Ernährungsmedizin - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
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Ernährungsmedizin – highlighted In den vergangenen Jahren hat sich die Fall 1: Glutenunverträglichkeit auch der extraintestinalen Beschwerden verspürt. Ernährungsmedizin als wichtiger Eckpfei- Eine Glutensensitivität ist definiert als eine Unver- bei einer Patientin mit Reizdarm- ler in der Therapie von zahlreichenden Er- träglichkeit gegenüber Gluten, nachdem Zöliakie syndrom und eine Weizenallergie ausgeschlossen wurden. krankungen herauskristallisiert. Die ernäh- Die klinische Symptomatik kann innerhalb von rungsmedizinische Intervention kann nicht Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist charakterisiert wenigen Stunden nach dem Verzehr von gluten- nur die Lebensqualität der Patientinnen durch chronische Bauchschmerzen, Stuhlunre- haltigen Nahrungsmitteln auftreten und kann und Patienten verbessern, sondern sich gelmäßigkeiten und Blähungen/Flatulenz. Die einer Zöliakie oder Weizenallergie stark ähneln. auch auf die Prognose von bestimmten Patienten verspüren hierunter eine deutliche Min- Unter einer glutenfreien Diät erfahren die Pati- Erkrankungen positiv auswirken. Bei chro- derung ihrer Lebensqualität, sodass eine weiter- enten eine rasche Besserung der Beschwerden [1]. nischen Erkrankungen mit erhöhtem Risiko führende Diagnostik und Therapie notwendig wird. Den Patienten wird empfohlen, über vier bis fünf für eine Sarkopenie kann eine kombinierte Kennzeichnend für das RDS ist, dass meist keine Wochen eine glutenfreie Diät einzuhalten und im ernährungs- und sportmedizinische The- zugrundeliegende organische Erkrankung gefun- weiteren Verlauf Gluten wieder langsam einzu- rapie den Muskelstatus stabilisieren und den wird. Eine wichtige Therapiesäule stellt die führen, um die individuelle Toleranzschwelle zu somit den Verlauf der Erkrankung positiv Ernährungstherapie dar. Eine FODMAP-reduzierte finden. Im Vergleich zu einer Zöliakie wird keine beeinflussen. Ernährung (fermentierbare Oligo-, Di-, Monosac- strikt glutenfreie Ernährung benötigt. charide und Polyole) scheint bei einem Großteil der Patienten die gastrointestialen Beschwerden Anamnese: zu lindern. Diese Diät bedeutet einen weitgehen- Eine 37-jährige Patientin stellte sich in normalen den Verzicht auf Lactose-, Fructose-, Sorbit- und Ernährungszustand (Body-Mass-Index [BMI] 25) Mannit-haltige Lebensmittel sowie auf Produkte in unserer Ernährungssprechstunde zur Abklärung mit hohem Gehalt an Fructanen oder Galaktanen, von nahrungsmittelabhängigen, abdominellen wie bestimmte Gemüse- (zum Beispiel Artischo- Beschwerden vor. Seit ihrer Rückkehr aus dem cken, Blumenkohl, Bohnen, Lauch, Erbsen, Zwiebel) Urlaub aus Thailand vor ca. zwei Jahren, wo sie oder Getreidesorten (zum Beispiel Weizen, Rog- einen akuten Magen-Darm-Infekt erlitten haben gen, Gerste). Es gibt Hinweise, dass ein Teil der soll, leide sie an chronischen, abdominellen Be- Patienten mit RDS auch unter einer glutenfreien schwerden. Mehrmals die Woche habe sie starke Ernährung eine Linderung der intestinalen und Blähungen, abdominelle Schmerzen bis hin zu 384 Bayerisches Ärzteblatt 9/2020
Titelthema Professorin Dr. med. Yurdagül Zopf Privatdozentin Dr. rer. nat. Walburga Dieterich Dr. phil. Dejan Reljic Dr. oec. troph. Hans Joachim Herrmann Bauchkrämpfen und Stuhlunregelmäßigkeiten im geführt. Hierbei ließ sich eine Laktoseintoleranz einer leichten Verbesserung der klinischen Wechsel mit Durchfällen und Verstopfung. Ferner nachweisen. Die Fruktose- und Sorbit-Testungen Symptomatik. Bei Verdacht auf ein RDS wurde fühlte sich die Patientin seit mehreren Monaten waren unauffällig. Eine Bestimmung des Gesamt- leitliniengerecht (S3-Leitlinie Reizdarmsyn- sehr müde und antriebslos, berichtete über häufige Immunglobulins E (IgE) erbrachte keinen Hin- drom) eine vierwöchige FODMAP-arme Diät Kopfschmerzen sowie Gelenkschmerzen. Bei der weis auf eine Nahrungsmittelallergie. Bei der durchgeführt [2]. Unter dieser Diät wurde Ernährungsanamnese fiel auf, dass die Patientin Ösophago-Gastro-Duodenoskopie zeigte sich bereits nach einer Woche eine Verbesserung versucht hat, sich weitgehend ausgewogen zu makroskopisch bis auf eine Refluxösophagitis der gastrointestinalen Symptome erzielt. Die ernähren. Aufgrund der zum Teil sehr belasten- kein wegweisender Befund. Histopathologisch Blähungen und abdominellen Schmerzen bes- den Beschwerden kam es zu einer reduzierten zeigten sich entzündliche Veränderungen im serten sich. Die Patientin klagte jedoch wei- Nahrungsaufnahme, sodass es zu einer ungewoll- distalen Ösophagus. Histologisch präsentierten terhin über Müdigkeit, Kopf- und Gelenk- ten Gewichtsabnahme kam. Dies führte zu einer sich im Duodenum leichtgradig erhöhte intraepi- schmerzen. Hin und wieder kam es noch zu zusätzlichen körperlichen Schwäche und einem theliale Lymphozyten 22 IEL/100 Enterozyten. Es abdominellen Beschwerden. Leistungsknick. lagen keine Zottenatrophie oder Kryptenhyper- lasie vor, so dass eine Zöliakie ausgeschlossen Im nächsten Schritt wurde die Reduktion von Im Rahmen der hausärztlichen Betreuung und ei- werden konnte. Serologisch zeigten sich keine glutenhaltigen Nahrungsmitteln empfohlen. ner gastroenterologischen Untersuchung wurden Auffälligkeiten, mit Ausnahme eines erniedrigten FODMAPs wurden wieder in die Ernährung einge- serologisch, histologisch und durch Stuhluntersu- Vitamin-D-Spiegels und leicht erhöhtem IgG- führt, Lebensmittel mit hohem FODMAP-Gehalt chungen eine Zöliakie, eine chronisch entzündli- Serumantikörper gegen Gliadine (12,5 units/ml; wurden in Maßen erlaubt (zum Beispiel Milch- che Darmerkrankung, eine akute und chronische Grenzwert 7 units/ml). Die zöliakietypischen produkte, Honig, Äpfel, Birnen, Kohlsorten oder Infektion und weitere organische Erkrankungen Antikörper gegen die Transglutaminase 2 waren Zwiebel). Nach vier Wochen glutenfreier Diät war ausgeschlossen und die Überweisung in unsere nicht erhöht. Eine IgA-Defizienz lag nicht vor. die Patientin beinahe beschwerdefrei. Ihre Kopf- gastroenterologische Klinik veranlasst. Zuletzt schmerzen und Müdigkeit haben sich im Verlauf wurde der Verdacht auf ein RDS postuliert. Die Refluxösophagitis wurde durch Gabe von deutlich reduziert, die Gelenkschmerzen waren Protonenpumpeninhibitoren (PPI) behandelt. nur noch gering ausgeprägt. Diagnose und Therapie: Ernährungstherapeutisch wurde zunächst, Im Rahmen der weiterführenden Untersuchung unter Beachtung der Laktoseintoleranz, auf In der Zusammenschau der Befunde wurde bei in unserer Abteilung wurden H2-Atemtests auf eine mediterrane Ernährung umgestellt. Nach bekanntem RDS eine zusätzlich vorliegende Glu- Laktose-, Fruktose- und Sorbitintoleranz durch- vier Wochen berichtete die Patientin nur von tensensitivität postuliert. Zur Absicherung der Bayerisches Ärzteblatt 9/2020 385
Titelthema A B Abbildung 1: Nachweis der intraepithelialen Lymphozyten (CD3+) einer Patientin mit Glutensensitivität: A) vor glutenfreier Diät; B) nach acht Wochen glutenfreier/gluten- armer Diät (GFD). Diagnose wurde eine verblindete Glutenprovo- glutenfreie Diät nicht so streng wie bei einer nokarzinom des Pankreas mit hepatischer und kation durchgeführt. Die Patientin ernährte sich Zöliakie eingehalten. Es wird geschätzt, dass ein pulmonaler Metastasierung diagnostiziert (UICC- weiterhin glutenfrei und erhielt in der ersten Drittel der Patienten mit Reizdarmsymptomatik Stadium IV). Sie berichtete über einen hohen, Woche von uns hergestellte, glutenfreie Muffins. eine Glutensensitivität haben, sodass eine glu- ungewollten Gewichtsverlust von sieben Kilo- In der zweiten Woche erhielt sie Muffins, die tenfreie Ernährung eine weitere therapeutische gramm in den vergangenen drei Monaten (10,6 je acht Gramm Gluten (Vitalkleber) enthielten. Option darstellen kann. Prozent ihres üblichen Körpergewichtes), Kurzat- Bereits am zweiten Tag unter der Glutenprovo- migkeit bei körperlicher Belastung, mäßigen Ap- kation klagte die Patientin über Kopfschmerzen, petit, ausgeprägte Fatigue und Bauchschmerzen. abdominelle Beschwerden und zwei Aphten im Fall 2 – Kombinierte Ernährungs- Das aktuelle Gewicht betrug 59,2 kg und der BMI Mund. Bei nachgewiesener Glutensensitivität und Sporttherapie bei Tumor 19,5 kg/m2. Im „Nutritional Risk Screening-2002“ wurde im weiteren Verlauf eine glutenarme Er- kachexie (NRS-Screening) zeigte sich aufgrund des Ge- nährung durchgeführt. Unter diätetischer Bera- wichtsverlusts, der verminderten Nahrungs- tung wurden in den folgenden Wochen wieder Anamnese: aufnahme und der Krankheitsschwere mit vier geringe Mengen an Gluten eingeführt. Mittler- Bei einer 42-jährigen Patientin, verheiratet, zwei Punkten ein hohes Risiko für Mangelernährung weile kann die Patientin wieder geringe Mengen Kinder, wurde im April 2018 ein duktales Ade- (Tabelle 1). glutenhaltige Nahrungsmittel verzehren, ohne eine klinische Symptomatik zu entwickeln [3]. Im Verlauf erfolgte eine erneute Ösophago- A) Störung des Ernährungszustands Punkte Gastroduodenoskopie. Makro- und mikroskopisch keine 0 war die Refluxösophagitis erfolgreich behandelt. Gewichtsverlust > 5 % in 3 Monaten oder Nahrungszufuhr < 50 bis 75 % mild 1 Histopathologisch zeigte sich ebenfalls in den des Bedarfes in der vergangenen Woche duodenalen Gewebeproben ein Normalbefund, Gewichtsverlust > 5 % in 2 Monaten oder BMI 18,5 bis 20,5 kg/m² und insbesondere in Bezug auf die intraepithelialen mäßig reduzierter Allgemeinzustand (AZ) oder Nahrungszufuhr 25 bis 50 % 2 des Bedarfes in der vergangenen Woche Lymphozyten. Die geringgradige entzündliche Gewichtsverlust > 5 % in 1 Monat (> 15 % in 3 Monaten) Aktivität in der Mukosa normalisierte sich unter schwer oder BMI < 18,5 kg/m² und reduzierter AZ oder Nahrungszufuhr 0 bis 25 % 3 einer glutenfreien Diät [4]. Serologisch waren des Bedarfes in der vergangenen Woche ferner keine erhöhten IgG gegen deamidierte B) Krankheitsschwere Punkte Gliadine mehr nachweisbar (Abbildung 1). keine 0 zum Beispiel Schenkelhalsfraktur, chronische Erkrankungen besonders mit Fazit: mild Komplikationen: Leberzirrhose, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, 1 Bei der Patientin ließ sich eine Glutensensitivi- chronische Hämodialyse, Diabetes, Krebsleiden tät nachweisen. Eine Nahrungsumstellung auf zum Beispiel große Bauchchirurgie, Schlaganfall, schwere Pneumonie, mäßig 2 hämatologische Krebserkrankung mediterrane Kost sowie eine FODMAP-arme zum Beispiel Kopfverletzung, Knochenmarktransplantation, intensivpflichtige Ernährung brachten bei der Patientin zwar ei- schwer 3 Patienten (APACHE-II > 10) ne Verbesserung der gastrointestinalen Sym- C) wenn Alter ≥ 70 Jahre + 1 Punkt ptomatik, aber erst die glutenfreie Ernährung Screening-Ergebnis = Summe Punkte A, B, C; ≥ 3 Punkte: Ernährungsrisiko liegt vor, E rstellung konnte die intestinalen und die extraintesti- eines Ernährungsplanes; < 3 Punkte: wöchentlich wiederholtes Screening. Wenn für den P atienten zum nalen Beschwerden deutlich lindern und die Beispiel eine große Operation geplant ist, sollte ein präventiver Ernährungsplan verfolgt w erden, um das Lebensqualität der Patientin wiederherstellen. assoziierte Risiko zu vermeiden. Entsprechend den Empfehlungen wurde die Tabelle 1: NRS-Hauptscreening [5]. 386 Bayerisches Ärzteblatt 9/2020
Titelthema Beschreibung einzelne, feste Kügelchen, schwer Typ 1 auszuscheiden Typ 2 wurstartig, klumpig Typ 3 wurstartig mit rissiger Oberfläche Typ 4 wurstartig mit glatter Oberfläche einzelne weiche, glattrandige Typ 5 Klümpchen, leicht auszuscheiden einzelne weiche Klümpchen mit un- Typ 6 regelmäßigem Rand Typ 7 flüssig, ohne feste Bestandteile Tabelle 2: Bristol-Stuhlformen-Skala. Abbildung 2: Muskeltraining mittels Ganzkörper-Elektromyostimulation. In der interdisziplinären Tumorkonferenz wurde Diagnostik, Therapie und Verlauf: und eines gesteigerten Ganzkörper- und Mus- die Empfehlung zur palliativen Chemotherapie Bei der Patientin lag aufgrund der aggressiven, kelproteinumsatzes bei Krebserkrankungen eine (FOLFIRINOX-Protokoll) gegeben, die erstmals malignen Grunderkrankung, eines hohen, unge- erhöhte Proteinzufuhr empfohlen wird. Ergänzend am 30. April 2018 verabreicht wurde. Gleichzei- wollten Gewichtsverlustes und einer reduzierten erhielt sie entsprechendes Informationsmaterial tig wurde die Patientin an das „Hector-Center für Nahrungsaufnahme ein ausgeprägtes Tumor- zur Optimierung der oralen Ernährung (Liste mit Ernährung, Bewegung und Sport“ des Universi- kachexiesyndrom vor. eiweißreichen Lebensmitteln, Rezeptvorschläge). tätsklinikums Erlangen angebunden. Hier wurde Als Zielzufuhr sollte die Patientin leitlinienkon- die Patientin in ein klinisches Ernährungs- und Laut Ernährungsanamnese nahm die Patientin form 1,2 bis 1,5 g Eiweiß/kg Körpergewicht zu- Sportkonzept aufgenommen. Dabei erfolgte par- bei mäßigem Appetit nur etwa drei Viertel der führen, entsprechend 70 bis 90 g pro Tag [6]. allel zur onkologischen Therapie über drei Monate üblichen Portionen zu sich. Der Stuhl war breiig- eine kombinierte, individualisierte Ernährungs- und flüssig (Bristol-Stuhl-Skala 6 bis 7 – Tabelle 2). Ebenfalls mit Start der Chemotherapie begann die Sporttherapie mit dem Ziel, den Ernährungs- und Die Patientin wurde wiederholt alle vier Wochen Patientin ein Muskeltraining mittels Ganzkörper- Muskelstatus, die körperliche Leistungsfähigkeit ernährungstherapeutisch durch eine qualifizierte Elektromyostimulation (WB-EMS – Abbildung 2). und die Lebensqualität zu stabilisieren sowie die Ernährungsfachkraft zu einer eiweißreichen Kost Bei dieser zeiteffizienten Methode wird in einer Verträglichkeit der Chemotherapie zu verbessern. beraten, da aufgrund einer anabolen Resistenz 20-minütigen Trainingseinheit mittels elektrischer Impulse in Kombination mit leichten dynamischen Körperübungen ein Großteil der Körpermuskula- tur aktiviert (Rumpf-, Oberarm-, Oberschenkel-, Gesäßmuskulatur). Dieses Training führte die Patientin zweimal pro Woche im Sportzentrum des Hector-Centers unter Anleitung geschulter Physio- und Sporttherapeuten durch. Das erste WB-EMS-Training absolvierte die Patientin 14 Tage nach der ersten Chemotherapiegabe. Bei den ersten beiden Trainingseinheiten war die Patientin noch deutlich geschwächt, sie stabili- sierte sich aber zunehmend und konnte von 24 geplanten Trainingseinheiten in den drei Mona- ten 22 Trainings in vollem Umfang durchführen. Unerwünschte Ereignisse traten dabei nicht auf. Die Patientin setzte auch die Vorgaben zur ei- weißreichen Ernährung sehr gut um. Die Analyse der Drei-Tage-Ernährungsprotokolle im Verlauf zeigte eine Zufuhr im oberen Zielbereich von ca. 90 g hochwertigen Proteinen pro Tag bei einer bedarfsdeckenden Energiezufuhr von 1.900 bis 2.000 kcal. Die Messung der Körperzusammensetzung mit- Grafik 1: Muskelmasse (kg) und BMI (kg/m²) im Zeitraum Mai 2018 bis Juli 2020. tels multifrequenter Bioimpedanzanalyse zeigte Bayerisches Ärzteblatt 9/2020 387
Titelthema nach drei Monaten einen Anstieg der Skelettmus- Im Hinblick auf die Verbesserung der kardiore- % Beschreibung kelmasse von 19.9 kg auf 21.0 kg. Nicht nur die spiratorischen Fitness besprachen wir mit der Muskelmasse, auch die körperliche Funktionalität Patientin, zusätzlich zum Krafttraining ein Fahr- Normalzustand, keine Beschwerden, 100 (Muskelkraft und kardio-pulmonale Leistungsfä- radergometertraining durchzuführen. Die Pati- keine manifeste Erkrankung higkeit) verbesserte sich: Die Patientin steigerte entin nahm dieses Angebot sehr gerne an und 90 minimale Krankheitssymptome sich im Sechs-Minuten-Gehtest um 30 Prozent absolvierte im Rahmen einer laufenden Pilot- normale Leistungsfähigkeit mit von 600 m auf 780 m und bei der Handkraft studie und ergänzend zum WB-EMS-Training 80 Anstrengung um 13,3 Prozent von 30 kg auf 34 kg. Weiterhin zweimal wöchentlich ein hocheffizientes Herz- eingeschränkte Leistungsfähigkeit, verbesserte sich der Karnofsky-Index (Tabelle 3) Kreislauftraining in Form eines 15-minütigen, 70 arbeitsunfähig, kann sich alleine von 60 auf 80. hochintensiven Intervalltrainings (HIIT) auf dem versorgen Fahrradergometer (Abbildung 3). Zur Ermittlung Nach Abschluss des Programmes Ende Juli 2018 der individuellen Trainingsintensität wurde die 60 gelegentliche fremde Hilfe führte die Patientin auf eigenen Wunsch die kom- maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) mit- krankenpflegerische und ärztliche 50 binierte Ernährungs- und Sporttherapie weiter tels Spiroergometrie gemessen. Die Patientin Hilfe, nicht dauernd bettlägrig fort. Erfreulicherweise blieben der Ernährungs- absolvierte dieses intensive, zeiteffiziente Trai- bettlägrig, spezielle Pflege erfor- 40 zustand und der muskuläre Status der Patientin ning mit großer Motivation über zehn Wochen, derlich unter diesen Maßnahmen auch im Langzeitver- bis aufgrund der Corona-Pandemie das Training schwer krank, Krankenhauspflege lauf stabil (Grafik 1). Die Chemotherapie konnte in unserem Zentrum vorübergehend eingestellt 30 notwendig mit neun Zyklen FOLFIRINOX planmäßig und in werden musste. Krankenhauspflege und supportive unveränderter Dosierung von April bis Septem- 20 Maßnahmen erforderlich ber 2018 durchgeführt werden. Es zeigte sich ein Im onkologischen Verlauf wurde die orale syste- sehr gutes Therapieansprechen mit deutlichem mische Therapie mit Olaparib von der Patientin moribund, Krankheit schreitet 10 schnell fort Regress der Metastasen, woraufhin ab Septem- weitgehend nebenwirkungsfrei vertragen, und ber 2018 auf eine orale Erhaltungstherapie mit in den Restaging-Untersuchungen zeigte sich 0 Tod Olaparib (PARP-Inhibitor – nur für Tumoren mit eine stabile Krankheitssituation. Im Januar 2020 Tabelle 3: Karnofsky-Index in Prozent [7]. BRCA-Genmutation) umgestellt wurde. erfolgte eine Radiofrequenzablation und im Mai 2020 eine Re-Ablation einer progredienten Le- bermetastase. Der beschriebene Fallbericht zeigt eindrücklich die hohe Relevanz, Krebspatienten auf ihren Er- Ernährung und Sport: Wichtige Bausteine nährungszustand hin zu screenen und frühzeitig einer multimodalen Therapie des Tumor- sowie parallel zur antitumoralen Therapie eine kachexiesyndroms individualisierte, kombinierte Ernährungs- und Krebserkrankungen sind mit einem hohen Sporttherapie durchzuführen [8]. Die frühzei- Risiko für eine Mangelernährung und einen tige orale Ernährungstherapie konnte bis jetzt progressiven Muskelabbau verbunden (Tumor invasive ernährungstherapeutische Maßnahmen kachexie) [12]. Die Tumorkachexie ist multi- vermeiden. Das effektive und zeiteffiziente faktoriell bedingt und sollte daher multimodal Muskeltraining konnte gut in den onkologischen therapiert werden [13, 14]. Häufig findet sich Behandlungsablauf integriert werden und ver- ein systemisches Inflammationssyndrom, das besserte in Kombination mit der eiweißreichen sich auf den Protein-, Kohlenhydrat- und Ernährungstherapie den muskulären Status und Lipidstoffwechsel der Leber und der peripheren die Leistungsfähigkeit der Patientin trotz der Organe auswirkt und die Nährstoffverwer- belastenden Chemotherapie deutlich. Zudem tung beeinträchtigt. Neben einer schlech- unterstützte der gute körperliche und muskuläre teren Verträglichkeit der onkologischen Zustand den Erfolg der Chemotherapie, indem Behandlungsmaßnahmen und einem erhöhten diese bei sehr guter Verträglichkeit planmäßig Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko führt der durchgeführt werden konnte. Die Kombinati- Verlust an Muskelmasse und -funktionalität on aller Maßnahmen hat entscheidend zu dem zu einer verminderten körperlichen Aktivität bisher günstigen Verlauf der schweren Tumor- und Leistungsfähigkeit sowie zur Einschrän- erkrankung beigetragen. kung der Selbstständigkeit und Selbstbestim- mung des Patienten im Alltag – mit negativen Die an diesem Fallbericht gezeigten positiven Auswirkungen auf die Lebensqualität [15]. Effekte (Steigerung der Muskelmasse, Verbesse- Für Patienten mit Krebserkrankungen, die nicht rung der körperlichen Funktionalität und Leis- mehr kurativ behandelt werden können, ist die tungsfähigkeit) durch proteinreiche Ernährung in Erhaltung oder Verbesserung der Leistungsfä- Kombination mit einem effektiven Muskeltraining higkeit und Lebensqualität ein primäres Ziel konnten wir in randomisierten und kontrollier- des onkologischen Behandlungskonzeptes. In ten klinischen Studien sowohl bei Patienten mit dieser Situation werden ernährungs-, sport- fortgeschrittenen soliden Krebserkrankungen und bewegungstherapeutische Maßnahmen als Abbildung 3: Patientin beim hochintensiven Intervall- (n=131) als auch bei hämatoonkologischen Pa- wesentliche Elemente der Supportivtherapie training (HIIT). tienten (n=31) beobachten [9, 10, 11]. empfohlen [16]. 388 Bayerisches Ärzteblatt 9/2020
Titelthema Das Wichtigste in Kürze zu Fall 1: Laut Leitlinien (S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom) kann bei RDS rungs- und Leistungsstatus sowie das onkologische Behandlungskonzept eine FODMAP-arme Diät ausgetestet werden. Bestehen unter dieser spe- abgestimmt werden. Sie zeigt auch, wie wichtig die multidisziplinäre ziellen Diätform jedoch weiterhin Beschwerden oder bei Non-Compliance Zusammenarbeit zwischen Ernährungsmedizinern, nicht-medizinischen der Patienten, kann alternativ eine glutenfreie Diät angewandt werden. Ernährungsfachkräften, Sportmedizinern und Onkologen ist. Patienten mit Reizdarmsymptomatik können unter Umständen eine Glu- tensensitivität besitzen. Bei klinischem Verdacht auf eine Glutenunver- zu Fall 3: Bei plötzlich auftretenden neurologischen Symptomen soll- träglichkeit sollten jedoch unter glutenhaltiger Diät eine Zöliakie und eine te bei Kurzdarmpatienten an eine D-Laktatazidose gedacht werden. Die Weizenallergie ausgeschlossen werden. Patienten mit Glutensensitivität Therapie besteht in der Korrektur der Azidose, der antibiotischen Be- können nach anfänglich strikter Diät meist wieder geringe Mengen an handlung der Darmmikrobiota und einer vorübergehenden Nahrungska- glutenhaltigen Nahrungsmittel tolerieren. Es existiert ein individueller renz bei bedarfsdeckender parenteraler Ernährung. Schwellenwert. Die dritte Kasuistik soll am Beispiel der seltenen D-Laktatazidose die zu Fall 2: Mit dieser Kasuistik soll auf die Bedeutung kombinierter er- Komplexität der Betreuung von Patienten mit KDS verdeutlichen. In der nährungs- und sportmedizinischer Maßnahmen in der Behandlung von Adaptationsphase des KDS sollte eine besonders engmaschige Betreuung Tumorpatienten hingewiesen werden. Als wesentliche Bausteine einer durch ein spezialisiertes Team erfolgen, um die meist notwendige paren- multimodalen Therapie des Tumorkachexiesyndroms können sie den terale Ernährungs- und Flüssigkeitszufuhr der sich ändernden Resorp- körperlichen und muskulären Status der Patienten stabilisieren, die tionsleistung des verbliebenen Restdarmes anzupassen. Die Anbindung Leistungsfähigkeit und Lebensqualität steigern und die Verträglichkeit an ein für dieses Krankheitsbild spezialisiertes Team ist für die Patienten der antitumoralen Therapie verbessern. Die Kasuistik zeigt eindrucks- auch im Langzeitverlauf wichtig, um beispielsweise seltene Komplikatio- voll deren Wirksamkeit und Nutzen, wenn sie frühzeitig und mit Beginn nen frühzeitig zu erkennen und zu therapieren oder neue medikamen- der onkologischen Therapie initiiert sowie auf den individuellen Ernäh- töse Therapieoptionen (zum Beispiel GLP-2 Analoga) zu erwägen. Fall 3: D-Laktatazidose bei einer mit dieser Symptomatik in einer Klinik in der schwäche persistierte, sodass wir am dritten Tag Notaufnahme vor. Die dort durchgeführte ar- eine weitere Bikarbonatinfusion in derselben Patientin mit Kurzdarmsyndrom terielle Blutgasanalyse zeigte eine kompensierte Dosierung durchführten. Danach war auch die Anamnese: metabolische Azidose mit erhöhter Anionenlücke, Konzentrationsschwäche nicht mehr vorhanden. Eine 25-jährige Patientin mit Kurzdarmsyndrom die restliche umfangreiche klinische Diagnostik Parallel zur Bikarbonatinfusion begannen wir mit (KDS) bei Zustand nach mehrfachen Dünndarm- zeigte einen Normalbefund. Zum Zeitpunkt der einer oralen antibiotischen Therapie (550 mg Ri- resektionen infolge Bridenilei, ausgehend von erstmaligen Beschwerden hatte die Patientin faximin 1–1–1) zur Behandlung der Darmmikro- einer Appendektomie und Meckel-Divertikel- unter T. opii lediglich noch ein bis zwei Stuhl- biota und damit zur Reduktion der Produktion Exzision im Alter von acht Jahren (Restdünndarm gänge täglich. von D-Laktat. 90 bis 100 cm, Kolon in Kontinuität), stellte sich am 5. Juli 2020 in der internistischen Notaufnah- Diagnostik und Therapie: Ernährungstherapeutisch erfolgte die Nähr- me des Universitätsklinikums Erlangen vor. Die Die Patientin wurde stationär aufgenommen. stoffzufuhr bedarfsdeckend komplett parente- Patientin ist seit zwei Jahren in der Spezialsprech- Die initial angefertigte Laboruntersuchung war ral über den liegenden Portkatheter. Durch die stunde für Kurzdarmpatienten angebunden. Ihr weitestgehend unauffällig. Die venöse Blutgas- Nahrungskarenz sollte vermieden werden, dass Gesundheits- und Ernährungszustand war im analyse zeigte einen pH von 7,30 und einen Base unverdaute Nährstoffe, insbesondere fermentier- Verlauf unter optimierter oraler Ernährung und Excess von -1,1 mmol/l. Die übrigen Blutwerte, bare Kohlenhydrate, in die unteren Darmabschnit- ergänzender parenteraler Nährstoff- und Flüs- inklusive Elektrolyte und Thiamin, zeigten einen te gelangen und dort durch die Darmflora zu sigkeitszufuhr stabil (täglich 1.000 ml Voll-Elek- normalen Befund. Die durchgeführte Diagnos- D-Laktat oder anderen unerwünschten Sub- trolytlösung, einmal wöchentlich parenterale tik (Neurologie, HNO, transthorakale Echokar- straten verstoffwechselt werden. Ernährung mit 1.070 kcal als industrieller Drei- diographie, Lungenfunktion) war unauffällig. kammerbeutel inklusive Vitamine und Spurenele- Aufgrund der Beschwerdesymptomatik und des Verlauf: mente). Die Stuhlfrequenz betrug zuletzt im Mai Ausschlusses anderer Ursachen gingen wir von Unter den beschriebenen Maßnahmen waren 2020 unter Einnahme von Tinctura opii (täglich einer D-Laktatazidose aus. Die Bestimmung des die neurologischen Symptome rasch komplett 15 Tropfen) zwischen vier bis zehn Stuhlgängen D-Laktats im Blut bestätigte die Diagnose (0.97 rückläufig, und der klinische Zustand stabili- pro Tag (Bristol-Stuhl-Skala 5 bis 7). mmol D-Laktat/l; Normwert: < 0.2 mmol/l). sierte sich. Bereits drei Tage nach Therapiebe- ginn befand sich der Blutspiegel von D-Laktat Sie berichtete nun über seit zwei Wochen be- Wir begannen mit der täglichen Infusion von wieder im Normbereich. Nach Entlassung wurde stehenden Schwankschwindel, Konzentrations- Natriumbikarbonat (1 mmol/kg Körpergewicht die Antibiose bis Tag 14 fortgeführt, ebenso die schwäche, pulsierende Kopfschmerzen, in- über vier Stunden). Bereits nach zwei Infusionen bedarfsdeckende parenterale Ernährung. Mit spiratorisch thorakales Beklemmungsgefühl, besserten sich die Beschwerden deutlich (keine Ende der Antibiotikatherapie wurde die orale Schwächegefühl sowie Muskelkrämpfe in den Muskelkrämpfe, Patientin konnte wieder eigen- Nahrungszufuhr sukzessive gesteigert und die Waden. Vor acht Tagen stellte sie sich bereits ständig gehen). Lediglich die Konzentrations- parenterale Ernährung entsprechend reduziert. Bayerisches Ärzteblatt 9/2020 389
Titelthema D-Laktatazidose bei KDS nen, wie zum Beispiel Neurotoxin-Mercaptane, Wegen der eingeschränkten resorptiven Kapazität Die D-Laktatazidose ist eine seltene Komplikati- Aldehyde oder andere Stoffe, die als falsche Neu- des Restdarms kann die Energie-, Nährstoff- und on bei Patienten mit KDS. Sie äußert sich durch rotransmitter fungieren könnten [19]. Flüssigkeitsbilanz mit einer konventionellen Diät neurologische Symptome und kann zu schwer- nicht aufrechterhalten werden [20]. wiegenden Komplikationen führen [17]. Durch Bei Patienten mit KDS sollte bei neurologischen die verkürzte gastrointestinale Transitzeit können Symptomen frühzeitig an eine D-Laktatazidose Das Literaturverzeichnis kann im Internet unverdaute Kohlenhydrate, inklusive FODMAPs, gedacht werden. Der pH-Wert in der venösen unter www.bayerisches-aerzteblatt.de in die unteren Darmabschnitte gelangen und Blutgasanalyse kann trotz bestehender D-Lak- (Aktuelles Heft) abgerufen werden. dort bakteriell fermentiert werden. Das resul- tatazidose unauffällig sein. Die Therapie besteht tierende saure Milieu begünstigt das Wachstum in der Korrektur der Azidose durch Infusion von Die Autoren erklären, dass sie keine finan- D-Laktat-produzierender Bakterien. In der Fol- Natriumbikarbonat, der antibiotischen Sanierung ziellen oder persönlichen Beziehungen zu ge akkumuliert D-Laktat im Blut, begleitet von der Darmflora (nicht resorbierbares Breitbandan- Dritten haben, deren Interessen vom Ma- neurologischen Symptomen. tibiotikum, zum Beispiel Rifaximin, über zehn bis nuskript positiv oder negativ betroffen sein 14 Tage) und möglichst einer – vorübergehenden könnten. Diagnostische Kriterien sind eine metabolische – oralen Nahrungskarenz. Die Nährstoffzufuhr Azidose mit erhöhter Anionenlücke, normales sollte bedarfsdeckend parenteral erfolgen. Mit L-Laktat, Ausschluss anderer metabolischer Ursa- Beendigung der Antibiotikagabe kann die paren- chen für eine Azidose, Vorliegen eines KDS oder terale Ernährung wieder reduziert und Kohlenhy- anderer Formen der Malabsorption und charak- drate inklusive FODMAPs sollten langsam wieder teristische neurologische Symptome. Ein erhöhter in die normale Ernährung eingeführt werden. D-Laktat-Blutspiegel bestätigt die Diagnose [18]. Autoren Definition chronisches Darmversagen Beginn und Schweregrade der D-Laktatazidose inklusive Kurzdarmsyndrom (KDS) Professorin Dr. med. Yurdagül Zopf sind jedoch bisher kaum verstanden, ebenso Der Begriff Darmversagen bezeichnet die Unfä- Privatdozentin Dr. rer. nat. wenig wie die Stoffwechselwege im Metabolis- higkeit, wegen einer eingeschränkten resorptiven Walburga Dieterich mus von D-Laktat und die pathophysiologischen Kapazität des Darms (Obstruktion, Dysmotilität, Dr. phil. Dejan Reljic Mechanismen der neurologischen Symptome. chirurgische Resektion, kongenitale Erkrankung, Dr. oec. troph. Hans Joachim Herrmann Da keine eindeutige Korrelation zwischen den krankheitsassoziierte verminderte Absorption) D-Laktat-Konzentrationen und dem neurolo- die Protein-, Energie-, Flüssigkeits- und Mikro- Universitätsklinikum Erlangen, gischen Phänotyp nachgewiesen wurde, wird nährstoffbilanz aufrechtzuerhalten. Medizinische Klinik 1, Hector-Center für vermutet, dass die neurologischen Symptome Ernährung, Bewegung und Sport, durch andere spezifische Stoffwechselprodukte Der Begriff KDS bezeichnet ein Darmversagen Ulmenweg 18, 91054 Erlangen des Bakterienwachstums verursacht werden kön- nach ausgedehnter Resektion des Dünndarms. Lesen Sie alle Ausgaben des Bayerischen Ärzteblattes bequem online auf ihrem Handy, Tablet oder Laptop. Das Bayerische Ärzteblatt für unterwegs. 390 Bayerisches Ärzteblatt 9/2020
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