Selbsterhöhung seinen (sozial)geschicht- derum die Voraussetzung darstellt, um das lichen Ort. Des Weiteren gilt: Wissen über Eigentliche an Auschwitz zu erfassen, was Auschwitz muss immer gesellschafts- wiederum die unmittelbare Plausibilität des kritisches Wissen im Modus des Einge neuen kategorischen Imperativs bedeutet. denkens sein. Damit steht einer recht Dabei muss man aber der Bedeu- verstandenen „Erziehung nach Ausch- tung von Auschwitz als der totalen Nega- witz“ der kritische Weg allein noch offen tion des Menscheins noch weiter folgen. und „(d)arum konvergiert das spezifisch 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 245 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Materialistische mit dem Kritischen, mit ge- 5. Ausblick – aktuelle Strategien sellschaftlich verändernder Praxis.“ (203) der „Unsichtbarmachung“ Nimmt diese Praxis historisch-nega- tiv von Auschwitz ihren Ausgangspunkt, Abschließend können hier höchstens noch braucht sie doch einen aktuell-positiven Be- einige Andeutungen gemacht werden, zugspunkt, der als je noch zu verwirklichen- welchen Bedrohungen die „Sichtbarkeits- de bestimmte Negation von Auschwitz zu ordnung“ der Menschenrechte aktuell aus- verstehen ist. Genau diesem Anspruch stel- gesetzt ist. Ich wähle zwei Beispiele, die len sich die Menschenrechte. So schreibt strategisch ganz unterschiedlich ansetzen, etwa Johannes Morsink unter Bezug auf die gleichwohl aber beide ein hohes Bedro- „Allgemeine Erklärung der Menschenrech- hungspotenzial entfalten. te“: „Most of the articles and rights in the So verstehe ich mit Cornelia Kop- Declaration were adopted as direct and im- petsch47 den Rechtspopulismus als mediate reactions to the horrors of the ho- epochale Antwort auf die neoliberale Glo- locaust.“46 An einer Vielzahl von Beispielen balisierungskrise, die nicht nur die klassi- kann Morsink zeigen, wie diese bestimmte schen Modernisierungsverlierer mobilisiert, Negation konkret funktioniert. Dadurch wer- sondern durch ein breites „Angebot“ an den die Menschenrechte – und da würde Delegitimierungs- und Deklassierungser- Adorno wohl nicht mehr mitgehen – zu fahrungen breiten Schichten das Gefühl (regulativen) Leitideen für eine Erziehung der Ausgrenzung vermittelt. So erleben nach Auschwitz, die als Menschenrechts- viele Menschen, wie die „Grammatik der bildung zu sich selber kommt. Lebensformen“ (Jürgen Habermas) und Dies führt nicht zu einem wechselsei- kulturelle Selbstverständlichkeiten durch- tigen Reduktionismus – beide Konzepte einandergewirbelt werden. Diese führt zur haben einen jeweils breiteren und weite- Entstehung einer vertikal sich organisieren- ren Horizont – bleiben aber historisch und den „Querfront“, die sich als ausgegrenzt systematisch in ihrer Begründungsgestalt und von der „Un-Sichtbarkeit“ bedroht aufeinander bezogen. Und selbst wenn sieht. Begrifflich zu fassen sind diese als Menschenrechtsbildung und Holocaust sogenannte „Neo-Gemeinschaften“; für Education über weite Strecken ihre eigenen diese nimmt „die Welt die Form eines Anliegen betreiben – hier etwa das Aufklären Gegensatzes zwischen Innen und Außen, über historische Zusammenhänge, dort das ingroup und outgroup an, der zugleich „empowerment“ für den Kampf gegen kon- auch ein Dualismus zwischen dem Wert- krete Unrechtserfahrungen – wissen beide vollen und dem Wertlosen ist (das Volk um ihren gemeinsamen Ursprung und auch, gegen die kosmopolitischen Eliten)“. Diese dass sie nur gemeinsam – vielleicht – einen tendenziell rassistische Logik zertrümmert Weg finden, „dass Auschwitz nicht noch die universale Sichtbarkeitsordnung einmal sei“. Oder andersherum: Eine Welt (der Menschenrechte) und setzt sie als sei, in der jeder Mensch in seinem Mensch- fragmentierte neu zusammen, die dann sein sichtbar ist und bleiben kann. auch eine neue Legitimität braucht. Man Und diese Sichtbarkeit ist aktuell von findet allerdings rasch Abhilfe: „Die Ver- vielen Seiten bedroht; Aufgabe der Men- mutung liegt nahe, dass die Idee der schenrechtsbildung nach Adorno muss es Volksgemeinschaft in eine Kollektivitäts- deshalb sein, sensibel auf solche Versuche und Identitätslücke tritt.“ Damit füllt der „Unsichtbarmachung“ zu reagieren diese Idee auch eine Legitimitätslücke; und durch Aufklärung die „Sichtbarkeit“ legitimiert wird dadurch eine exklusive, wiederherzustellen. 246 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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