Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt

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Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
BLICKPUNKTE 02|17

Sozialraumorientierung –
ein Megatrend

DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND LANDESVERBAND SACHSEN-ANHALT e.V. | www.paritaet-lsa.de
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Inhalt
                                                                                                       BLICKPUNKTE 02|17

                                                                                                       Sozialraumorientierung –
                                                                                                       ein Megatrend

                                                                                                       DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND LANDESVERBAND SACHSEN-ANHALT e.V. | www.paritaet-lsa.de

Editorial                                                                                                                                                                                                   3

Mega-Trend Sozialraumorientierung
      Trends in der Sozialwirtschaft                                                                                                                                                                        4
      Der Sozialraum als Ort der Teilhabe und Mitbestimmung                                                                                                                                                 6
      Regional denken – lokal steuern                                                                                                                                                                       8
      Zurück zu den Wurzeln – Sozialraumorientierung als Fachkonzept Sozialer Arbeit                                                                                                                        9
      Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe                                                                                                                                                10
      Der inklusive Sozialraum – das große Ziel?                                                                                                                                                           12
      Die Wiederentdeckung der Rolle der Kommunen in der Pflege                                                                                                                                            14
      Wir sind nah’ dran! Beratungsstellen als „Seismographen“ für die Lebenssituation im Sozialraum                                                                                                       16
      Älter werden im Stadtteil – Eine Herausforderung für den Sozialraum in der Landeshauptstadt                                                                                                          18
      Von kommunaler Sozialpolitik zu sozialer Kommunalpolitik                                                                                                                                             19
      Lösungen finanzieren, bevor das Problem da ist                                                                                                                                                       20
      Kinder und Jugendliche im ländlich geprägten Sozialraum                                                                                                                                              21
      Wohnen und Leben im Quartier                                                                                                                                                                         22
      Vom situativen Agieren zum strategischen Vorgehen                                                                                                                                                    24
      Voll im (Mega-) Trend – der Paritätische beim Zukunftskongress der Sozialwirtschaft                                                                                                                  26
      Ausblick auf die nächste Ausgabe – „Digitalisierung“                                                                                                                                                 27

Positionen
      Vielfalt ohne Alternative – eine Kampagne des Gesamtverbandes gegen rechte Demagogen                                                                                                                 28
      Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) in Sachsen- Anhalt                                                                                                                                                   29
      Die Pflegestärkungsgesetze – Versuch eines ersten Fazits                                                                                                                                             30
      Wieder nur kleine Schritte statt Meilensteinen?                                                                                                                                                      32
      Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – Novelle des SGB VIII ausgesetzt                                                                                                                                  33
      Der Paritätische fordert den Aufbau eines „Sozialen Arbeitsmarktes“                                                                                                                                  34
      Verfassungsrechtlich bedenklich – Verschärfung des Asylrechts                                                                                                                                        35
      Pflegende Angehörige stärken!                                                                                                                                                                        36
      Beratungsstellen – Steigende Eigenanteile von Trägern sind zur Selbstverständlichkeit geworden                                                                                                       37
      Agentur zur Vermittlung und zum Aufbau zur Unterstützung im Alltag                                                                                                                                   38
      Bundestag beschließt Pflegeberufegesetz                                                                                                                                                              39
      Umsteuern: Armut stoppen, Zukunft schaffen                                                                                                                                                           40

Informationen
      Präventionsgesetz – Veranstaltungsankündigung                                                                                                                                                        42
      Wir müssen reden. Junge Selbsthilfe in Sachsen-Anhalt                                                                                                                                                43
      Neues Gesicht im Landesverband, Social Media Einsatz                                                                                                                                                 44
      Verbesserter Schutz für Stalkingopfer                                                                                                                                                                45
      Chancen und Grenzen der Präventionsarbeit im Fußball                                                                                                                                                 46
      Paritätische Jobbörse                                                                                                                                                                                47
      Zukunftsfähige Organisationsentwicklung – worauf wird es ankommen?                                                                                                                                   48
      Wie stehts? Kinder- und Jugendrechte , Netzwerk gegen Kinderarmut                                                                                                                                    50
      Controlling in Sozialunternehmen                                                                                                                                                                     51

Aus den Regionen
      Region Mitte-West                                                                                                                                                                                    52
      Region Nord                                                                                                                                                                                          54
      Region Mitte-Ost                                                                                                                                                                                     56
      Region Süd                                                                                                                                                                                           58

Verbandsleben
      „Mit Sicherheit gut ankommen“                                                                                                                                                                        59
      Mit sozialen Partnerschaften Brücken bauen!                                                                                                                                                          60
      Nachruf                                                                                                                                                                                              63
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
            Vorstandsvorsitzender                                                                      Editorial

Liebe Mitglieder, sehr geehrte Leserinnen und Leser,

der von mir geschätzte polnische Soziologe Zygmunt            nen. Nun aber bekommt das Thema vor dem Hintergrund
Bauman (er ist im Januar 91jährig verstorben) hat sich Zeit   zunehmender kommunaler Steuerung von Leistungen und
seines Lebens mit der Frage beschäftigt, wie im 20. Jahr-     einem neuen Selbstverständnis der Kommunen eine neue
hundert das Unmaß an Gewalt und Gräueln, wie sie ins-         und eine andere Dynamik. Auch hierdurch verändert sich
besondere die Nazis verbreitet haben, zu erklären sei. Sein   Zug um Zug das Verhältnis zwischen Kommunen und Frei-
zutiefst humanistisches Verständnis von einer Welt ohne       er Wohlfahrtspflege. Das Subsidiaritätsprinzip, das freien
Verletzung der Menschlichkeit gipfelte in der Erkenntnis,     Trägern mit ihren Leistungen einen Vorrang vor öffentli-
dass – trotz allem – Wissen eine Voraussetzung sei (bzw.      chen Angeboten einräumt, wird ausgehöhlt. Kommunen
bleibe), damit Menschen nicht Opfer werden. Wolle man         erbringen selbst Dienstleistungen und sie beziehen, mehr
an der Welt arbeiten (statt von ihr bearbeitet, also Opfer    als früher, auch Bürger*innen mit ein. Die Orientierung an
gesellschaftlicher Prozesse, zu werden), müsse man wissen,    den Lebensbedingungen der Menschen in unterschiedli-
wie sie funktioniert.                                         chen Sozialräumen und die Sicherung der Daseinsvorsorge
                                                              auch in ländlichen Regionen beginnen stärker ins Bewusst-
Bei Prozessen wie der Individualisierung, der Urbanisierung   sein und Handeln von Kommunen zu rücken.
(und der Abkoppelung ländlicher Räume), der Mobilität
und dem lebenslangen Lernen handelt es sich um gesell-        Wo ist da künftig unser Platz? Sozialraumorientierung wird
schaftliche Prozesse, die über Politik, Wirtschaft, Kultur    sowohl von den Kommunen als auch von der Freien Wohl-
und Konsum auf jede und jeden einwirken, Gewohntes „auf       fahrtspflege als Handlungskonzept benannt – allerdings
den Kopf“ stellen, Hergebrachtes entwerten – und uns zu       aus unterschiedlichen Perspektiven und mit sehr verschie-
„bearbeiten“ drohen. Menschen fühlen sich ausgeliefert,       dener Ausrichtung. Während Sozialraumorientierung für
wehrlos, ohne Gestaltungsmacht, vermitteln uns immer          die örtlichen Träger in erster Linie ein Steuerungskonzept
wieder aktuelle Zeitdiagnosen.                                für Planungsprozesse darstellt (d.h. unter Umständen be-
                                                              deutet, dass Menschen behördlich „überplant“ und sie
Auch in der Freien Wohlfahrtspflege und der Sozialwirt-       „bearbeitet“ werden), steht für die freien Träger Sozial-
schaft sind solche Wahrnehmungen und Einschätzungen           raumorientierung als Fachkonzept der Sozialen Arbeit mit
nicht unbekannt, auch hier zeichnen sich diese Trends ab.     methodischen Prinzipien im Vordergrund: Es geht darum,
Mit Zygmunt Bauman ist es ist auch hier wichtig, solche       die Lebenswelt der Menschen so (mit) zu gestalten, dass
Entwicklungen (auch als [Mega-] „Trends“ bezeichnet) früh-    sie auch in schwierigen Lebenssituation zurechtkommen.
zeitig zu identifizieren, um sie dadurch besser gestalten     Dazu gehören Prinzipien wie Ressourcenorientierung,
und sich auf mögliche Auswirkungen einstellen zu können.      Förderung der Teilhabe, Unterstützung bei der Lebensbe-
Wir müssen sie also verstehen lernen, uns Wissen über ihr     wältigung, integriertes Handeln und Kooperation. Es ist
Funktionieren aneignen. Daher hat sich der Landesvor-         daher unerlässlich, durch unsere stärkere Einbindung (und
stand (gemeinsam mit der Landesgeschäftsführung und           Einmischung) in (Sozial-)Planungsprozesse vor Ort dafür
den Führungskräften des Verbandes) im Rahmen seiner           zu sorgen, dass – mit Bauman – das Maß an „Bearbeitung“
diesjährigen Klausur intensiv mit relevanten Entwicklungs-    so gering wie möglich gehalten wird.
themen befasst und bewertet, welche Auswirkungen diese
auf unsere verbandliche Arbeit haben könn(t)en. Digitali-     Die Beiträge in diesen BLICKPUNKTEN sollen in den viel-
sierung, Wirkungsorientierung, die Emanzipation unserer       fältigen Klärungsprozessen, denen wir uns stellen müssen,
Zielgruppen und Sozialraumorientierung standen dabei          eine erste Anregung sein, um eine gelingende Arbeit an
im Mittelpunkt. Nun wird mit den Erkenntnissen umzuge-        der Welt auf der Grundlage von Wissen zu unterstützen –
hen und in der Verbandsöffentlichkeit zu diskutieren sein,    beim Lesen wünsche ich Ihnen (auch) viel Spaß!
welche Handlungs- oder Anpassungsnotwendigkeiten sich
daraus ergeben.

Ein erster Schritt ist die neue Ausgabe der BLICKPUNKTE,
die Sie nun in den Händen halten. Sie widmet sich dem
Thema „Sozialraumorientierung“, einem eigentlich nicht
neuen „Trend“. Schon vor gut 20 Jahren wurde Sozialraum-
orientierung als Konzept der Sozialen Arbeit entwickelt,
um Menschen neue Chance zur (gerechteren) Gestaltung                  Mit besten Grüßen
ihrer Lebenswelt und eine umfassendere Teilhabe zu eröff-             Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt

                                                                                                      BLICKPUNKTE | 3
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Trends bewegen                                                                       Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
                                                                                            Vorstandsvorsitzender

Trends in der Sozialwirtschaft
Wir stehen mitten in einer Vielzahl von Veränderungen. Sie kommen schockartig als folgenschwere Ereignisse
„über uns“ oder zeigen sich in (konjunkturellen) Wellen oder als tiefgreifende Veränderungen des ganzen Lebens,
wie sie z.B. durch digitale Technologien oder demografische Prozesse hervorgebracht werden. Sie verändern unse-
re Arbeit nachhaltig. Aber was bedeutet das für soziale Organisationen, Unternehmen und uns als Verband?

                                       e gatrends
                                     M
Der Vorstand berät sich regelmäßig mit der Geschäftsfüh-     Leitthemen wie Individualisierung, Inklusion und ambu-
rung und jährlich in einer Klausur mit den Referent*innen    lante Versorgung beherrschen die strategischen Überle-
und Regionalleiter*innen des Verbandes zu strategischen      gungen aller sozialen Dienstleister. Und wir bemerken eine
Themen. 2017 widmete sich diese Klausur sog. „Mega-          zunehmende Orientierung auf den unmittelbaren Lebens-
trends“ in der Sozialwirtschaft und Wohlfahrtspflege. Di-    ort, den kommunalen Sozialraum, in dem die sozialen
gitale Technologien, durch die Demografie veränderte         Angebote gesteuert und gut vernetzt werden müssen, um
Zielgruppen, soziale Ausgrenzung, Fachkräftemangel – es      den Bedingungen gerecht zu werden und sich dort zeigen-
sind Entwicklungen, die unsere Arbeit und Kommunikation      den Veränderungen schnell und im Sinne der Menschen
verändern. Die Spaltung der Gesellschaft in den Lebens-      angemessen anpassen zu können.
verhältnissen und Denkweisen (z.B. aufgrund städtischer
Zentralisierung und ländlichem Leben am gesellschaft-        Um welche „Megatrends“ geht es?
lichen Rand) stellt uns und den Sozialstaat insgesamt vor
schwierige strukturelle und finanzielle Herausforderungen.   Strukturelle Veränderungen in der Wohlfahrtspflege
Diese und andere tiefgreifende Entwicklungen üben einen      (u.a. die Infragestellung sog. „Privilegien“ der freien
evolutionären Druck auf alle Bereiche der Gesellschaft aus   Wohlfahrtspflege, wachsende Anforderungen an die Wirt-
und werden die Wohlfahrtspflege und die sozialen Unter-      schaftlichkeit und die Konkurrenz unter den gemeinnützi-
nehmen gravierend verwandeln, wobei keine Prognose           gen Anbietern) erfordern eine Öffnung des Verbandes für
und kein (Zukunfts-)Szenario Gewissheit verspricht, wie      andere sozialwirtschaftliche Partner und zugleich die Bin-
diese Prozesse eintreten werden. Deshalb ist es für uns      dung neuer sozialer Initiativen als Solidaritätsstiftern. Wir
neben der vorausschauenden „Einstellung“ auf solche Ver-     müssen uns stärker als Partner im lokalen Wohlfahrtsmix
änderungen auch andererseits wichtig, dazu beizutragen,      und in der kommunalen Sozialplanung erweisen. Zugleich
dass möglichst sozial verträgliche Varianten eintreten.      brauchen die Mitglieder mehr Unterstützung der bei Per-

4 | BLICKPUNKTE
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Dr. Gabriele Girke
             Landesgeschäftsführerin                                                   Trends bewegen

sonal- und Organisationsentwicklung, und auch die Lobby-       Die zunehmende Wirkungsorientierung in der Steu-
arbeit und Netzwerke müssen immer wieder angepasst             erung und Gestaltung der sozialen Angebote erfordert,
werden.                                                        dass sich Hilfen und Unterstützung nachweislich an der
                                                               Lebensqualität, am Wohlbefinden der Adressaten, an der
Die Digitalisierung der Kommunikation und Arbeits-             Inklusion und an den gesellschaftlichen Veränderungen
organisation verändert unsere Gesellschaft (in Bezug auf       orientieren. Solche Wirkungen müssen gemeinsam durch
die politische Teilhabe, die Meinungsbildung, das bürger-      Leistungsberechtigte, Leistungsträger und Leistungser-
schaftliche Engagement) grundlegend und damit auch die         bringer bestimmt werden, einseitig durch Finanziers oder
Soziale Arbeit und die sozialen Dienstleistungen besonders     sozialen Unternehmens und vorrangig an monetären (öko-
nachhaltig. Wir erleben alltäglich, dass Komplexität und       nomischen) Gesichtspunkte bestimmte Kriterien können
Manipulierbarkeit der Kommunikation zunehmen. Digitali-        wir nicht akzeptieren. Auch die Verbandsstrukturen und
sierung muss daher zu einem strategischen Führungsthe-         Tätigkeiten der Verbandsmitarbeiter*innen sollen an beab-
ma werden. Im Kampf um die Deutungshoheit muss sich            sichtigten Wirkungen gemessen und ggf. angepasst wer-
der Verband an strategischen Überlegungen in Sozialpo-         den.
litik und Kommunen beteiligen, um Veränderungen und
Potenziale zu erkennen und mit unseren Werten zu verbin-       Die Emanzipation der Kund*innen erfordern Möglich-
den. Wir müssen schnelle und niederschwellige Wege für         keiten für mehr selbstbestimmte Entscheidungen der
Kommunikation und Vernetzung nutzen. Das bietet auch           „Kund*innen“ und führt zu Veränderungen der Angebote
Chancen für ein effizientes Wissensmanagement und neue         (individualisiert und komplex) und in vielen Bereichen zu
Möglichkeiten, unsere Zielgruppen zu erreichen.                einem Systemwechsel, dessen Chancen und Gefahren,
                                                               aber auch Grenzen alle verstehen, in Konzepte umsetzen
Echte Versorgungslücken und Veränderungen der öf-              und dafür die Möglichkeiten zum Austausch im Verband
fentlichen Finanzierung, denn Deckungs- und Tragfähig-         nutzen müssen. Mitglieder werden (als Leistungserbringer)
keitslücken im sozialen Sicherungssystem sind absehbar.        ihr Leistungsspektrum anpassen, mehr Komplexleistungen
Wir brauchen die Bereitschaft zur Veränderung der Ange-        und Personorientierung umsetzen müssen, und die ge-
bote, (selbst-)kritische Standortanalysen, Kooperation statt   wohnten Organisationsstrukturen müssen entlang dieser
Konkurrenz, Patienten-/Bürgerbeteiligung. Unsere sozialen      Veränderungen geprüft und angepasst werden.
Angebote müssen als Haltefaktoren in den Regionen ver-
standen werden.                                                Regional denken – lokal steuern, mehr Einfluss auf
Dort, wo sich „Standardabsenkungen“ abzeichnen, müs-           Veränderungen der kommunalen Daseinsvorsorge und
sen wir dies vorausschauend berücksichtigen; hier sind         Sozialraumorientierung unserer Angebote sind ein weite-
„Innovationen“ gefragt. Das Bewusstsein für die Eigenver-      rer Trend, dem sich dieses Heft widmet. In den folgenden
antwortung als Bürger*in muss auch hier gestärkt werden.       Ausgaben der BLICKPUNKTE werden wir uns den vorge-
Darüber hinaus muss der Verband politischen Einfluss auf       nannten Trends widmen.
Veränderungen im Umlagesystem und anderen Finanzie-
rungen nehmen. Fehlplanungen in der sozialen Infrastruk-
tur können durch uns nur durch Beteiligung an Sozialpla-       Die Teilnehmer*innen der diesjährigen Klausur waren sich
nungen verhindert werden.                                      einig darin, dass wir dafür mögliche Veränderungen prog-
                                                               nostizieren und Szenarien entwickeln müssen, um daraus
Das sinkende Potential für den Fachkräftenachwuchs             strategische Planungen ableiten zu können; diese als
und das freiwillige Engagement erfordern, dass wir öf-         Trends bezeichneten Veränderungen werden wichtige
fentlich sichtbar attraktiver werden und eine moderne          Prüfkriterien für unser künftiges Handeln sein. Dazu ist
Führungs-, Unternehmens- und Anerkennungskultur ent-           ein grundlegender Wandel in unserem Denken nötig;
wickeln. Der Verband muss auf entsprechende Rahmen-            wir werden mehr als bisher Unwägbarkeiten akzeptieren
bedingungen hinwirken, Einfluss auf Veränderungen in der       müssen. Trotz aller Ungewissheit werden wir Anpassungen
Ausbildung nehmen, modellhaft neue Wege gehen, um              und Neuorganisation bewusst angehen, Trends interpre-
z.B. Quereinsteiger*innen zu fördern, bürgerschaftliche        tieren, Alternativen diskutieren und sehr viel experimen-
Akteure zusammenzuführen und die Selbsthilfe zu unter-         tieren müssen.
stützen.

                                                                                                      BLICKPUNKTE | 5
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Trend                                                                                                   Antje Ludwig
                                                                               Referentin Vorstand / Geschäftsführung

Der Sozialraum als Ort der Teilhabe und Mitbestimmung
Die aktive Beteiligung freier Träger an regionalen Sozialplanungsprozessen wird derzeit in der Fachöffentlichkeit
intensiv und teilweise kontrovers diskutiert. Es wächst das Bewusstsein, das ein reines „darüber müssen wir mal
reden …“ nicht ausreicht, um tatsächlich in zielorientierte und kooperative Prozesse mit den verantwortlichen
örtlichen Trägern einzutreten und diese auch „durchzuhalten“.

In der Literatur lässt sich keine allgemeingültige Definiti-   Der Begriff der „Partizipation“ als Qualitätskriterium für
on von „Sozialraum“ finden. Im einfachsten Sinne könnte        Planungs- und Entscheidungsprozesse ist daher ein viel-
darunter der Aufenthaltsraum für die Belegschaft einer         verbreiteter Anspruch. In der Realität ist Partizipation aber
Behörde oder eines Unternehmens verstanden werden.             eine besondere Herausforderung, die an der Widersprüch-
Bezogen auf den Planungsprozess bei Kommunen, ist              lichkeit des Alltags und der Auslegungsbreite des Begriffs
der Sozialraum der Lebensraum von Menschen, der eine           häufig zu scheitern droht.
bestimmte geografische Ausdehnung
definiert und aus einer spezifischen geo-
grafischen Ausdehnung heraus wahrge-
nommen wird (Schwabe). Der Verein für
Sozialplanung (VSOP) empfiehlt, auf der
Basis statistischer Bezirke und unter Beach-
tung der konkreten räumlichen Verhält-
nisse, Sozialräume als einheitliche Bezugs-
basis für sämtliche Planungsprozesse zu
definieren. Die Orientierung an den jewei-
ligen Sozialräumen (z.B. einem Stadtteil
oder einer bestimmten ländlichen Region)
bedeutet für die Akteure in den Planungs-
prozessen, die Lebenswelt so zu gestal-
ten und Verhältnisse zu schaffen, die es
den Menschen ermöglichen, besser in
schwierigen Lebenslagen zurechtzukom-
men.

Es geht also auch um die Sicherung von
Lebensqualität in einer Region.

Da versteht es sich doch eigentlich von
selbst, dass freie Träger als unmittelbare
Anbieter sozialer Angebote und Dienstleis-
tungen und damit „Kenner“ der Lebenssitu-
ation vor Ort, den Kommunen als Partner bei
Planungsprozessen zur Verfügung ste-
hen. Darüber hinaus ist die direkte Beteili-
gung der Menschen in einem Sozialraum
z.B. bestimmter Zielgruppen (Kinder und
Jugendliche, Senioren, Menschen mit Be-
einträchtigungen) besonders wünschens-
wert – wenn auch aufwändig – und wird
an vielen Stellen von Kommunen auch
mehr oder weniger gut praktiziert.

6 | BLICKPUNKTE
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Trend

Der Paritätische möchte seine Mitglieder unterstützen, die-    der Trägerschaft, des Leistungsumfanges und der Kosten.
se Herausforderungen anzunehmen, die Chancen und ver-          Dazu gehört auch die Entwicklung einer Vision bzw. eines
meintliche Risiken abzuwägen und sich (entgegen mancher        gemeinsamen Leitbildes: was wollen Kommunen und freie
negativen Erfahrung) in Planungsprozesse einzubringen.         Träger gemeinsam für die Menschen erreichen? Allein bei
Dazu müssen die Rahmenbedingungen und Rollen zwi-              der Aufzählung der Prozess-Schritte wird deutlich, dass
schen den Akteuren geklärt sein. Grundsätzlich ist die         hier personelle und zeitliche Ressourcen erforderlich sind
Gestaltung von Sozialräumen ein gesetzlicher Auftrag der       und die koordinierenden Sozialplaner*innen manage-
Kommunen – bei ihnen liegt die Verantwortung für die           ment-ähnliche Fähigkeiten brauchen. Ziel ist eine koope-
sog. „Daseinsvorsorge“. Sie haben dafür zu sorgen, dass        rative Sozialplanung.
soziale Einrichtungen und Dienste rechtzeitig und ausrei-
chend zur Verfügung stehen.                                    Geeignete und legitimierte Gremien dafür wären die ge-
                                                               meinsamen Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII
Kommunen haben die Planungs- und Organisationshoheit.          oder die Kreisarbeitsgemeinschaften als Zusammenschlüs-
Damit betraut sind qualifizierte Sozialplaner*innen. An        se der freien Träger vor Ort (kleine LIGA). Existieren diese
diesen Stellen haben viele Kommunen in den letzten             Gremien nicht, müssen andere verbindliche Formen der
Jahren personell „aufgerüstet“. Die Sozialplaner*innen         Zusammenarbeit gefunden werden, um Akzeptanz bei
müssen ihre Planungen gegenüber der eigenen (Finanz-)          der Verwaltung und der Politik sicherzustellen. Relativ lose
Verwaltung und der Politik (dem Stadt- oder Kreisparla-        „Netzwerkverbindungen“ reichen nicht aus, die o.g. Aus-
ment) vertreten. Alles im Rahmen der „Kommunalen               handlungsprozesse um Standorte und Angebote erfolg-
Selbstverwaltung“ und unter „Einhaltung des Konnexitäts-       reich zu gestalten.
prinzips“.
                                                               Ob eine Partnerschaft zwischen Kommunen und freien
Aber auch für die Beteiligung freier Träger gibt es eine       Trägern auf Augenhöhe erreicht werden kann, ist fraglich.
gesetzliche Grundlage: § 80 Abs. 3 SGB VIII verpflichtet       Da Planungsfragen eng verknüpft sind mit der öffentlichen
die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur frühzeitigen       Refinanzierung der Leistungen der Träger, kommen die-
Beteiligung der anerkannten Träger der freien Jugendhilfe      se hinsichtlich der tatsächlichen Bedarfsentwicklung und
in allen Phasen der Planung.                                   notwendiger Anpassung ihrer Angebote u.U. schnell an
Aber: dieser Anspruch wird nicht allein dadurch sicherge-      ihre Handlungsgrenzen. Der verständliche Wunsch nach
stellt, dass Vertreter*innen der freien Träger als Mitglied    „Planungssicherheit“ ist mit einer notwendigen Bedarfs-
im Jugendhilfeausschuss die Jugendhilfeplanung am Ende         planung und flexibler Angebotsentwicklung nicht immer
beschließen. Die Kommune in ihrer Steuerungsverantwor-         vereinbar.
tung ist verpflichtet, die freien Träger in allen Phasen des
Prozesses zu beteiligen. Dies beginnt bei der gemeinsa-        Die Beteiligung eines freien Träger an der Jugendhilfe- und
men Bestandsaufnahme, der Prüfung und Interpretation           Sozialplanung setzt eine strategische Entscheidung auf
planungsrelevanter Daten, der Ableitung von Bedarfen           der Leitungsebene voraus und die Erkenntnis:
und weiteren Ausgestaltung der Angebote hinsichtlich           Beteiligung ist kein Harmonisierungsprozess!

  Mögliche Handlungsoptionen für freie Träger:

           ➢    Grundverständnis für Sozialplanungsprozesse entwickeln
           ➢    Perspektiv- Wechsel vornehmen (kommunale Sicht/Handlungsrahmen)
           ➢    Rahmenbedingungen, Rollen und gegenseitige Erwartungen klären
           ➢    auf gemeinsame Ziele verständigen
           ➢    Verständigung zu planungsrelevanten Daten und gemeinsame Interpretation
           ➢    Entscheidungskriterien für fachliche Lösungen anbieten
           ➢    Kritische Prüfung der eigenen Angebotsstruktur
           ➢    Anpassungs- und Innovationsbereitschaft
           ➢    Stolpersteine frühzeitig erkennen (Ressourcen, Intransparenz, Ermüdung …)
           ➢    Es braucht einen langen Atem!

                                                                                                        BLICKPUNKTE | 7
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Trend                                                                                           Dr. Gabriele Girke
                                                                                           Landesgeschäftsführerin

regional denken – lokal steuern
Über den lokalen Tellerrand schauen – eine Devise, nicht nur wegen des Einwohnerschwunds, auch um Ressourcen
smart und intelligent zu nutzen, soziale Dienste bürgerfreundlich und kostensparend zu verbinden.
Regional denken – weil die Musik in den Kommunen und angrenzenden Regionen spielt, denn dort müssen die
zukunftsfähigen Investitionen entschieden werden, auch die Veränderungen der sozialen Infrastruktur.

Demografischer Dorfumbau, integrierte Finanz- und Sozi-         mit der Kommune auf lokale Lösungen hinwirken. Dafür
alplanung, regionale Planungsgemeinschaften, integrierte        ist jedoch eine Abstimmung mit den regionalen Entwick-
gemeindliche Entwicklungskonzepte, … vieles deutet da-          lungskonzepten oder eine Beteiligung an ihrer Erarbeitung
rauf hin, dass auch in Sachsen-Anhalt ernst gemacht wird        wichtig. Aus Sicht der Kommunen ist das unser Mehrwert,
mit regionalen Steuerungen. Sind wir als Freie Wohlfahrts-      ansonsten könnten sie auch soziale Dienste aus freier Trä-
pflege dabei mitgedacht? Und kennen wir diese Konzepte          gerschaft zurück in ihre öffentliche Hand holen oder eige-
und Steuerungen? Beteiligen wir uns daran, auch wenn die        ne Dienste errichten. Dagegen helfen dann keine Image-
Träger überregional organisiert sind? Was ist zu begrüßen,      Kampagnen. Gegen diese Form von „Kommunalisierung“
was fordert unsere gemeinsame Vorsicht heraus?                  hilft nur, sich trägerübergreifend zu verbünden und an
                                                                kommunalen Steuerungen zu beteiligen, z.B. in Kreisar-
Das Recht zur kommunalen Selbstverwaltung ist fester            beitsgemeinschaften der Freien Wohlfahrtspflege, in Netz-
Bestandteil der politischen Ordnung. Dieses Recht basiert       werken als gemeinsamer Leistungsanbieter.
auf dem Prinzip der Subsidiarität – kurz: die sozialen Prob-
leme und Entwicklungsaufgaben können vor Ort am bes-            Der Sozialraum ist wichtiger Bezugspunkt
ten beurteilt und gelöst werden, durch diejenigen, die den      Träger sozialer Angebote und Dienste brauchen einen über-
Menschen am nächsten stehen. Die Landespolitik soll auf         schaubaren und steuerbaren Raum, der echte Kooperation
gleichwertige Lebensbedingungen hinsteuern, die Kom-            ermöglicht. Auch die seit über 10 Jahren vorangetriebene
munen brauchen Spielraum für ihre speziellen Bedingun-          kommunal-administrative Strategie der Dezentralisierung
gen – ein Spagat, der auch die freien Träger herausfordert.     der kommunalen sozialen Dienste entspricht dieser Erfah-
                                                                rung. Quartiersbezogene Abstimmung der Angebote und
Unser Mehr-Wert für Kommunen                                    Steuerung über Sozialraumbudgets werden nicht mehr nur
Die gemeinnützigen Träger von Sozialen Angeboten und            in der Jugendhilfe ausprobiert. Die Dienstleister profitieren
Diensten haben hier eine wichtige Rolle: sie bauen eben-        davon, wenn dadurch die „Versäulung“ der Administrati-
falls auf dieses subsidiäre Prinzip und sind dadurch natürli-   on, die zergliederte kommunale Daseinsvorsorge und das
che Partner der Kommunen. Sie haben Einsicht in spezielle       Ressortdenken überwunden werden. Freie Träger sollten
Lebenslagen und können ganz konkret vor Ort Menschen            jedoch aufmerksam sein, wenn dadurch „betriebliche“
mobilisieren, aus ihrem Nutzerinteresse heraus Lösungen         Risiken von der Kommune auf sie abgewälzt werden.
für Lücken in der kommunalen Daseinsvorsorge zu finden,
sich zu verbinden, Dienste auf ihren Bedarf hin anzubie-        Netzwerke organisieren – wirkungsvoll sein
ten. Dabei müssen sie „in einem Boot sitzend“ gemeinsam         Seit den 90er Jahren richtet sich die Aufmerksamkeit kom-
                                                                munaler Steuerungen auch auf neue Organisationsformen,
                                                                wie das Netzwerk. Netzwerkkooperationen überwinden
                                                                sowohl die Defizite einzelner privater Organisationsfor-
                                                                men, als auch sozialstaatlicher bzw. kommunaler Ressorts.
                                                                Schnittstellen werden gefunden und gemeinsame Pro-
                                                                jekte oder Dienste mit jeweils zurechenbaren Beiträgen
                                                                gebildet. Nach dem Übereifer, effiziente Dienste haben zu
                                                                wollen, verschiebt sich das Interesse mehr zu wirkungsvol-
                                                                len Angeboten. Dabei tritt in den Vordergrund, mehr aus
                                                                der Perspektive des Bürgers als Nutzer („Kunde“) zu schau-
                                                                en und daran die kommunale Steuerung zu orientieren.
                                                                Facheinheiten werden raumorientiert und interdisziplinär
                                                                gebündelt – das sind auch Herausforderungen für Träger
                                                                sozialer Dienstleistungen.

8 | BLICKPUNKTE
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Antje Ludwig
            Referentin Vorstand / Geschäftsführung                                                            Trend

Zurück zu den Wurzeln – Sozialraumorientierung als
Fachkonzept Sozialer Arbeit
Die Definition des Begriffs „Sozialraumorientierung“ wird im Wesentlichen von der Perspektive der Beteiligten und
Handelnden bestimmt. Für die Kommune als öffentlichen Leistungsträger stellt die Orientierung am jeweiligen
Sozialraum ein Steuerungsinstrument und eine Bezugsgröße für Planungsprozesse dar. In der Sozialen Arbeit wird
Sozialraumorientierung als ein grundlegendes Fachkonzept angesehen. Es findet sich daher in vielen Konzepten
freier Träger wieder.

An dieser Stelle soll es jedoch nicht um die Frage der       Sozialen Arbeit an und an deren grundlegenden Werten
„richtigen“ Perspektive gehen – diese lässt sich auch so     wie Respekt, Wertschätzung, Freiwilligkeit und Ressour-
nicht beantworten. Vielmehr erscheint es wichtig, um         cenorientierung.
diese unterschiedlichen Perspektiven und Handlungsan-
sätze zu wissen, um Missverständnisse in der Kommuni-        Die fünf Prinzipien lauten:
kation und Zusammenarbeit von freien und öffentlichen
Trägern möglichst frühzeitig auszuräumen. In den letzten     – Orientierung am Willen der Menschen – in Abgren-
Jahren hat die konsequente Beteiligung der Bürgerinnen         zung zu Wünschen und Bedürfnissen. Ansatz der Ar-
und Bürger bei der Gestaltung „ihres“ Sozialraums, also        beit ist immer der Wille bzw. die Betroffenheit einzelner
des unmittelbaren Lebensumfeldes, an Bedeutung ge-             Menschen oder Gruppierungen und nicht von bürokrati-
wonnen. Freie Träger haben sich in diese Prozesse einge-       schen Instanzen identifizierte vermeintliche Bedarfe.
bracht und ihre Angebote angepasst bzw. weiterentwickelt.
In vielen Kommunen gibt es hierfür gelungene Beispiele.      – Aktivierende Arbeit hat grundsätzlich Vorrang vor
Die Diskussionen vor Ort haben aber auch dazu geführt,         betreuender Tätigkeit. Im Vordergrund steht die Unter-
dass Begriffe wie Sozialraumorientierung, Gemeinwesen-         stützung von Eigeninitiative zur Bewältigung der Lebens-
arbeit und Quartiersmanagement in einem Zuge genannt           situation und Selbsthilfe.
werden, obwohl es sich einerseits um Konzepte und Steu-
erungsinstrumente handelt, andererseits aber sozialpäda-     – Die Nutzung personaler und sozialräumlicher Res-
gogische Methoden bzw. Verfahren zur Stadtentwicklung          sourcen spielt bei der Hilfegestaltung eine wesentliche
gemeint sind. Allen Begriffen gemeinsam ist jedoch das         Rolle. Das Augenmerk liegt auf den Stärken der Men-
Anliegen, die Lebenswelten von Menschen positiv zu             schen und einer Wertschätzung ihnen gegenüber.
gestalten, sie einzubinden und zu befähigen, selbst
aktiv zu werden.                                             – Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichs-
Dazu gehört auch die Einbindung unterschiedlicher Akteu-       übergreifend angelegt – im Sinne integrativen Han-
re von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und sozialer Arbeit     delns. Das fachliche Augenmerk gilt Vorhaben und
im Sinne einer Netzwerkarbeit. Verbindendes Ziel ist eine      Themen, die verschiedene Gruppierungen anregen, sich
Verbesserung der Lebensqualität.                               zu beteiligen. Ein schablonenhafter Blick auf eine vorab
                                                               definierte Zielgruppe/Randgruppe ist zu vermeiden.
In seinen Beiträgen zur „Sozialraumorientierung als Fach-
konzept“ beschreibt Prof. Dr. Wolfgang Hinte fünf leitende   – Vernetzung und Integration der verschiedenen (Sozi-
methodische Prinzipien, die der Grundhaltung verpflichtet      alen) Dienste sind Grundlage funktionierender Fallarbeit
sind, nicht die Menschen durch pädagogische Intension zu       und zur gemeinsamen Entwicklung von Problemlö-
verändern, sondern vielmehr „Arrangements zu kreieren,         sungsstrategien. Einengungen auf Zuständigkeitsberei-
die dazu beitragen, dass Menschen in prekären Lebenssitu-      che sind zu vermeiden.
ationen zurechtkommen“. Im Gegensatz zum steuerungs-
orientiertem Ansatz der Kommunen, handelt es sich beim       Mit Blick auf diese Prinzipien wird deutlich, dass sich freie
Fachkonzept „um ein hochgradig personengebundenes            Träger nicht auf eine geografische Regionalisierung ihrer
Konzept” (Hinte 2009), das nicht beim Raum als Fläche        Dienste bzw. die Standorte ihrer Immobilien beschränken
sondern beim Eigeninteresse und Willen der Menschen          dürfen, wenn z.B. eine gute Jugendhilfe-Landschaft auf-
ansetzt. Damit knüpft das Konzept an den Wurzeln der         gebaut werden soll.

                                                                                                       BLICKPUNKTE | 9
Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
Im besonderen Focus                                                                                      Nicole Anger
                                                                                   Referentin Frühkindliche Bildung, Jugendhilfe

         Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe
         Querschnittsaufgabe für Alle! Auf dem Weg zur Verbesserung der Lebensbedingungen, zur Ermöglichung der
         Chancengleichheit und sozialen Teilhabe aller jungen Menschen ist Sozialraumorientierung ein Baustein, ohne den
         Handlungskonzepte nicht denkbar sind.

         Es ist deutlich, dass mit dem Begriff Sozialraumorien-         recht empfinden. Sie sind Expert*innen in eigener Sache.
         tierung ein weites Feld der Kinder- und Jugendhilfe ge-        Ungerecht ist für sie z.B., wenn sie bei der Planung neuer
         meint ist und eine große Herausforderung darstellt.            Verkehrswege nicht befragt werden, ihr Schulstandort
         Und die Planungsansätze dafür haben dann ihren Sinn,           geschlossen wird oder Sportanlagen verfallen, wenn Frei-
         wenn die Bedarfe an den vielfältigen Bedürfnissen und          zeitangebote nicht mehr gefördert werden oder keine
         Interessen von jungen Menschen und ihren Familien aus-         Dialogmöglichkeiten mit Politik vorgehalten werden.
         gerichtet werden. Basis dafür sind sowohl die subjekti-
         ven als auch die kollektiven Lebenswelten der jungen           Sichtbar wird, dass nicht nur auf die der Kinder- und Jugend-
         Menschen. Dies wiederum erfordert nicht nur einen Pla-         hilfe eigene Bereiche abzuzielen ist, sondern hier der Blick
         nungsansatz, der Zahlen und Eckwerte ausweist, sondern         auf alle den Lebensraum prägenden Gegebenheiten zu rich-
         die Meinung und Vorstellungen von jungen Menschen              ten ist und alle Gestalter*innen mit einzubeziehen sind.
         aufnimmt, Beteiligung beinhaltet und alle aktiv in die Pla-
         nung einbezieht. Es wird nicht für junge Menschen, son-        Jugendgerecht ist folglich, wenn Jugendliche (Frei-)Räu-
         dern mit jungen Menschen geplant. Sozialraumorientie-          me in den Städten und Gemeinden erhalten, wenn Jugend
         rung ermöglicht, dass junge Menschen ihre Lebensbedin-         (kommunale) Politik mitgestalten kann, wenn sich institu-
         gungen selbst mitgestalten können. Dazu gehört auch,           tionsübergreifende Netzwerke mit und für die Anliegen
         dass sie sich nicht in politisch vordefinierten Sozialräumen   junger Menschen etablieren. Jugendgerecht ist also, jun-
         bewegen, sondern dass sie ihre Sozialräume selbst bestim-      gen Menschen eine echte Partizipation zu ermöglichen
         men.                                                           und sie an allen sie betreffenden Planungen und Entschei-
                                                                        dungen zu beteiligen.
         Betrachtet man die Kinder- und Jugendphasen als eigen-
         ständige Lebensphasen mit all ihren spezifischen Heraus-        Viele Bereiche, welche junge Menschen direkt betreffen
         forderungen, so ist eine Einbeziehung von Kindern und           (bspw. Freizeitangebote, Kinder- und Jugendarbeit, Bil-
         Jugendlichen in die sozialraumorientierte Kinder- und Ju-       dung und Ausbildung, Öffentlicher Nahverkehr, Bau- und
         gendhilfe nur gerecht und unabdingbar. Junge Menschen           Infrastrukturplanung) werden kommunal beraten und ent-
         wissen selbst sehr gut, was sie als gerecht oder als unge-      schieden. Dabei müssen die Bedarfe aller Altersgruppen
03.756
                                                                                                        abgebildet werden, also
55.655
                                                                                                        eben auch die der jungen
14.697                                                                                                  Menschen. Wenn es also
17.176            BEVÖLKERUNGSPROGNOSE
                    BEVÖLKERUNGSPROGNOSE   DER
                                             DER
                                               BIS
                                                 BIS
                                                   25-
                                           Diagramm9tel                                                 gelingt, in den Planungen
                                                                                                        die entsprechenden Ziel-
         500.000    25-JÄHRIGEN
                      JÄHRIGEN ININSACHSEN-ANHALT
                                    SACHSEN-ANHALT                                                      gruppen mitzunehmen,
                                                                                                        dann gelingt es auch, die
         400.0000-3 Jahre    3-6 Jahre  2015
                                        6-10 Jahre
                                                 2020 10-16
                                                        2025Jahre2030 16-19 Jahre     19-25 Jahre       Lebensqualität und Ver-
                                                                                                        bundenheit vor Ort zu er-
                                                                                                  114.697
                                                                                                  114.697
                                                                                                  113.822
                61.010 113.822

                                                                                         55.655 110.284
                                                                       110.284
                                                                      109.438
                                                                      109.438

         300.000
                                                                      106.507
                        106.507

                                                                     103.756

                                                                                                103.756
                       102.981

                                                                     102.981
              53.152 101.469

                                                                                                101.469

                                                                                                        höhen.
         200.000                                                                                        Diese so genannten Hal-
                  72.244
                  72.244
                 70.303

                 70.303

                 68.611

                                                               68.611

                                                                                                        tepunkte wirken einer
                                                                                     61.010
                                                             55.655
                                                            54.384
                                                            54.384
              53.309
              53.309
              53.152

              52.494

              52.494

                                                            51.332
              51.332
              51.178

                                                            51.178
             48.700

             48.700
             47.050

                                                           47.050

                                                                                                        Abwanderung         junger
            42.814

                                                          42.814
            42.098

                                                                                  42.098

         100.000
            39.960

                                                          39.960

                                                                                                        Menschen aus den Regi-
               -                                                                                        onen entgegen, weil die
                           2015                2020                2025                 2030            Region den jungen Men-
                                                                                                        schen eigene Gestaltungs-
               0-3 Jahre 3-6 Jahre 6-10 Jahre 10-16 Jahre 16-19 Jahre 19-25 Jahre Gesamt                möglichkeiten und Pers-
             0-3 JAHRE
                    2015    3-6 JAHRE   2020
                                         6-10 JAHRE    10-16 JAHRE
                                                               2025     16-19 JAHRE    2030
                                                                                        19-25 JAHRE
                                                                                                        pektiven aufzeigt.

         10 | BLICKPUNKTE
Rolf Hanselmann
            Paritätisches Jugendwerk Sachsen-Anhalt                           Im besonderen Focus

Sozialraumorientierte Kinder- und Jugendhilfe/-arbeit
muss als ein zentrales Element vor Ort fest verankert sein.
Wer folglich kommunal erfolgreich agieren will, muss
die Vernetzung der sozialraumorientierten Kinder- und
Jugendhilfe/-arbeit innerhalb und vor allem außerhalb der
Kinder- und Jugendhilfe befördern. Die Zusammenarbeit
mit Handlungsfeldern wie Arbeit, Bildung, Gesundheit,
Stadt-/ Gemeindeplanung, Soziales, Wohnen muss aufge-
nommen und verstetigt werden.

Diese Kinder- und Jugendpolitik vor Ort sollte partner-
schaftlich mit verschiedenen Akteur*innen ausgestaltet
und weiterentwickelt werden. Insbesondere Politik und
Verwaltung müssen sich dieser strategischen Verantwor-
tung bewusst werden. Hier bedarf es verlässlicher Bünd-
nisse. Die Kinder- und Jugendhilfe kann diesen Prozess
nicht allein umsetzen, sie kann aber den notwendigen
Austausch initiieren, Expertise anbieten, jugendpoli-
tische Strukturen stärken, Ideen streuen, Verbündete
suchen und vernetzen. Hierzu müssen die Prozesse of-
fen und transparent sein. Bestenfalls sind alle betroffenen
Akteur*innen bereits in die Analyse mit einbezogen, auch
um gemeinsam ihre Rollen zu definieren.
Dabei kommt der Kinder- und Jugendhilfe die wichtige
Aufgabe zu, junge Menschen zu ermutigen, von ihren Be-
teiligungsrechten Gebrauch zu machen, sich einzumischen
und Position zu beziehen.

Veränderungsprozesse leben vom Engagement vor Ort.
Damit sozialraumorientierte Kinder- und Jugendhilfe ge-
recht gestaltet werden kann, muss sie als Querschnittsauf-
gabe und als Gesellschaftspolitik begriffen werden. Ihre
Prozesse, die einer stetigen Veränderung und Weiterkon-
zeptionierung unterliegen, sind zu systematisieren. Sozial-
raumorientierung ist anhand der sozialen Realitäten stetig
zu reflektieren und fortzuschrieben. Übergreifende Prozes-    rücksichtigen. Diskussionsschwerpunkte waren insbeson-
se der Sozialraumorientierung wirken dann, wenn diesen        dere die neuen Herausforderungen für das gesellschaft-
alle beteiligten Akteur*innen offen gegenüberstehen und       liche Engagement in den Orten und Gemeinden und der
die Zielgruppen ernsthaft beteiligt werden.                   anerkannte Erfolgsfaktor „Familienfreundlichkeit“. Jetzt
                                                              gilt es, nicht stehen zu bleiben und abzuwarten, sondern
Die Landesregierung hat hierzu bereits u.a. mit ihren De-     die konkreten Ergebnisse der Werkstätten fortzuschreiben
mografie-Werkstätten vor Jahren begonnen, partizipative       und umzusetzen sowie weitere Werkstätten unter Beteili-
Möglichkeiten zu schaffen. Hierbei wurden regionale Ver-      gung aller in der Region Aktiven fortzuführen. Partizipation
ortungen genutzt, um die spezifischen Gegebenheiten vor       ist ein Prozess, genau wie Sozialraumorientierung und lebt
Ort (geografische Lage, Bevölkerungsstruktur, etc.) zu be-    von seiner Veränderung.

                                                                                                      BLICKPUNKTE | 11
Im besonderen Focus                                                                                   Ralf Hattermann
                                                                           Referent Hilfen für Menschen mit Behinderung

Der inklusive Sozialraum – das große Ziel?
Sozialraumorientierung für Menschen mit Beeinträchtigungen ist keine Mode, sondern ein Trend, der gemeinsam
mit Selbstbestimmung und Teilhabe gesehen werden muss. Dieser Trend findet auch seinen Niederschlag in den
neuen gesetzlichen Regelungen des Bundesteilhabegesetzes.

Im Bereich der Arbeit für Menschen mit Beeinträchtigungen       Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
sprechen wir seit Jahren von der Notwendigkeit, die Unter-      Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
stützungssysteme auf den Sozialraum auszurichten. Das           hat bereits im Jahr 2001 den Grundstein gelegt für ein
Eckpunktepapier des Deutschen Vereins zur Sozialraum-           verändertes Verständnis von Behinderung. Im Kern des-
orientierung (vgl. Deutscher Verein […] 2011: Eckpunkte         sen steht der Teilhabebegriff und nicht vordergründig das
des Deutschen Vereins für einen inklusiven Sozialraum) hat      Defizit (die Behinderung). Behinderungen erschweren die
hier neben anderen Papieren und Positionen, wie z.B. auch       Teilhabe maßgeblich. Demnach sind „Beeinträchtigungen
vom Paritätischen Gesamtverband, eine fundierte Basis           der Teilhabe […] Probleme, die ein Mensch beim Einbezo-
zur Entwicklung eines inklusiven Sozialraums gelegt. Diese      gensein in eine Lebenssituation erlebt“ (DIMDI 2005: ICF –
Richtungsweisung auf den Sozialraum wird untersetzt durch       Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behin-
Absichtserklärungen zur De-Institutionalisierung, zur Per-      derung und Gesundheit. World Health Organization. Genf,
sonenzentrierung und dem übergeordneten Ziel, den Weg           S. 16). Dieses Einbezogensein bezieht sich auf verschiedene
in eine inklusive Gesellschaft zu beschreiten. Dabei sind wir   Lebensbereiche, wie Lernen, Kommunikation, Mobilität,
in den letzten Jahren verstärkt an einen Punkt gekommen,        Selbstversorgung, Häusliches Leben, Interaktionen und
wo Begriffe wie „Inklusion“ und „Sozialraumorientierung“        Beziehungen oder soziales und staatsbürgerliches Leben.
gesellschafts- und sozialpolitisch inflationär gebraucht wer-   Der mit der ICF verbundene personzentrierte Fokus öffnet
den. Gleichermaßen sind diese Entwicklungen punktuell           den Blick auf das individuelle Lebensumfeld einer Person,
längst angekommen auf der Seite der Sozialwirtschaft, der       d.h. auf den Sozialraum. Auch für Menschen mit Beein-
freien Wohlfahrtspflege inklusive den Leistungserbringern       trächtigungen kombiniert der Sozialraum räumliche, sozia-
in der Eingliederungshilfe.                                     le, gesellschaftliche und politische Dimensionen.
Der inklusive Sozialraum hat sich als Schlagwort manifes-       Das Sozialgesetzbuch Neun (SGB IX) hat 2001 ebenso be-
tiert im Handlungsfeld der Behindertenhilfe. Dabei wird         gonnen die Einschränkung der Teilhabe zu definieren. Al-
es vorrangig mit Teilhabezielen von „Menschen mit Be-           lerdings ist das SGB IX weit nicht so konsequent daher ge-
einträchtigungen“ in Verbindung gesetzt. Das ist natürlich      kommen wie die ICF. Beide Richtungsweisungen, ICF und
richtig. Gleichwohl wissen wir (in der Hoffnung, dass das       SGB IX, haben allerdings nur langsame bis hin zu keinerlei
viele sind), dass das Konzept der sozialen Inklusion nicht im   globale Auswirkungen für die sogenannte Behindertenhil-
Besonderen und ausschließlich auf Menschen mit Beein-           fe gehabt. Insbesondere in der Eingliederungshilfe blieben
trächtigungen ausgerichtet ist. Inklusion ist eine gesamt-      die Verfahren und Instrumente defizitorientiert. Die Maß-
gesellschaftliche Aufgabe! Das muss leider immer noch           gabe der Teilhabe und Selbstbestimmung wurde dann mit
erwähnt werden. Die Ausrichtung auf den Sozialraum ist          der 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention
folgerichtig auf alle Menschen gerichtet. An dieser Stelle      (UN-BRK) auf grundsätzlich feste Säulen gestellt. Neben
soll dennoch im Rahmen der Betrachtung von Entwicklun-          der Reflexion des Behinderungsverständnisses hat die UN-
gen und Trends der Fokus auf den Unterstützungssystemen         BRK mit der Leitidee der Inklusion begonnen, Autonomie,
für Menschen mit Beeinträchtigungen liegen.                     Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behin-
Aber nun erstmal der Reihe nach. Das Leben von Menschen         derungen zu stärken. Die volle und wirksame Teilhabe und
mit Beeinträchtigungen wurde in den letzten ca. 20 Jahren       die uneingeschränkte Einbeziehung in die Gesellschaft sind
durch verschiedene Faktoren geprägt – ICF, SGB IX, UN-BRK       Kernprinzipien der UN-BRK. Für die Weiterentwicklung der
und mit dem Ergebnis des langjährigen Reformprozesses           Eingliederungshilfe stehen mit der UN-BRK zunehmend
der Eingliederungshilfe, dem Bundesteilhabegesetz (BTHG).       die einrichtungsbezogenen Unterstützungsleistungen,
Die Auswirkungen dieser Faktoren auf die Praxis der Behin-      auf dem Prüfstand. Demzufolge ist Personzentrierung die
dertenhilfe als Form institutioneller Hilfen sind in weiten     logische Konsequenz aus der UN-BRK. Ihr Ziel ist nicht die
Teilen differenzierter zu betrachten. ICF und UN-BRK im         Vereinzelung der Person mit Beeinträchtigung, sondern sei-
Besonderen sind hier weit weg von spürbaren Wirkungen.          ne/ihre selbstbestimmte Lebensführung im individuellen
Der aktuellste Schritt, die Umsetzung des Bundesteilhabe-       Lebensumfeld, dem Sozialraum. Auch diese Entwicklungen
gesetzes, hat ja gerade erst begonnen. Die Internationale       sind in der praktischen Umsetzung kein Selbstläufer, ver-

12 | BLICKPUNKTE
Im besonderen Focus

langen sie doch nach einem Gemeinwesen, das auch Men-           Budget. Zum anderen geben bekanntermaßen diese regio-
schen mit Beeinträchtigungen einbezieht und ihre Teilhabe       nalen Lebensräume mit ihren unterschiedlichen infrastruk-
fördert. Die Realität sieht vielerorts noch anders aus. Der     turellen aber auch finanziellen Ressourcen, nicht zwangs-
Paradigmenwechsel von einrichtungsbezogenen hin zu              läufig gleiche bzw. ähnliche Lebensqualitäten her. Das ist
personzentrierten Unterstützungsleistungen betritt nun-         sicherlich bundesweit zu beobachten. Für Sachsen-Anhalt
mehr mit dem Bundesteilhabegesetz eine neue Stufe von           glauben wir in der Regel diese Tatsachen bereits realistisch
Absichtserklärungen aus dem politischen Raum.                   einschätzen zu können, frei nach dem Motto: Magdeburg,
                                                                Halle, Dessau kein Problem, aber auf dem Lande, in der
Auch die Sozialraumorientierung soll mit dem BTHG               Altmark …, oh. Das gilt natürlich wieder für alle Menschen.
verstärkt in den Fokus rücken. Dabei können wir uns mit         Jedoch lässt sich hier die Einschätzung nicht vermeiden,
Sicherheit nicht ausschließlich auf die heilenden Wirkungen     dass sich gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen
des Sozialraumes und deren inklusive Ausgestaltung verlas-      durch verschiedene Faktoren, wie demographische Ent-
sen. Bisher fehlt gerade im politischen Raum ein gemeinsa-      wicklungen oder Abwanderungen aus dem ländlichen
mes Verständnis von Inklusion und sozialraumorientierter        Raum die Teilhabe signifikant erschweren könnte. Eine wei-
Arbeit. Erschwerend kommt hinzu, dass fachliche Überle-         tere Herausforderung bei der Schaffung gleichberechtigter
gungen immer wieder auf Finanzierungsvorbehalte treffen.        Zugänge und Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigun-
Das BTHG gibt trotz langjähriger und immer noch hörbarer        gen und einer entsprechender Sozialraumorientierung
Rufe leider keine bundeseinheitlichen Verfahren und Inst-       stellen für den Bereich der gesetzlich garantierten Unter-
rumenten her. Das wäre so wichtig, denn diese Rahmenbe-         stützungsleistungen die unterschiedlichen sozial- und
dingungen prägen in der Folge Lebensbedingungen, die            verwaltungsrechtlichen Zuordnungen dar. In den meisten
über Lebensqualität entscheiden. Das trifft besonders die       Bundesländern ist die Eingliederungshilfe bereits kommu-
Eingliederungshilfe, die wir trotz Orientierung an Inklusi-     nalisiert. In Sachsen-Anhalt ist das nicht der Fall, hier haben
on, Teilhabe und Personzentrierung dann künftig einfach         wir nach wie vor einen überörtlichen Sozialhilfeträger (die
mal „Eingliederungshilfe-neu“ nennen werden. Die ein-           Sozialagentur) und künftig dann einen Träger der Einglie-
fache Um-Etikettierung von Ideen, bei einem weitgehen-          derungshilfe. In Anbetracht von oft fehlenden finanziellen
dem Beibehalten der alten Systeme kann nicht die Lösung         Ressourcen in den Kommunen und z.T. höchst unterschied-
sein, denn in der Praxis der Arbeit mit und für Menschen        licher Rahmenbedingungen können wir in Sachsen-Anhalt
mit Beeinträchtigungen gibt es theoriegeleitet, vor allem       wohl eher froh sein, dass die Eingliederungshilfe noch nicht
aber auch haltungsgeleitet einiges Potential an wirklichem      kommunalisiert ist. Fachlich gesehen ist Kommunalisierung
Willen zum fachlichen und in der Folge gesellschaftlichen       der Hilfen und Leistungen ein richtiger Schritt.
Wandel.                                                         Mit dem Ziel, einen Teilhabeprozess erfolgreich zu gestal-
                                                                ten, können eine verstärkte Personzentrierung und die Ver-
Die Ausrichtung auf Personzentrierung und damit ver-            besserung der Steuerung von Unterstützungsprozessen auf
bunden auf Teilhabe und Selbstbestimmung lässt nur              allen Ebenen am wirksamsten im Sozialraum des Menschen
folgerichtig erscheinen, dass das Einbezogensein und die        mit Beeinträchtigungen erfolgen. Trotz unserer überört-
ggf. notwendigen Unterstützungsleistungen kleinteilig am        lichen Strukturen gibt es entsprechende Ansätze. Die Ver-
besten wirken, nämlich im Sozialraum, im Umfeld der eige-       ortung eines örtlichen Teilhabemanagements in Sachsen-
nen Kommune. Für die Schaffung von inklusiven Strukturen        Anhalt, angedockt bei den Landkreisen, ist hier ein Beispiel.
und barrierearmen Bedingungen steht die Kommune als             Vorausgesetzt die örtlichen Teilhabemanager*innen sind
regionaler und sozialer Lebensraum somit vor großen He-         nicht nur der Umsetzung von regionalen Aktionsplänen zur
rausforderungen. Zum einen haben wir mit der kommuna-           UN-BRK verpflichtet, besteht hier eine Chance, sämtliche
len Selbstverwaltung unterschiedliche Bedingungen und           Teilhabemöglichkeiten, aber auch Teilhabekompetenzen
Ressourcen, von denen Menschen mit Beeinträchtigungen           zusammenzubringen und sozialraumbezogen mit den Be-
im besten Fall profitieren können, im schlechtesten Fall aber   dingungen vor Ort zu verknüpfen. Zu diesem Lebensraum
benachteiligt werden könnten. In Sachsen-Anhalt führen          gehören gleichermaßen Menschen mit Behinderungen,
z.B. im Rahmen der Eingliederungshilfe diese Unterschied-       aber auch die Menschen und Organisationen, die unterstüt-
lichkeiten oft zu Benachteiligungen, z.B. beim Persönlichen     zen (Leistungserbringer) .

  Fazit: Der Sozialraum ist ein wichtiger Faktor bei der Schaffung und Verbesserung von Teilhabe und Selbstbestimmung
  von Menschen mit Beeinträchtigungen. Der inklusive Sozialraum beschreibt zum einen den Weg, gleichzeitig ist es
  politisch ein großes Ziel. Ein Selbstläufer ist aber auch die Orientierung auf den Sozialraum keinesfalls. Dazu braucht
  es Ressourcen in den Kommunen und einen politischen Willen, der dafür die Bedingungen schafft.

                                                                                                          BLICKPUNKTE | 13
Im besonderen Focus                                                                                    Marcel Kabel
                                                                                        Referent Altenhilfe und Pflege

Die Wiederentdeckung der Rolle der Kommunen
in der Pflege
Sprach der ehemalige Bundesminister Norbert Blüm 1995            ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versor-
im Zusammenhang mit der Etablierung der Pflegeversi-             gungsstruktur übertragen.
cherung von einer Sozialpolitik aus der Nähe (Rede Nor-
bert Blüms, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung,         Die Verlagerung der Verantwortlichkeiten auf andere In-
bei der Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes;          stanzen und das Fehlen formeller Eingriffsmöglichkeiten
in: Das Parlament, 44/Nr. 12- 13; S. 2, 1995), scheint seitdem   mögen zu einer Fehlauffassung seitens der Kommunen
gerade das lokale Verantwortungs- und Planungsbewusst-           geführt haben, die sich in einer scheinbaren Zurückhal-
sein für die Altenhilfe und Pflege zunehmend verloren            tung bzw. einem Zurückziehen aus der Thematik Alten-
gegangen zu sein. Das Pflegestärkungsgesetz III versucht         pflege widerspiegelte. Mittlerweile ist die Infrastruktur-
darauf zu reagieren. Was sind die Hintergründe?                  entwicklung im von Marktlogik gekennzeichneten Pflege-
                                                                 bereich stark von privaten Investorenverhalten geprägt.
Den Kommunen ist in Deutschland auf Basis des Födera-            Resultat sind regional sehr unterschiedlich ausgeprägte
len Systems und des Subsidiaritätsprinzips auch bezüglich        Versorgungsstrukturen, die nicht hinreichend mit diffe-
älterer und pflegebedürftiger Menschen eine klare Ver-           renter Ausprägung von Pflegebedürftigkeit und Prävalenz
antwortlichkeit zugewiesen, die sich vor allem aus dem           demenzieller Erkrankungen erklärbar sind und die nun
Grundgesetz speist. Demnach muss den Kommunen „das               auf die Wucht der Folgen der demographischen Entwick-
Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der ört-          lung treffen.
lichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener
Verantwortung zu regeln“ (Grundgesetz Artikel 28 Ab-             Trotz der vermeintlich beschränkten Kompetenz und Ver-
satz 2). Vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips als      antwortungsmöglichkeit rückte die Pflegethematik in den
tragendes Element unserer politischen und gesellschaft-          letzten Jahren so wieder verstärkt in das Interessenfeld der
lichen Ordnung kann daraus die den Kommunen als                  Kommunen. Neben den finanziellen Auswirkungen durch
kleinste politische Einheiten („örtliche Träger“) obliegen-      steigende Ausgaben für die Hilfe zur Pflege mögen es ins-
de Verantwortung zur Gestaltung der Lebensverhältnisse           besondere schlichtweg die zunehmende gesellschaftliche
als Pflichtaufgabe abgeleitet werden (vgl. Rohden/Villard        Relevanz, konkret eben die demographischen Entwicklun-
2010:51). Sie sind somit auch zuständig für die soziale und      gen verbunden mit den wachsenden Bedarfszahlen und
infrastrukturelle Daseinsvorsorge der Menschen vor Ort,          Bedarfen der hilfebedürftigen Personen und ihrer Angehö-
unabhängig von deren Alter oder Gesundheitszustand,              rigen sein, die dies bedingen. Das Alter wird gesellschaft-
dies gilt somit auch für die Infrastrukturentwicklung im         lich öffentlich.
Bereich der ambulanten und stationären Pflege.
                                                                 Es spricht nun einiges dafür, dass die politischen, infra-
Mit dem Pflegeversicherungsgesetz wurde die Zulassung            strukturellen und administrativen Voraussetzungen für
von Einrichtungen und Diensten jedoch Aufgabe der                die Bewältigung der Effekte des demografischen Wandels
Pflegekassen. Zudem wurden diese mit dem Auftrag der             eben dort geschaffen und angepasst werden, wo sie direkt
Gewährleistung der pflegerischen Versorgung (Sicherstel-         auf die Situation und Lebensqualität wirken (vgl. Naegele
lungsauftrag § 12, 69 SGB XI) sowie der Verantwortlichkeit       2010:98). Gelebt und gepflegt wird vor Ort und auch die
für die Qualitätssicherung (§ 112 SGB XI) ausgestattet. Er-      Kultur einer gegenseitigen Unterstützung ist oft eine Frage
scheint die Verantwortlichkeit der Pflegekassen aufgrund         der lokalen Kultur – die durch kommunale Politik beein-
der weit reichenden Zuschreibungen im SGB XI mittler-            flusst werden kann (vgl. Klie 2014:217). Die auf Bundes-
weile oft als umfassend, sind im § 8 SGB XI als Koopera-         ebene geregelte Pflegeversicherung denkt vorwiegend
tionspartner zur Sicherstellung einer leistungsfähigen,          vom Eintritt des Versicherungsfalles her. Im kommunalen
regional gegliederten, ortsnahen und aufeinander abge-           Raum können hingegen umfassender und bereits vor-
stimmten ambulanten und stationären pflegerischen Ver-           ab Bedarfe und Probleme erkannt und ggf. Maßnahmen
sorgung der Bevölkerung neben den Pflegekassen die Län-          zur Behebung eingeleitet werden. Gerade aufgrund ihrer
der, die Kommunen und die Pflegeeinrichtungen benannt            Kenntnisse und ihrer originären Zuständigkeiten sind die
(vgl. § 8 SGB XI). Die Bundesländer werden auch im § 9 SGB       Kommunen gut geeignet, in diesem wichtigen Feld der
XI in den Blick genommen, so wird diesen die Verantwor-          Versorgung der bzw. „ihrer“ Bevölkerung eine stärkere
tung zur Sicherung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig           Rolle zu übernehmen.

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