Sozialversicherungen und Corona - Bewährte Systeme absichern und nachhaltig stärken - Arbeitnehmerkammer ...
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— 123 Dr. Magnus Brosig Sozialversicherungen und Corona Bewährte Systeme absichern und nachhaltig stärken In aller Kürze: und verlässlich nutzbar wären. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Löhnen und Beiträgen sind die Sozialversicherungen viel stärker als andere Nicht erst seit der Corona-Krise gilt: Gute und stabile Sozialversiche- Sozialsysteme in der Lage und legitimiert, umfas- rungen haben einen erheblichen Wert. Sie sind verlässlich und soli- sende Lohnersatzleistungen wie Krankengeld, Kurz- darisch, bieten verdienten Lohnersatz sowie umfangreiche Sach- und arbeitergeld (KuG), Arbeitslosengeld (ALG) oder Dienstleistungen. Gerade in Krisenzeiten helfen sie eben nicht nur Renten zu zahlen. So helfen sie den Versicherten, ihren Versicherten, sondern sind ebenso wichtige Stützen für Wirt- ihren erarbeiteten Lebensstandard auch in Notsitu- schaft und Arbeitsmarkt. Entsprechend hat ein ausgebauter Sozial- ationen und im Alter zumindest teilweise aufrecht- staat auch einen erheblichen Preis, den die Gesellschaft insgesamt zuerhalten.1 zu zahlen bereit sein sollte. Seine Systeme müssen nicht nur in aku- ten Problemlagen, sondern auch in der langen Frist ausreichend und In der anhaltenden Corona-Krise wurden wesentli- verlässlich finanziert sein. Die durch soziale Sicherung entstehenden che Vorteile dieses Systems deutlich und für viele Abgabenlasten sind gerecht zu verteilen, um Leistungsfähigkeit und Menschen konkret erfahrbar. So blieb dank Kurz- Akzeptanz des Sozialstaats – also wirkliche Nachhaltigkeit – lang- arbeit und KuG Millionen Arbeitnehmerinnen und fristig zu sichern. Dafür sind auch systemgerechte Bundeszuschüsse Arbeitnehmern der Verlust ihres Arbeitsplatzes aus Steuermitteln notwendig. Zentral ist und bleibt aber eine breite, erspart und ein erheblicher Teil des Einkommens solidarische Beitragsbasis, die auch die „starken Schultern“ ange- erhalten. Wie jede Sozialversicherung konnte der messen umfasst. Gesetzgeber auch die dafür zuständige Arbeitslo- senversicherung (ALV) schnell auf neue Herausfor- derungen ausrichten: Kurzfristig wurden maximale Bezugszeiten verlängert und Ersatzraten erhöht, Starke Sozialversicherungen als Wert wobei allerdings die Belange von Geringverdie- an sich nern bislang nicht angemessen berücksichtigt wur- den (siehe Artikel "Corona und der Arbeitsmarkt" Traditionell ist der deutsche Sozialstaat vor in diesem Band.) Neben den eigentlichen Leistun- allem ein auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- gen erhalten Empfängerinnen und Empfänger von mer konzentrierter „Sozialversicherungsstaat“. Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld auch weiter- Seine Versicherungen finanzieren sich hauptsäch- hin gesetzliche Rentenanwartschaften in fast vol- lich durch lohnbezogene Beiträge ihrer Mitglieder ler Höhe. Derartige Ansprüche werden nicht einfach und im Umlagesystem. Einnahmen dienen also lau- nur rentenrechtlich vermerkt, sondern systematisch fenden Ausgaben und die Rücklagen der Versiche- richtig durch echte Beitragszahlungen sichergestellt. rungen sind insgesamt überschaubar. Diese Grund- Auch wegen dieser wichtigen Ersatzbeiträge ging satzentscheidung ist und bleibt sinnvoll, zumal die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) bisher große Kapitalstöcke zur echten „Ausfinanzierung“ zukünftiger Verpflichtungen wegen der notwendi- gen Umfänge und Ansparzeiträume kaum möglich 1 Siehe Brosig/Geraedts (2019).
— 124 — Bericht zur Lage 2021 weitgehend unbeschadet durch die Krise. Ebenso für unbegrenzt belastbar zu halten: Wenn eine Krise konnten die gesetzliche Kranken- (GKV) und die länger anhält und soziale Versicherungen dabei soziale Pflegeversicherung (SPV) ihre Einnahmen- auch noch politisch zugewiesene, eigentlich system verluste dank der weiter auf KuG- und ALG-Bezug fremde Leistungen übernehmen müssen, kommen entrichteten Beiträge begrenzen. Neben Versicher- auch sie an ihre Grenzen. Jedenfalls mit Blick auf ten und den sich gegenseitig stützenden Versiche- die ALV sind derartige Folgen der tiefgreifenden rungen profitierte auch die Volkswirtschaft: Auf Corona-Pandemie bereits deutlich erkennbar, zumal Lohnersatz ausgerichtete Sozialversicherungen sind die Bundesagentur für Arbeit (BA) als Trägerin der wertvolle „automatische Stabilisatoren“, die vielen ALV nicht nur erhebliche Ausgaben für Kurzarbei- Menschen anhaltend notwendige Ausgaben ermög- ter- und Arbeitslosengeld tätigen muss: Infolge einer lichen. Sie stärken damit die Binnennachfrage als krisenbedingten Sonderregelung hat sie den Arbeit- eine wichtige Säule der Gesamtwirtschaft, bremsen gebern auch Sozialversicherungsbeiträge zu erstat- den ökonomischen Absturz und erleichtern den Weg ten, die diese eigentlich inklusive Arbeitnehmeran- aus der Rezession. teil vollständig selbst auf KuG entrichten müssen. Die im zurückliegenden Wirtschaftsaufschwung auf Insgesamt trugen die bewährten Sozialversicherun- etwa 80 Prozent einer Jahresausgabe angewach- gen maßgeblich dazu bei, dass die deutsche Wirt- sene Rücklage wurde so bis Ende 2020 aufgezehrt; schaft und die meisten Beschäftigten bislang recht dies waren insgesamt rund 26 Milliarden Euro. Die glimpflich durch die Krise gekommen sind. Diese Beschäftigten konnten sich dank ihrer Beiträge zur positive und nach ähnlichen Erfahrungen in der Arbeitslosenversicherung also zwar weitgehend Vergangenheit eigentlich auch nicht überraschende selbst durch ein wirtschaftliches Krisenjahr retten, Erkenntnis sollte allerdings nicht dazu führen, die haben nun aber keinen gemeinsamen Risikopuffer weitgehenden „Arbeitnehmersozialversicherungen“ mehr zur Verfügung.
— 03 Soziales, Pflege und Gesundheit — 125 Bislang deutlich weniger dramatisch ist die finanzi- dieser Situation nicht nur notwendig, sondern auch elle Lage des Krankenversicherungssystems: Neben gerecht. der stabileren Einnahmesituation verzeichnete es einen deutlich geringeren Ausgabendruck, zumal Insofern waren die vom Bund an ALV, GKV und pandemiebedingten Mehrausgaben auch Einspa- SPV geleisteten Zahlungen wichtig und richtig, auch rungen durch aufgeschobene andere Behandlungen wenn es sich dabei zunächst nur um einen Aus- gegenüberstanden. Allerdings wurden die Kassen gleich bereits aufgerissener Lücken handelte. So beziehungsweise der ihnen zur Einnahmenvertei- war schon im Nachtragshaushalt vom Juli 2020 ein lung vorgeschaltete Gesundheitsfonds zumindest 9,3 Milliarden Euro umfassendes Überbrückungs- zeitweilig stark durch die Übernahme gesamtgesell- darlehen an die BA vorgesehen, die wegen teils län- schaftlicher Aufgaben belastet. Dazu zählten etwa gerer Anlagezeiträume noch nicht vollständig auf Ausgleichszahlungen für Intensivbetten, die zur ihre Rücklagen zurückgreifen konnte. Zum glei- Behandlung schwerer Covid-19-Fälle frei gehalten chen Zeitpunkt wurden bis zu 11,5 Milliarden Euro wurden, und die Finanzierung von Testreihen unter bereitgestellt, um Ausgleichszahlungen des Gesund- symptomfreien Personen. Mit flächendeckenden heitsfonds für frei gehaltene Betten zu kompen- Corona-Impfungen und unabhängig von der Pande- sieren. Außerdem erhöhte der Bund als Ersatz für mie beschlossenen Leistungsausweitungen wird sich sonstige pandemiebedingte Aufwendungen mit die finanzielle Situation des GKV-Gesamtsystems gesamtgesellschaftlichem Zweck seinen GKV-Zu- absehbar deutlich verschärfen. Dazu trägt auch die schuss um 3,5 Milliarden Euro und zahlte weitere „Beschlagnahmung“ von Rücklagen bei, mit denen 1,8 Milliarden Euro an den Ausgleichsfonds der akute Finanzierungslücken gestopft werden sollen.2 Pflegeversicherung. Entschiedene Maßnahmen müssen diesen Tenden- zen entgegenwirken und Kassen und Gesundheits- Derartige Zuwendungen linderten zwar die akute fonds nachhaltig gut aufstellen. Einschnitte in den finanzielle Not der betroffenen Sozialversicherun- notwendigen Leistungskatalog sollten nicht dazuge- gen, konnten aber naturgemäß keinen wesentli- hören. chen Beitrag für ihre dauerhafte Stabilität leisten. Diesbezüglich ergeben sich ungleich größere Her- ausforderungen, die keineswegs durch fallweises Hilfe für die Helfer „Lückenstopfen“ in ein- bis zweistelliger Milliarden- höhe erledigt werden können. Obwohl durch den Grundsätzlich gilt: Nicht nur aus Arbeitnehmer- demografischen und sozialen Wandel erhebliche perspektive, sondern auch im gesamtgesellschaft- Finanzierungsbedarfe für sozialstaatliche Leistun- lichen Interesse muss die finanzielle Stabilität und gen entstehen, ist bislang keine allgemeine politi- Handlungsfähigkeit der Sozialversicherungen dau- sche Bereitschaft erkennbar, den dafür notwendigen erhaft gewährleistet sein. Nur so können wichtige Aufwand tatsächlich gemeinschaftlich zu tragen. So Leistungen verlässlich erbracht werden und Akzep- hatten sich die Koalitionspartner im Bund beispiels- tanz erhalten bleiben. Reichen eigene Mittel – gege- weise 2018 darauf verständigt, den Gesamtbeitrag benenfalls aus Rücklagen – in akuten Krisen nicht zu den Sozialversicherungen auch im unterstell- aus, sind dazu auch Finanzhilfen des Staates notwen- ten „Interesse von Arbeitnehmerinnen und Arbeit- dig.3 Mindestens sollte der Bund Darlehen geben, nehmern […] bei unter 40 Prozent [zu] stabilisie- um unmittelbare Finanzierungsschwierigkeiten zu ren“. Ausgleichszahlungen zur Aufrechterhaltung überbrücken. Bei Krisen von großer Tragweite und bewährter Leistungsniveaus waren zunächst aber erheblichen Zuwendungen an andere Sicherungs- eben nicht Teil dieses Versprechens. In der jüngsten systeme oder Personengruppen sollte es statt blo- Krise, in der abrupte Beitragssprünge eine deutliche ßer Überbrückungshilfen auch echte, nicht rück- Belastung dargestellt hätten, erfolgte eine solche zahlbare Zuschüsse geben. Gegenwärtig ist nicht Konkretisierung scheinbar im Rahmen der „Sozial- nur das Kriterium einer tiefgreifenden Krise erfüllt: garantie 2021“: Der Bund stellte in Aussicht, den Da es seit Beginn der Pandemie eine Reihe von selbstgewählten Beitragsdeckel bis zum Ende dieses Schutzprogrammen für Firmen und Selbstständige Jahres tatsächlich zu gewährleisten und für „dar- gab, die Corona-Folgen teils großzügig ohne Not- über hinausgehende Finanzbedarfe“ eigene Haus- wendigkeit einer Rückzahlung abgemildert haben, haltsmittel einzusetzen. Angesichts der Situation sind echte Zuschüsse an die Sozialversicherungen in von ALV und GKV und des schon 2020 auf durch- schnittlich 39,75 Prozent gestiegenen Gesamtbei- tragssatzes war diese Zusicherung zweifellos wich- tig. Auch dadurch werden aber nur akute Lücken 2 Siehe Brosig (2020a). geschlossen, statt die Versicherungen nachhaltig zu 3 Siehe Brosig (2020b). stärken.
— 126 — Bericht zur Lage 2021 Dies wäre allerdings dringend notwendig: Obwohl Soziale Versicherungen nachhaltig etwa die BA ihre eigentlich komfortable Rück- stärken! lage bis Ende 2020 komplett aufbrauchen musste, sieht der Bundeshaushalt in diesem Jahr nur einen Für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sollte Zuschuss von 3,35 Milliarden Euro vor, der als anstelle einer tatsächlich kurzsichtigen Logik des „Corona-Puffer“ deutlich zu schmal bemessen Sparens die gegenteilige Einsicht gelten, dass sich sein dürfte. Immerhin sollen weitere Darlehen im der deutsche Sozialstaat nicht nur eindrucksvoll Bedarfsfall nachträglich in Zuschüsse umgewandelt in der Krise bewährt hat, sondern zukünftig auch werden. Auch im System der gesetzlichen Kranken- kaum zum bisherigen Aufwand oder gar günsti- versicherung ist die finanzielle Lage problematisch: ger zu haben sein wird. Der demografische Wan- Obwohl für 2021 von einem Defizit in Höhe von gut del, der medizinische Fortschritt, oft schwindende 16 Milliarden Euro ausgegangen wird – teils infolge familiäre „Auffangnetze“ und zunehmende Weiter- der Pandemie, vor allem aber wegen sonstiger Leis- bildungsbedarfe bringen es nun einmal mit sich, tungsausweitungen –, erhöht der Bund seinen seit dass seine Bedeutung eigentlich sogar zunehmen Jahren auf 14,5 Milliarden Euro begrenzten allge- muss. Bewusste Begrenzungen der Einnahmenseite meinen Zuschuss nun nur einmalig um 5 Milliarden erzwingen dann geradezu einen Rückgang des Leis- Euro. Den Großteil der Last sollen die Beitragszah- tungsniveaus, wie es in der Renten- und in der Pfle- lerinnen und -zahler in dem Rahmen schultern, den geversicherung schon deutlich zu beobachten war. Kassenfinanzen und „Sozialgarantie“ gerade noch Sowohl bei der Alterssicherung als auch bei der zulassen: Zum einen wurden die Krankenkassen Langzeitpflege hat sich ebenfalls deutlich gezeigt, gesetzlich dazu verpflichtet, einen erheblichen Teil dass öffentliche Leistungslücken nicht angemessen ihrer Rücklagen zur Verteilung und unmittelbaren durch private oder betriebliche Anstrengungen aus- Nutzung an den Gesundheitsfonds zu überweisen. geglichen werden können: In der Regel zahlen Vor- Sie können damit weniger verlässlich planen und sorgende mehr aus eigener Tasche, um insgesamt müssen allgemeine Ausgaben mit Mitteln finanzie- doch schlechtere Leistungen zu erhalten. ren, die vor der Rückkehr zur gleichen Beitragslast („Parität“) vor allem von den Beschäftigten aufge- Damit der Sozialstaat langfristig leistungsfähig sein bracht worden waren. Zum anderen sollten sie ihre kann, darf es also keine strikten Einnahmendeckel Zusatzbeiträge um durchschnittlich 0,2 Prozent- geben. Jedenfalls mit Blick auf Sozialversicherungs- punkte erhöhen, sodass der 40-Prozent-Deckel mit beiträge ist dies aktuell aber offenbar nicht politi- nun 39,95 Prozent gerade noch eingehalten wird. sche Mehrheitsmeinung, und sogar radikale For- Die Mehrkosten des Anfang 2021 ausgeweiteten derungen nach einer „40-Prozent-Schranke“ im Anspruchs auf Kinderkrankengeld werden immerhin Grundgesetz werden wieder häufiger erhoben. Statt voll durch weitere Bundesmittel ausgeglichen. steigender Beiträge könnten prinzipiell auch die regelmäßigen Bundeszuschüsse merklich erhöht Wie schon die kurzfristigen Finanzspritzen 2020 oder überhaupt erst (wieder) eingeführt werden – werden die zusätzlichen Bundeszuschüsse für 2021 für ALV und SPV waren die jüngsten Zuwendun- die Sozialversicherungen etwas stützen. Aber auch gen die ersten seit längerer Zeit beziehungsweise sie können verlässliche Leistungen nicht über län- überhaupt. Ein solcher Weg der Steuer- anstatt Bei- gere Zeiträume garantieren. Wesentliche Her- tragsmittel wäre langfristig jedoch gefährlich, denn ausforderungen – beispielsweise die finanzielle Bundeszuschüsse können kein dauerhaftes „Allheil- Bewältigung zunehmender Langzeitpflege – hän- mittel“ für eigentlich anders organisierte Sozial- gen schließlich kaum mit der Corona-Krise zusam- versicherungen sein. Nach Auffassung der Arbeit- men. Sie wurden nicht durch sie erzeugt und wer- nehmerkammer ist es ein Wert an sich, dass sie den wohl auch nur wenig erschwert, sofern nicht beitragsfinanziert und eben nicht unmittelbar staat- verbreitete gesundheitliche Folgeschäden und wirt- lich organisiert sind. Sie können damit im Ideal- schaftliche „Nachbeben“ zu beklagen sind. Anders fall nicht nur hohe, den Lebensstandard sichernde als oft behauptet ergibt sich „durch Corona“ auch Leistungsniveaus erreichen, sondern sind durch die kein finanzieller Sachzwang für eine weitere Schwä- Selbstverwaltung auch weniger anfällig für politi- chung der Sozialversicherungen, die aus ökonomi- sche Ein- und Übergriffe. Kommt es aber bei gede- scher Sicht eben nicht bloße Belastungen, sondern ckelten Beitragssätzen zu immer höheren Zuschüs- tatsächlich Produktivfaktoren sind.4 sen des Bundes, so verschiebt sich das Gewicht zugunsten letzterer. Schleichend drohen die 4 Siehe Wöss (2020).
— 03 Soziales, Pflege und Gesundheit — 127 Sozialversicherungen dann zu steuerfinanzierten Staatssystemen umgebaut zu werden, in denen ein Literatur auskömmlicher Lohnersatz kaum noch begründet werden kann und gute Versorgung bei Krankheit oder Pflegebedarf leicht dem fiskalischen „Rotstift“ zum Opfer fällt. Um dem „süßen Gift“ zunehmender Steuerfinan- zierung zu entgehen, sollten die eigentlichen Fun- damente gestärkt werden. Notwendig sind Maß- nahmen für Erwerbstätigen- beziehungsweise Bürgerversicherungen mit umfassenden Bemes- sungsgrundlagen, sodass auch starke Schultern angemessen beteiligt werden und zur Nachhal- tigkeit der Systeme beitragen. In den primär auf Brosig, Magnus/Geraedts, Regine (2019): Sozialversi- Sach- und Dienstleistungen ausgerichteten Versi- cherungen: Stärken und modernisieren. Kammer- cherungszweigen GKV und SPV könnten so sogar Position Nr. 1/2019. Arbeitnehmerkammer Bremen Entlastungen für die allermeisten Arbeitnehmerin- (Hrsg.). Bremen. nen und Arbeitnehmer erreicht werden: Dank einer Brosig, Magnus (2020a): Finanzierung der Krankenkas- viel breiteren Beitragsgrundlage, die etwa auch sen: Wer zahlt für Corona-Folgen? Stellungnahme Kapitaleinkünfte umfasst, wäre der allgemeine Bei- der Arbeitnehmerkammer Bremen. Bremen. tragssatz bei gleichbleibendem Leistungsniveau merklich geringer. Auch die in ihrer Basis gestärk- Brosig, Magnus (2020b): Sozialversicherungen in der ten Versicherungen könnten und sollten aber selbst- Corona-Pandemie: Bewährte Absicherung garantie- verständlich noch Bundesmittel erhalten – und ren und fair finanzieren! Stellungnahme der Arbeit- zwar nicht nur in wirtschaftlichen Notsituatio- nehmerkammer Bremen. Bremen. nen, sondern auch dauerhaft dort, wo dies syste- Wöss, Josef (2020): Sozialstaat – Stabilitätsanker in der matisch erforderlich ist. Dies gilt etwa für bei der Krise. 27.04.2020. https://awblog.at/sozialstaat- Rentenberechnung berücksichtigte Zeiten der Kin- stabilitaetsanker-in-der-krise/. Zugriff am 10.02.2021. dererziehung („Mütterrente“ und Ähnliches), die logischerweise nicht durch Beiträge einer Erwerbs- tätigenversicherung gedeckt werden können. Derar- tige Einnahmen gleichen dann aber zielgenau Auf- wendungen für gesamtgesellschaftliche Aufgaben aus und müssen nicht dazu dienen, eine Versiche- rung trotz künstlich begrenzter Beitragsaufkommen stabil zu halten. Auch breit aufgestellte und auf eine umfassende Finanzierungsbasis zurückgreifende Sozialversiche- rungen sind angesichts der strukturellen Heraus- forderungen keineswegs immun gegen langfristig steigende Beiträge. Politik muss verantwortungs- „Um dem ,süßen Gift‘ zunehmender voll mit dieser Tendenz umgehen, denn sehr hohe Beiträge und plötzliche Anstiege bewirken insbe- Steuerfinanzierung zu entgehen, sondere in Krisenzeiten erhebliche Belastungen für sollten die eigentlichen Fundamente die Beschäftigten. Dies gilt vor allem für Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohn- gestärkt werden. Notwendig sind bereich (siehe Beitrag "Corona drückt auf viele Ein- Maßnahmen für Erwerbstätigen- kommen" in diesem Band), der in Bremen der mit Abstand größte in den alten Ländern ist. Voraus- beziehungsweise Bürgerversicherun schauende Sozialversicherungspolitik sollte Haus- gen mit umfassenden Bemessungs halte und Rücklagen der Träger deshalb nicht „auf Kante nähen“, sondern unvermeidliche Beitragssatz- grundlagen.“ steigerungen über längere Zeiträume strecken und klar kommunizieren. So werden Belastungen plan- bar und leichter verkraftbar.
— 128 — Bericht zur Lage 2021 Dr. Magnus Brosig Alterssicherung: Kapitaldeckung ist kein Allheilmittel Rentenversicherung sehr wohl leistungs- und zukunftsfähig sein kann. Und gleichzeitig zeigt der offizielle Alterssicherungsbericht der Bundesregie- rung erneut, dass flächendeckende Zusatzvorsorge jedenfalls mit dem hierzulande gewählten Modell Debatten über einen Beitragsdeckel für die Sozi- eine bloße Illusion ist: Auch zwei Jahrzehnte nach alversicherungen, wie sie derzeit geführt werden, dem rentenpolitischen Paradigmenwechsel ver- beziehen sich naturgemäß auch auf die gesetzli- fügen lediglich zwei Drittel der Arbeitnehmerin- che Rentenversicherung (GRV). Mit einem hohen nen und Arbeitnehmer über irgendeine betriebli- Lohnersatzniveau und wirkungsvollem Sozialaus- che oder „Riester“-Vorsorge, ohne dass damit schon gleich war diese über viele Jahrzehnte leistungs- etwas über deren jeweilige Qualität oder Höhe fähig genug, um Beschäftigten nach einem langen gesagt wäre. Besonders prekär ist die Vorsorgesitu- Arbeitsleben auskömmliche Alterseinkommen zu ation unter Geringqualifizierten sowie Geringver- sichern. Ergänzende Einkünfte – etwa aus Betriebs- dienerinnen und -verdienern. Das Scheitern dieses renten oder Lebensversicherungen – waren durch- Modells war schon bei Einführung der neuen Instru- aus verbreitet, aber zur weitgehenden Aufrecht- mente absehbar, weil die Politik auf bloße Anreize erhaltung des Lebensstandards nicht zwingend durch staatliche Förderung setzte, auf individuelle notwendig. Lösungen vertraute und auch keine dauerhaft preis- werten Produkte durchsetzte. Ersatzvorsorge unter- Das Ziel einer schon für sich ausreichenden gesetz- scheidet sich damit in den meisten Fällen diametral lichen Rente wurde durch tiefgreifende Reformen in von der gesetzlichen Rente: Diese ist verpflichtend, den 2000er-Jahren aufgegeben. Nunmehr soll das verlässlich, umlagefinanziert, hat trotz der Ein- sogenannte „Mehrsäulenmodell“ aus gesetzlicher schnitte noch immer ein nennenswertes Leistungs- Rente und freiwilliger privater und betrieblicher ziel und sichert auch Erwerbsminderung und Hin- Vorsorge ein Auskommen im Alter ermöglichen. Die terbliebene ab. in der Politik nach wie vor weitverbreitete Über- zeugung, diese Kombination aus geschwächter GRV Die fundamentalen Defizite der öffentlich unter- und externen „Lückenbüßern“ werde für die über- stützten Privatvorsorge lassen sich auch nicht große Mehrheit der Beschäftigten zu guten Alters dadurch wegargumentieren, dass deren Rendite in einkommen führen, wurde auch im Abschlussbe- vielen Fällen doch dank Zulagen oder Steuererspar- richt der „Rentenkommission“ vom März 2020 nis hoch sei: Dies sagt eben nichts über die Qua- nicht hinterfragt. Verwundern kann dies nicht: Die lität des eigentlichen Produkts aus, sondern ist von der großen Koalition geschaffene Kommission lediglich ein Eingeständnis einer teils üppigen Sub- war zu einem großen Teil mit Befürwortern dieses vention gerade auch zum Vorteil der gewinnori- Modells besetzt und hatte auch den ausdrücklichen entierten Anbieter. Klar ist: Der Staat sollte struk- Auftrag erhalten, sich mit seiner „Sicherung und turell mangelhafte Produkte nicht mit wertvollen Fortentwicklung“ zu befassen. Steuermitteln „aufhübschen“, sondern diese zielge- nauer in der ungleich effizienteren und besser absi- Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer war und ist chernden GRV einsetzen. Gegen den bisherigen die Richtungsentscheidung für eine zunehmend Ansatz ist schließlich noch einzuwenden, dass auch „kapitalgedeckte“ Alterssicherung falsch. Beispiele flächendeckendes „Riestern“ oder Entgeltumwan- aus anderen Ländern – insbesondere aus Öster- deln keine echte Lösung wäre: Derartige Konstrukte reich – zeigen, dass eine starke umlagefinanzierte können theoretisch zwar noch eine fixe gesetzliche
— 03 Soziales, Pflege und Gesundheit — 129 Altersrentenlücke schließen, nicht aber eine immer schwedischen „Prämienrente“ herangezogen. Theo- weiter wachsende. Sie bieten außerdem nicht das retisch könnten viele Millionen Menschen gemein- volle Leistungspaket und erst recht keinen sozia- sam und vergleichsweise kostengünstig „in einem len Ausgleich, der aber für viele Menschen – gerade Topf“ ansparen, aus dem dann wiederum ihre Ren- auch im Land Bremen – eine erhebliche Bedeutung tenansprüche anteilig bedient werden. Dies würde besitzt. nicht nur die Verbreitung erhöhen oder gar maxi- mieren. Es wäre auch leichter möglich, Schwan- Was sollte also getan werden? Immer wieder – und kungen mithilfe sicherer Reserven abzupuffern und auch im aktuellen Koalitionsvertrag – wird vorge- deshalb größere Risiken einzugehen. Grundsätzlich schlagen, das bisher recht komplizierte Modell der wären etwa durch Aktienanlagen höhere Renditen Riester-Rente durch einen „Standard-Riester“ zu und schließlich auch Alterseinkommen erreichbar. vereinfachen. Hintergedanke ist, dass schlankere Dieser Logik folgend gibt es viele recht konkrete Strukturen einen Kostenvorteil und schließlich eine Vorschläge, und mit dem sogenannten „Sozial- breitere, erfolgreichere Nutzung bewirken. Denk- partnermodell“ hatte der Gesetzgeber im Zuge der bar wären etwa einfachere, aber strenger verpflich Betriebsrentenreform 2017/2018 bereits einen ers- tende Vorgaben zur Produktgestaltung. Auch ein ten, bisher aber praktisch irrelevanten Versuch staatliches Referenzangebot könnte dazu dienen, unternommen. die privaten Anbieter in puncto Qualität und Kos- ten zu disziplinieren. Allerdings würde dies nichts Auch dieser Weg ist aber keineswegs frei von am problematischen „Individualismus“ des Ansatzes Tücken: Zunächst ist die „Glättung“ von Wert- ändern: Jeder und jede Einzelne müsste sich wei- schwankungen im Kapitalstock nicht trivial. Umfas- terhin selbst um gute Ersatzvorsorge kümmern und sende Sicherheit ist aber ein hohes Gut in der könnte aus vielerlei Gründen daran scheitern. Eine Alterssicherung und insbesondere in einem Sys- persönliche „Riester-Pflicht“ würde die Verbreitung tem mit gezielt geschwächter, oft sehr niedriger wiederum erhöhen, die hohen Kosten des Individu- gesetzlicher Rente wie in Deutschland. Zweitens alsystems aber auch nicht drastisch senken. sind anhaltend deutliche, die Unsicherheit aufwie- gende Überrenditen von Aktien im Vergleich zur Ein Ausweg könnte in verpflichtender, kollek- GRV keineswegs sicher. Drittens ist fraglich, ob das tiv betriebener und vorwiegend staatlich organi- bei internationaler Aktienanlage unumgängliche sierter Vorsorge auf dem Kapitalmarkt bestehen. Abschöpfen des Wohlstands anderer Länder ethisch In der Debatte wird dafür häufig das Beispiel der vertretbar und überhaupt realistisch ist – zumal langfristig. Und viertens droht bei innerstaatlicher Anlage ein erheblicher Interessengegensatz: Was bedeutet es für Wirtschaft und Gesellschaft, wenn Beschäftigte zunächst an hohen Löhnen, im Alter aber an hohen Kapitalerträgen interessiert sind? Wird damit nicht tatsächlich jener massive Genera- tionenkonflikt geschaffen, der umlagefinanzierten Systemen gerne unterstellt wird? „Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer war und ist die Richtungsentschei- Insgesamt wäre eine verpflichtend-kollektive „Kapitaldeckung“ dem Modell des freiwillig-indivi- dung für eine zunehmend ,kapital- duellen Vorsorgesparens zwar wohl in vielen Punk- gedeckte‘ Alterssicherung falsch. Für ten tatsächlich merklich überlegen. Sie könnte aber eben bei Weitem nicht alle Nachteile gegenüber nachhaltig gute Alterseinkommen der gesetzlichen Rente ausgleichen und benötigte führt kein Weg an einer Stärkung der außerdem viel Zeit für den Aufbau von Kapitalstö- cken. Entsprechende Zeiträume stehen allerdings gesetzlichen Rente vorbei.“ für sehr viele Menschen bis zum Ruhestand gar nicht mehr zur Verfügung. Aus Sicht der Arbeitneh- merkammer gilt nach wie vor: Auch wenn es durch- aus interessante Reformoptionen hinsichtlich der Zusatz- beziehungsweise Ersatzvorsorge geben mag, führt für eine nachhaltig gute Alterssicherung kein Weg an einer Stärkung der GRV vorbei.
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