Sozialraumorientierung - ein Megatrend - BLICKPUNKTE 02|17 - Der Paritätische Sachsen-Anhalt
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BLICKPUNKTE 02|17 Sozialraumorientierung – ein Megatrend DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND LANDESVERBAND SACHSEN-ANHALT e.V. | www.paritaet-lsa.de
Inhalt BLICKPUNKTE 02|17 Sozialraumorientierung – ein Megatrend DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND LANDESVERBAND SACHSEN-ANHALT e.V. | www.paritaet-lsa.de Editorial 3 Mega-Trend Sozialraumorientierung Trends in der Sozialwirtschaft 4 Der Sozialraum als Ort der Teilhabe und Mitbestimmung 6 Regional denken – lokal steuern 8 Zurück zu den Wurzeln – Sozialraumorientierung als Fachkonzept Sozialer Arbeit 9 Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe 10 Der inklusive Sozialraum – das große Ziel? 12 Die Wiederentdeckung der Rolle der Kommunen in der Pflege 14 Wir sind nah’ dran! Beratungsstellen als „Seismographen“ für die Lebenssituation im Sozialraum 16 Älter werden im Stadtteil – Eine Herausforderung für den Sozialraum in der Landeshauptstadt 18 Von kommunaler Sozialpolitik zu sozialer Kommunalpolitik 19 Lösungen finanzieren, bevor das Problem da ist 20 Kinder und Jugendliche im ländlich geprägten Sozialraum 21 Wohnen und Leben im Quartier 22 Vom situativen Agieren zum strategischen Vorgehen 24 Voll im (Mega-) Trend – der Paritätische beim Zukunftskongress der Sozialwirtschaft 26 Ausblick auf die nächste Ausgabe – „Digitalisierung“ 27 Positionen Vielfalt ohne Alternative – eine Kampagne des Gesamtverbandes gegen rechte Demagogen 28 Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) in Sachsen- Anhalt 29 Die Pflegestärkungsgesetze – Versuch eines ersten Fazits 30 Wieder nur kleine Schritte statt Meilensteinen? 32 Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – Novelle des SGB VIII ausgesetzt 33 Der Paritätische fordert den Aufbau eines „Sozialen Arbeitsmarktes“ 34 Verfassungsrechtlich bedenklich – Verschärfung des Asylrechts 35 Pflegende Angehörige stärken! 36 Beratungsstellen – Steigende Eigenanteile von Trägern sind zur Selbstverständlichkeit geworden 37 Agentur zur Vermittlung und zum Aufbau zur Unterstützung im Alltag 38 Bundestag beschließt Pflegeberufegesetz 39 Umsteuern: Armut stoppen, Zukunft schaffen 40 Informationen Präventionsgesetz – Veranstaltungsankündigung 42 Wir müssen reden. Junge Selbsthilfe in Sachsen-Anhalt 43 Neues Gesicht im Landesverband, Social Media Einsatz 44 Verbesserter Schutz für Stalkingopfer 45 Chancen und Grenzen der Präventionsarbeit im Fußball 46 Paritätische Jobbörse 47 Zukunftsfähige Organisationsentwicklung – worauf wird es ankommen? 48 Wie stehts? Kinder- und Jugendrechte , Netzwerk gegen Kinderarmut 50 Controlling in Sozialunternehmen 51 Aus den Regionen Region Mitte-West 52 Region Nord 54 Region Mitte-Ost 56 Region Süd 58 Verbandsleben „Mit Sicherheit gut ankommen“ 59 Mit sozialen Partnerschaften Brücken bauen! 60 Nachruf 63
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt Vorstandsvorsitzender Editorial Liebe Mitglieder, sehr geehrte Leserinnen und Leser, der von mir geschätzte polnische Soziologe Zygmunt nen. Nun aber bekommt das Thema vor dem Hintergrund Bauman (er ist im Januar 91jährig verstorben) hat sich Zeit zunehmender kommunaler Steuerung von Leistungen und seines Lebens mit der Frage beschäftigt, wie im 20. Jahr- einem neuen Selbstverständnis der Kommunen eine neue hundert das Unmaß an Gewalt und Gräueln, wie sie ins- und eine andere Dynamik. Auch hierdurch verändert sich besondere die Nazis verbreitet haben, zu erklären sei. Sein Zug um Zug das Verhältnis zwischen Kommunen und Frei- zutiefst humanistisches Verständnis von einer Welt ohne er Wohlfahrtspflege. Das Subsidiaritätsprinzip, das freien Verletzung der Menschlichkeit gipfelte in der Erkenntnis, Trägern mit ihren Leistungen einen Vorrang vor öffentli- dass – trotz allem – Wissen eine Voraussetzung sei (bzw. chen Angeboten einräumt, wird ausgehöhlt. Kommunen bleibe), damit Menschen nicht Opfer werden. Wolle man erbringen selbst Dienstleistungen und sie beziehen, mehr an der Welt arbeiten (statt von ihr bearbeitet, also Opfer als früher, auch Bürger*innen mit ein. Die Orientierung an gesellschaftlicher Prozesse, zu werden), müsse man wissen, den Lebensbedingungen der Menschen in unterschiedli- wie sie funktioniert. chen Sozialräumen und die Sicherung der Daseinsvorsorge auch in ländlichen Regionen beginnen stärker ins Bewusst- Bei Prozessen wie der Individualisierung, der Urbanisierung sein und Handeln von Kommunen zu rücken. (und der Abkoppelung ländlicher Räume), der Mobilität und dem lebenslangen Lernen handelt es sich um gesell- Wo ist da künftig unser Platz? Sozialraumorientierung wird schaftliche Prozesse, die über Politik, Wirtschaft, Kultur sowohl von den Kommunen als auch von der Freien Wohl- und Konsum auf jede und jeden einwirken, Gewohntes „auf fahrtspflege als Handlungskonzept benannt – allerdings den Kopf“ stellen, Hergebrachtes entwerten – und uns zu aus unterschiedlichen Perspektiven und mit sehr verschie- „bearbeiten“ drohen. Menschen fühlen sich ausgeliefert, dener Ausrichtung. Während Sozialraumorientierung für wehrlos, ohne Gestaltungsmacht, vermitteln uns immer die örtlichen Träger in erster Linie ein Steuerungskonzept wieder aktuelle Zeitdiagnosen. für Planungsprozesse darstellt (d.h. unter Umständen be- deutet, dass Menschen behördlich „überplant“ und sie Auch in der Freien Wohlfahrtspflege und der Sozialwirt- „bearbeitet“ werden), steht für die freien Träger Sozial- schaft sind solche Wahrnehmungen und Einschätzungen raumorientierung als Fachkonzept der Sozialen Arbeit mit nicht unbekannt, auch hier zeichnen sich diese Trends ab. methodischen Prinzipien im Vordergrund: Es geht darum, Mit Zygmunt Bauman ist es ist auch hier wichtig, solche die Lebenswelt der Menschen so (mit) zu gestalten, dass Entwicklungen (auch als [Mega-] „Trends“ bezeichnet) früh- sie auch in schwierigen Lebenssituation zurechtkommen. zeitig zu identifizieren, um sie dadurch besser gestalten Dazu gehören Prinzipien wie Ressourcenorientierung, und sich auf mögliche Auswirkungen einstellen zu können. Förderung der Teilhabe, Unterstützung bei der Lebensbe- Wir müssen sie also verstehen lernen, uns Wissen über ihr wältigung, integriertes Handeln und Kooperation. Es ist Funktionieren aneignen. Daher hat sich der Landesvor- daher unerlässlich, durch unsere stärkere Einbindung (und stand (gemeinsam mit der Landesgeschäftsführung und Einmischung) in (Sozial-)Planungsprozesse vor Ort dafür den Führungskräften des Verbandes) im Rahmen seiner zu sorgen, dass – mit Bauman – das Maß an „Bearbeitung“ diesjährigen Klausur intensiv mit relevanten Entwicklungs- so gering wie möglich gehalten wird. themen befasst und bewertet, welche Auswirkungen diese auf unsere verbandliche Arbeit haben könn(t)en. Digitali- Die Beiträge in diesen BLICKPUNKTEN sollen in den viel- sierung, Wirkungsorientierung, die Emanzipation unserer fältigen Klärungsprozessen, denen wir uns stellen müssen, Zielgruppen und Sozialraumorientierung standen dabei eine erste Anregung sein, um eine gelingende Arbeit an im Mittelpunkt. Nun wird mit den Erkenntnissen umzuge- der Welt auf der Grundlage von Wissen zu unterstützen – hen und in der Verbandsöffentlichkeit zu diskutieren sein, beim Lesen wünsche ich Ihnen (auch) viel Spaß! welche Handlungs- oder Anpassungsnotwendigkeiten sich daraus ergeben. Ein erster Schritt ist die neue Ausgabe der BLICKPUNKTE, die Sie nun in den Händen halten. Sie widmet sich dem Thema „Sozialraumorientierung“, einem eigentlich nicht neuen „Trend“. Schon vor gut 20 Jahren wurde Sozialraum- orientierung als Konzept der Sozialen Arbeit entwickelt, um Menschen neue Chance zur (gerechteren) Gestaltung Mit besten Grüßen ihrer Lebenswelt und eine umfassendere Teilhabe zu eröff- Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt BLICKPUNKTE | 3
Trends bewegen Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt Vorstandsvorsitzender Trends in der Sozialwirtschaft Wir stehen mitten in einer Vielzahl von Veränderungen. Sie kommen schockartig als folgenschwere Ereignisse „über uns“ oder zeigen sich in (konjunkturellen) Wellen oder als tiefgreifende Veränderungen des ganzen Lebens, wie sie z.B. durch digitale Technologien oder demografische Prozesse hervorgebracht werden. Sie verändern unse- re Arbeit nachhaltig. Aber was bedeutet das für soziale Organisationen, Unternehmen und uns als Verband? e gatrends M Der Vorstand berät sich regelmäßig mit der Geschäftsfüh- Leitthemen wie Individualisierung, Inklusion und ambu- rung und jährlich in einer Klausur mit den Referent*innen lante Versorgung beherrschen die strategischen Überle- und Regionalleiter*innen des Verbandes zu strategischen gungen aller sozialen Dienstleister. Und wir bemerken eine Themen. 2017 widmete sich diese Klausur sog. „Mega- zunehmende Orientierung auf den unmittelbaren Lebens- trends“ in der Sozialwirtschaft und Wohlfahrtspflege. Di- ort, den kommunalen Sozialraum, in dem die sozialen gitale Technologien, durch die Demografie veränderte Angebote gesteuert und gut vernetzt werden müssen, um Zielgruppen, soziale Ausgrenzung, Fachkräftemangel – es den Bedingungen gerecht zu werden und sich dort zeigen- sind Entwicklungen, die unsere Arbeit und Kommunikation den Veränderungen schnell und im Sinne der Menschen verändern. Die Spaltung der Gesellschaft in den Lebens- angemessen anpassen zu können. verhältnissen und Denkweisen (z.B. aufgrund städtischer Zentralisierung und ländlichem Leben am gesellschaft- Um welche „Megatrends“ geht es? lichen Rand) stellt uns und den Sozialstaat insgesamt vor schwierige strukturelle und finanzielle Herausforderungen. Strukturelle Veränderungen in der Wohlfahrtspflege Diese und andere tiefgreifende Entwicklungen üben einen (u.a. die Infragestellung sog. „Privilegien“ der freien evolutionären Druck auf alle Bereiche der Gesellschaft aus Wohlfahrtspflege, wachsende Anforderungen an die Wirt- und werden die Wohlfahrtspflege und die sozialen Unter- schaftlichkeit und die Konkurrenz unter den gemeinnützi- nehmen gravierend verwandeln, wobei keine Prognose gen Anbietern) erfordern eine Öffnung des Verbandes für und kein (Zukunfts-)Szenario Gewissheit verspricht, wie andere sozialwirtschaftliche Partner und zugleich die Bin- diese Prozesse eintreten werden. Deshalb ist es für uns dung neuer sozialer Initiativen als Solidaritätsstiftern. Wir neben der vorausschauenden „Einstellung“ auf solche Ver- müssen uns stärker als Partner im lokalen Wohlfahrtsmix änderungen auch andererseits wichtig, dazu beizutragen, und in der kommunalen Sozialplanung erweisen. Zugleich dass möglichst sozial verträgliche Varianten eintreten. brauchen die Mitglieder mehr Unterstützung der bei Per- 4 | BLICKPUNKTE
Dr. Gabriele Girke Landesgeschäftsführerin Trends bewegen sonal- und Organisationsentwicklung, und auch die Lobby- Die zunehmende Wirkungsorientierung in der Steu- arbeit und Netzwerke müssen immer wieder angepasst erung und Gestaltung der sozialen Angebote erfordert, werden. dass sich Hilfen und Unterstützung nachweislich an der Lebensqualität, am Wohlbefinden der Adressaten, an der Die Digitalisierung der Kommunikation und Arbeits- Inklusion und an den gesellschaftlichen Veränderungen organisation verändert unsere Gesellschaft (in Bezug auf orientieren. Solche Wirkungen müssen gemeinsam durch die politische Teilhabe, die Meinungsbildung, das bürger- Leistungsberechtigte, Leistungsträger und Leistungser- schaftliche Engagement) grundlegend und damit auch die bringer bestimmt werden, einseitig durch Finanziers oder Soziale Arbeit und die sozialen Dienstleistungen besonders sozialen Unternehmens und vorrangig an monetären (öko- nachhaltig. Wir erleben alltäglich, dass Komplexität und nomischen) Gesichtspunkte bestimmte Kriterien können Manipulierbarkeit der Kommunikation zunehmen. Digitali- wir nicht akzeptieren. Auch die Verbandsstrukturen und sierung muss daher zu einem strategischen Führungsthe- Tätigkeiten der Verbandsmitarbeiter*innen sollen an beab- ma werden. Im Kampf um die Deutungshoheit muss sich sichtigten Wirkungen gemessen und ggf. angepasst wer- der Verband an strategischen Überlegungen in Sozialpo- den. litik und Kommunen beteiligen, um Veränderungen und Potenziale zu erkennen und mit unseren Werten zu verbin- Die Emanzipation der Kund*innen erfordern Möglich- den. Wir müssen schnelle und niederschwellige Wege für keiten für mehr selbstbestimmte Entscheidungen der Kommunikation und Vernetzung nutzen. Das bietet auch „Kund*innen“ und führt zu Veränderungen der Angebote Chancen für ein effizientes Wissensmanagement und neue (individualisiert und komplex) und in vielen Bereichen zu Möglichkeiten, unsere Zielgruppen zu erreichen. einem Systemwechsel, dessen Chancen und Gefahren, aber auch Grenzen alle verstehen, in Konzepte umsetzen Echte Versorgungslücken und Veränderungen der öf- und dafür die Möglichkeiten zum Austausch im Verband fentlichen Finanzierung, denn Deckungs- und Tragfähig- nutzen müssen. Mitglieder werden (als Leistungserbringer) keitslücken im sozialen Sicherungssystem sind absehbar. ihr Leistungsspektrum anpassen, mehr Komplexleistungen Wir brauchen die Bereitschaft zur Veränderung der Ange- und Personorientierung umsetzen müssen, und die ge- bote, (selbst-)kritische Standortanalysen, Kooperation statt wohnten Organisationsstrukturen müssen entlang dieser Konkurrenz, Patienten-/Bürgerbeteiligung. Unsere sozialen Veränderungen geprüft und angepasst werden. Angebote müssen als Haltefaktoren in den Regionen ver- standen werden. Regional denken – lokal steuern, mehr Einfluss auf Dort, wo sich „Standardabsenkungen“ abzeichnen, müs- Veränderungen der kommunalen Daseinsvorsorge und sen wir dies vorausschauend berücksichtigen; hier sind Sozialraumorientierung unserer Angebote sind ein weite- „Innovationen“ gefragt. Das Bewusstsein für die Eigenver- rer Trend, dem sich dieses Heft widmet. In den folgenden antwortung als Bürger*in muss auch hier gestärkt werden. Ausgaben der BLICKPUNKTE werden wir uns den vorge- Darüber hinaus muss der Verband politischen Einfluss auf nannten Trends widmen. Veränderungen im Umlagesystem und anderen Finanzie- rungen nehmen. Fehlplanungen in der sozialen Infrastruk- tur können durch uns nur durch Beteiligung an Sozialpla- Die Teilnehmer*innen der diesjährigen Klausur waren sich nungen verhindert werden. einig darin, dass wir dafür mögliche Veränderungen prog- nostizieren und Szenarien entwickeln müssen, um daraus Das sinkende Potential für den Fachkräftenachwuchs strategische Planungen ableiten zu können; diese als und das freiwillige Engagement erfordern, dass wir öf- Trends bezeichneten Veränderungen werden wichtige fentlich sichtbar attraktiver werden und eine moderne Prüfkriterien für unser künftiges Handeln sein. Dazu ist Führungs-, Unternehmens- und Anerkennungskultur ent- ein grundlegender Wandel in unserem Denken nötig; wickeln. Der Verband muss auf entsprechende Rahmen- wir werden mehr als bisher Unwägbarkeiten akzeptieren bedingungen hinwirken, Einfluss auf Veränderungen in der müssen. Trotz aller Ungewissheit werden wir Anpassungen Ausbildung nehmen, modellhaft neue Wege gehen, um und Neuorganisation bewusst angehen, Trends interpre- z.B. Quereinsteiger*innen zu fördern, bürgerschaftliche tieren, Alternativen diskutieren und sehr viel experimen- Akteure zusammenzuführen und die Selbsthilfe zu unter- tieren müssen. stützen. BLICKPUNKTE | 5
Trend Antje Ludwig Referentin Vorstand / Geschäftsführung Der Sozialraum als Ort der Teilhabe und Mitbestimmung Die aktive Beteiligung freier Träger an regionalen Sozialplanungsprozessen wird derzeit in der Fachöffentlichkeit intensiv und teilweise kontrovers diskutiert. Es wächst das Bewusstsein, das ein reines „darüber müssen wir mal reden …“ nicht ausreicht, um tatsächlich in zielorientierte und kooperative Prozesse mit den verantwortlichen örtlichen Trägern einzutreten und diese auch „durchzuhalten“. In der Literatur lässt sich keine allgemeingültige Definiti- Der Begriff der „Partizipation“ als Qualitätskriterium für on von „Sozialraum“ finden. Im einfachsten Sinne könnte Planungs- und Entscheidungsprozesse ist daher ein viel- darunter der Aufenthaltsraum für die Belegschaft einer verbreiteter Anspruch. In der Realität ist Partizipation aber Behörde oder eines Unternehmens verstanden werden. eine besondere Herausforderung, die an der Widersprüch- Bezogen auf den Planungsprozess bei Kommunen, ist lichkeit des Alltags und der Auslegungsbreite des Begriffs der Sozialraum der Lebensraum von Menschen, der eine häufig zu scheitern droht. bestimmte geografische Ausdehnung definiert und aus einer spezifischen geo- grafischen Ausdehnung heraus wahrge- nommen wird (Schwabe). Der Verein für Sozialplanung (VSOP) empfiehlt, auf der Basis statistischer Bezirke und unter Beach- tung der konkreten räumlichen Verhält- nisse, Sozialräume als einheitliche Bezugs- basis für sämtliche Planungsprozesse zu definieren. Die Orientierung an den jewei- ligen Sozialräumen (z.B. einem Stadtteil oder einer bestimmten ländlichen Region) bedeutet für die Akteure in den Planungs- prozessen, die Lebenswelt so zu gestal- ten und Verhältnisse zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, besser in schwierigen Lebenslagen zurechtzukom- men. Es geht also auch um die Sicherung von Lebensqualität in einer Region. Da versteht es sich doch eigentlich von selbst, dass freie Träger als unmittelbare Anbieter sozialer Angebote und Dienstleis- tungen und damit „Kenner“ der Lebenssitu- ation vor Ort, den Kommunen als Partner bei Planungsprozessen zur Verfügung ste- hen. Darüber hinaus ist die direkte Beteili- gung der Menschen in einem Sozialraum z.B. bestimmter Zielgruppen (Kinder und Jugendliche, Senioren, Menschen mit Be- einträchtigungen) besonders wünschens- wert – wenn auch aufwändig – und wird an vielen Stellen von Kommunen auch mehr oder weniger gut praktiziert. 6 | BLICKPUNKTE
Trend Der Paritätische möchte seine Mitglieder unterstützen, die- der Trägerschaft, des Leistungsumfanges und der Kosten. se Herausforderungen anzunehmen, die Chancen und ver- Dazu gehört auch die Entwicklung einer Vision bzw. eines meintliche Risiken abzuwägen und sich (entgegen mancher gemeinsamen Leitbildes: was wollen Kommunen und freie negativen Erfahrung) in Planungsprozesse einzubringen. Träger gemeinsam für die Menschen erreichen? Allein bei Dazu müssen die Rahmenbedingungen und Rollen zwi- der Aufzählung der Prozess-Schritte wird deutlich, dass schen den Akteuren geklärt sein. Grundsätzlich ist die hier personelle und zeitliche Ressourcen erforderlich sind Gestaltung von Sozialräumen ein gesetzlicher Auftrag der und die koordinierenden Sozialplaner*innen manage- Kommunen – bei ihnen liegt die Verantwortung für die ment-ähnliche Fähigkeiten brauchen. Ziel ist eine koope- sog. „Daseinsvorsorge“. Sie haben dafür zu sorgen, dass rative Sozialplanung. soziale Einrichtungen und Dienste rechtzeitig und ausrei- chend zur Verfügung stehen. Geeignete und legitimierte Gremien dafür wären die ge- meinsamen Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII Kommunen haben die Planungs- und Organisationshoheit. oder die Kreisarbeitsgemeinschaften als Zusammenschlüs- Damit betraut sind qualifizierte Sozialplaner*innen. An se der freien Träger vor Ort (kleine LIGA). Existieren diese diesen Stellen haben viele Kommunen in den letzten Gremien nicht, müssen andere verbindliche Formen der Jahren personell „aufgerüstet“. Die Sozialplaner*innen Zusammenarbeit gefunden werden, um Akzeptanz bei müssen ihre Planungen gegenüber der eigenen (Finanz-) der Verwaltung und der Politik sicherzustellen. Relativ lose Verwaltung und der Politik (dem Stadt- oder Kreisparla- „Netzwerkverbindungen“ reichen nicht aus, die o.g. Aus- ment) vertreten. Alles im Rahmen der „Kommunalen handlungsprozesse um Standorte und Angebote erfolg- Selbstverwaltung“ und unter „Einhaltung des Konnexitäts- reich zu gestalten. prinzips“. Ob eine Partnerschaft zwischen Kommunen und freien Aber auch für die Beteiligung freier Träger gibt es eine Trägern auf Augenhöhe erreicht werden kann, ist fraglich. gesetzliche Grundlage: § 80 Abs. 3 SGB VIII verpflichtet Da Planungsfragen eng verknüpft sind mit der öffentlichen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur frühzeitigen Refinanzierung der Leistungen der Träger, kommen die- Beteiligung der anerkannten Träger der freien Jugendhilfe se hinsichtlich der tatsächlichen Bedarfsentwicklung und in allen Phasen der Planung. notwendiger Anpassung ihrer Angebote u.U. schnell an Aber: dieser Anspruch wird nicht allein dadurch sicherge- ihre Handlungsgrenzen. Der verständliche Wunsch nach stellt, dass Vertreter*innen der freien Träger als Mitglied „Planungssicherheit“ ist mit einer notwendigen Bedarfs- im Jugendhilfeausschuss die Jugendhilfeplanung am Ende planung und flexibler Angebotsentwicklung nicht immer beschließen. Die Kommune in ihrer Steuerungsverantwor- vereinbar. tung ist verpflichtet, die freien Träger in allen Phasen des Prozesses zu beteiligen. Dies beginnt bei der gemeinsa- Die Beteiligung eines freien Träger an der Jugendhilfe- und men Bestandsaufnahme, der Prüfung und Interpretation Sozialplanung setzt eine strategische Entscheidung auf planungsrelevanter Daten, der Ableitung von Bedarfen der Leitungsebene voraus und die Erkenntnis: und weiteren Ausgestaltung der Angebote hinsichtlich Beteiligung ist kein Harmonisierungsprozess! Mögliche Handlungsoptionen für freie Träger: ➢ Grundverständnis für Sozialplanungsprozesse entwickeln ➢ Perspektiv- Wechsel vornehmen (kommunale Sicht/Handlungsrahmen) ➢ Rahmenbedingungen, Rollen und gegenseitige Erwartungen klären ➢ auf gemeinsame Ziele verständigen ➢ Verständigung zu planungsrelevanten Daten und gemeinsame Interpretation ➢ Entscheidungskriterien für fachliche Lösungen anbieten ➢ Kritische Prüfung der eigenen Angebotsstruktur ➢ Anpassungs- und Innovationsbereitschaft ➢ Stolpersteine frühzeitig erkennen (Ressourcen, Intransparenz, Ermüdung …) ➢ Es braucht einen langen Atem! BLICKPUNKTE | 7
Trend Dr. Gabriele Girke Landesgeschäftsführerin regional denken – lokal steuern Über den lokalen Tellerrand schauen – eine Devise, nicht nur wegen des Einwohnerschwunds, auch um Ressourcen smart und intelligent zu nutzen, soziale Dienste bürgerfreundlich und kostensparend zu verbinden. Regional denken – weil die Musik in den Kommunen und angrenzenden Regionen spielt, denn dort müssen die zukunftsfähigen Investitionen entschieden werden, auch die Veränderungen der sozialen Infrastruktur. Demografischer Dorfumbau, integrierte Finanz- und Sozi- mit der Kommune auf lokale Lösungen hinwirken. Dafür alplanung, regionale Planungsgemeinschaften, integrierte ist jedoch eine Abstimmung mit den regionalen Entwick- gemeindliche Entwicklungskonzepte, … vieles deutet da- lungskonzepten oder eine Beteiligung an ihrer Erarbeitung rauf hin, dass auch in Sachsen-Anhalt ernst gemacht wird wichtig. Aus Sicht der Kommunen ist das unser Mehrwert, mit regionalen Steuerungen. Sind wir als Freie Wohlfahrts- ansonsten könnten sie auch soziale Dienste aus freier Trä- pflege dabei mitgedacht? Und kennen wir diese Konzepte gerschaft zurück in ihre öffentliche Hand holen oder eige- und Steuerungen? Beteiligen wir uns daran, auch wenn die ne Dienste errichten. Dagegen helfen dann keine Image- Träger überregional organisiert sind? Was ist zu begrüßen, Kampagnen. Gegen diese Form von „Kommunalisierung“ was fordert unsere gemeinsame Vorsicht heraus? hilft nur, sich trägerübergreifend zu verbünden und an kommunalen Steuerungen zu beteiligen, z.B. in Kreisar- Das Recht zur kommunalen Selbstverwaltung ist fester beitsgemeinschaften der Freien Wohlfahrtspflege, in Netz- Bestandteil der politischen Ordnung. Dieses Recht basiert werken als gemeinsamer Leistungsanbieter. auf dem Prinzip der Subsidiarität – kurz: die sozialen Prob- leme und Entwicklungsaufgaben können vor Ort am bes- Der Sozialraum ist wichtiger Bezugspunkt ten beurteilt und gelöst werden, durch diejenigen, die den Träger sozialer Angebote und Dienste brauchen einen über- Menschen am nächsten stehen. Die Landespolitik soll auf schaubaren und steuerbaren Raum, der echte Kooperation gleichwertige Lebensbedingungen hinsteuern, die Kom- ermöglicht. Auch die seit über 10 Jahren vorangetriebene munen brauchen Spielraum für ihre speziellen Bedingun- kommunal-administrative Strategie der Dezentralisierung gen – ein Spagat, der auch die freien Träger herausfordert. der kommunalen sozialen Dienste entspricht dieser Erfah- rung. Quartiersbezogene Abstimmung der Angebote und Unser Mehr-Wert für Kommunen Steuerung über Sozialraumbudgets werden nicht mehr nur Die gemeinnützigen Träger von Sozialen Angeboten und in der Jugendhilfe ausprobiert. Die Dienstleister profitieren Diensten haben hier eine wichtige Rolle: sie bauen eben- davon, wenn dadurch die „Versäulung“ der Administrati- falls auf dieses subsidiäre Prinzip und sind dadurch natürli- on, die zergliederte kommunale Daseinsvorsorge und das che Partner der Kommunen. Sie haben Einsicht in spezielle Ressortdenken überwunden werden. Freie Träger sollten Lebenslagen und können ganz konkret vor Ort Menschen jedoch aufmerksam sein, wenn dadurch „betriebliche“ mobilisieren, aus ihrem Nutzerinteresse heraus Lösungen Risiken von der Kommune auf sie abgewälzt werden. für Lücken in der kommunalen Daseinsvorsorge zu finden, sich zu verbinden, Dienste auf ihren Bedarf hin anzubie- Netzwerke organisieren – wirkungsvoll sein ten. Dabei müssen sie „in einem Boot sitzend“ gemeinsam Seit den 90er Jahren richtet sich die Aufmerksamkeit kom- munaler Steuerungen auch auf neue Organisationsformen, wie das Netzwerk. Netzwerkkooperationen überwinden sowohl die Defizite einzelner privater Organisationsfor- men, als auch sozialstaatlicher bzw. kommunaler Ressorts. Schnittstellen werden gefunden und gemeinsame Pro- jekte oder Dienste mit jeweils zurechenbaren Beiträgen gebildet. Nach dem Übereifer, effiziente Dienste haben zu wollen, verschiebt sich das Interesse mehr zu wirkungsvol- len Angeboten. Dabei tritt in den Vordergrund, mehr aus der Perspektive des Bürgers als Nutzer („Kunde“) zu schau- en und daran die kommunale Steuerung zu orientieren. Facheinheiten werden raumorientiert und interdisziplinär gebündelt – das sind auch Herausforderungen für Träger sozialer Dienstleistungen. 8 | BLICKPUNKTE
Antje Ludwig Referentin Vorstand / Geschäftsführung Trend Zurück zu den Wurzeln – Sozialraumorientierung als Fachkonzept Sozialer Arbeit Die Definition des Begriffs „Sozialraumorientierung“ wird im Wesentlichen von der Perspektive der Beteiligten und Handelnden bestimmt. Für die Kommune als öffentlichen Leistungsträger stellt die Orientierung am jeweiligen Sozialraum ein Steuerungsinstrument und eine Bezugsgröße für Planungsprozesse dar. In der Sozialen Arbeit wird Sozialraumorientierung als ein grundlegendes Fachkonzept angesehen. Es findet sich daher in vielen Konzepten freier Träger wieder. An dieser Stelle soll es jedoch nicht um die Frage der Sozialen Arbeit an und an deren grundlegenden Werten „richtigen“ Perspektive gehen – diese lässt sich auch so wie Respekt, Wertschätzung, Freiwilligkeit und Ressour- nicht beantworten. Vielmehr erscheint es wichtig, um cenorientierung. diese unterschiedlichen Perspektiven und Handlungsan- sätze zu wissen, um Missverständnisse in der Kommuni- Die fünf Prinzipien lauten: kation und Zusammenarbeit von freien und öffentlichen Trägern möglichst frühzeitig auszuräumen. In den letzten – Orientierung am Willen der Menschen – in Abgren- Jahren hat die konsequente Beteiligung der Bürgerinnen zung zu Wünschen und Bedürfnissen. Ansatz der Ar- und Bürger bei der Gestaltung „ihres“ Sozialraums, also beit ist immer der Wille bzw. die Betroffenheit einzelner des unmittelbaren Lebensumfeldes, an Bedeutung ge- Menschen oder Gruppierungen und nicht von bürokrati- wonnen. Freie Träger haben sich in diese Prozesse einge- schen Instanzen identifizierte vermeintliche Bedarfe. bracht und ihre Angebote angepasst bzw. weiterentwickelt. In vielen Kommunen gibt es hierfür gelungene Beispiele. – Aktivierende Arbeit hat grundsätzlich Vorrang vor Die Diskussionen vor Ort haben aber auch dazu geführt, betreuender Tätigkeit. Im Vordergrund steht die Unter- dass Begriffe wie Sozialraumorientierung, Gemeinwesen- stützung von Eigeninitiative zur Bewältigung der Lebens- arbeit und Quartiersmanagement in einem Zuge genannt situation und Selbsthilfe. werden, obwohl es sich einerseits um Konzepte und Steu- erungsinstrumente handelt, andererseits aber sozialpäda- – Die Nutzung personaler und sozialräumlicher Res- gogische Methoden bzw. Verfahren zur Stadtentwicklung sourcen spielt bei der Hilfegestaltung eine wesentliche gemeint sind. Allen Begriffen gemeinsam ist jedoch das Rolle. Das Augenmerk liegt auf den Stärken der Men- Anliegen, die Lebenswelten von Menschen positiv zu schen und einer Wertschätzung ihnen gegenüber. gestalten, sie einzubinden und zu befähigen, selbst aktiv zu werden. – Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichs- Dazu gehört auch die Einbindung unterschiedlicher Akteu- übergreifend angelegt – im Sinne integrativen Han- re von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und sozialer Arbeit delns. Das fachliche Augenmerk gilt Vorhaben und im Sinne einer Netzwerkarbeit. Verbindendes Ziel ist eine Themen, die verschiedene Gruppierungen anregen, sich Verbesserung der Lebensqualität. zu beteiligen. Ein schablonenhafter Blick auf eine vorab definierte Zielgruppe/Randgruppe ist zu vermeiden. In seinen Beiträgen zur „Sozialraumorientierung als Fach- konzept“ beschreibt Prof. Dr. Wolfgang Hinte fünf leitende – Vernetzung und Integration der verschiedenen (Sozi- methodische Prinzipien, die der Grundhaltung verpflichtet alen) Dienste sind Grundlage funktionierender Fallarbeit sind, nicht die Menschen durch pädagogische Intension zu und zur gemeinsamen Entwicklung von Problemlö- verändern, sondern vielmehr „Arrangements zu kreieren, sungsstrategien. Einengungen auf Zuständigkeitsberei- die dazu beitragen, dass Menschen in prekären Lebenssitu- che sind zu vermeiden. ationen zurechtkommen“. Im Gegensatz zum steuerungs- orientiertem Ansatz der Kommunen, handelt es sich beim Mit Blick auf diese Prinzipien wird deutlich, dass sich freie Fachkonzept „um ein hochgradig personengebundenes Träger nicht auf eine geografische Regionalisierung ihrer Konzept” (Hinte 2009), das nicht beim Raum als Fläche Dienste bzw. die Standorte ihrer Immobilien beschränken sondern beim Eigeninteresse und Willen der Menschen dürfen, wenn z.B. eine gute Jugendhilfe-Landschaft auf- ansetzt. Damit knüpft das Konzept an den Wurzeln der gebaut werden soll. BLICKPUNKTE | 9
Im besonderen Focus Nicole Anger Referentin Frühkindliche Bildung, Jugendhilfe Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe Querschnittsaufgabe für Alle! Auf dem Weg zur Verbesserung der Lebensbedingungen, zur Ermöglichung der Chancengleichheit und sozialen Teilhabe aller jungen Menschen ist Sozialraumorientierung ein Baustein, ohne den Handlungskonzepte nicht denkbar sind. Es ist deutlich, dass mit dem Begriff Sozialraumorien- recht empfinden. Sie sind Expert*innen in eigener Sache. tierung ein weites Feld der Kinder- und Jugendhilfe ge- Ungerecht ist für sie z.B., wenn sie bei der Planung neuer meint ist und eine große Herausforderung darstellt. Verkehrswege nicht befragt werden, ihr Schulstandort Und die Planungsansätze dafür haben dann ihren Sinn, geschlossen wird oder Sportanlagen verfallen, wenn Frei- wenn die Bedarfe an den vielfältigen Bedürfnissen und zeitangebote nicht mehr gefördert werden oder keine Interessen von jungen Menschen und ihren Familien aus- Dialogmöglichkeiten mit Politik vorgehalten werden. gerichtet werden. Basis dafür sind sowohl die subjekti- ven als auch die kollektiven Lebenswelten der jungen Sichtbar wird, dass nicht nur auf die der Kinder- und Jugend- Menschen. Dies wiederum erfordert nicht nur einen Pla- hilfe eigene Bereiche abzuzielen ist, sondern hier der Blick nungsansatz, der Zahlen und Eckwerte ausweist, sondern auf alle den Lebensraum prägenden Gegebenheiten zu rich- die Meinung und Vorstellungen von jungen Menschen ten ist und alle Gestalter*innen mit einzubeziehen sind. aufnimmt, Beteiligung beinhaltet und alle aktiv in die Pla- nung einbezieht. Es wird nicht für junge Menschen, son- Jugendgerecht ist folglich, wenn Jugendliche (Frei-)Räu- dern mit jungen Menschen geplant. Sozialraumorientie- me in den Städten und Gemeinden erhalten, wenn Jugend rung ermöglicht, dass junge Menschen ihre Lebensbedin- (kommunale) Politik mitgestalten kann, wenn sich institu- gungen selbst mitgestalten können. Dazu gehört auch, tionsübergreifende Netzwerke mit und für die Anliegen dass sie sich nicht in politisch vordefinierten Sozialräumen junger Menschen etablieren. Jugendgerecht ist also, jun- bewegen, sondern dass sie ihre Sozialräume selbst bestim- gen Menschen eine echte Partizipation zu ermöglichen men. und sie an allen sie betreffenden Planungen und Entschei- dungen zu beteiligen. Betrachtet man die Kinder- und Jugendphasen als eigen- ständige Lebensphasen mit all ihren spezifischen Heraus- Viele Bereiche, welche junge Menschen direkt betreffen forderungen, so ist eine Einbeziehung von Kindern und (bspw. Freizeitangebote, Kinder- und Jugendarbeit, Bil- Jugendlichen in die sozialraumorientierte Kinder- und Ju- dung und Ausbildung, Öffentlicher Nahverkehr, Bau- und gendhilfe nur gerecht und unabdingbar. Junge Menschen Infrastrukturplanung) werden kommunal beraten und ent- wissen selbst sehr gut, was sie als gerecht oder als unge- schieden. Dabei müssen die Bedarfe aller Altersgruppen 03.756 abgebildet werden, also 55.655 eben auch die der jungen 14.697 Menschen. Wenn es also 17.176 BEVÖLKERUNGSPROGNOSE BEVÖLKERUNGSPROGNOSE DER DER BIS BIS 25- Diagramm9tel gelingt, in den Planungen die entsprechenden Ziel- 500.000 25-JÄHRIGEN JÄHRIGEN ININSACHSEN-ANHALT SACHSEN-ANHALT gruppen mitzunehmen, dann gelingt es auch, die 400.0000-3 Jahre 3-6 Jahre 2015 6-10 Jahre 2020 10-16 2025Jahre2030 16-19 Jahre 19-25 Jahre Lebensqualität und Ver- bundenheit vor Ort zu er- 114.697 114.697 113.822 61.010 113.822 55.655 110.284 110.284 109.438 109.438 300.000 106.507 106.507 103.756 103.756 102.981 102.981 53.152 101.469 101.469 höhen. 200.000 Diese so genannten Hal- 72.244 72.244 70.303 70.303 68.611 68.611 tepunkte wirken einer 61.010 55.655 54.384 54.384 53.309 53.309 53.152 52.494 52.494 51.332 51.332 51.178 51.178 48.700 48.700 47.050 47.050 Abwanderung junger 42.814 42.814 42.098 42.098 100.000 39.960 39.960 Menschen aus den Regi- - onen entgegen, weil die 2015 2020 2025 2030 Region den jungen Men- schen eigene Gestaltungs- 0-3 Jahre 3-6 Jahre 6-10 Jahre 10-16 Jahre 16-19 Jahre 19-25 Jahre Gesamt möglichkeiten und Pers- 0-3 JAHRE 2015 3-6 JAHRE 2020 6-10 JAHRE 10-16 JAHRE 2025 16-19 JAHRE 2030 19-25 JAHRE pektiven aufzeigt. 10 | BLICKPUNKTE
Rolf Hanselmann Paritätisches Jugendwerk Sachsen-Anhalt Im besonderen Focus Sozialraumorientierte Kinder- und Jugendhilfe/-arbeit muss als ein zentrales Element vor Ort fest verankert sein. Wer folglich kommunal erfolgreich agieren will, muss die Vernetzung der sozialraumorientierten Kinder- und Jugendhilfe/-arbeit innerhalb und vor allem außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe befördern. Die Zusammenarbeit mit Handlungsfeldern wie Arbeit, Bildung, Gesundheit, Stadt-/ Gemeindeplanung, Soziales, Wohnen muss aufge- nommen und verstetigt werden. Diese Kinder- und Jugendpolitik vor Ort sollte partner- schaftlich mit verschiedenen Akteur*innen ausgestaltet und weiterentwickelt werden. Insbesondere Politik und Verwaltung müssen sich dieser strategischen Verantwor- tung bewusst werden. Hier bedarf es verlässlicher Bünd- nisse. Die Kinder- und Jugendhilfe kann diesen Prozess nicht allein umsetzen, sie kann aber den notwendigen Austausch initiieren, Expertise anbieten, jugendpoli- tische Strukturen stärken, Ideen streuen, Verbündete suchen und vernetzen. Hierzu müssen die Prozesse of- fen und transparent sein. Bestenfalls sind alle betroffenen Akteur*innen bereits in die Analyse mit einbezogen, auch um gemeinsam ihre Rollen zu definieren. Dabei kommt der Kinder- und Jugendhilfe die wichtige Aufgabe zu, junge Menschen zu ermutigen, von ihren Be- teiligungsrechten Gebrauch zu machen, sich einzumischen und Position zu beziehen. Veränderungsprozesse leben vom Engagement vor Ort. Damit sozialraumorientierte Kinder- und Jugendhilfe ge- recht gestaltet werden kann, muss sie als Querschnittsauf- gabe und als Gesellschaftspolitik begriffen werden. Ihre Prozesse, die einer stetigen Veränderung und Weiterkon- zeptionierung unterliegen, sind zu systematisieren. Sozial- raumorientierung ist anhand der sozialen Realitäten stetig zu reflektieren und fortzuschrieben. Übergreifende Prozes- rücksichtigen. Diskussionsschwerpunkte waren insbeson- se der Sozialraumorientierung wirken dann, wenn diesen dere die neuen Herausforderungen für das gesellschaft- alle beteiligten Akteur*innen offen gegenüberstehen und liche Engagement in den Orten und Gemeinden und der die Zielgruppen ernsthaft beteiligt werden. anerkannte Erfolgsfaktor „Familienfreundlichkeit“. Jetzt gilt es, nicht stehen zu bleiben und abzuwarten, sondern Die Landesregierung hat hierzu bereits u.a. mit ihren De- die konkreten Ergebnisse der Werkstätten fortzuschreiben mografie-Werkstätten vor Jahren begonnen, partizipative und umzusetzen sowie weitere Werkstätten unter Beteili- Möglichkeiten zu schaffen. Hierbei wurden regionale Ver- gung aller in der Region Aktiven fortzuführen. Partizipation ortungen genutzt, um die spezifischen Gegebenheiten vor ist ein Prozess, genau wie Sozialraumorientierung und lebt Ort (geografische Lage, Bevölkerungsstruktur, etc.) zu be- von seiner Veränderung. BLICKPUNKTE | 11
Im besonderen Focus Ralf Hattermann Referent Hilfen für Menschen mit Behinderung Der inklusive Sozialraum – das große Ziel? Sozialraumorientierung für Menschen mit Beeinträchtigungen ist keine Mode, sondern ein Trend, der gemeinsam mit Selbstbestimmung und Teilhabe gesehen werden muss. Dieser Trend findet auch seinen Niederschlag in den neuen gesetzlichen Regelungen des Bundesteilhabegesetzes. Im Bereich der Arbeit für Menschen mit Beeinträchtigungen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und sprechen wir seit Jahren von der Notwendigkeit, die Unter- Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stützungssysteme auf den Sozialraum auszurichten. Das hat bereits im Jahr 2001 den Grundstein gelegt für ein Eckpunktepapier des Deutschen Vereins zur Sozialraum- verändertes Verständnis von Behinderung. Im Kern des- orientierung (vgl. Deutscher Verein […] 2011: Eckpunkte sen steht der Teilhabebegriff und nicht vordergründig das des Deutschen Vereins für einen inklusiven Sozialraum) hat Defizit (die Behinderung). Behinderungen erschweren die hier neben anderen Papieren und Positionen, wie z.B. auch Teilhabe maßgeblich. Demnach sind „Beeinträchtigungen vom Paritätischen Gesamtverband, eine fundierte Basis der Teilhabe […] Probleme, die ein Mensch beim Einbezo- zur Entwicklung eines inklusiven Sozialraums gelegt. Diese gensein in eine Lebenssituation erlebt“ (DIMDI 2005: ICF – Richtungsweisung auf den Sozialraum wird untersetzt durch Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behin- Absichtserklärungen zur De-Institutionalisierung, zur Per- derung und Gesundheit. World Health Organization. Genf, sonenzentrierung und dem übergeordneten Ziel, den Weg S. 16). Dieses Einbezogensein bezieht sich auf verschiedene in eine inklusive Gesellschaft zu beschreiten. Dabei sind wir Lebensbereiche, wie Lernen, Kommunikation, Mobilität, in den letzten Jahren verstärkt an einen Punkt gekommen, Selbstversorgung, Häusliches Leben, Interaktionen und wo Begriffe wie „Inklusion“ und „Sozialraumorientierung“ Beziehungen oder soziales und staatsbürgerliches Leben. gesellschafts- und sozialpolitisch inflationär gebraucht wer- Der mit der ICF verbundene personzentrierte Fokus öffnet den. Gleichermaßen sind diese Entwicklungen punktuell den Blick auf das individuelle Lebensumfeld einer Person, längst angekommen auf der Seite der Sozialwirtschaft, der d.h. auf den Sozialraum. Auch für Menschen mit Beein- freien Wohlfahrtspflege inklusive den Leistungserbringern trächtigungen kombiniert der Sozialraum räumliche, sozia- in der Eingliederungshilfe. le, gesellschaftliche und politische Dimensionen. Der inklusive Sozialraum hat sich als Schlagwort manifes- Das Sozialgesetzbuch Neun (SGB IX) hat 2001 ebenso be- tiert im Handlungsfeld der Behindertenhilfe. Dabei wird gonnen die Einschränkung der Teilhabe zu definieren. Al- es vorrangig mit Teilhabezielen von „Menschen mit Be- lerdings ist das SGB IX weit nicht so konsequent daher ge- einträchtigungen“ in Verbindung gesetzt. Das ist natürlich kommen wie die ICF. Beide Richtungsweisungen, ICF und richtig. Gleichwohl wissen wir (in der Hoffnung, dass das SGB IX, haben allerdings nur langsame bis hin zu keinerlei viele sind), dass das Konzept der sozialen Inklusion nicht im globale Auswirkungen für die sogenannte Behindertenhil- Besonderen und ausschließlich auf Menschen mit Beein- fe gehabt. Insbesondere in der Eingliederungshilfe blieben trächtigungen ausgerichtet ist. Inklusion ist eine gesamt- die Verfahren und Instrumente defizitorientiert. Die Maß- gesellschaftliche Aufgabe! Das muss leider immer noch gabe der Teilhabe und Selbstbestimmung wurde dann mit erwähnt werden. Die Ausrichtung auf den Sozialraum ist der 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention folgerichtig auf alle Menschen gerichtet. An dieser Stelle (UN-BRK) auf grundsätzlich feste Säulen gestellt. Neben soll dennoch im Rahmen der Betrachtung von Entwicklun- der Reflexion des Behinderungsverständnisses hat die UN- gen und Trends der Fokus auf den Unterstützungssystemen BRK mit der Leitidee der Inklusion begonnen, Autonomie, für Menschen mit Beeinträchtigungen liegen. Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behin- Aber nun erstmal der Reihe nach. Das Leben von Menschen derungen zu stärken. Die volle und wirksame Teilhabe und mit Beeinträchtigungen wurde in den letzten ca. 20 Jahren die uneingeschränkte Einbeziehung in die Gesellschaft sind durch verschiedene Faktoren geprägt – ICF, SGB IX, UN-BRK Kernprinzipien der UN-BRK. Für die Weiterentwicklung der und mit dem Ergebnis des langjährigen Reformprozesses Eingliederungshilfe stehen mit der UN-BRK zunehmend der Eingliederungshilfe, dem Bundesteilhabegesetz (BTHG). die einrichtungsbezogenen Unterstützungsleistungen, Die Auswirkungen dieser Faktoren auf die Praxis der Behin- auf dem Prüfstand. Demzufolge ist Personzentrierung die dertenhilfe als Form institutioneller Hilfen sind in weiten logische Konsequenz aus der UN-BRK. Ihr Ziel ist nicht die Teilen differenzierter zu betrachten. ICF und UN-BRK im Vereinzelung der Person mit Beeinträchtigung, sondern sei- Besonderen sind hier weit weg von spürbaren Wirkungen. ne/ihre selbstbestimmte Lebensführung im individuellen Der aktuellste Schritt, die Umsetzung des Bundesteilhabe- Lebensumfeld, dem Sozialraum. Auch diese Entwicklungen gesetzes, hat ja gerade erst begonnen. Die Internationale sind in der praktischen Umsetzung kein Selbstläufer, ver- 12 | BLICKPUNKTE
Im besonderen Focus langen sie doch nach einem Gemeinwesen, das auch Men- Budget. Zum anderen geben bekanntermaßen diese regio- schen mit Beeinträchtigungen einbezieht und ihre Teilhabe nalen Lebensräume mit ihren unterschiedlichen infrastruk- fördert. Die Realität sieht vielerorts noch anders aus. Der turellen aber auch finanziellen Ressourcen, nicht zwangs- Paradigmenwechsel von einrichtungsbezogenen hin zu läufig gleiche bzw. ähnliche Lebensqualitäten her. Das ist personzentrierten Unterstützungsleistungen betritt nun- sicherlich bundesweit zu beobachten. Für Sachsen-Anhalt mehr mit dem Bundesteilhabegesetz eine neue Stufe von glauben wir in der Regel diese Tatsachen bereits realistisch Absichtserklärungen aus dem politischen Raum. einschätzen zu können, frei nach dem Motto: Magdeburg, Halle, Dessau kein Problem, aber auf dem Lande, in der Auch die Sozialraumorientierung soll mit dem BTHG Altmark …, oh. Das gilt natürlich wieder für alle Menschen. verstärkt in den Fokus rücken. Dabei können wir uns mit Jedoch lässt sich hier die Einschätzung nicht vermeiden, Sicherheit nicht ausschließlich auf die heilenden Wirkungen dass sich gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen des Sozialraumes und deren inklusive Ausgestaltung verlas- durch verschiedene Faktoren, wie demographische Ent- sen. Bisher fehlt gerade im politischen Raum ein gemeinsa- wicklungen oder Abwanderungen aus dem ländlichen mes Verständnis von Inklusion und sozialraumorientierter Raum die Teilhabe signifikant erschweren könnte. Eine wei- Arbeit. Erschwerend kommt hinzu, dass fachliche Überle- tere Herausforderung bei der Schaffung gleichberechtigter gungen immer wieder auf Finanzierungsvorbehalte treffen. Zugänge und Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigun- Das BTHG gibt trotz langjähriger und immer noch hörbarer gen und einer entsprechender Sozialraumorientierung Rufe leider keine bundeseinheitlichen Verfahren und Inst- stellen für den Bereich der gesetzlich garantierten Unter- rumenten her. Das wäre so wichtig, denn diese Rahmenbe- stützungsleistungen die unterschiedlichen sozial- und dingungen prägen in der Folge Lebensbedingungen, die verwaltungsrechtlichen Zuordnungen dar. In den meisten über Lebensqualität entscheiden. Das trifft besonders die Bundesländern ist die Eingliederungshilfe bereits kommu- Eingliederungshilfe, die wir trotz Orientierung an Inklusi- nalisiert. In Sachsen-Anhalt ist das nicht der Fall, hier haben on, Teilhabe und Personzentrierung dann künftig einfach wir nach wie vor einen überörtlichen Sozialhilfeträger (die mal „Eingliederungshilfe-neu“ nennen werden. Die ein- Sozialagentur) und künftig dann einen Träger der Einglie- fache Um-Etikettierung von Ideen, bei einem weitgehen- derungshilfe. In Anbetracht von oft fehlenden finanziellen dem Beibehalten der alten Systeme kann nicht die Lösung Ressourcen in den Kommunen und z.T. höchst unterschied- sein, denn in der Praxis der Arbeit mit und für Menschen licher Rahmenbedingungen können wir in Sachsen-Anhalt mit Beeinträchtigungen gibt es theoriegeleitet, vor allem wohl eher froh sein, dass die Eingliederungshilfe noch nicht aber auch haltungsgeleitet einiges Potential an wirklichem kommunalisiert ist. Fachlich gesehen ist Kommunalisierung Willen zum fachlichen und in der Folge gesellschaftlichen der Hilfen und Leistungen ein richtiger Schritt. Wandel. Mit dem Ziel, einen Teilhabeprozess erfolgreich zu gestal- ten, können eine verstärkte Personzentrierung und die Ver- Die Ausrichtung auf Personzentrierung und damit ver- besserung der Steuerung von Unterstützungsprozessen auf bunden auf Teilhabe und Selbstbestimmung lässt nur allen Ebenen am wirksamsten im Sozialraum des Menschen folgerichtig erscheinen, dass das Einbezogensein und die mit Beeinträchtigungen erfolgen. Trotz unserer überört- ggf. notwendigen Unterstützungsleistungen kleinteilig am lichen Strukturen gibt es entsprechende Ansätze. Die Ver- besten wirken, nämlich im Sozialraum, im Umfeld der eige- ortung eines örtlichen Teilhabemanagements in Sachsen- nen Kommune. Für die Schaffung von inklusiven Strukturen Anhalt, angedockt bei den Landkreisen, ist hier ein Beispiel. und barrierearmen Bedingungen steht die Kommune als Vorausgesetzt die örtlichen Teilhabemanager*innen sind regionaler und sozialer Lebensraum somit vor großen He- nicht nur der Umsetzung von regionalen Aktionsplänen zur rausforderungen. Zum einen haben wir mit der kommuna- UN-BRK verpflichtet, besteht hier eine Chance, sämtliche len Selbstverwaltung unterschiedliche Bedingungen und Teilhabemöglichkeiten, aber auch Teilhabekompetenzen Ressourcen, von denen Menschen mit Beeinträchtigungen zusammenzubringen und sozialraumbezogen mit den Be- im besten Fall profitieren können, im schlechtesten Fall aber dingungen vor Ort zu verknüpfen. Zu diesem Lebensraum benachteiligt werden könnten. In Sachsen-Anhalt führen gehören gleichermaßen Menschen mit Behinderungen, z.B. im Rahmen der Eingliederungshilfe diese Unterschied- aber auch die Menschen und Organisationen, die unterstüt- lichkeiten oft zu Benachteiligungen, z.B. beim Persönlichen zen (Leistungserbringer) . Fazit: Der Sozialraum ist ein wichtiger Faktor bei der Schaffung und Verbesserung von Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Der inklusive Sozialraum beschreibt zum einen den Weg, gleichzeitig ist es politisch ein großes Ziel. Ein Selbstläufer ist aber auch die Orientierung auf den Sozialraum keinesfalls. Dazu braucht es Ressourcen in den Kommunen und einen politischen Willen, der dafür die Bedingungen schafft. BLICKPUNKTE | 13
Im besonderen Focus Marcel Kabel Referent Altenhilfe und Pflege Die Wiederentdeckung der Rolle der Kommunen in der Pflege Sprach der ehemalige Bundesminister Norbert Blüm 1995 ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versor- im Zusammenhang mit der Etablierung der Pflegeversi- gungsstruktur übertragen. cherung von einer Sozialpolitik aus der Nähe (Rede Nor- bert Blüms, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Die Verlagerung der Verantwortlichkeiten auf andere In- bei der Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes; stanzen und das Fehlen formeller Eingriffsmöglichkeiten in: Das Parlament, 44/Nr. 12- 13; S. 2, 1995), scheint seitdem mögen zu einer Fehlauffassung seitens der Kommunen gerade das lokale Verantwortungs- und Planungsbewusst- geführt haben, die sich in einer scheinbaren Zurückhal- sein für die Altenhilfe und Pflege zunehmend verloren tung bzw. einem Zurückziehen aus der Thematik Alten- gegangen zu sein. Das Pflegestärkungsgesetz III versucht pflege widerspiegelte. Mittlerweile ist die Infrastruktur- darauf zu reagieren. Was sind die Hintergründe? entwicklung im von Marktlogik gekennzeichneten Pflege- bereich stark von privaten Investorenverhalten geprägt. Den Kommunen ist in Deutschland auf Basis des Födera- Resultat sind regional sehr unterschiedlich ausgeprägte len Systems und des Subsidiaritätsprinzips auch bezüglich Versorgungsstrukturen, die nicht hinreichend mit diffe- älterer und pflegebedürftiger Menschen eine klare Ver- renter Ausprägung von Pflegebedürftigkeit und Prävalenz antwortlichkeit zugewiesen, die sich vor allem aus dem demenzieller Erkrankungen erklärbar sind und die nun Grundgesetz speist. Demnach muss den Kommunen „das auf die Wucht der Folgen der demographischen Entwick- Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der ört- lung treffen. lichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln“ (Grundgesetz Artikel 28 Ab- Trotz der vermeintlich beschränkten Kompetenz und Ver- satz 2). Vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips als antwortungsmöglichkeit rückte die Pflegethematik in den tragendes Element unserer politischen und gesellschaft- letzten Jahren so wieder verstärkt in das Interessenfeld der lichen Ordnung kann daraus die den Kommunen als Kommunen. Neben den finanziellen Auswirkungen durch kleinste politische Einheiten („örtliche Träger“) obliegen- steigende Ausgaben für die Hilfe zur Pflege mögen es ins- de Verantwortung zur Gestaltung der Lebensverhältnisse besondere schlichtweg die zunehmende gesellschaftliche als Pflichtaufgabe abgeleitet werden (vgl. Rohden/Villard Relevanz, konkret eben die demographischen Entwicklun- 2010:51). Sie sind somit auch zuständig für die soziale und gen verbunden mit den wachsenden Bedarfszahlen und infrastrukturelle Daseinsvorsorge der Menschen vor Ort, Bedarfen der hilfebedürftigen Personen und ihrer Angehö- unabhängig von deren Alter oder Gesundheitszustand, rigen sein, die dies bedingen. Das Alter wird gesellschaft- dies gilt somit auch für die Infrastrukturentwicklung im lich öffentlich. Bereich der ambulanten und stationären Pflege. Es spricht nun einiges dafür, dass die politischen, infra- Mit dem Pflegeversicherungsgesetz wurde die Zulassung strukturellen und administrativen Voraussetzungen für von Einrichtungen und Diensten jedoch Aufgabe der die Bewältigung der Effekte des demografischen Wandels Pflegekassen. Zudem wurden diese mit dem Auftrag der eben dort geschaffen und angepasst werden, wo sie direkt Gewährleistung der pflegerischen Versorgung (Sicherstel- auf die Situation und Lebensqualität wirken (vgl. Naegele lungsauftrag § 12, 69 SGB XI) sowie der Verantwortlichkeit 2010:98). Gelebt und gepflegt wird vor Ort und auch die für die Qualitätssicherung (§ 112 SGB XI) ausgestattet. Er- Kultur einer gegenseitigen Unterstützung ist oft eine Frage scheint die Verantwortlichkeit der Pflegekassen aufgrund der lokalen Kultur – die durch kommunale Politik beein- der weit reichenden Zuschreibungen im SGB XI mittler- flusst werden kann (vgl. Klie 2014:217). Die auf Bundes- weile oft als umfassend, sind im § 8 SGB XI als Koopera- ebene geregelte Pflegeversicherung denkt vorwiegend tionspartner zur Sicherstellung einer leistungsfähigen, vom Eintritt des Versicherungsfalles her. Im kommunalen regional gegliederten, ortsnahen und aufeinander abge- Raum können hingegen umfassender und bereits vor- stimmten ambulanten und stationären pflegerischen Ver- ab Bedarfe und Probleme erkannt und ggf. Maßnahmen sorgung der Bevölkerung neben den Pflegekassen die Län- zur Behebung eingeleitet werden. Gerade aufgrund ihrer der, die Kommunen und die Pflegeeinrichtungen benannt Kenntnisse und ihrer originären Zuständigkeiten sind die (vgl. § 8 SGB XI). Die Bundesländer werden auch im § 9 SGB Kommunen gut geeignet, in diesem wichtigen Feld der XI in den Blick genommen, so wird diesen die Verantwor- Versorgung der bzw. „ihrer“ Bevölkerung eine stärkere tung zur Sicherung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig Rolle zu übernehmen. 14 | BLICKPUNKTE
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