Psychodynamische Aspekte der Genese und des Verlaufs der Drogenabhängigkeiten bei Jugendlichen

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Originalarbeit

Psychodynamische Aspekte der Genese und des
Verlaufs der Drogenabhängigkeiten bei Jugendlichen
n   R. Battegay

              Summary                                                           um so mehr die Leere in ihrem Selbst, so dass sie
                                                                                sich schon bald aus diesem Grunde neue Drogen
              Battegay R. [Psychodynamic aspects of the gen-                    zuführen müssen. Bei einer Untersuchung an 4082
              esis and the course of drug dependences with                      Rekruten in den Jahren 1972/73 und bei einer
              adolescents.] Schweiz Arch Neurol Psychiatr                       dritten Nachuntersuchung von 914 Männern der
              1998;149:194–200.                                                 ehemaligen Rekruten im Jahre 1991 zeigte sich
                                                                                u. a., dass liebloses und ungesichertes Aufwachsen
              The drug effect gives especially young people                     bis in die reiferen Erwachsenenjahre ein erhöhtes
              with a borderline personality structure and/or                    Risiko für den Suchtmittelkonsum beinhalten
              narcissistic personality disorder an emotional                    kann. Die Suche nach narzisstischer Verstärkung
              “high” and a cognitive illumination which moves                   und «Hungerstillung» wird als Hauptmotiv des
              them profoundly and fascinates them. After this                   Griffs nach dem Suchtmittel gesehen. Die An-
              short effect the concerned people feel all the more               nahme, dass Sucht auf der Basis einer (latenten)
              an emptiness in themselves. Therefore they must                   Homosexualität entsteht, wie es Radó [20] an-
              take drugs soon again. An inquiry with 4802                       nahm, ist eine unbewiesene Hypothese.
              recruits (20 years old men) in 1972/73 and a third                    Schlüsselwörter: emotionales «Hoch», kogni-
              following-up examination of 914 men of those                      tive Erhellung, «Hunger» nach Bemächtigung von
              former recruits in 1991 showed that people who                    Objekten und Sättigung
              had grown up without love and security had a
              higher risk to fall into drug consumption until                       Die jungen Menschen, die infolge ihrer Bor-
              their mature adult years.The search for narcissistic              derline-Persönlichkeitsstruktur oder ihrer narziss-
              reinforcement and “tranquilizing” their “hunger”                  tischen Persönlichkeitsstörung – die ich auch als
              represents a main motive for seeking help with                    narzisstische Neurose bezeichne (Battegay [5]),
              drugs.The supposition that drug addiction develops                weil sie, im Unterschied zu den genetisch zumin-
              on the basis of a (latent) homosexuality as Radó                  dest mitbedingten Borderline-Störungen (Gun-
              [20] supposed is an unproved hypothesis.                          derson [13]), zweifellos vorwiegend auf frühkind-
                  Keywords: emotional “high”, cognitive illumi-                 lichen Mangelerfahrungen beruhen – später zu
              nation, “hunger” for taking possession of objects                 Drogen greifen, fühlen sich durch die Anforderun-
              and satiation                                                     gen im Elternhaus und in der Schule zuwenig in
                                                                                ihren narzisstischen Bedürfnissen erkannt, leiden
                                                                                darunter und erleben keine Objekte, durch die sie
              Zusammenfassung                                                   in ihrer subjektiven Einsamkeit erreicht werden
                                                                                könnten. Diese Individuen sind meist schon vor
              Die Drogenwirkung vermittelt insbesondere jun-                    dem Griff zur Droge von den Mitmenschen ent-
              gen Menschen mit Borderline-Persönlichkeits-                      täuscht, weil ihre Erwartung oder Hoffnung, doch
              struktur und/oder narzisstischen Persönlichkeits-                 noch ein «unzerstörbares Objekt» zu finden, das
              störungen ein emotionales Hoch und eine kognitive                 bedingungslos zu ihnen stünde, nie in Erfüllung
              Helligkeit, die sie innerlich bewegt und fasziniert.              ging.
              Nach diesem kurzen Effekt fühlen die Betroffenen

              Korrespondenz:                                                    Ich-Pathologie und mangelnde Selbstidentität
              Prof. Dr. med. Raymond Battegay,                                  als suchtverursachende Faktoren
              emeritier ter Chefarzt der Psychiatrischen Universitätspoli-
              klinik und Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Basel,
              Delsbergerallee 65,                                               Borderline-Persönlichkeiten, die eine Fragmenta-
              CH-4053 Basel                                                     tionstendenz ihres Ich aufweisen, sind von vorn-

        194       SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE                                                  149 n 5/1998
Tabelle 1   Elterliche Situation und Anteil starker Alkoholkonsumenten (>350 g/Woche).

            Elterliche Situation                                 Total Probanden         Anteil starker Alkoholkonsumenten
                                                                                         1972/73                  1991

            Eltern bei Gebur t des Probanden verheiratet,        722                     44    5,7%*             11    1,4%*
            bis zum 20. Lebensjahr des Probanden nicht
            geschieden/getrennt oder gestorben
            Mutter bei Gebur t des Probanden ledig                18                      3   16,7%                0   0,0%
            Scheidung/Trennung der Eltern bis zum                 38                      5   13,2%                1   2,6%
            20. Lebensjahr des Probanden
            Ein Elternteil oder beide Elternteile bis zum         77                      4    5,2%                3   4,0%
            20. Lebensjahr des Probanden gestorben

            * Abnahme des Anteils starker Alkoholkonsumenten von 1972/73 bis 1991 signifikant (Chi2 -Test: p
Versuchte Überbrückung der Kluft                      Phase der Mutter-Kind-Symbiose strebt jedes Kind
      zwischen (subjektiven) Erwartungen                    mit der Mutter eine narzisstisch-fusionäre Bezie-
      und (realen) Möglichkeiten                            hung bzw. eine aktive und nahe Intersubjektivität
                                                            (Stern [24]) an. Die späteren Süchtigen – es sind
      Bei den Jugendlichen, die zur Sucht prädisponiert     meist Menschen mit Borderline-Persönlichkeits-
      sind, besteht eine Kluft zwischen (subjektiven)       störungen oder narzisstischen Persönlichkeits-
      Erwartungen und (objektiven) Möglichkeiten, so        störungen – in ihrer narzisstischen Not bleiben
      dass versucht wird, diesen Zwiespalt mit Hilfe        entweder fixiert auf das narzisstisch-fusionäre
      äusserer bzw. pharmakologischer Mittel zu be-         Niveau der Objektbeziehungen mit den damit
      wältigen. In dieser Hinsicht sind die Süchtigen       verbundenen Bemächtigungs- bzw. Sättigungs-
      den Depressiven verwandt. Bei Menschen, die           erwartungen, oder aber sie regredieren in Si-
      zu Depressionen neigen, wie auch bei Sucht-           tuationen, die sie als unlösbar erleben, darauf
      tendenz trachten die Betroffenen danach, sich         zurück.
      unersättlich Objekte narzisstisch anzueignen und/        Zwar ist die narzisstisch-fusionäre Beziehung,
      oder oral einzuverleiben (Abraham [1, 2], Batte-      die in der frühen Kindheit die Mutter-Kind-Rela-
      gay [5], Freud [12]). Süchtige wie Depressive         tion prägt, auch bei Gesunden immer die primär
      hoffen, damit eine narzisstische Verstärkung und      auftretende, bei den Borderlines und insbesonde-
      «Hungerstillung» zu erfahren (Battegay [3, 4, 6]).    re den Individuen mit narzisstischen Persönlich-
      Sie versuchen, die sich ihnen versagenden Objek-      keitsstörungen aber ist diese Beziehungsebene
      te durch Aneignung, Aufnahme und Integration          stets überbetont. Besonders die Borderlines nei-
      in ihre eigene Welt zu (er)fassen und dadurch         gen dazu, die Objekte, die sich ihnen für eine
      ihre Kommunikationsprobleme zu bewältigen.            Fusion leihen (sog. Selbstobjekte), als gute anzu-
      Die phantasierte Fusion mit einem Objekt oder         sehen, die anderen aber, die sich ihren Fusions-
      dessen real erfolgende Einverleibung führen zu        bemühungen entziehen, als schlechte zu betrachten
      einer Abhängigkeit von ihm, die die Eigenständig-     (M. Klein [16]). So kommt es den Objekten
      keit eines/einer Betroffenen weiter beeinträchtigt.   gegenüber, mit denen sie keine Fusion einge-
      Der Depressive, dem es nicht gelingt, seine über-     hen können, zu projektiven Identifikationen. Das
      mässigen Bemächtigungs- und Einverleibungs-           führt dazu, dass diese Objekte ihre Aggressionen
      tendenzen gegenüber den Objekten erfüllt zu           auf sich ziehen.
      erleben, neigt dazu, sich in die Bedrücktheit            Die reiferen Formen der aktiven Ich-Leistun-
      zurückzuziehen – «learned helplessness» (Selig-       gen, wie die Identifikation, die Projektion, die
      man [22]). Der Süchtige, besonders der Drogen-        Abgrenzung von den Objekten usw., aber auch
      abhängige, wird, da er bei der Bemächtigung oder      die Kreativität und die höchste Ebene der Objekt-
      beim Verschlingen von Objekten ebenfalls deren        beziehungen, die auf dem freien Entscheid für
      Eigenwert aus den Augen verliert, immer mehr          oder gegen die Aufnahme oder die Beibehaltung
      danach trachten, sich Objekte einzuverleiben, bis     einer Objektbeziehung beruht, kommen bei den
      er daran zugrunde zu gehen droht oder geht, ohne      Süchtigen viel weniger zum Zug.
      je zufriedengestellt oder gesättigt worden zu sein.      Durch die Tatsache, dass die Süchtigen auf
      Wegen dieses süchtigen und damit den leib-seeli-      den erwähnten fusionären Objektbezug eingeengt
      schen und äusseren Realitäten nicht Rechnung          sind, wurden frühere Autoren, die allerdings ihr
      tragenden Problemlösungsverhaltens kommen             Augenmerk vor allem auf die Oralität richteten,
      Depressive wie Süchtige über kurz oder lang in        etwa veranlasst, in ihnen latente Homosexuelle
      eine Grenzsituation (Battegay [4]), in der sie        zu sehen (Abraham [1, 2], Hartmann [14], Radó
      Gefahr laufen, psychophysischen und sozialen          [20]). Diese Ansicht könnte auch mittels der
      Schaden zu erleiden und willentlich oder unwil-       Narzissmus-Theorie vertreten werden und wäre
      lentlich, bewusst oder unbewusst, Suizid zu be-       dann dem erwähnten Umstand zuzuschreiben,
      gehen.                                                dass die Süchtigen sich gerne mit ihnen scheinbar
                                                            ähnelnden Objekten umgeben und verstärken.
                                                               Sándor Radó [20] sieht indes als Ätiologie der
      Die Objektbeziehungen der Süchtigen                   Süchte «natürlich die aktuelle Versagung mit all
                                                            ihren vielgestaltigen Phänomenen, die uns aus
      Das Kind versucht, wie Dan Stern [23] gezeigt         der Ätiologie der Neurosen bekannt sind». Auf
      hat, bereits in der frühesten Zeit seines Lebens      die Versagung folge zuerst eine Neurose und erst
      die Mutter durch Veränderungen im Blickverhal-        hernach die Sucht. Die disponierenden Momente,
      ten, mimische und anderweitige Ausdrucksbe-           die über die Wahl einer «Flucht in die Süchtigkeit»
      wegungen zu «packen» und zu bewegen. In der           entschieden, müssten also weiter zurück liegen.

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Dabei lenke sich die Aufmerksamkeit auf die Oral-     Homosexuellen oft feststellbare Fixierung auf
      erotik. Auf deren Bedeutung wies bereits Freud        die Analität zwar verständlich, doch weshalb er
      [11] in den «Drei Abhandlungen zur Sexualtheo-        unvermittelt den Plural braucht und von prägeni-
      rie» hin. Freud entwickelte dort die Theorie, dass    talen Erotismen spricht, ist nicht ohne weiteres
      die psychischen Äusserungen der Oralerotik auch       ersichtlich, da er zuvor neben dem pharmakotoxi-
      in den Fällen von Sucht stark hervortreten, bei       schen nur den «alimentären» und damit oralen
      denen das Gift nicht auf oralem Wege einverleibt      «Orgasmus» beschrieben hat.
      werde. Es wurde die Ansicht geäussert, dass zwi-          Es ist nach dem Gesagten schwierig, genau fest-
      schen der oralen Zone und dem toxischen Rausch,       zustellen, wie die Süchtigen im Zusammenhang
      wie Radó sagt, «geheime Bande bestehen, deren         mit der Homosexualität gesehen werden könnten.
      Bedeutung auch dann erhalten bleibt, wenn sich        Ich möchte annehmen, dass bei beeinträchtigtem
      in der Giftzufuhr andere erogene Zonen an die         Narzissmus, sei es auf der Basis einer Borderline-
      Stelle der oralen gesetzt haben oder dieselbe auf     Persönlichkeitsstörung oder einer narzisstischen
      eine Anlehnung an erogene Zonen ganz verzichtet.      Persönlichkeitsstörung, auch verschiedene sexuel-
      ... Es ist, als wäre der toxische Rausch ein orales   le Entwicklungen möglich sind. Den Ausschlag
      Phänomen geblieben, wiewohl gerade die vollen-        für die Richtung eines Werdeganges dürften drei
      dete Art seiner Hervorrufung sich von der oralen      Faktoren geben: (1) eine mögliche, wenn auch
      Zone emanzipiert hat. Diese Anschauung ist ge-        nicht bewiesene genetische Prädisposition, (2) eine
      wiss unbefriedigend und wird es noch mehr, wenn       entsprechende Beeinflussung durch das früh-
      man erwägt, wie wenig man durch sie gewonnen          kindliche Milieu im Sinne der Förderung einer
      hat.»                                                 gesellschaftlich als typisch oder atypisch gesehenen
          Radó spricht in diesem Zusammenhang davon,        geschlechtlichen Rolle, (3) ein Lernprozess, bei
      dass die orale Organisation des Säuglings im «ali-    dem langzeitige und zufällige emotionale und
      mentären Orgasmus» gipfle. Der «pharmatoxische        kognitive Einwirkungen im Sinne der Life-events
      Orgasmus» erweise sich als eine Neuauflage des        (Holmes und Rahe [15], Dohrenwend und Doh-
      alimentären, mit dem er den gestreckten Verlauf       renwend [10] u. a.) mitwirken. Auch bei der Ho-
      und vieles andere gemeinsam habe. Radó statu-         mosexualität dürfte die narzisstische Suche nach
      ierte, dass sich so mit einem Schlage eine Reihe      einem alter ego, der Wunsch nach einer Fusion
      von Fragen löste, die sich beim Studium der Süch-     mit einem Selbstobjekt, eine wesentliche Rolle
      te ergäben. Er sagt wörtlich:                         spielen, wobei mit beginnender Geschlechtsreife
          «Die in den Krankheitsbildern hervortretenden     dann die sexuelle Libido sich in der Richtung des
      prägenitalen Erotismen sind die psychischen           narzisstisch-fusionären Bezuges entwickelt.
      Einkleidungen des alimentären Orgasmus aus                Eine parallele Entwicklung ist bei den Süchti-
      der Infantilzeit. ... Wir verstehen zunächst von      gen zu erkennen: Haben Prädisponierte beispiels-
      der psychologischen Seite her, warum die mei-         weise ein entsprechendes Vorbild in bezug auf
      sten Süchte mit starker Abmagerung und Ver-           den Suchtmittelgebrauch bei ihren Eltern erlebt,
      nachlässigung der Ernährung einhergehen. ...          zudem emotionale und kognitive Mangel- und
      Der grossartige pharmakotoxische Orgasmus hat         Konflikterfahrungen durchgemacht, und sind sie
      die Rudimente des alimentären aufgezehrt, die         zufällig oder gezielt mit entsprechenden Sucht-
      als Lustprämie die Ernährung und Verdauung            giften in Berührung gekommen, ist die Vorausset-
      sichern.»                                             zung zu einem süchtigen Lernprozess geschaffen,
          Wir müssen hier Radó entgegenhalten, dass         aus dem heraus die Betreffenden, bei pharma-
      es reichlich konstruiert wirkt, jegliche pharma-      kologischer Gewöhnung und Abhängigkeit, nicht
      kotoxische Wirkung über die Oralität zu erklären      mehr von allein herauskommen.
      und den «pharmakotoxischen Orgasmus» mit dem              Die Annahme aber, dass Sucht auf der Basis
      «alimentären Orgasmus» in Verbindung zu brin-         einer (latenten) Homosexualität entstehe, halte
      gen. Dieser Autor will indes wohl auch sagen,         ich für eine nicht bewiesene Hypothese, wenn
      dass die Süchtigen auf einem prägenitalen Niveau      auch bei beiden eine mehr oder weniger starke
      fixiert sind, eine Aussage, die ich durchaus teilen   Fixierung auf narzisstisch-fusionärem Niveau be-
      kann, wenn ich auch annehme, dass die Fixierung       steht. Weshalb es aber bei den einen zu süchtigem,
      auf der narzisstisch-fusionären Ebene erfolgt         bei den anderen zu homosexuellem Verhalten
      und sich die Süchtigen mit dem Suchtgift durch        kommt, ist nicht geklärt.
      Inbesitznahme und Einverleibung des Objektes              Die Entwicklung zur Sucht kann ich nicht
      narzisstisch verstärken möchten. Die Homosexua-       von vornherein als eine pathologische ansehen,
      lität mit den prägenitalen Erotismen in Verbin-       denn in jedem Menschen besteht eine Suchtnei-
      dung zu bringen ist im Hinblick auf die bei           gung, die sich allerdings in unterschiedlichen

197      SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE                                        149 n 5/1998
Dimensionen zeigen kann. Ebenso können wir            zwischen dem 14. und dem 18. Lebensjahr erfasst,
      Sexualpräferenzen, die nicht der sozialen Norm        die entweder an reinen oder komorbiden Formen
      entsprechen, nicht von vornherein als pathologisch    von vier hauptsächlichen psychiatrischen Erkran-
      bezeichnen. Es treten Varianten des Sexualver-        kungen (Depression, Angst, Substanzgebrauch
      haltens auf, bei denen, neben den unbewiesenen        und disruptives Verhalten) litten. Eine Komorbität
      anlagemässigen Faktoren, Vorbildeinwirkungen,         war am stärksten vertreten bei den Angststörun-
      Lebensumstände/-ereignisse und Lernprozesse           gen, am wenigsten bei den Störungen, die mit
      mitwirken. Dabei wäre bei der Sexualität, wie         Substanzgebrauch zusammenhingen.
      Rauchfleisch [21] betont, erst noch die Unter-           Aus den angeführten Erhebungen geht lediglich
      scheidung von Money et al. [19] in «sex» (= bio-      hervor, dass offenbar frühe missliche emotionale
      logisches Geschlecht) und «gender» (psychoso-         Erfahrungen, insbesondere kindliche sexuelle
      ziales Geschlecht) in Betracht zu ziehen.             Traumatisierungen, besonders beim weiblichen
                                                            Geschlecht zu einer Prädisposition für den Dro-
                                                            genabusus führen. Diese statistischen Erhebungen
      Suche nach kausalen Faktoren                          vermögen aber naturgemäss wenig über die Psy-
      durch epidemiologische Untersuchungen                 chodynamik bei den einzelnen Betroffenen aus-
                                                            zusagen.
      In der neueren Literatur wird immer wieder stati-
      stisch nach möglichen kausalen Faktoren der
      Suchtmittabhängigkeiten geforscht. So haben           Therapie
      Brook et al. [9] die gegenseitigen Beziehungen
      von Kindheitsaggression, frühem und späterem          Wir können den Drogenabhängigen nicht die ein-
      intrapsychischem Distress, Unkonventionalität         zige, wenn auch fragwürdige narzisstische Stütze
      und Drogengebrauch bei Adoleszenten unter-            nehmen, ohne ihnen in unserer Therapie einen
      sucht. Die ersten Daten wurden von den Proban-        Ersatz zu bieten. Man kann sagen, dass die Droge
      den erhalten, als sie 5–10 Jahre zählten. Die Nach-   einen gefährlichen Selbstheilungsversuch schwerst
      folgeuntersuchungen wurden ausgeführt, als sie        narzisstisch Beeinträchtigter darstellt, der aber
      13–18 Jahre, und wieder, als sie 15–20 Jahre alt      einem Suizid, zumindest temporär, vorbeugt. Es
      waren. Die statistische Analyse ergab, dass Kind-     ist uns Therapeuten damit noch ein Moratorium
      heitsaggressionen korrelierten mit späterem in-       gegeben. Wenn wir ihnen Drogenerhaltungspro-
      trapsychischem Distress, Unkonventionalität und       gramme mittels Methadon oder anderer Opiate
      Drogengebrauch. Es ergab sich eine signifikante       anbieten, so stellt das nicht einfach ein Mitagieren
      Beziehung zwischen Kindheitsaggression und Dro-       dar. Die Opiatkonsumenten mit ihrer körperlichen
      gengebrauch mit 15–20 Jahren der Probanden,           Abhängigkeit und ihrer kaum aushaltbaren nar-
      wobei offenbar der intrapsychische Distress und       zisstischen Leere können in der Regel nicht nur
      die Unkonventionalität vermittelnd wirkten.           psychotherapeutisch angegangen werden. Sie ha-
          Eine grossangelegte Studie von Widom et al.       ben nicht die entsprechende Frustrationstoleranz
      [25] betraf die Frage, ob ein erfahrener Kindheits-   und leiden zu sehr bei einer nur psychotherapeu-
      missbrauch zu einem vergrösserten Risiko von          tischen oder gar -analytischen Vorgehensweise.
      Alkoholabusus im jungen Erwachsenenalter füh-             Die Betäubung ihrer narzisstischen, einschliess-
      re und ob verschiedene Entwicklungen und ver-         lich der oralen, Bedürfnisse und das gelegentli-
      schiedene Typen des Abusus dadurch bedingt            che High, das sie durch die Erhaltungsmedikation
      seien. Zu diesem Zwecke wurde ein Probanden-          etwa erfahren, vermag diese Jungen in narzissti-
      kollektiv mit einem Kontrollkollektiv mittels         scher Not über das subjektive Erleben ihrer Nich-
      strukturierter und semistrukturierter Fragebogen      tigkeit und ihrer Ausgegrenztheit zu heben und sie
      untersucht. Total wurden 611 Missbrauchte und         vor einem fatalen Entschluss zu schützen. Nichts-
      457 Kontrollpersonen erfasst. Bei den Männern         destoweniger werden sie sich gelegentlich weiter
      ergab sich keine Beziehung zwischen einem in der      Heroin injizieren oder dieses Mittel auf Folien
      Kindheit erfahrenen Missbrauch und dem späteren       rauchen oder zu Kokain oder anderen Mitteln
      Alkoholabusus. Bei den Frauen hingegen wurde          greifen, wobei stets die Gefahr einer Überdosie-
      eine signifikante, bivariable Beziehung zwischen      rung und damit des Todes droht.
      Kindheitsmissbrauch und späterem Alkoholab-               Wie meine jahrelangen Erfahrungen mit Grup-
      usus gefunden.                                        penpsychotherapie bei jungen Drogenabhängigen
          Aufmerksamkeit wurde auch der Komorbidität        zeigen, sind sie im allgemeinen dankbar für die
      u. a. mit Substanzabusus geschenkt (Lewinsohn et      Möglichkeit, an einer therapeutischen Gruppe von
      al. [18]). Insgesamt wurden 1507 Adoleszenten         gleichermassen Betroffenen teilnehmen zu kön-

198      SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE                                        149 n 5/1998
nen. Zwar entwickeln sie in diesem Milieu nur         Literatur
      langsam ein Vertrauen zum Therapeuten wie auch
                                                            1   Abraham K. Versuch einer Entwicklungsgeschichte der
      ein gegenseitiges Zutrauen, doch, haben sie einmal
                                                                Libido aufgrund der Psychoanalyse seelischer Störungen.
      die Überzeugung gewonnen, dass die therapeutisch          In: Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse. Heft II,
      sie Betreuenden als unzerstörbare Objekte sie             Int. psychoanalyt. Verlag; 1924. In: Psychoanalytische
      begleiten und die Gruppe von Mitkranken ihnen             Studien zur Charakterbildung und andere Schriften:
                                                                113–183 Frankfur t a. M: Conditio Humana, S. Fischer;
      Verständnis entgegenbringt, so kann sich eine             1969.
      solide Basis bilden, auf der sie allmählich wenig-
                                                            2   Abraham K. Zit. in: Radó, S. Die psychischen Wirkungen
      stens ein gewisses Selbstvertrauen zu entwickeln          der Rauschgifte. Versuch einer psychoanalytischen
      vermögen. Nur wenige allerdings fanden bis anhin          Theorie der Süchte.
      den Ausstieg aus dem Drogenkonsum. Die mei-               Internat Zeitschr Psychoanalyse 1926;12:540–45.

      sten, die durch uns betreut werden, sind bis jetzt    3   Battegay R. Sucht und Depression.
                                                                Schweiz Arch Neurol Neurochir Psychiatr 1964;94:456–9.
      bei den Drogen bzw. im Methadonerhaltungspro-
      gramm geblieben, doch besteht insbesondere bei        4   Battegay R. Sucht und Depression – Wege und Irr wege
                                                                des Problemlösungsverhaltens.
      jenen, die an der therapeutischen Gruppe mit-             Psychosom Med 1981;10:69–82.
      wirken, über Jahre eine tragende Beziehung zu
                                                            5   Battegay R. Narzissmus und Objektbeziehungen. Über
      den Poliklinikmitarbeitern, die das Drogenersatz-         das Selbst zum Objekt.
      programm seit dessen Einführung im Jahre 1982             Bern, Stuttgar t, Toronto: Hans Huber; 1977. 3. vollstän-
      begleiten.                                                dig revidier te und er weitere Aufl. 1991.
          Bei der Psychotherapie und speziell der Grup-     6   Battegay R. Depression. Psychophysische und soziale
      penbehandlung dieser Kranken zeigt sich, dass             Dimension Therapie.
                                                                Bern, Stuttgar t, Toronto: Hans Huber; 1985. 3. über-
      die drogenabhängigen Frauen und Männer nicht              arbeitete und ergänzte Auflage, 1991.
      etwa die Asozialen oder Antisozialen sind, die die
                                                            7   Battegay R. Vom Hintergrund der Süchte: zum Problem
      Normalbürger in ihnen sehen möchten, sondern              der Drogen-, Medikamenten-, Nikotin-, Alkohol- und Trieb-
      zutiefst an der Sozietät und ihren Normen hängen.         befriedigungsabhängigkeiten.
      Diese Menschen, die oft in Trennungs- oder Schei-         5., vollständig überarbeitete und ergänzte Aufl. Bern/
                                                                Wupper tal: Blaukreuz-Verlag; 1993.
      dungssituationen oder in Milieus, die durch «ex-
                                                            8   Battegay R, Mühlemann R, Hell D, Zehnder P, Hoch P,
      pressed emotions» (Leff und Vaughn [17]) ge-
                                                                Dillinger A. Alkohol, Tabak und Drogen im Leben des
      kennzeichnet waren, aufwuchsen, haben meist ein           jungen Mannes. Untersuchung an 4082 Schweizer Rekru-
      inniges Bedürfnis, einmal jene Ruhe und Ordnung           ten betreffend Suchtmittelkonsum im Zivilleben und
      zu finden, die sie bei den Eltern oder entsprechen-       während der Rekrutenschule.
                                                                In: Ritzel G (Hrsg). Sozialmedizinische und pädagogische
      den Ersatzpersonen vermisst haben.                        Jugendkunde 14. Basel, München, Paris, London, New
          Wenn von den Drogenabhängigen der Kontakt             York, Syndey: S. Karger; 1977.
      zu den Angehörigen aufrechterhalten wird, soll-       9   Brook JS, Whiteman M, Finch S, Cohen P. Aggression,
      ten auch diese in das Behandlungsprogramm mit             intrapsychic distress, and drug use: antecedent and
      einbezogen werden. Selbstverständlich ist jede            inter vening processes.
                                                                J Am Acad Child Adolesc Psychiatr y 1995;8:1076–84.
      Schuldzuschreibung an die Eltern oder sonstigen
                                                            10 Dohrenwend BS, Dohrenwend BP. Stressful Life Events.
      Verwandten zu vermeiden, denn ein solches Vor-
                                                               The Nature and Effects. New York: Wiley; 1974.
      gehen würde nur die intrafamiliären Spannungen
                                                            11 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig,
      erhöhen und meist auch gar nicht der vollen Wahr-        Wien: Franz Deuticke; 1905. Gesammelte Werke, Band 5,
      heit entsprechen, da das junge Menschenkind              3. Aufl. Frankfur t a. M.: S. Fischer; 1961. S. 27–145.
      immer auch mit einer Anlage zur Welt kommt, die       12 Freud S. Trauer und Melancholie. Z Psychoanalyse
      es ihm einmal leichter, einmal schwerer macht,           Band 4, 1916. Gesammelte Werke, Band X. London:
      die Realitätsanforderungen zu bestehen. Doch             Imago; 1946. S. 427–46.
      muss, wird eine Familientherapie durchgeführt,        13 Gunderson JG. Borderline Personality Disorder. In:
                                                               Kaplan HI, Sadock BJ (Editors). Comprehensive Textbook
      dafür gesorgt werden, dass in diesem Milieu ein
                                                               of Psychiatr y, Vol II, 5th Edition, 1387–1395 Baltimore,
      Auffrieren (unfreezing) der Rollen stattfindet           Hongkong, London, Sidney: Williams & Wilkins; 1989.
      und die Drogenabhängigen aus der Rolle des            14 Har tmann H. Kokainismus und Homosexualität. Zeitschr.
      schwarzen Schafes bzw. der Omegaposition her-            f.d. ges. Psych. u. Neurol., 1925. Zit. In: Radó S. Die
      auskommen.                                               Psychischen Wirkungen der Rauschgifte. Versuch einer
                                                               psychoanalytischen Theorie der Süchte.
                                                               Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse 1926;12:540–56.
                                                            15 Holmes TH, Rahe RH. The Social Readjustment Rating
                                                               Scale. J Psychosom Res 1967;11:213–8.
                                                            16 Klein M. Notes on Some Schizoid Mechanisms (1946).
                                                               In: Rivièere J (Editor). Development in Psychoanalysis
                                                               1921–1945. London: The Hogar th Press; 1948.

199      SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE                                               149 n 5/1998
17 Leff J, Vaughn C. Expressed Emotion in Families.            22 Seligman MD. Helplessness on Depression, Develop-
         New York: Guildford Press; 1985.                               ment and Death. San Francisco: W. H. Freemann; 1975.
      18 Lewinsohn PM, Rohde P, Seeley JR. Adolescent Psycho-        23 Stern D. The First Relationship: Infant and Mother.
         pathology: III. The Clinical Consequences of Comorbidity.      London: Fontana/Open Books; 1977. Deutsch: Mutter
         J Am Acad Child Adolesc Psychiatr y 1995;4:509–10.             und Kind. Die erste Beziehung.
                                                                        Stuttgar t: Klett-Cotta; 1979.
      19 Money J, Hampson JG, Hampson JL. An Examination
         of Some Basic Sexual Concepts: The Evidence of Human        24 Stern D. The Interpersonal World of the Infant. Basic
         Hermaphroditism.                                               Books, New York 1985. Deutsch: Die Lebenser fahrung
         Bull John Hopkins Hosp 1955;97:301–10. In: Rauch-              des Säuglings. Stuttgar t: Klett-Cotta; 1992.
         fleisch U. Schwule, Lesben, Bisexuelle. Lebensweisen,
                                                                     25 Widom CS, Ireland T, Glynn PJ. Alcohol Abuse in Abused
         Vorur teile, Einsichten.
                                                                        and Neglected Children Followed-up: Are They at In-
         Göttingen, Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht; 1994.
                                                                        creased Risk? J Stud Alcohol 1995;2:207–17.
      20 Radó S. Die psychischen Wirkungen der Rauschgifte.
         Versuch einer psychoanalytischen Theorie der Süchte.
         Internat Zeitschr Psychoanalyse 1926;12:540–56.
      21 Rauchfleisch U. Schwule, Lesben, Bisexuelle. Lebens-
         weisen, Vorur teile, Einsichten.
         Göttingen, Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht; 1994.

200      SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE                                                     149 n 5/1998
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