STÜRZE EIN SYMPTOM, VIELE URSACHEN - Österreichische Ärztezeitung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
S TAT E O F T H E A R T STÜRZE EIN SYMPTOM, VIELE URSACHEN 22 ÖSTERREICHISCHE ÄRZTEZEITUNG 6 | 25. März 2022
DFP-Literaturstudium S T A T E O F T H E A R T Stürze sind besonders häufig im Kindesalter, bei Sportlern und bei älteren Personen, wobei die Jahres-Inzidenz für zumindest einen Sturz bei über 75-Jährigen bei über 40 Prozent liegt. Thomas Foki, Raphael van Tulder, Bela Büki* Einleitung kein typisches Merkmal. Stürze innerhalb dieses Zeitraums stel- len ein Alarmzeichen („red flag“) für eine alternative Diagnose Unter einem Sturz versteht man einen unerwarteten, plötzlichen dar. Ein einfacher Test zur Einschätzung des Sturzrisikos ist der Gleichgewichtsverlust, bei dem der Betroffene unwillkürlich auf Pull-Test, bei dem der Untersucher hinter dem Patienten positio- einer niedriger gelegenen Oberfläche landet. niert ist und diesen an den Schultern ruckartig und kräftig nach hinten zieht. Der Patient soll den Zug durch möglichst wenige Die Jahres-Inzidenz für zumindest einen Sturz liegt in der Popu- Schritte korrigieren. Als Normwert gelten maximal zwei Schritte. lation bei über 65-Jährigen zwischen 28 und 38 Prozent, bei über Der Beginn von regelmäßigen Stürzen bei M. Parkinson ist pro- 75-Jährigen zwischen 32 und 42 Prozent. gnostisch negativ und zeigt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für andere Meilensteine wie Schluckstörung, Demenz sowie Insti- Stürze können im Hinblick auf die Anamnese (erklärbar oder tutionalisierung in Heimen an. nicht erklärbar), nach dem objektiven Entstehungsmechanismus (äußere Einwirkung oder intrinsisch), nach dem Schweregrad (mit Eine episodisch auftretende Gangstörung, relativ spezifisch für oder ohne Verletzung), ob mit oder ohne Bewusstseinsverlust be- M. Parkinson, ist das Freezing. Dies kann sich als reine Start- ziehungsweise hinsichtlich der Frequenz (einmalig oder wieder- hemmung beim Weggehen manifestieren, oder als Trippel- holt) klassifiziert werden. Die Ursachen, die zu einem Sturz füh- schritte am Platz beziehungsweise als insuffizientes, kleinschrit- ren, können in extrinsisch (zum Beispiel Medikamente, unebener tiges Vorwärtsschlurfen. Zu letzteren Varianten kann es bei Boden, Teppich usw.) oder intrinsisch (zum Beispiel Herzrhyth- Engstellen, Hindernissen oder bei Abweichungen vom geraden musstörung, Tonusverlust) unterteilt werden beziehungsweise es Pfad kommen. Es können physiotherapeutische Maßnahmen können kombinierte Ursachen vorliegen, wenn beispielsweise ein sowohl bei der eingangs erwähnten Parkinson-bedingten Gang- Patient mit einer Bewegungsstörung über ein Hindernis stolpert störung, als auch bei Freezing sehr positive Effekte erzielen. (typisch für M. Parkinson). Stürze können nicht nur beim Gehen oder Stehen passieren, sondern auch im Sitzen, wenn zum Beispiel Da das vegetative Nervensystem von neurodegenerativen Ver- ein Patient mit Retropulsionstendenz im Sitzen plötzlich nach rück- änderungen regelhaft mitbetroffen ist, kann es im Verlauf eines wärts fällt, oder wenn er im Rahmen einer tumarkinschen Sturzatta- M. Parkinson zu einer symptomatischen orthostatischen Hypo- cke oder eines Bewusstseinsverlustes vom Sessel fällt. tonie kommen, die typischerweise in aufrechter Position mit Schwindel, Übelkeit, zunehmendem Unsicherheitsgefühl, Visus- Neurologische Ursachen Störungen und Schmerzen im Schulterblattbereich (als Aus- druck der relativen muskulären Hypoperfusion der Rückenmus- Stürze bei neurologischen Erkrankungen lassen sich in Stürze kulatur, „coat hanger pain“) assoziiert sein kann. Der Schwindel bei Personen mit vorbestehender Gangstörung und Stürze ohne kann Stürze provozieren, zusätzlich können sich (Prä-)Synkopen vorbestehende Gangstörung unterscheiden. zeigen. Als einfacher Bedside-Test gilt der Schellong-Test. Sollten innerhalb von drei Minuten nach dem Aufrichten (aus liegender Stürze bei Gangstörung Position) der systolische Blutdruck um mindestens 20 mmHg und/oder der diastolische Druck um zumindest 10 mmHg bezie- ZNS-Erkrankungen hungsweise der absolute systolische Druck unter 90 mmHg fal- len, gilt der Test als pathologisch (ESC-Guidelines). Empfohlen Diese Kategorie umfasst u.a. neurodegenerative Erkrankungen, wird das Tragen von Stützstrümpfen. Hitze und Sauna sind zu mit dem Morbus Parkinson als paradigmatische extrapyrami- vermeiden, ebenso Alkohol und Heißwasserbäder. Es sollte mit © SPL, picturedesk.com dale Erkrankung. Aufgrund der Bewegungsverlangsamung und circa 30° erhöhtem Oberkörper geschlafen werden. Diätologisch Haltungsinstabilität sind Stürze Bestandteil des fortschreitenden werden kleine Mahlzeiten empfohlen, Kohlenhydrate möglichst M. Parkinson. Ein früher Beginn regelmäßiger, unprovozierter reduzieren. Patienten können auch von einem Espresso vor Stürze (innerhalb von drei Jahren nach Diagnose) ist jedoch dem Essen morgens und mittags profitieren. Generell gilt, aus- » 6 | 25. März 2022 ÖSTERREICHISCHE ÄRZTEZEITUNG 23
Stürze: Ein Symptom, viele Ursachen » reichend zu trinken, der Harn soll verdünnt/hell wirken. Zuletzt die subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie. Durch haben sich auch Bauchbinden bewährt. Sollten diese Maßnah- chronisch-vaskuläre Veränderungen kann es u.a. zu einer pro- men und die Reduktion gewisser internistischer (wie Diuretika/ gredienten Gangstörung kommen, welche auch mehr gang- Antihypertensiva) sowie Parkinson-Medikamente nicht ausrei- apraktisch als klassisch extrapyramidal wirkt. Von vielen Auto- chen, sind spezifische medikamentöse Maßnahmen empfohlen, ren wurde früher der Begriff M. Binswanger hierfür verwendet. welche auf einer Erhöhung des arteriellen Blutdrucks tagsüber Selbstverständlich sollen spastische Gangstörungen mit Sturz- und Förderung des intravasalen Blutvolumens abzielen. Blut- neigung nicht unerwähnt bleiben. hochdruck in liegender Position sollte möglichst vermieden wer- den. Das vegetative Nervensystem soll bei der Aufarbeitung von Auch der Normaldruckhydrozephalus (NPH) stellt eine Dif- Stürzen jedenfalls nicht vergessen werden. ferentialdiagnose einer sogenannten frontalen Gangstörung dar, verursacht durch erweiterte innere Liquorräume mit kon- Deutlich seltener als M. Parkinson, aber umso rascher pro- sekutivem Druck auf die angrenzenden Hirnstrukturen. Die gredient sind die atypischen Parkinson-Syndrome. Dies Homöostase zwischen Liquorproduktion und Liquorabfluss ist sind neurodegenerative Erkrankungen mit Elementen eines beeinträchtigt. Die typische klinische Trias besteht zusätzlich Parkinson-Syndroms, aber auch zusätzlichen motorischen und aus imperativem Harndrang und progredienter dementieller nicht-motorischen Symptomen. Die Heterogenität der Symp- Entwicklung. tome fußt auf einer Beteiligung verschiedener Strukturen des zentralen und peripheren Nervensystems. Die im Vergleich zum Funktionelle („psychogene“) Gangstörungen wurden früher M. Parkinson deutlich reduzierte Lebenserwartung und rasche als Ausschlussdiagnose angesehen. Mittlerweile sucht man klinische Verschlechterung beruhen zu einem beträchtlichen nach positiv bestärkenden Kriterien wie bizarre unsichere Anteil auf früh im Krankheitsverlauf auftretenden Stürzen. Gangmuster, häufige Beinahe-Stürze, Stürze in Anwesenheit von Dritten, relativ plötzliches Auftreten, inkonsistente Aus- So sind beispielsweise gehäufte Stürze (mindestens zwei Stürze prägung der Beschwerden, Ablenkbarkeit und Suggestibilität jährlich, meistens nach rückwärts) bei der progressiven supra- sowie psychiatrische Komorbiditäten. Entgegen der weit ver- nukleären Paralyse (PSP) ein pathognomonisches Merkmal. breiteten Meinung kann es bei rein funktionellen Gangstö- Die Betroffenen stürzen oft schon im ersten Erkrankungsjahr. rungen durchaus zu Stürzen mit Verletzungsfolge kommen. Teils ist zu diesem Zeitpunkt gar keine subjektive Gangstörung Entsprechende interdisziplinäre, neuropsychosomatische vorhanden. Namensgebend für die progressive supranukleäre Therapieansätze sind am erfolgversprechendsten, je früher sie Paralyse ist eine auch innerhalb der ersten Erkrankungsjahre begonnen werden. auftretende Einschränkung der willkürlichen, vertikalen Blick- wendung. Als weiteres atypisches Parkinson-Syndrom gilt die Erkrankungen des peripheren Nervensystems Multisystematrophie (MSA). Hier sind vegetative Auffälligkeiten (am frühesten oft orthostatische Hypotonie und/oder Blasen- Polyneuropathie-Syndrome betreffen präferentiell die längsten funktionsstörung) vordergründig, weshalb die Patienten früh Nerven – also Beinnerven – zuerst. Dies führt zu einer Fehlfunk- im Erkrankungsverlauf vor allem aufgrund der orthostatischen tion vor allem der sensibel-afferenten, propriozeptiven Fasern, Hypotonie stürzen können. welche neben ausreichender vestibulärer und visueller Funktion für das Gehen von enormer Bedeutung sind. Die Beine werden Auch die Corticobasale Degeneration (CBD) wird zu den aty- oft breitbasig (sensibel-ataktisch) aufgesetzt und weniger von pischen Parkinson-Syndromen gezählt. Früh kann eine ein- der Unterlage abgehoben. Die Gangunsicherheit und Sturznei- schränkende Gangstörung, welche in erster Linie gang-aprak- gung nehmen im Dunkeln zu, da das kompensierende visuelle tisch imponiert, vorkommen. Der Patient wirkt, als hätte er das System unter dieser Bedingung nicht verfügbar ist. Gehen verlernt. Das Gangbild unterscheidet sich vom klas- sischen M. Parkinson-assoziierten Gang, welcher deutlich klein- Eine weitere Differentialdiagnose von Gangstörung mit Sturz- schrittiger, engbasiger und weniger aufrecht ist. neigung ist die Claudicatio spinalis, bei der meist auf Basis einer lumbalen Vertebrostenose und/oder Listhese nach einer ge- Bei langer Erkrankungsdauer von neurodegenerativen demen- wissen Wegstrecke Schmerzen und Schwächegefühl der Beine tiellen Syndromen, allen voran M. Alzheimer, nimmt die Sturz- („lassen nach“) auftreten können. häufigkeit aufgrund der Mitbeteiligung vieler kortikaler Areale zu (doppelte jährliche Sturzhäufigkeit pro Jahr). Eine bedeu- Stürze ohne vorbestehende Gangstörung tende Rolle scheint hier auch die fortschreitende Aufmerksam- keitsstörung zu spielen. Doppelaufgaben (dual tasks) erhöhen Am raschesten zu erkennen und zu behandeln sind akut-vas- die Sturzneigung. kuläre Ereignisse wie kardial bedingte Synkopen/Stürze und cerebrovaskulär bedingte plötzliche neurologische Ausfälle mit Neben neurodegenerativen Ursachen von Gangstörungen mit Sturzfolge. Kardial bedingte Synkopen/Stürze sind mit der größ- Sturzgefahr finden sich auch andere Ätiologien, zum Beispiel ten künftigen Mortalität assoziiert. 24 ÖSTERREICHISCHE ÄRZTEZEITUNG 6 | 25. März 2022
DFP-Literaturstudium S T A T E O F T H E A R T Vaskuläre neurologische Erkrankungen Internistische Ursachen für Stürze Hier sind Versorgungsdefizite im vertebrobasilären Stromge- Internistische Ursachen von Stürzen sind vielfältig und oft eine biet am relevantesten (zum Beispiel Subclavian-Steal- oder Kombination von mehreren Faktoren wie zum Beispiel Dehy- Rotational-Vertebral-Artery-Syndrome). Stürze können sich im dratation und Polypharmazie. Mit zunehmenden Alter der Be- Rahmen einer transitorisch ischämischen Attacke (TIA) oder völkerung steigt auch die Anzahl der Stürze. Im vorliegenden eines Insults manifestieren. Die Stürze selbst sind zum Teil mit Beitrag werden nur intrinsische Ursachen durch teils chronisch Bewusstseinsverlust assoziiert; dieser ist aber nicht obligat. teils akut auftretende Erkrankungen, Medikamente sowie alters- bedingte Funktionseinschränkungen behandelt. Eine seltene Sturzursache ist die thalamische Astasie. Findet sich eine umschriebene vaskuläre Läsion im posterolateralen Rationale Abklärung in der Notfallambulanz beziehungsweise centromedianen Thalamus, kommt es bei er- haltenem Muskeltonus zur Tendenz, nach rückwärts oder nach Im Rahmen der internistischen Begutachtung sind besonders die ipsilateral zu stürzen. synkopal gestürzten Patienten zu identifizieren und genauer zu un- tersuchen. Zunächst muss eine akute vitale Bedrohung ausgeschlos- Isolierte Stürze sind bei umschriebenen Durchblutungsstö- sen werden. Neben der exakten Anamnese inklusive Erhebung der rungen im vorderen Stromgebiet seltener, allerdings kann eine Vormedikation sind auch apparative Basisuntersuchungen wie ein TIA/Infarkt im Stromgebiet der A. cerebri anterior durchaus mit EKG, Blutdruck, Körpertemperatur, Sauerstoffsättigung und Blut- einem plötzlichen Tonusverlust der Beine assoziiert sein. zucker im Blut erforderlich. Eine Blutgasanalyse als optionale Un- tersuchung bietet hier eine gute und schnelle Möglichkeit, einen Bei einem Blutdruckabfall bei vorbestehendem Carotisver- guten Überblick über viele Laborparameter wie zum Beispiel Laktat schluss kann es durch eine plötzliche Insuffizienz der Kollate- zu erhalten. Mit diesen Untersuchungen können bereits zahlreiche ralisierung selten zu einem isolierten Sturzgeschehen kommen. Sturzursachen wie Herzrhythmusstörungen, akute myokardiale Ischämie, Infektionen, Blutdruckentgleisungen, Hypoglykämien, Auch akute spinale Ischämien mit Beinschwäche stellen poten- Elektrolytentgleisungen, Nierenversagen oder auch medikamentös tielle Sturzursachen dar. bedingte Probleme festgemacht werden. Auch Hinweise auf Intoxi- kationen ergeben sich zumeist aus Anamnese und den genannten Epileptische Anfälle und seltene scheinbar unerklärliche Stürze Untersuchungen. Sollte sich aus Anamnese und/oder der Basisdia- gnostik der Verdacht auf eine spezifische Ursache ergeben, sind Erwartungsgemäß zeichnen epileptische Anfälle für eine große weitere Untersuchungen wie Echokardiographie, Holter-EKG, Ergo- Anzahl an Stürzen verantwortlich. Zu den seltenen Ursachen metrie, Koronarangiographie, CT, Loop-Rekorder-Implantation bis zählt die Kataplexie, wobei der Betroffene im Anschluss an eine hin zur elektrophysiologischen Untersuchung angezeigt. starke Emotion wie Lachen aufgrund eines plötzlichen Muskel- tonusverlustes in schlaffem Zustand zu Boden stürzt. Meist ist die Definition der Synkope Kataplexie Symptom einer Narkolepsie. Bei der Hyperekplexie findet sich ein umgekehrtes Bild: Hier kommt es zu einer übertrie- Die Synkope ist definiert durch einen kurzzeitigen, über bis zu benen Antwort auf einen Schreckreiz, der Muskeltonus ist erhöht. mehreren Minuten andauernden Bewusstseinsverlust aufgrund cerebraler Hypoperfusion mit anschließender rascher Reorien- (Neurogene) orthostatische Hypotonie und verwandte tierung. Davon abzugrenzen sind „drop attacks“ – Stürze ohne Syndrome Bewusstseinsverlust. Neben der Beteiligung des autonomen Nervensystems bei Kardiale Ursachen neurodegenerativen Erkrankungen wird die neurogene ortho- statische Hypertonie häufig bei autonomer Neuropathie, allen Für kardial getriggerte Synkopen können im Rahmen der Anam- voran Diabetes mellitus, angetroffen. nese neben der bereits bekannten strukturellen oder koronaren Herzkrankheit folgende Angaben als wegweisend erachtet Das POTS (Posturales Tachykardie-Syndrom) ist eine seltene, werden: Palpitationen vor der Synkope als Hinweis für eine aber wichtige potentielle Sturzursache, bei der es trotz fehlender rhythmogene Ursache, thorakale Schmerzen als Hinweis für Blutdruckabsenkung zu einer Orthostase-Intoleranz mit u.a. ein akutes kardial-ischämisches Geschehen oder eine Aorten- Herzrasen, Benommenheitsgefühle, Kopfschmerzen, Schwin- dissektion, akut eintretende Dyspnoe als Hinweis für eine Pul- del und gelegentlich kurzem Bewusstseinsverlust kommen monalembolie. kann. Am häufigsten sind junge Frauen betroffen, verschiedene assoziierte Antikörper sind bekannt, unter anderem gegen gan- Das 12-Kanal-EKG, als obligate, billige und rasch verfügbare glionäre Acetylcholinrezeptoren. Eine Kipptischuntersuchung Untersuchung ist nicht nur für die Ischämiediagnostik im Rah- kann zur Klärung essentiell beitragen. men der Abklärung notwendig, sondern kann auch wichtige » 6 | 25. März 2022 ÖSTERREICHISCHE ÄRZTEZEITUNG 25
Stürze: Ein Symptom, viele Ursachen » Hinweise für arrhythmogene Ursachen eines Sturzes/einer Syn- hypertrophe Kardiomyopathie kann als Differentialdiagnose bei kope ergeben. der transthorakalen Echokardiographie diagnostiziert werden. An letzter Stelle sind noch kardiale Tumore wie beispielsweise Rhythmogene Synkopen ein Myxom als seltene Ursachen zu nennen, die ebenfalls durch Obstruktion der Strombahn zu Synkopen führen können. Das 12-Kanal-EKG nach Synkope ist von besonderer Bedeu- tung. Eine akute myokardiale Ischämie muss rasch ausgeschlos- Andere Ursachen sen werden. Bei einem Infarkt können bradykarde und tachykar- de ventrikuläre Rhythmusstörungen auftreten und gleichsam Seltener kann es auch im Rahmen von pulmonalen Erkran- zu Stürzen führen. Für nicht Ischämie-bedingte rhythmogene kungen wie einer Pulmonalembolie zu Synkopen mit Sturz Ursachen von Synkopen sind AV-Blockaden (zum Beispiel AV- kommen. Auch hier kann die Echokardiographie eine wegwei- Block II°-Typ Mobitz II, AV-Block 3°Grades) und/oder Schenkel- sende diagnostische Maßnahme sein. Bei jedem sechsten Pati- blockierungen als Hinweis für Reizleitungsprobleme die weg- enten mit erstmaliger Synkope kann eine Pulmonalembolie dia- weisenden Befunde. Alternierende Schenkelblockbilder sind gnostiziert werden. Schwere Lungenerkrankungen mit Hypoxie ein Zeichen für einen drohenden totalen AV-Block und eine In- unter Belastung können über mehrere Mechanismen Stürze dikation für eine rasche Schrittmacherversorgung genauso wie provozieren. der AV-Block 3. Grades. Vasovagal mediierte Synkopen/Stürze entstehen auf Basis von Auf Deltawellen als Zeichen der Prä-Excitation nach Synkopen Vasodilatation durch Sympathikushemmung und/oder vorwie- sollte genauso geachtet werden wie auf die QT-Zeit als Hinweis gende vagal bedingte Bradykardien. für andere maligne Rhythmusstörungen oder Ionenkanal-Er- krankungen. Tachykarde und bradykarde, supraventrikuläre und Die orthostatische Hypotension ist ein unabhängiger Risikofak- ventrikuläre Rhythmusstörungen können zu Stürzen führen. tor für Stürze und kann im Rahmen von venösem pooling bei Während supraventrikuläre Rhythmusstörungen im Allgemei- Anstrengung (exercise induced) oder bei längerem Stehen, nach nen als benign eingestuft werden, müssen ventrikuläre Rhyth- Mahlzeiten (postprandiale Hypotension) und nach langer Bett- musstörungen als potentiell bedrohlich betrachtet werden. Auch ruhe/Bettlägrigkeit (Dekonditionierung) ausgelöst werden und die benignen Rhythmusstörungen wie die AV-Knoten-Reentry- zu Stürzen/Synkopen führen. Sie kann klinisch meist leicht, zum Tachykardie oder auch ein Vorhofflimmern können bei entspre- Beispiel in der Notaufnahme, durch den verkürzten drei Minu- chend schneller ventrikulärer Überleitung oder bei Auftreten ten Schellong-Test diagnostiziert werden. einer prä-automatischen Pause zu einem Sturz führen. Ebenfalls verdächtig für eine vasovagale Genese ist die durch Bei implantierten Devices (Schrittmacher, ICD) muss immer Druck auf die A. carotis oder durch Kopfdrehung ausgelöste auch die Funktion des Gerätes überprüft werden. Hier bringt die Synkope. Dieses sogenannte Carotis-Sinus-Hypersensitivitäts- Überprüfung des Gerätes Aufschluss über die Sturzursache. syndrom gilt als nachgewiesen, wenn es durch Carotisdruck- manöver zu reproduzierbar auslösbaren Synkopen führt. Bei dringendem Verdacht auf eine rhythmogene Ursache sollte ein telemetrisches Monitoring erfolgen. Rhythmologische Auf- Das posturale Tachykardie-Syndrom (POTS) ist definiert, dass fälligkeiten während der Synkope sind beweisend für die rhyth- es orthostatisch bedingt zu einem Anstieg der Herzfrequenz um mogene Genese. Bei rezidivierend auftretenden Synkopen kann 30 bpm oder zu einem Anstieg auf mehr als 120 bpm innerhalb die Implantation eines Loop Recorders zur Diagnosestellung von zehn Minuten nach dem Aufstehen kommt. hilfreich sein oder eine rhythmogene Ursache ausschließen. Als medikamentös begünstigend für Hypotension gelten in ers- In einzelnen Fällen kann eine elektrophysiologische Untersu- ter Linie Vasodilatatoren, Diuretika und Antidepressiva. Der chung Aufschluss über die Synkopen-Ursache geben. Meist wird Mechanismus kann vielfältig sein, sehr oft wird die vegetative diese Untersuchung mit dem Ziel, das arrhythmogene Substrat Gegenregulation durch die Medikation unterdrückt. zu ablatieren, durchgeführt. Als sturzbegünstigende Medikationen gelten im Allgemeinen: Mechanische Ursachen für kardiovaskuläre Synkopen – Benzodiazepine – Kardiale Medikation Hier sind strukturelle Herzerkrankungen im Sinn von Klap- – Antihypertensiva penvitien wie beispielsweise der hämodynamisch wirksamen – Analgetika (Opiate) Aortenstenose häufige Gründe von Synkopen/Stürzen. Klap- – Psychopharmaka penvitien können in den meisten Fällen bereits durch die sim- – Diuretika ple Maßnahme der Auskultation suspiziert werden, bevor sie – Anticholinergika mittels Echokardiographie verifiziert werden können. Auch die – Aminoglykoside 26 ÖSTERREICHISCHE ÄRZTEZEITUNG 6 | 25. März 2022
DFP-Literaturstudium S T A T E O F T H E A R T Prinzipiell kann jede Form der Volumsdepletion einen Sturz Sturzanfällen kann die Aktivität des betroffenen Gleichge- provozieren. Akute Hämorrhagien, Diarrhoe und Erbrechen wichtsorgans (nach entsprechender Abklärung mittels MRI, gehören genauso zu den auslösenden Faktoren wie auch we- Elektrocochleographie usw.) durch intratympanale Gentami- niger dramatische Situationen, wie sie beim Älteren etwa cin-Applikation gehemmt werden. Die wichtigste Differential- durch exogene Noxen wie große Hitze und verminderte Flüs- diagnose ist der Migräne-assoziierte Schwindel, der auch mit sigkeitsaufnahme häufiger vorkommen. Seltenere Ursachen Schwindelepisoden unterschiedlicher Dauer einhergeht. Die sind relative Hypovolämien, wie sie sich durch alkoholbedingte intratympanale Gentamicin-Therapie kann die Sturzattacken Vasodilatation, allergische Reaktionen sowie die relative Hypo- erfolgreich stoppen und wirkt sich gleichzeitig auch günstig volämie im Rahmen einer schweren Infektion/Sepsis ergeben. auf die klassischen Schwindelattacken beim M. Menière aus. Auch hier geben Labor und Anamnese rasch Aufschluss. Sogar Da es sich hier um eine ablative Therapie handelt, wird oft vor- banale fieberhafte Infekte können in höherem Alter zu einer erst versucht, mittels intratympanaler Kortisoninjektion eine erheblichen Beeinträchtigung führen und dadurch das Sturz- Besserung zu erreichen. Die Wirksamkeit der intratympanalen risiko deutlich erhöhen. Gentamicin-Therapie wurde in Placebo-kontrollierten Studien nachgewiesen und ist auch durch Metaanalysen belegt. Bei der Weitere Hinweise für eine metabolische Genese von Stürzen intratympanalen Kortisontherapie wurde bisher noch keine ergibt das Labor. Entgleisungen des Elektrolyt- und Säure-Ba- dauerhafte Wirkung nachgewiesen. Es gibt lediglich eine Ar- senhaushaltes zum Beispiel im Rahmen von akuter oder chro- beit, welche eine ähnliche Wirksamkeit gegen Placebo wie bei nischer Nieren- oder Leberinsuffizienz oder Blutbildverände- der intratympanalen Gentamicin-Therapie nachgewiesen hat. rung im Rahmen verschiedenster Grunderkrankungen (Anämie Allerdings wurden die Patienten in dieser Studie nicht nach oder Mangelerscheinungen) kommen grundsätzlich in Frage. Schweregrad der Erkrankung stratifiziert, sodass es möglich ist, Entgleisungen des Kaliumhaushaltes können mit Muskel- dass die spontane Besserung bei den leichten Erkrankungen lähmungen mit entsprechender Folge einhergehen. Auch Ent- eine eventuelle Differenz zwischen den beiden Substanzen ver- gleisungen des Blutzuckers im Rahmen einer diabetischen deckt hat. Stoffwechsellage oder deren Folgeerscheinungen (Spätfolgen wie Amaurosis oder Polyneuropathie) fördern Stürze. Seltener Eine kleine Gruppe bilden jene seltenen Fälle, die nicht als M. begünstigen Entgleisungen des Calcium-Haushaltes oder der Menière interpretiert werden können, und vor allem mit Drop- Schilddrüsenfunktion das Auftreten von Stürzen. Attacken ohne akustische Ausfälle einhergehen. Der Pathome- chanismus dieser Anfälle ist letztlich unbekannt. Auffallend Besonders in höherem Alter, bei zunehmender kognitiver Ver- ist jedoch, dass bei diesen Patienten besonders häufig eine schlechterung, bei chronisch kranken Patienten oder bei Poly- Migräne-Anamnese erhoben werden konnte. pharmazie kann es durch Medikamentenverwechslungen und/ oder Überdosierung zu Intoxikationen und nachfolgenden Auch andere peripher-vestibuläre Erkrankungen wie zum Bei- Sturzepisoden kommen. spiel der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel können die Tendenz zu Stürzen erhöhen – vor allem in Kombination mit Peripher-vestibuläre Ursachen anderen Erkrankungen (zum Beispiel sensorische Neuropathie, Die wichtigste peripher-vestibuläre Ursache von plötzlichen Visusprobleme usw.). ◉ Stürzen ist der M. Menière. Diese kurzen und hyperakuten Literatur bei den Verfassern Schwindelzustände („Tumarkinsche Sturzattacken“) kön- nen ernsthafte Verletzungen (zum Beispiel Nasenbein- *Priv. Doz. Dr. Thomas Foki, Universitätsklinikum St. Pölten, bruch) verursachen. Die Patienten haben das Gefühl, auf den Klinische Abteilung für Neurologie; Priv. Doz. Dr. Raphael van Boden geworfen, gezogen oder gestoßen zu werden. Dieses Tulder, Universitätsklinikum Krems, Klinische Abteilung für Innere Phänomen ist durch eine besonders schnell einsetzende Medizin 1; Univ. Doz. Dr. Béla Büki, Universitätsklinikum Krems, und unerwartete Schwindelattacke mit Veränderungen des Klinische Abteilung für HNO-Krankheiten; Korrespondenzadresse: Muskeltonus charakterisiert. Wichtig ist, dass der Anfall ohne E-Mail: bela.bueki@krems.lknoe.at, Tel.: 02732/9004-0 Bewusstseinsverlust einhergeht. Da beim M. Menière histo- pathologisch ein endolymphatischer Hydrops nachgewiesen Lecture Board wurde, welcher den Sacculus zumeist stark extendiert, wird Univ. Prof. Dr. Gerald Wiest, Universitätsklinik für Neurologie/ angenommen, dass hier eine pathologische Otolithenreizung AKH Wien die Ursache sein könnte. Beim M. Menière sind meistens Priv. Doz. Dr. Christoph Weiser, Abteilung für Innere Medizin II, auch typische Drehschwindelanfälle vorhanden, wenn Sturz- Kardiologie und Nephrologie/Landeskrankenhaus Wiener Neustadt anfälle auftreten. Ärztlicher Fortbildungsanbieter Der M. Menière bessert sich oft spontan. Bei persistierenden Klinische Abteilung für Innere Medizin 2/ oder häufigen Attacken beziehungsweise bei gefährlichen Universitätsklinikum Krems 6 | 25. März 2022 ÖSTERREICHISCHE ÄRZTEZEITUNG 27
DFP-Literaturstudium: Stürze: Ein Symptom, viele Ursachen 1) Welche Aussage ist falsch bezüglich Morbus Menière? (eine Antwort richtig) a) Die Patienten leiden manchmal unter Stürzen. Insgesamt müssen vier von sechs Fragen richtig beantwortet b) Die Tumarkin‘schen Sturzanfälle führen nie zu sein, um zwei DFP-Punkte im Rahmen des Diplom-Fortbil- Verletzungen. dungs-Programms der Österreichischen Ärztekammer zu c) Die intratympanale Gentamicin-Therapie ist gegen erwerben. Eine Frage gilt als korrekt beantwortet, wenn alle Placebo wirksam. möglichen richtigen Antworten markiert sind. d) Als Therapie wird auch die intratympanale Kortison- Therapie angewendet. 2) Welche Aussage trifft nicht zu? (eine Antwort richtig) www.aerztezeitung.at/DFP-Literaturstudium a) Bei endolymphatischem Hydrops dehnt sich der Sacculus meist aus. E-Mail: dfp@aerzteverlagshaus.at b) Differentialdiagnostisch kommt bei M. Menière der Bitte deutlich ausfüllen, da sonst die Einsendung Migräneschwindel in Frage. nicht berücksichtigt werden kann! c) Die intratympanale Gentamicin-Therapie wirkt gegen Sturzanfälle. d) Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel kann Name: die Tendenz zu Stürzen erhöhen. 3) Welche Aussage ist falsch? (eine Antwort richtig) a) Die orthostatische Hypotonie trägt zur Sturzneigung ÖÄK-Arztnummer: von Menschen mit M. Parkinson bei. Adresse: b) Der Schellong-Test ist geeignet, um eine ortho- statische Hypotonie nachzuweisen. c) Stürze im ersten Erkrankungsjahr kommen bei der Parkinson-Erkrankung immer vor. d) Die progressive supranukleäre Paralyse (PSP) ist E-Mail-Adresse: typischerweise mit Stürzen nach hinten assoziiert. 4) Welche Aussage ist korrekt? (eine Antwort richtig) a) Symptomatische Carotis-Stenosen äußern sich klinisch sehr häufig mit isolierten Stürzen und Synkopen. Zutreffendes bitte ankreuzen: b) Versorgungsdefizite im vertebrobasilären Stromgebiet Turnusarzt/Turnusärztin sind für die Sturzabklärung besonders relevant. Arzt/Ärztin für Allgemeinmedizin c) Beim posturalen Tachykardie-Syndrom (POTS) Facharzt/Fachärztin für kommt es im Stehen per definitionem zu einer signifikanten Blutdruckreduktion. d) Eine Verletzung im Rahmen eines Sturzes schließt Ich besitze ein gültiges DFP-Diplom. eine funktionelle (psychogene) Ursache aus. Ich nutze mein DFP-Fortbildungskonto. 5) Welche Untersuchungsschritte gehören nicht zur Bitte die DFP-Punkte automatisch buchen. Basisuntersuchung nach einem Sturz: (eine Antwort richtig) a) Anamnese Altersgruppe: b) Herz-Echo < 30 31–40 41–50 51–60 > 60 c) Internistischer Status d) Labor Ich willige in die Zusendung von Werbematerial per Post 6) Welche EKG-Bilder indizieren meist eine Schritt- oder E-Mail über die Produkte der Verlagshaus der Ärzte GmbH macherimplantation: (eine Antwort richtig) ein. Diese Einwilligung kann ich jederzeit mittels E-Mail an a) Alternierender Schenkelblock office@aerzteverlagshaus.at widerrufen. Informationen zum b) QRS Dauer > 0,12 sek. Datenschutz finden Sie auf Seite 38 oder unter www.aerztezeitung.at/kontakt/impressum c) Bifaszikulärer Block d) AV-Block II°-Typ Mobitz II 28 ÖSTERREICHISCHE ÄRZTEZEITUNG 6 | 25. März 2022
Sie können auch lesen