"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn

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"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
Journal für

 Neurologie, Neurochirurgie
 und Psychiatrie
             www.kup.at/
 JNeurolNeurochirPsychiatr   Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems

"Spreading Depolarization" bei
                                                                               Homepage:
Migräneaura und Schlaganfall im
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menschlichen Gehirn                                              JNeurolNeurochirPsychiatr

Dreier JP, Vajkoczy P, Bohner G                                        Online-Datenbank
                                                                         mit Autoren-
Graf R, Vatter H, Sakowitz OW
                                                                      und Stichwortsuche
Martus P, Dohmen C, Sarrafzadeh A
Scheel M, Major S, Woitzik J
Journal für Neurologie
Neurochirurgie und Psychiatrie
2013; 14 (1), 8-17

                                                                                            Indexed in
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 Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz
 P.b.b. 02Z031117M,            Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21           Preis : EUR 10,–
"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
DGfE 2022

60. Jahrestagung der DGfE
   27.–30. APRIL 2022 l Leipzig                                           © Jakob Fischer l shutterstock

   www.epilepsie-tagung.de                AbstrAct DEADlinE 09. DEzEmbEr 2021

                             73. Jahrestagung
                             Deutsche gesellschaft für neurochirurgie

                             abstract Deadline: 04. Januar 2022
                  Joint Meeting mit der griechischen gesellschaft für neurochirurgie
                             www.dgnc-kongress.de
"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
„Spreading Depolarization“

       „Spreading Depolarization“ bei Migräneaura und
            Schlaganfall im menschlichen Gehirn
                          J. P. Dreier1, P. Vajkoczy2, G. Bohner3, R. Graf4, H. Vatter5, O. W. Sakowitz6, P. Martus7, C. Dohmen8,
                                A. Sarrafzadeh2, M. Scheel3, S. Major1, J. Woitzik2 für die DISCHARGE-1-Studiengruppe

    Kurzfassung: Neuere Studien belegen eine               ten eine interessante Option in der Behandlung cerebral hemorrhage, and traumatic brain injury.
    hohe Frequenz von „Spreading Depolarizations“          der oben genannten Erkrankungen darstellen.      Spreading depolarization causes cytotoxic
    bei Patienten mit aneurysmatischer Subarach-                                                            edema in the grey matter. Prolonged spreading
    noidalblutung, verzögerter zerebraler Ischämie         Schlüsselwörter: „Spreading Depolarization“, depolarizations initiate cascades leading to cell
    nach Subarachnoidalblutung, malignem ischämi-          Schlaganfall, Epilepsie, Subarachnoidalblutung death in animal experiments. Therapies that
    schem Schlaganfall, spontaner intrazerebraler                                                           shorten spreading depolarizations or target the
    Blutung und Schädel-Hirn-Trauma. „Spreading                                                             pathological inverse hemodynamic response to
    Depolarization“ führt in der grauen Substanz zum       Abstract: Spreading Depolarization in Mi- spreading depolarization may treat diseases of
    zytotoxischen Ödem. Langandauernde „Spreading          graine Aura and Stroke in the Human Brain. the energy metabolism in the central nervous
    Depolarizations“ leiten im Tierexperiment Kas-         Recent studies have shown a high frequency of system. J Neurol Neurochir Psychiatr 2013;
    kaden ein, die zum Zelltod führen. Therapien, die      spreading depolarizations in patients with aneu- 14 (1): 8–17.
    „Spreading Depolarization“ verkürzen oder die          rismal subarachnoid hemorrhage, delayed cer-
    pathologische, inverse neurovaskuläre Kopplung         ebral ischemia after subarachnoid hemorrhage, Key words: spreading depression, stroke, epi-
    an „Spreading Depolarization“ aufheben, könn-          malignant ischemic stroke, spontaneous intra- lepsy, subarachnoid hemorrhage

 Einleitung                                                                           Evolution hat dieses Problem auf elegante Weise gelöst: Ner-
                                                                                       venzellen brauchen keine externe Energiequelle anders als
Das plötzliche neurologische Defizit des Schlaganfalls und                             z. B. ein Computer. Jede Nervenzelle ist einerseits ein Minia-
die sich langsam ausbreitenden neurologischen Ausfälle der                             turkraftwerk, das seine eigene Energie herstellt und anderer-
Migräneaura sind jedem Neurologen und Neurochirurgen be-                               seits mithilfe dieser Energie in der Lage ist, Informationen zu
kannt. Wie aber lassen sich die biophysikalischen Phänomene                            verarbeiten. Dies verleiht Nervenzellen eine hohe Energie-
des menschlichen Gehirns beschreiben, die diesen Störungen                             effizienz. So verbraucht das menschliche Gehirn mit seinen
zugrunde liegen? Die neuere Forschung zeigt, dass der bio-                             20–50 Milliarden Nervenzellen [4] nur ungefähr 20–40 Watt
physikalische Kernprozess in Nervenzellen bei Migräneaura                              [5] für seine enorme Informationsverarbeitungsleistung.
und Schlaganfall sehr ähnlich ist. Dieser Kernprozess ist in
der Stammesgeschichte früh entstanden und ergibt sich un-                              Energie wird in Nervenzellen als elektrochemische Energie in
mittelbar aus dem prinzipiellen Aufbau von Nervenzellen. Er                            Form von Ionenkonzentrations- und Ladungsgefällen zwi-
lässt sich entsprechend an einer einzelnen Nervenzelle mo-                             schen Zellinnen- und -außenraum gespeichert. Die wichtigsten
dellieren, auch wenn in vivo typischerweise Massen an Ner-                             Ionen sind Natrium, Kalium, Chlorid und Kalzium. Somit äh-
venzellen davon betroffen sind [1]. Warum sich die Migräne-                            neln Nervenzellen Miniaturbatterien. Die Energie für die Auf-
aura und der nicht-migränöse Schlaganfall dennoch in ihrer                             rechterhaltung der Ionenkonzentrationsgefälle entsteht in den
klinischen Symptomatik voneinander unterscheiden, wird im                              Mitochondrien der Nervenzellen aus der Verbindung von Sau-
folgenden Artikel erläutert [2].                                                       erstoff und Wasserstoff zu Wasser. Sauerstoff und Wasserstoff
                                                                                       setzen bei ihrer Reaktion eine sehr hohe Energie pro Kilo-
 Miniaturkraftwerke mit der Fähigkeit zur                                             gramm Brennstoff frei und werden deshalb z. B. auch für die
                                                                                       Beschleunigung von Weltraumraketen verwendet. In der Zelle
  Informationsverarbeitung                                                             speist diese chemische Reaktion die Bildung von ATP, selbst
Informationsverarbeitung kostet Energie. Wenn ein Organis-                             ein Brennstoff, der jedoch flexibler einsetzbar ist als Wasser-
mus beweglich ist, muss er die Energiequelle mit sich herum-                           stoff und Sauerstoff, und seinerseits viele energieabhängige
tragen, die er für die Informationsverarbeitung benötigt [3]. Die                      Reaktionen in der Zelle unterhält. Unter anderem treibt ATP die
                                                                                       Natrium-Kalium-Pumpe in der Zellmembran an. Die Natrium-
                                                                                       Kalium-Pumpe hydrolysiert ein Molekül ATP, um mit jedem
Eingelangt am 18. April 2011; angenommen am 15. August 2011; Pre-Publishing            Zyklus 3 Natriumionen aus der Zelle heraus und 2 Kalium-
Online am 7. November 2011
                                                                                       ionen hineinzuschleusen. Dadurch erzeugt die Natrium-Kali-
Aus dem 1Center for Stroke Research Berlin, Charité Campus Mitte, Charité Univer-
sitätsmedizin Berlin; 2Center for Stroke Research Berlin, Neurochirurgische Klinik,
                                                                                       um-Pumpe letztlich die Ionenkonzentrationsgefälle, die im ge-
Charité Universitätsmedizin Berlin; 3Center for Stroke Research Berlin, Institut für   sunden Gehirn unabhängig vom Aktivitätszustand der Nerven-
Neuroradiologie, Charité Universitätsmedizin Berlin, 4Max-Planck-Institut für Neuro-   zellen stets aufrechterhalten bleiben.
logische Forschung, Köln; der 5Neurochirurgischen Klinik, Johann-Wolfgang-Goethe-
Universität, Frankfurt/Main; 6Neurochirurgischen Klinik, Universität Heidelberg;       Die Bedeutung der Natrium-Kalium-Pumpe für das Gehirn
dem 7Institut für Biometrie und Klinische Epidemiologie, Charité Universitätsmedi-
zin Berlin; der 8Neurologischen Klinik, Universität zu Köln, Deutschland
                                                                                       wird ersichtlich, wenn ihr Anteil am Gesamtenergieverbrauch
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Jens P. Dreier, Center for Stroke Research        betrachtet wird. Das Gehirn verbrennt ungefähr 20 % der täg-
Berlin, Charité Campus Mitte, Charité Universitätsmedizin Berlin, D-10117 Berlin,      lich zugeführten Energie des Körpers, obwohl es nur 2 % des
Charitéplatz 1; E-Mail: jens.dreier@charite.de                                         Körpergewichts ausmacht. Die Natrium-Kalium-Pumpe ver-

8        J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2013; 14 (1)

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"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
„Spreading Depolarization“

braucht ungefähr 50 % der Gesamtenergie des Gehirns [6].          in gleicher Weise, dass die Ionenkonzentrationsgefälle zwar
Das heißt: Ungefähr 10 % der täglichen Kalorienaufnahme           Energie für die Signale liefern, die Signale aber zu keiner nen-
dienen der Aufrechterhaltung der Ionenkonzentrationsgefälle       nenswerten Änderung der Ionenkonzentrationsgefälle über
über die Nervenzellmembranen im Gehirn.                           die Nervenzellmembran führen.

Zusammengefasst nehmen die Nervenzellen also energie-              „Spreading Depolarization“
reiche Stoffe aus dem Blut auf und wandeln diese chemische
Energie in elektrochemische Energie in Form von Ionenkon-         Informationsverarbeitung und Energiemetabolismus sind im
zentrations- und Ladungsgefällen zwischen Zellinnen- und          Gehirn also über die Funktion der Natrium-Kalium-Pumpe
-außenraum um. Diese elektrochemische Energie steht nun           und weitere energieabhängige Systeme eng miteinander ge-
zur Verfügung, um Signale zu senden. Wie funktioniert das?        koppelt. Gleichzeitig weist das Gehirn eine viel höhere Ver-
                                                                  letzlichkeit gegenüber Energiestoffwechselstörungen im Ver-
 Das Aktionspotenzial                                            gleich zu anderen Organen auf. Dies hängt mit den homöo-
                                                                  statischen Mechanismen zusammen, die Informationsverar-
Der biophysikalische Prozess, der den Informationsimpulsen        beitung und Energiestoffwechsel in der Nervenzelle mitein-
im Gehirn zugrunde liegt, lässt sich mit der Metapher eines       ander integrieren. Am empfindlichsten reagieren dabei Ge-
gespannten Bogens erklären. Dabei wird zunächst Energie           hirnstrukturen grauer Substanz, wie die Hirnrinde oder die
aufgewendet, um den Bogen zu spannen. Im Falle des Bogens         Basalganglien. In diesen Strukturen existiert eine Form des
ist es der Bogenschütze, der diese Energie aufwendet. Im Fal-     abrupten massenhaften Zusammenbruchs der Homöostase,
le der Nervenzelle ist es die Natrium-Kalium-Pumpe, die En-       die vermutlich eine große Bedeutung für die besondere Ver-
ergie aufwendet, um sie in den Aufbau der Ionenkonzentra-         letzlichkeit der Nervenzellen besitzt und mit dem Begriff
tionsgefälle zu investieren. Im nächsten Schritt lässt der Bo-    „Spreading Depolarization“ beschrieben wird.
genschütze die Sehne los und die in der Sehne gespeicherte
mechanische Energie wird explosionsartig in die Beschleuni-       „Spreading Depolarization“ ist durch einen fast vollständigen
gung des Pfeils umgesetzt. Im analogen Fall der Nervenzelle       Zusammenbruch der Ionenkonzentrationsgefälle charakteri-
öffnen sich Ionenkanäle, die es bestimmten Ionen erlauben,        siert [8, 9] sowie durch eine fast vollständige andauernde De-
sich explosionsartig entlang ihres steilen Konzentrations-        polarisation der Nervenzellen [10], eine extreme Abnahme
gradienten aus dem Zellaußen- in den Zellinnenraum zu stür-       des Membranwiderstands, einen Verlust der Nervenzellaktivi-
zen. Dieser Vorgang beginnt lokal am Axonhügel, pflanzt sich      tät [11] und eine Nervenzellschwellung mit Verformung der
im Axon der Nervenzellen nach distal fort und stellt den elek-    dendritischen Dornen [12, 13]. Das heißt, „Spreading Depo-
trischen Informationsimpuls dar, das Aktionspotenzial. Der        larization“ beschreibt einen fast vollständigen elektrischen
große Unterschied zwischen Bogen und Nervenzelle ist, dass        Kurzschluss zwischen Zellinnen- und -außenraum sowie mor-
der Bogen die gesamte Energie sofort freisetzt, wenn der Bo-      phologisch und biochemisch ein zytotoxisches Ödem.
genschütze die Sehne loslässt. In der Nervenzelle wird die
explosionsartige Energiefreisetzung in weniger als einer Mil-     Warum kommt es während „Spreading
lisekunde vorzeitig gestoppt, sodass nur ein Bruchteil der        Depolarization“ zum zytotoxischen Ödem?
elektrochemischen Gesamtenergie freigesetzt wird, nämlich         Unter physiologischen Bedingungen liegt im Zellinnenraum
genau so viel, wie für die Entstehung bzw. Fortleitung eines      eine höhere Konzentration negativ geladener Eiweißstoffe
Aktionspotenzials notwendig ist [7]. Das heißt: Die steilen       vor als im Zellaußenraum. Diese negativ geladenen Eiweiß-
Ionenkonzentrationsgefälle liefern zwar Energie für die Ak-       stoffe können nicht durch die Zellmembran gelangen und zie-
tionspotenziale, eine nennenswerte Änderung der Ionen-            hen konstant kleine, positiv geladene Ionen wie Natrium und
konzentrationen zwischen Zellinnen- und -außenraum tritt im       Kalzium aus dem Zellaußenraum an. Dies führt selbst in Ruhe
gesunden Gehirn aber nie auf, egal, ob das Gehirn aktiv ist       zu einem kleinen Einwärtsstrom in die Nervenzelle, vor allem
oder ruht.                                                        im Bereich ihrer Dendriten. Um diesen Einwärtsstrom zu
                                                                  kompensieren, erzeugt die Natrium-Kalium-Pumpe einen
Dieser nicht sehr eingängige Vorgang lässt sich besser verste-    energieabhängigen, konstanten, gleich großen Auswärts-
hen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Ionenkonzen-         strom, sodass das so genannte doppelte Gibbs-Donnan-Fließ-
trationsgefälle und das elektrische Ladungsgefälle über die       gleichgewicht energieabhängig aufrecht erhalten bleibt, wel-
Nervenzellmembran zwar in einer engen Beziehung zueinan-          ches durch die bereits erwähnten, steilen physiologischen
der stehen, sich aber nicht gleich verhalten. Für eine elektri-   Ionenkonzentrationsgefälle und eine Isoosmolalität zwischen
sche Umpolung der Nervenzellmembran wie im Falle eines            Zellinnen- und -außenraum gekennzeichnet ist. Natrium und
Aktionspotenzials muss nur eine verschwindend geringe An-         Kalzium haben dabei hohe Konzentrationen im Zellaußen-
zahl an Ionen die Seite wechseln, während Massen an Ionen         raum und niedrige Konzentrationen im Zellinnenraum. Um-
die Seite wechseln müssten, um einen Ausgleich der Ionen-         gekehrt verhält es sich für Kalium. Diese Ungleichverteilung
konzentrationen zwischen Zellinnen- und -außenraum her-           der verschiedenen Kationen resultiert aus der weitaus größe-
beizuführen.                                                      ren Durchlässigkeit der Zellmembran für Kalium unter Ruhe-
                                                                  bedingungen sowie aus der Funktion der Natrium-Kalium-
Es gibt auch noch andere Signale im Nervensystem als das          Pumpe [14].
Aktionspotenzial, wie z. B. Rezeptor- oder synaptische Po-
tenziale. Diese unterscheiden sich zwar im Detail vom Ak-         Der Kernprozess der „Spreading Depolarization“ ist nun das
tionspotenzial, für alle physiologischen Signale gilt aber        Versagen der Natrium-Kalium-Pumpe, einen ausreichenden

                                                                                       J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2013; 14 (1)   9
"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
„Spreading Depolarization“

dendritischen Auswärtsstrom zu erzeugen, um die persistie-       Kaninchenkortex beschrieben wurde [11]. Bereits 1945
renden Einwärtsströme von Natrium- und Kalziumionen zu           stellten Leão und Morison die Hypothese auf, dass
kompensieren. Anders ausgedrückt entsteht eine „Spreading        „Spreading Depression“ der hirnelektrischen Aktivität das
Depolarization“ dann, wenn es zu einem Ungleichgewicht           pathophysiologische Korrelat der Migräneaura ist [15].
zwischen Erregbarkeit der Nervenzelle und Funktion der Na-
trium-Kalium-Pumpe kommt. In dieser Situation entsteht ein       Unter hirnelektrischer Aktivität versteht man die spontane
unkontrollierter explosionsartiger Nettoeinwärtsstrom und es     Aktivität, die im Elektrokortikogramm (ECoG) an der Hirn-
stellt sich ein neues Gleichgewicht ein, das sich einem einfa-   oberfläche und im Elektroenzephalogramm (EEG) an der
chen Gibbs-Donnan-Gleichgewicht annähert [14]. Dieses ist        Kopfoberfläche abgeleitet wird. Beide Verfahren unterschei-
durch einen fast vollständigen Verlust der elektrochemischen     den sich vor allem dadurch, dass die räumliche Auflösung des
Energie der Zelle, eine praktisch passive Verteilung der Ionen   ECoG erheblich besser ist. Die Signale entstehen dadurch,
zwischen Zellinnen- und -außenraum sowie intrazelluläre          dass Aktionspotenziale in vorgeschalteten Nervenzellen prä-
Hyperosmolalität und extrazelluläre Hypoosmolalität ge-          synaptisch Neurotransmitter freisetzen, die in nachgeschalte-
kennzeichnet. Als Folge der Osmolalitätsänderung strömt          ten Nervenzellen postsynaptische Potenziale erzeugen. Diese
Wasser in die Nervenzellen ein und die Zellen schwellen. Die-    postsynaptischen Potenziale dauern länger an als Aktions-
ser Vorgang charakterisiert das zytotoxische Ödem. Es ist im     potenziale. Sie sind entlang der Hauptachse der Nervenzellen
Mikroskop vor allem an der starken Deformierung der Den-         unterschiedlich ausgeprägt und das hat zur Folge, dass durch
driten, aber auch an der Ballonierung des Zellkörpers sicht-     Summation der Aktivität von Tausenden oder Millionen von
bar, die während „Spreading Depolarization“ auftreten [12,       Nervenzellen schnelle Änderungen des Feldpotenzials im
13]. In diesem Zustand ist die Nervenzelle zwar stark gestört,   Zellaußenraum auftreten. Diese schnellen Feldpotenzial-
aber noch lebendig. Über welche Poren das Wasser im Detail       änderungen im Zellaußenraum bilden sich im ECoG und
in die Nervenzellen eindringt, ist bisher leider ungeklärt.      im EEG in einem Frequenzbereich oberhalb von ungefähr
                                                                 0,5 Hz ab. Im ECoG äußert sich „Spreading Depression“ als
Warum kommt es während „Spreading Depo-                          Auslöschung dieser schnellen extrazellulären Feldpotenziale
larization“ zur „Spreading Depression“ der                       (Abb. 1).
hirnelektrischen Aktivität?
Während eines Aktionspotenzials wird die Nervenzellmem-          „Spreading Depolarization“ zeigt sich als lang-
bran für einen kurzen Moment umgepolt, indem sich Natri-         same Potenzialverschiebung im Zellaußenraum
umkanäle explosionsartig öffnen. Die Natriumkanäle erlau-        „Spreading Depolarization“ und „Spreading Depression“ las-
ben den Einstrom einiger weniger, positiv geladener Natrium-     sen sich auch beim Menschen im ECoG gut voneinander un-
ionen, die das negative Ruhemembranpotenzial der Nerven-         terscheiden. Während sich die „Spreading Depression“, wie
zelle lokal anheben. Diese Natriumkanäle beginnen sich aber      eben dargestellt, an der Auslöschung der schnellen extrazellu-
sofort wieder zu schließen, sobald das Membranpotenzial          lären Feldpotenziale identifizieren lässt (Abb. 1), zeigt sich
deutlich angestiegen ist. Dann öffnen sich Kaliumkanäle, die     „Spreading Depolarization“ in einer großen Änderung des
den vermehrten Ausstrom positiv geladener Kaliumionen aus        langsamen extrazellulären Feldpotenzials (Abb. 1).
der Zelle erlauben. Infolgedessen senkt sich das Membran-
potenzial wieder ab und das Aktionspotenzial ist somit nach      Wie erklärt sich die Änderung des langsamen Feldpotenzials?
ungefähr einer Millisekunde beendet. Im Anschluss bringt die     Die Mehrheit der Nervenzellen der Hirnrinde besitzt eine
Natrium-Kalium-Pumpe das überschüssige intrazelluläre Na-        Längsausrichtung senkrecht zur Hirnoberfläche. Während
trium und das überschüssige extrazelluläre Kalium wieder in      „Spreading Depolarization“ ist die andauernde Depolarisa-
das jeweils richtige Kompartiment zurück. Somit schließt sich    tion innerhalb einer Nervenzelle entlang ihrer Hauptachse
der Kreis und die Homöostase bleibt gewahrt [7].                 unterschiedlich stark ausgeprägt [10]. Auf diese Weise ent-
                                                                 steht eine elektrische Potenzialdifferenz innerhalb der Zelle,
Bei einer „Spreading Depolarization“ kommt es nun zu einer       die ihrerseits eine langsame Änderung des elektrischen Feld-
andauernden Depolarisation von Nervenzellen über mindes-         potenzials im Zellaußenraum mit sich bringt. Sind Tausende
tens 30 Sekunden. Die Membrankanäle, die zu dieser Depo-         oder Millionen von Nervenzellen gleichzeitig andauernd de-
larisation beitragen, werden kontrovers diskutiert. Eine         polarisiert, resultiert daraus die größte Änderung des langsa-
mögliche Rolle kommt N-Methyl-D-Aspartat- (NMDA-)                men extrazellulären Feldpotenzials, die es im Gehirn gibt. An
kontrollierten Kanälen, langsam inaktivierenden Natrium-         der Oberfläche der Gehirnrinde des Menschen erreicht diese
kanälen und Kalzium-sensitiven unspezifischen Kationen-          langsame Änderung während „Spreading Depolarization“
kanälen zu, aber vielleicht sind die wirklich verantwortli-      teilweise eine Größe von > 20 mV (Abb. 1). Die langsame
chen Poren in der Zellmembran noch gar nicht entdeckt            Feldpotenzialänderung im Frequenzbereich unter etwa 0,05 Hz
[14]. Jedenfalls liegt die Depolarisation während „Spreading     ist demnach ein Summenmaß im Zellaußenraum für die mas-
Depolarization“ oberhalb der Schwelle für die Inaktivierung      senhafte Depolarisation der Nervenzellen. Auf diese Weise ist
der Aktionspotenzial-generierenden Natriumkanäle, sodass         es möglich, „Spreading Depolarization“ beim Menschen mit
diese inaktiviert werden. Deshalb können während „Spread-        einfachen Plattenelektroden an der Hirnoberfläche zu mes-
ing Depolarization“ keine Aktionspotenziale mehr stattfin-       sen, ohne dabei auf Ableitungen mit intrazellulären Mikro-
den. Dies hat ein Sistieren der hirnelektrischen Aktivität zur   elektroden angewiesen zu sein [16, 17].
Folge, welches „Spreading Depression“ hirnelektrischer
Aktivität genannt wird, ein Phänomen, das erstmals von dem       Zusammengefasst ist „Spreading Depression“ also die Konse-
brasilianischen Neurophysiologen Aristides Leão 1944 am          quenz bzw. ein Epiphänomen der „Spreading Depolariza-

10   J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2013; 14 (1)
"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
„Spreading Depolarization“

tion“. Die beiden Begriffe werden in der Literatur oft syno-
nym verwendet, was jedoch falsch ist, weil es sich um unter-
schiedliche Prozesse handelt, die sich in unterschiedlichen
hirnelektrischen Signalen ausdrücken. Wichtig ist, dass
„Spreading Depolarization“ auch mit anderen Formen der
Depression hirnelektrischer Aktivität vergesellschaftet sein
kann, worauf im Folgenden eingegangen wird.

„Non-Spreading Depression“ hirnelektrischer
Aktivität
„Non-Spreading Depression“ wird im Tierexperiment wenige
Sekunden nach Auftreten eines schweren Sauerstoffmangels
oder einer Ischämie beobachtet und beschreibt ein plötzliches
Sistieren der hirnelektrischen Aktivität, das simultan im
gesamten, von der Energiestoffwechselstörung betroffenen
Gebiet entsteht [18]. Bei Ischämie tritt dieses Phänomen auf,
wenn die Hirndurchblutung unter etwa 20 ml/100 g/Min.
absinkt [19]. Vermutlich liegt der „Non-Spreading Depression“
eine Störung der vesikulären Neurotransmitterfreisetzung
zugrunde [20]. Zu beachten ist, dass die Nervenzellen während
„Non-Spreading Depression“ hyperpolarisiert sind, wohin-
gegen sie während „Spreading Depolarization“ depolarisiert
sind. Es dauert im Tierexperiment dann noch ungefähr 2–
5 Min. nach Auftreten der „Non-Spreading Depression“, bis
die infolge der Energiestoffwechselstörung abnehmende
Funktion der Natrium-Kalium-Pumpe nicht mehr ausreicht,
um die Entstehung von „Spreading Depolarization“ zu ver-
hindern. Erst mit Auftreten der „Spreading Depolarization“
werden die ischämiebedingten Schadensprozesse eingeleitet.
Erfolgt jedoch eine rechtzeitige Wiederherstellung der Ener-
gieversorgung, ist „Spreading Depolarization“ trotz der vor-
übergehenden Hypoxie oder Ischämie voll reversibel. Zu
beachten ist, dass „Spreading Depolarization“ bei schwerer
Hypoxie oder Ischämie nicht von „Spreading Depression“
hirnelektrischer Aktivität begleitet sein kann, da die hirnelek-
trische Aktivität ja bereits erloschen ist, wenn die „Spreading
Depolarization“ startet.

„Non-Spreading Depression“ hirnelektrischer Aktivität ist
vermutlich das pathophysiologische Korrelat des plötzlichen        Abbildung 1: „Spreading Depolarization“ beim Menschen. Die langsame Gleich-
neurologischen Defizits beim Schlaganfall, das typischer-          strompotenzialänderung („direct current“ [DC]) im Frequenzbereich unterhalb von
weise mehrere Modalitäten wie Sehen, Sensibilität und Moto-        etwa 0,05 Hz identifiziert die „Spreading Depolarization“. Die oberen 4 Spuren
                                                                   zeigen eine „Spreading Depolarization“, die sich zwischen vier 1 cm voneinander
rik gleichzeitig betreffen kann [2]. Tritt nur eine „Non-Spread-   entfernt liegenden subduralen Elektroden ausbreitet. Zu beachten ist die enorme
ing Depression“ ohne darauffolgende „Spreading Depolariza-         Größe dieser bioelektrischen Signale des Gehirns. In den darunterliegenden 4 Ab-
tion“ auf oder ist die auf die „Non-Spreading Depression“ fol-     leitungen ist die „Spreading Depression“ der hirnelektrischen Aktivität im Fre-
                                                                   quenzbereich oberhalb von 0,5 Hz des Elektrokortikogramms (ECoG) dargestellt,
gende „Spreading Depolarization“ nur kurzdauernd und voll          die die „Spreading Depolarization“ begleitet. Deutlich erkennbar ist, dass es sich
reversibel, da die Energieversorgung rechtzeitig wiederherge-      bei „Spreading Depolarization“ und „Spreading Depression“ um 2 unterschiedliche
stellt wird, kommt es lediglich zu einer transitorisch ischämi-    Signale mit unterschiedlicher Dauer handelt. Die unteren 4 Spuren zeigen, abge-
                                                                   sehen von Optode 2, eine im Wesentlichen physiologische zerebrale Blutfluss-
schen Attacke.                                                     antwort (ZBF) mit einem initialen Anstieg („Spreading Hyperemia“; Messung mit-
                                                                   tels Laser-Doppler-Sonden). Optode 2 zeigt einen minimalen Abfall des Blut-
Persistierende Depression hirnelektrischer                         flusses, der aber noch nicht als „Spreading Ischemia“ gewertet werden kann.
Aktivität
Bei einer sich allmählich entwickelnden milderen Form der
Ischämie, wie z. B. im Tierexperiment unter hirntopischer Gabe
des gefäßverengenden Polypeptids Endothelin-1, treten typi-        „Spreading Depolarization“ ist stets ein patho-
scherweise zeitliche Cluster repetitiver „Spreading Depolari-      logisches Phänomen
zations“ auf, zwischen denen sich die hirnelektrische Aktivität    „Spreading Depolarization“ spielt im gesunden Gehirn ver-
nicht mehr erholt, d. h. nur die erste „Spreading Depolariza-      mutlich keine physiologische Rolle, da sie nicht spontan in
tion“ wird von „Spreading Depression“ begleitet, während die-      physiologischem Gewebe entsteht und die elektrischen, iona-
se bei den darauffolgenden Ereignissen fehlt. Man spricht dann     len und metabolischen Veränderungen um ein Vielfaches grö-
von persistierender Depression hirnelektrischer Aktivität [17].    ßer sind als die während eines epileptischen Anfalls (Abb. 2).

                                                                                              J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2013; 14 (1)          11
"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
„Spreading Depolarization“

                                                                                        tät bleiben im Gegensatz zur „Spreading Depolarization“ auf
                                                                                        das so genannte „Ceiling“-Niveau begrenzt [22].

                                                                                        Experimentell kann „Spreading Depolarization“ durch eine
                                                                                        Vielzahl unterschiedlicher Noxen hervorgerufen werden, die
                                                                                        von mechanischer Schädigung über die Exposition gegenüber
                                                                                        chemischen Stoffen wie Kalium oder Transmittern wie Gluta-
                                                                                        mat, Erregbarkeitssteigerungen (z. B. Status epilepticus) bis
                                                                                        hin zu Energiestoffwechselstörungen reichen, wie Unterzu-
                                                                                        ckerung, Sauerstoffmangel und Ischämie [2, 14, 18, 19]. Gen-
                                                                                        mutationen können das Auftreten von „Spreading Depolari-
                                                                                        zation“ begünstigen, wie z. B. Mutationen im CACNA1A-Gen,
                                                                                        welches die Untereinheit eines präsynaptischen Kalzium-
                                                                                        kanals kodiert [23], im ATP1A2-Gen, welches ein Isoenzym
                                                                                        der Natrium-Kalium-Pumpe kodiert [24], und im SCN1A-Gen,
 Abbildung 2: Vergleich zwischen epileptischer Anfallsaktivität und „Spreading          welches einen Natriumkanal kodiert [25]. Diese Mutationen
 Depolarization“ in der Hirnrinde von Mensch und Nagetier. Messung der langsa-          führen beim Menschen zum Phänotyp der familiären hemi-
 men Gleichstrompotenzialänderungen („direct current“ [DC]), auf denen schnelle
 Potenzialänderungen („alternating current“ [AC]) reiten. In der Abbildung ist ein
                                                                                        plegischen Migräne.
 relativ seltenes Ereignis dargestellt, bei dem epileptische Anfallsaktivität in eine
 „Spreading Depolarization“ übergeht. Das Phänomen ermöglicht es dem Betrach-           Ob „Spreading Depolarization“ reversibel ist und somit schad-
 ter, die Größe der DC-Änderungen unmittelbar zu vergleichen, die während epi-
 leptischer Anfallsaktivität einerseits und „Spreading Depolarization“ andererseits
                                                                                        los überstanden werden kann, hängt vor allem von der Mög-
 typischerweise auftreten. Dabei wird deutlich, dass die negative DC-Änderung im        lichkeit einer ausreichenden Aktivierbarkeit der Natrium-Kali-
 Extrazellulärraum während „Spreading Depolarization“ ungefähr 5× größer ist als        um-Pumpe ab [26]. Wenn die Nervenzellen nicht mehr
 die während epileptischer Anfallsaktivität. Dieses Verhältnis gilt im Prinzip auch
 für alle anderen ionalen und Stoffwechseländerungen intra- und extrazellulär im
                                                                                        repolarisieren, nennt man die „Spreading Depolarization“ ter-
 Hirngewebe, die während „Spreading Depolarization“ um ein Vielfaches größer            minal [27]. Der Zelltod manifestiert sich hierbei in einer gro-
 sind als während epileptischer Anfallsaktivität.                                       ßen, ultralangsamen negativen Potenzialkomponente, in die die
 Die kleinen Zacken im AC-Signal, die während epileptischer Anfallsaktivität auf        „Spreading Depolarization“ übergeht. Terminale „Spreading
 dem DC-Potenzial reiten, entstehen als Folge der pathologischen Aktivität der
 Nervenzellen, die während eines epileptischen Anfalls synchron und hochfre-            Depolarizations“ werden in Gegenwart starker Noxen, wie
 quent Aktionspotenziale feuern. Die kleinen Zacken sind aber nicht die Aktions-        z. B. schwerem Sauerstoffmangel, schwerer fokaler Ischämie
 potenziale selbst, sondern entsprechen Summenpotenzialen im Extrazellulär-             oder Herzstillstand, beobachtet [28]. Demgegenüber führen
 raum, die von postsynaptischen Potenzialen herrühren. Diese postsynaptischen
 Potenziale sind eine mittelbare Folge der präsynaptisch fortgeleiteten Aktions-        mildere Noxen typischerweise zu verlängerten, aber partiell re-
 potenziale, da die Aktionspotenziale präsynaptisch die Freisetzung von Boten-          versiblen, wiederholten „Spreading Depolarizations“, die auf
 stoffen nach sich ziehen, die ihrerseits postsynaptische Potenziale hervorrufen.       einer ultralangsamen, flachen negativen Potenzialschwankung
 Im Gegensatz zur epileptischen Anfallsaktivität ist die „Spreading Depolarization“
 durch eine relativ glatte Linie gekennzeichnet, da die Nervenzellen während
                                                                                        reiten und mit einer persistierenden Depression der ECoG-
 „Spreading Depolarization“ ihre Fähigkeit verlieren, Aktionspotenziale zu generie-     Aktivität zwischen den „Spreading Depolarizations“ ver-
 ren. Deshalb entstehen auch keine postsynaptischen Potenziale mehr. Dieser Ver-        gesellschaftet sind. Derartige Häufungen von „Spreading
 lust an Nervenzellaktivität wird als „Spreading Depression“ der neuronalen Akti-
 vität bezeichnet (besser zu sehen in Abbildung 1).
                                                                                        Depolarizations“ in Abwesenheit einer terminalen Depolarisa-
 Die „Spreading Depolarization“ beim Menschen wurde mithilfe eines subduralen           tion werden im Tierexperiment z. B. durch den starken Vaso-
 Elektrodenstreifens aufgezeichnet. Der Patient hatte eine aneurysmatische Sub-         konstriktor Endothelin-1 verursacht [17, 29]. Verhältnismäßig
 arachnoidalblutung. Der Elektrodenstreifen wurde nach Ligatur des Aneurysmas           leichte Noxen, z. B. eine geringe Luftembolie, erzeugen nur
 durch den Neurochirurgen implantiert. Der gelbe Kreis im Computertomogramm
 rechts markiert 2 Elektroden des Streifens an der Hirnoberfläche.                      eine kurzdauernde „Spreading Depolarization“, die rasch und
 Die „Spreading Depolarization“ bei der Ratte wurde mit einer Mikroelektrode im         vollständig reversibel ist [30].
 entorhinalen Kortex eines Hirnschnitts aufgezeichnet (Ableitort: gelber Kreis
 rechts). Der Hirnschnitt wurde von künstlichem Liquor umspült, dem Magnesium
 fehlte. In diesem Niedrigmagnesium-Modell kommt es typischerweise sowohl zu            „Spreading Depolarizations“ besitzen die typische Eigen-
 epileptischer Anfallsaktivität als auch zu „Spreading Depolarizations“. Da diese       schaft, dass sie aus ihrem Entstehungsgebiet in das umliegen-
 Messung nicht an der Hirnoberfläche sondern direkt in der Hirnrinde erfolgte, sind     de gesunde Gewebe hineinwandern. Dies geschieht mit einer
 die Potenzialänderungen markanter und etwas größer als die der In-vivo-Messun-
 gen am Menschen oben in der Abbildung. In humanen Hirnschnitten, die nach              Geschwindigkeit von etwa 3 mm/Min. Während ihrer Wande-
 epilepsiechirurgischen Eingriffen zur Verfügung stehen, sind die in der Hirnrinde      rung bleiben ihre wesentlichen biophysikalischen Eigen-
 gemessenen Amplituden von „Spreading Depolarizations“ allerdings ähnlich mar-          schaften erhalten, während sich insbesondere die Pharmako-
 kant und gleich groß oder sogar etwas größer als bei der Ratte [21]. Die Abbildung
 der „Spreading Depolarization“ an der Ratte ist modifiziert nach [Dreier JP. Physio-   sensitivität und die lokale Dauer der Depolarisation verändern
 logische und pharmakologische Eigenschaften der Niedrig-Magnesium-Epilepsie            können. Dies sei am Beispiel der fokalen Ischämie nach Ver-
 im Temporallappenpräparat der Ratte. Dissertation, Universität zu Köln, 1993].         schluss der A. cerebri media erläutert:

                                                                                        Hierbei kommt es im Kern der Mangeldurchblutung inner-
Epileptische Anfallsaktivität ist zwar ebenfalls durch eine an-                         halb von Sekunden zu einer „Non-Spreading Depression“ der
dauernde Depolarisation von Nervenzellen gekennzeichnet,                                hirnelektrischen Aktivität. Innerhalb von Minuten entsteht
diese bleibt aber unterhalb der Schwelle für die Inaktivierung                          dann, häufig multifokal, eine „Spreading Depolarization“, die
der Aktionspotenzial-generierenden Ströme. Dadurch können                               aus dem Kern des minderversorgten Areals herauswandert.
Nervenzellen im epileptischen Anfall hochfrequent und syn-                              Im Kern ist diese „Spreading Depolarization“ terminal, d. h.
chronisiert Aktionspotenziale feuern [1]. Die ionalen und                               tödlich, während sie in der so genannten ischämischen Pen-
metabolischen Veränderungen während epileptischer Aktivi-                               umbra verlängert, aber zumindest partiell reversibel ist. Im

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"Spreading Depolarization" bei Migräneaura und Schlaganfall im menschlichen Gehirn
„Spreading Depolarization“

umgebenden gesunden Gewebe hält sie nur noch ungefähr             der langsamen extrazellulären Feldpotenzialänderung. Gleich-
eine Minute an und hinterlässt keinen Schaden. Weitere            zeitig verlängert sich die Freisetzung der gefäßverengenden
„Spreading Depolarizations“ entstehen an der Grenze zum           Faktoren als Folge der „Spreading Depolarization“ und es
vollständig depolarisierten Kern des minderversorgten Areals      entwickelt sich ein Teufelskreis aus fortdauernder Depolari-
und mit jeder dieser „Spreading Depolarizations“ wächst der       sation der Hirnrinde und Gefäßverengung, der weit ausge-
nekrotische Ischämiekern. Während „Spreading Depolariza-          dehnte Nekrosen der Hirnrinde verursachen kann [2, 38]. Die-
tions“ im gesunden Gewebe gut durch Pharmaka, wie z. B.           ser erst 1998 in einem Rattenmodell für verzögerte ischämi-
NMDA-Rezeptorantagonisten, blockierbar sind, sind sie in          sche Infarkte nach Subarachnoidalblutung entdeckte Prozess
minderversorgten Arealen zunehmend pharmakoresistent              kann z. B. durch Blutabbauprodukte im Subarachnoidalraum
[31]. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass in den           ausgelöst werden [37], wurde aber auch in der ischämischen
minderversorgten Arealen zusätzlich zum NMDA-Rezeptor-            Penumbra nach Verschluss der A. cerebri media bei Maus und
kontrollierten Kanal andere Kationenkanäle in ihren Entste-       Katze beobachtet [39, 40]. Mittlerweile ist er auch bei Patien-
hungs- bzw. Fortleitungsprozess mit einbezogen werden.            ten mit Subarachnoidalblutung nachgewiesen worden [16].
                                                                  Zusammengefasst handelt es sich um einen pathophysiologi-
Die experimentellen Daten sprechen dafür, dass „Spreading         schen Prozess, in dem eine relativ harmlose, kurzdauernde
Depolarization“ Kaskaden einleitet, die zum Zelltod führen,       „Spreading Depolarization“ in eine langdauernde, das Über-
wenn keine rechtzeitige Repolarisation erfolgt. Hierbei spielt    leben der Nervenzellen bedrohende „Spreading Depolariza-
vermutlich der ungefähr 1000-fache Anstieg der intrazellulä-      tion“ umgewandelt wird, indem die „Spreading Depolariza-
ren Kalziumkonzentration während „Spreading Depolariza-           tion“ durch gestörte Signalwege zwischen Nervenzellen,
tion“ eine wichtige Rolle [32]. Entzieht man dem Nährmedi-        Astrozyten, Endothel, Perizyten und glatten Gefäßmuskel-
um von Hirnschnitten Kalzium und verhindert somit den Kal-        zellen die Blutversorgung unterbricht, statt die Gefäße lokal
ziumeinstrom, überleben die Zellen eine langandauernde            zu erweitern. Diese Form der Ischämie wandert gemeinsam
„Spreading Depolarization“ während Sauerstoffmangel deut-         mit der Depolarisationswelle in der Hirnrinde und wird als
lich besser [33]. Der Zusammenbruch der Ionenkonzentra-           „Spreading Ischemia“ bezeichnet.
tionen ist auch die Ursache für die Umkehrung der Glutamat-
transporter, die eine massive Freisetzung von Glutamat zur        „Spreading Depolarization“ beim Menschen
Folge hat [34]. „Spreading Depolarization“ und Exzitotoxizi-      „Spreading Depolarizations“ sind vor > 6 Jahrzehnten von
tät sind daher vermutlich stark überlappende Phänomene.           Aristides Leão erstmals im Tierexperiment über die „Spreading
                                                                  Depression“ der hirnelektrischen Aktivität gemessen worden
Neurovaskuläre Kopplung während „Spreading                        [11]. In diesen ersten Experimenten wurde das Phänomen
Depolarization“                                                   durch einen elektrischen Gleichstromimpuls ausgelöst. In einer
Die zusätzliche Aktivierung der Natrium-Kalium-Pumpe und          zweiten Arbeit, die ebenfalls 1944 erschien, beschrieb er die
weiterer energieabhängiger Systeme führt während „Spread-         wesentlichen Elemente der physiologischen neurovaskulären
ing Depolarization“ zu einem massiven Anstieg des Energie-        Kopplung an „Spreading Depolarization“ [41]. Bereits 1945
verbrauchs. So sinkt die ATP-Konzentration selbst in gesun-       postulierten Leão und Morison, dass „Spreading Depression“
dem Gewebe vorübergehend um 50 % ab [35]. Außerdem                das pathophysiologische Korrelat der Migräneaura beim Men-
kommt es zur Freisetzung einer Vielzahl von teilweise toxi-       schen sein könnte [15]. 1947 entdeckte Leão die mit der
schen Stoffwechselprodukten in den Zellaußenraum. „Spread-        „Spreading Depression“ der hirnelektrischen Aktivität einher-
ing Depolarization“ verursacht daher in gesundem Gewebe           gehende große langsame Feldpotenzialänderung und damit das
eine lokale Gefäßerweiterung und eine Steigerung des regio-       Korrelat der eigentlichen „Spreading Depolarization“ [18].
nalen zerebralen Blutflusses um mehr als 100 %, um eine           Diese Experimente basierten auf Vorarbeiten von Anthonie van
Clearance des Zellaußenraums zu erreichen und den vermehr-        Harreveld, der zuvor eine langsame Feldpotenzialänderung im
ten Energiebedarf zu decken. Dieser Blutflussanstieg wird         Rückenmark bei Asphyxie tierexperimentell gefunden und die-
als „Spreading Hyperemia“ bezeichnet (Abb. 1). Ungefähr 1–        se korrekt als Folge der Depolarisation von Nervenzellen inter-
2 Min. später kommt es zu einer milden Gefäßverengung und         pretiert hatte [42]. Analog vermutete Leão, dass die langsame
Abnahme des regionalen zerebralen Blutflusses um 20–30 %,         Feldpotenzialänderung, die in der Hirnrinde von „Spreading
der für 1–2 Stunden anhält und „Spreading Oligemia“ ge-           Depression“ begleitet wird, ebenfalls auf einer Depolarisation
nannt wird [36].                                                  von Nervenzellen beruht, was sich später bestätigte [10]. In sei-
                                                                  ner Arbeit aus dem Jahre 1947 führte Leão zusätzlich Ischämie-
Im Gegensatz zu dieser physiologischen neurovaskulären            experimente am Kaninchen durch, in denen er beide Karotis-
Kopplung an „Spreading Depolarization“ kann es unter pa-          arterien und die Basilararterie verschloss. Auf der Basis dieser
thologischen Bedingungen zu einer inversen neurovaskulären        Experimente kam er zu dem Schluss, dass „bei der Spreading
Kopplung kommen [2, 16, 37]. Dabei induziert die „Spread-         Depression der Aktivität eine Veränderung in der Hirnrinde
ing Depolarization“ in der Depolarisationsphase eine extreme      auftritt, die die gleiche Natur hat wie die, die aus einer lang-
Gefäßverengung statt einer Gefäßerweiterung, in deren Folge       dauernden Unterbrechung der Zirkulation resultiert“ [18]. In
der Blutfluss kritisch abfällt. Durch die Verminderung der        diesen Ischämieexperimenten beschrieb Leão auch erstmals
Energieversorgung in einem Moment maximaler Stoffwech-            die „Non-Spreading Depression“ der hirnelektrischen Aktivi-
selbelastung sind die Nervenzellen nur noch eingeschränkt         tät, die oben bereits erläutert wurde.
imstande zu repolarisieren, da der Natrium-Kalium-Pumpe
die Energie für die Repolarisation fehlt. Daher verlängert sich   Es drängt sich die Frage auf, warum „Spreading Depolariza-
die „Spreading Depolarization“, sichtbar an der Verlängerung      tion“, einer der elementarsten pathophysiologischen Prozesse

                                                                                       J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2013; 14 (1)   13
„Spreading Depolarization“

im Gehirn, erst mehr als 6 Jahrzehnte nach seiner Entdeckung      den mithilfe eines subduralen Elektrodenstreifens im ECoG
allmählich Eingang in die klinische Neurologie und Neuro-         über einen Zeitraum von bis zu 10 Tagen aufgezeichnet. Ins-
chirurgie findet, obwohl Aristides Leão das Phänomen in sei-      gesamt wurden 2110 Aufzeichnungsstunden ausgewertet.
nen 4 ersten Arbeiten bereits korrekt in den Kontext von          Der klinische Status wurde alle 6 Stunden dokumentiert. Das
Migräneaura und Schlaganfall eingeordnet hatte und obwohl         Auftreten von verzögerten Infarkten wurde mittels Computer-
die langsamen elektrischen Signale sowie die ionalen und          (CT) bzw. Magnetresonanztomographie (MRT) verifiziert.
metabolischen Veränderungen der „Spreading Depolariza-            Insgesamt wurden 298 „Spreading Depolarizations“ im ECoG
tion“ ungefähr 5× größer sind als die während epileptischer       aufgezeichnet. 13 von 18 Patienten (72 %) zeigten „Spreading
Anfallsaktivität (Abb. 2). Dies erklärt sich wohl vor allem aus   Depolarizations“. Ein klinisches, verzögertes, ischämisches
der Tücke des Oberflächen-EEGs, dessen Signale sich im Ge-        neurologisches Defizit ereignete sich im Mittel 7,8 Tage nach
gensatz zu denen des ECoGs aus viele Zentimeter auseinan-         Subarachnoidalblutung. Simultan zum Auftreten von verzö-
derliegenden Quellen speisen, sodass eine lokale Auslö-           gerten ischämischen Defiziten wurde das Auftreten eines zeit-
schung von Aktivität leicht von benachbarten aktiven Feldern      lichen Clusters rekurrenter „Spreading Depolarizations“ in
überdeckt wird. Außerdem wirken Dura mater und Knochen            jedem einzelnen Fall beobachtet (positiver and negativer prä-
als potenter Hochpassfilter, der die langsame Feldpotenzial-      diktiver Wert: 86 bzw. 100 %). Bei 4 Patienten wurden bild-
änderung aus den Signalen herausfiltert. Daher war „Spread-       gebend verzögerte ischämische Schlaganfälle im Gebiet des
ing Depolarization“ beim Menschen lange Zeit nicht messbar.       Elektrodenstreifens beobachtet. Wie in der Ischämie im Tier-
Die Frustration aus den fehlgeschlagenen Messversuchen            experiment wurde die verzögerte Infarzierung von „Spread-
beim Menschen hat dann wohl die Fehleinschätzung vieler           ing-Depolarization“-Clustern begleitet, die eine progressive
Mediziner hervorgebracht, dass ein fundamentaler Prozess          Verlängerung der Depressionsphasen im ECoG auf mehr als
wie „Spreading Depolarization“ beim Menschen nicht vor-           60 Min. in jedem Einzelfall aufwiesen. Diese Studie zeigte,
komme, obwohl er sich unmittelbar aus dem prinzipiellen           dass „Spreading Depolarizations“ eine hohe Inzidenz nach
Aufbau von Nervenzellen ergibt und entsprechend vom Gras-         Subarachnoidalblutung beim Menschen aufweisen und als
hüpfer bis zum Affen konserviert ist [43–45].                     Cluster in der Entwicklung verzögerter Hirninfarkte auftreten.

„Spreading Depolarization“ wurde beim Menschen zunächst           In einer weiteren Studie wurde das Auftreten von „Spreading
indirekt über die sie begleitende Blutflussänderung identifi-     Depolarizations“ bei Patienten mit malignem Mediainfarkt
ziert. Dies gelang mithilfe der planaren intrakarotidealen        untersucht, um festzustellen, ob „Spreading Depolarizations“
133
    Xenon-Methode und der Single Photon Emission Compu-           auch bei ischämischen Hirninfarkten des Menschen auftreten,
ted Tomography (SPECT) [46] und später mit der Positronen-        denen keine Hirnblutung vorausgeht [55]. Die Studie wurde
Emissionstomographie und dem funktionellen Kernspin-              erneut vom COSBID-Konsortium durchgeführt. Insgesamt
tomogramm bei Patienten während Migräneaura [47, 48].             wurden 16 Patienten untersucht. Während einer chirurgischen
Elektrophysiologische Messungen waren in Gehirnschnitten          dekompressiven Hemikraniektomie wurde ein subduraler
erfolgreich, die nach epilepsiechirurgischen Eingriffen zur       Elektrodenstreifen in der Periinfarktregion eingelegt. Insge-
Verfügung standen [49, 50]. 1996 konnten Mayevsky et al.          samt wurden 1638 Stunden im ECoG aufgezeichnet. Die mitt-
dann „Spreading Depolarizations“ bei einem von 14 Patienten       lere Aufzeichnungszeit betrug 109,2 Stunden. Insgesamt wur-
mit Schädel-Hirn-Trauma mittels eines technisch aufwendi-         den 169 „Spreading Depolarizations“ beobachtet. Die meis-
gen und daher auch anfälligen Multiparametermonitorings           ten „Spreading Depolarizations“ ereigneten sich in Regionen
nachweisen [51]. Der robuste Nachweis von „Spreading De-          mit ECoG-Aktivität und führten zur Depression derselben. 42
polarizations“ gelang erst Strong et al. mit subduralen Strei-    „Spreading Depolarizations“ ereigneten sich in Regionen mit
fenelektroden, die in der prächirurgischen Epilepsiediagnos-      bereits deprimierter ECoG-Aktivität. Die Mehrheit der
tik bereits seit Jahrzehnten eingesetzt worden waren [52]. Mit    „Spreading Depolarizations“ trat rekurrent in Clustern auf.
dem damals verwendeten Verstärker erfolgte der Nachweis           Nur 2 der 16 Patienten zeigten keine „Spreading Depolariza-
der „Spreading Depolarizations“ zunächst über die „Spread-        tions“. Bei diesen beiden befand sich der Elektrodenstreifen
ing Depression“ der hirnelektrischen Aktivität, weil der Ver-     über bereits nekrotischem Gebiet. „Spreading Depolariza-
stärker die langsameren Frequenzkomponenten herausfilter-         tions“ ereigneten sich also spontan mit hoher Frequenz bei
te. Ungefähr 50 % der Patienten zeigten „Spreading Depolari-      Patienten mit malignem Mediainfarkt.
zations“. Im Anschluss an die Studie wurden die Co-Opera-
tive Studies on Brain Injury Depolarizations (COSBID) ge-         Der nächste wesentliche Fortschritt resultierte aus der Einfüh-
gründet, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das Monitoring       rung echter invasiver „Direct-current“- (DC-) Messungen und
von „Spreading Depolarizations“ klinisch nutzbar zu machen.       der Verwendung von Optoelektrodenstreifen gemeinsam mit
Langsamere Frequenzkomponenten wurden dann in einer               einem Sauerstoffsensor [16]. Mit dieser Anordnung wurde es
weiteren Arbeit von Fabricius et al. bei Patienten mit Schädel-   möglich, den regionalen zerebralen Blutfluss über Laser-
Hirn-Trauma miterfasst, sodass es möglich wurde, auch             Doppler-Flussmessung gleichzeitig mit dem DC-ECoG und
„Spreading Depolarizations“ zu messen, die nicht mit „Spread-     Änderungen des Gewebssauerstoffpartialdrucks aufzuzeich-
ing Depression“ assoziiert waren [53]. Daraufhin folgte eine      nen. Dazu wurde eine prospektive multizentrische Studie bei
kleine prospektive Multicenter-Studie, in der die Inzidenz        13 Patienten mit aneurysmatischer Subarachnoidalblutung
und das zeitliche Auftreten von „Spreading Depolarizations“       durchgeführt. Regionaler zerebraler Blutfluss und ECoG wur-
im Rahmen von verzögerten ischämischen Schlaganfällen bei         den simultan während 417 „Spreading Depolarizations“ auf-
Patienten nach aneurysmatischer Subarachnoidalblutung             gezeichnet. Isolierte „Spreading Depolarizations“ ereigneten
untersucht wurde [54]. Die „Spreading Depolarizations“ wur-       sich in 12 Patienten und waren entweder mit einer physiologi-

14   J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2013; 14 (1)
„Spreading Depolarization“

schen abwesenden oder inversen hämodynamischen Antwort            Feldpotenzials zusätzlich zu Messungen der hirnelektrischen
assoziiert. Während die physiologische Blutflusssteigerung        Aktivität erforderlich.
von einer Zunahme des Gewebssauerstoffpartialdrucks be-
gleitet wurde, führte die inverse hämodynamische Antwort,          Zusammenfassung
die durch einen Blutflussabfall gekennzeichnet ist, zu einer
Abnahme des Sauerstoffpartialdrucks, d. h. es kam wie in den      Der Begriff „Spreading Depolarization“ beschreibt eine ab-
oben beschriebenen Tierexperimenten zu einer „Spreading           rupte, fast vollständige Massendepolarisation von Nervenzel-
Ischemia“. Cluster mit verlängerten „Spreading Depolariza-        len und ist vermutlich der pathophysiologische Kernprozess
tions“ wurden bei 5 Patienten in der Nähe eines strukturellen     in den Nervenzellen bei Migräneaura und Energiestoffwech-
Hirnschadens gefunden. Cluster waren mit deutlich längerer        selstörungen, wie z. B. Schlaganfällen. „Spreading Depolari-
„Spreading Ischemia“ assoziiert als isolierte „Spreading De-      zation“ stellt einen zelltoxischen Übergangszustand dar, in
polarizations“. Sauerstoffmangel als Folge von „Spreading         dem sich entscheidet, ob sich die Nervenzellen erholen oder
Ischemia“ könnte zur Etablierung von Clustern mit prolon-         absterben. Während „Spreading Depolarization“ bei der
gierten „Spreading Depolarizations“ und zur Läsionsprogres-       Migräneaura nur kurz andauert, kann sie bei Energiestoff-
sion beitragen.                                                   wechselstörungen langdauernd sein. Wenn „Spreading De-
                                                                  polarization“ einen kritischen Zeitpunkt überschreitet, führen
Erste Untersuchungen zur Pharmakologie von „Spreading             die mit ihr assoziierten Schadenskaskaden zum Zelltod. Ein
Depolarizations“ beim Menschen ergaben, dass ein Teil der         und dieselbe Welle kann bei ihrer Wanderung durch das Ge-
„Spreading Depolarizations“ durch NMDA-Rezeptorantago-            webe an einem Ort kurz- und an einem anderen Ort lang-
nisten blockierbar ist [56], während ein anderer Teil therapie-   dauernd, an einem Ort pharmakosensibel, an einem anderen
refraktär zu sein scheint [16], ähnlich wie dies in Tierexperi-   pharmakoresistent, an einem Ort mit einer normalen und an
menten zu beobachten ist [31, 57].                                einem anderen mit einer inversen hämodynamischen Ant-
                                                                  wort, an einem Ort mit und an einem anderen ohne Zelltod
In einer weiteren Studie wurde dann das ischämische Penum-        auftreten, jeweils abhängig von den lokalen Bedingungen.
brakonzept genauer betrachtet. Derzeit wird die ischämische       Die Übergänge dazwischen sind fließend. „Spreading Depo-
Penumbra von den meisten Autoren nach Hossmann als eine           larizations“ stellen somit ein weites Spektrum von Riesenwel-
Region mit beschränkter Blutversorgung definiert, in der der      len oder Tsunamis in der grauen Substanz des zentralen Ner-
Energiemetabolismus erhalten ist [19].                            vensystems dar, die gemeinsame biophysikalische Grund-
                                                                  eigenschaften aufweisen, insbesondere den fast vollständigen
Fabricius et al. hatten die Hypothese aufgestellt, dass eine      Zusammenbruch der Ionenhomöostase.
persistierende Depression der hirnelektrischen Aktivität zwi-
schen wiederkehrenden „Spreading Depolarizations“ beim            „Spreading Depression“ hirnelektrischer Aktivität ist ein Epi-
Menschen anzeigt, dass die Messung in einer ischämischen          phänomen der „Spreading Depolarization“ und vermutlich das
Penumbra erfolgt. In der Folgestudie wurde nun ein direkter       pathophysiologische Korrelat der Migräneaura. „Non-Spread-
Vergleich zwischen den ECoG-Befunden in einem fokalen             ing Depression“ hirnelektrischer Aktivität ist vermutlich das
Ischämiemodell der Ratte und in Patienten mit aneurysmati-        pathophysiologische Korrelat des plötzlichen neurologischen
scher Subarachnoidalblutung durchgeführt [17]. Dazu wurde         Defizits beim Schlaganfall, das unterschiedliche Modalitäten
zunächst bestätigt, dass der Zellschaden bei der Ratte auf den    wie Sehen, Sensibilität und Motorik gleichzeitig betrifft. „Non-
minderperfundierten Bereich beschränkt war und das umlie-         Spreading Depression“ geht der „Spreading Depolarization“
gende, normal durchblutete Gewebe nicht mit betraf. Es wur-       um einige Minuten voraus. „Spreading Depression“ begleitet
de dann gefunden, dass eine persistierende Depression der         „Spreading Depolarization“. „Spreading Depolarization“,
hirnelektrischen Aktivität zwischen den „Spreading Depolari-      „Spreading Depression“ und „Non-Spreading Depression“ las-
zations“ sowohl im minderversorgten Gewebe als auch im            sen sich im ECoG des Menschen eindeutig voneinander diffe-
umgebenden, normal durchbluteten Gewebe auftritt. Lang-           renzieren. Ein und dieselbe „Spreading Depolarization“ kann
dauernde „Spreading Depolarizations“ mit eingeschränkter          an unterschiedlichen Orten sowohl mit „Non-Spreading“ als
Erholung der hirnelektrischen Aktivität nach den „Spreading       auch mit „Spreading Depression“ assoziiert sein. Die unter-
Depolarizations“ wurden aber nur in der minderperfundierten       schiedlichen hämodynamischen Antworten lassen sich mit
Hirnrinde gesehen. Mithilfe von DC-ECoG-Messungen wur-            Laser-Doppler-Flussmessungen identifizieren.
de daraufhin nachgewiesen, dass eine eingeschränkte Erho-
lung hirnelektrischer Aktivität nach „Spreading Depolariza-
tions“ auch beim Menschen mit signifikant längerdauernden
„Spreading Depolarizations“ assoziiert ist. Die Befunde spre-     Literatur:                                        4. Pakkenberg B, Gundersen HJ. Neocortical
                                                                                                                    neuron number in humans: effect of sex and
chen dafür, dass die eigentliche Ischämiezone bei Ratte und       1. Kager H, Wadman WJ, Somjen GG. Con-            age. J Comp Neurol 1997; 384: 312–20.
Mensch von einem ausgedehnten Gürtel normal durchblute-           ditions for the triggering of spreading depres-   5. Rolfe DF, Brown GC. Cellular energy utiliza-
                                                                  sion studied with computer simulations.
ten Gewebes umgeben ist, in dem während der Phase der aku-        J Neurophysiol 2002; 88: 2700–12.
                                                                                                                    tion and molecular origin of standard meta-
                                                                                                                    bolic rate in mammals. Physiol Rev 1997; 77:
ten neuronalen Verletzung wie in der Ischämiezone eine per-                                                         731–58.
                                                                  2. Dreier JP. The role of spreading depres-
sistierend verminderte synaptische Aktivität vorliegt. Anders     sion, spreading depolarization and spreading      6. Tidow H, Aperia A, Nissen P. How are ion
jedoch als in der Ischämiezone treten dort vergleichsweise        ischemia in neurological disease. Nat Med         pumps and agrin signaling integrated? Trends
                                                                  2011; 17: 439–47.                                 Biochem Sci 2010; 35: 653–9.
kurzdauernde „Spreading Depolarizations“ auf. Um die
                                                                  3. Sakarya O, Armstrong KA, Adamska M, et         7. Alle H, Roth A, Geiger JR. Energy-efficient
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zu identifizieren, sind demnach Messungen des langsamen           the animal kingdom. PLoS One 2007; 2: e506.       Science 2009; 325: 1405–8.

                                                                                                  J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2013; 14 (1)                   15
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