Ernährungsmedizin - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt

 
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Ernährungsmedizin – highlighted
In den vergangenen Jahren hat sich die        Fall 1: Glutenunverträglichkeit                     auch der extraintestinalen Beschwerden verspürt.
Ernährungsmedizin als wichtiger Eckpfei-                                                          Eine Glutensensitivität ist definiert als eine Unver-
                                              bei einer Patientin mit Reizdarm-
ler in der Therapie von zahlreichenden Er-                                                        träglichkeit gegenüber Gluten, nachdem Zöliakie
                                              syndrom                                             und eine Weizenallergie ausgeschlossen wurden.
krankungen herauskristallisiert. Die ernäh-
                                                                                                  Die klinische Symptomatik kann innerhalb von
rungsmedizinische Intervention kann nicht
                                              Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist charakterisiert       wenigen Stunden nach dem Verzehr von gluten-
nur die Lebensqualität der Patientinnen
                                              durch chronische Bauchschmerzen, Stuhlunre-         haltigen Nahrungsmitteln auftreten und kann
und Patienten verbessern, sondern sich        gelmäßigkeiten und Blähungen/Flatulenz. Die         einer Zöliakie oder Weizenallergie stark ähneln.
auch auf die Prognose von bestimmten          Patienten verspüren hierunter eine deutliche Min-   Unter einer glutenfreien Diät erfahren die Pati-
Erkrankungen positiv auswirken. Bei chro-     derung ihrer Lebensqualität, sodass eine weiter-    enten eine rasche Besserung der Beschwerden [1].
nischen Erkrankungen mit erhöhtem Risiko      führende Diagnostik und Therapie notwendig wird.    Den Patienten wird empfohlen, über vier bis fünf
für eine Sarkopenie kann eine kombinierte     Kennzeichnend für das RDS ist, dass meist keine     Wochen eine glutenfreie Diät einzuhalten und im
ernährungs- und sportmedizinische The-        zugrundeliegende organische Erkrankung gefun-       weiteren Verlauf Gluten wieder langsam einzu-
rapie den Muskelstatus stabilisieren und      den wird. Eine wichtige Therapiesäule stellt die    führen, um die individuelle Toleranzschwelle zu
somit den Verlauf der Erkrankung positiv      Ernährungstherapie dar. Eine FODMAP-­reduzierte     finden. Im Vergleich zu einer Zöliakie wird keine
beeinflussen.                                 Ernährung (fermentierbare Oligo-, Di-, Monosac-     strikt glutenfreie Ernährung benötigt.
                                              charide und Polyole) scheint bei einem Großteil
                                              der Patienten die gastrointestialen Beschwerden     Anamnese:
                                              zu lindern. Diese Diät bedeutet einen weitgehen-    Eine 37-jährige Patientin stellte sich in normalen
                                              den Verzicht auf Lactose-, Fructose-, Sorbit- und   Ernährungszustand (Body-Mass-Index [BMI] 25)
                                              Mannit-haltige Lebensmittel sowie auf Produkte      in unserer Ernährungssprechstunde zur Abklärung
                                              mit hohem Gehalt an Fructanen oder Galaktanen,      von nahrungsmittelabhängigen, abdominellen
                                              wie bestimmte Gemüse- (zum Beispiel Artischo-       Beschwerden vor. Seit ihrer Rückkehr aus dem
                                              cken, Blumenkohl, Bohnen, Lauch, Erbsen, Zwiebel)   Urlaub aus Thailand vor ca. zwei Jahren, wo sie
                                              oder Getreidesorten (zum Beispiel Weizen, Rog-      einen akuten Magen-Darm-Infekt erlitten haben
                                              gen, Gerste). Es gibt Hinweise, dass ein Teil der   soll, leide sie an chronischen, abdominellen Be-
                                              Patienten mit RDS auch unter einer glutenfreien     schwerden. Mehrmals die Woche habe sie starke
                                              Ernährung eine Linderung der intestinalen und       Blähungen, abdominelle Schmerzen bis hin zu

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Titelthema

                                                                                           Professorin Dr. med. Yurdagül Zopf
                                                                                           Privatdozentin Dr. rer. nat. Walburga Dieterich

                                                                                           Dr. phil. Dejan Reljic
                                                                                           Dr. oec. troph. Hans Joachim Herrmann

Bauchkrämpfen und Stuhlunregelmäßigkeiten im         geführt. Hierbei ließ sich eine Laktoseintoleranz   einer leichten Verbesserung der klinischen
Wechsel mit Durchfällen und Verstopfung. Ferner      nachweisen. Die Fruktose- und Sorbit-Testungen      Symptomatik. Bei Verdacht auf ein RDS wurde
fühlte sich die Patientin seit mehreren Monaten      waren unauffällig. Eine Bestimmung des Gesamt-­     leitliniengerecht (S3-Leitlinie Reizdarmsyn-
sehr müde und antriebslos, berichtete über häufige   Immunglobulins E (IgE) erbrachte keinen Hin-        drom) eine vierwöchige FODMAP-arme Diät
Kopfschmerzen sowie Gelenkschmerzen. Bei der         weis auf eine Nahrungsmittelallergie. Bei der       durchgeführt [2]. Unter dieser Diät wurde
Ernährungsanamnese fiel auf, dass die Patientin      Ösophago-Gastro-Duodenoskopie zeigte sich           bereits nach einer Woche eine Verbesserung
versucht hat, sich weitgehend ausgewogen zu          makroskopisch bis auf eine Refluxösophagitis        der gastrointestinalen Symptome erzielt. Die
ernähren. Aufgrund der zum Teil sehr belasten-       kein wegweisender Befund. Histopathologisch         Blähungen und abdominellen Schmerzen bes-
den Beschwerden kam es zu einer reduzierten          zeigten sich entzündliche Veränderungen im          serten sich. Die Patientin klagte jedoch wei-
Nahrungsaufnahme, sodass es zu einer ungewoll-       distalen Ösophagus. Histologisch präsentierten      terhin über Müdigkeit, Kopf- und Gelenk-
ten Gewichtsabnahme kam. Dies führte zu einer        sich im Duodenum leichtgradig erhöhte intraepi-     schmerzen. Hin und wieder kam es noch zu
zusätzlichen körperlichen Schwäche und einem         theliale Lymphozyten 22 IEL/100 Enterozyten. Es     abdominellen Beschwerden.
Leistungsknick.                                      lagen keine Zottenatrophie oder Kryptenhyper-
                                                     lasie vor, so dass eine Zöliakie ausgeschlossen     Im nächsten Schritt wurde die Reduktion von
Im Rahmen der hausärztlichen Betreuung und ei-       werden konnte. Serologisch zeigten sich keine       glutenhaltigen Nahrungsmitteln empfohlen.
ner gastroenterologischen Untersuchung wurden        Auffälligkeiten, mit Ausnahme eines erniedrigten    FODMAPs wurden wieder in die Ernährung einge-
serologisch, histologisch und durch Stuhluntersu-    Vitamin-D-Spiegels und leicht erhöhtem IgG-         führt, Lebensmittel mit hohem FODMAP-Gehalt
chungen eine Zöliakie, eine chronisch entzündli-     Serumantikörper gegen Gliadine (12,5 units/ml;      wurden in Maßen erlaubt (zum Beispiel Milch-
che Darmerkrankung, eine akute und chronische        Grenzwert 7 units/ml). Die zöliakietypischen        produkte, Honig, Äpfel, Birnen, Kohlsorten oder
Infektion und weitere organische Erkrankungen        Antikörper gegen die Transglutaminase 2 waren       Zwiebel). Nach vier Wochen glutenfreier Diät war
ausgeschlossen und die Überweisung in unsere         nicht erhöht. Eine IgA-Defizienz lag nicht vor.     die Patientin beinahe beschwerdefrei. Ihre Kopf-
gastroenterologische Klinik veranlasst. Zuletzt                                                          schmerzen und Müdigkeit haben sich im Verlauf
wurde der Verdacht auf ein RDS postuliert.           Die Refluxösophagitis wurde durch Gabe von          deutlich reduziert, die Gelenkschmerzen waren
                                                     Protonenpumpeninhibitoren (PPI) behandelt.          nur noch gering ausgeprägt.
Diagnose und Therapie:                               Ernährungstherapeutisch wurde zunächst,
Im Rahmen der weiterführenden Untersuchung           unter Beachtung der Laktoseintoleranz, auf          In der Zusammenschau der Befunde wurde bei
in unserer Abteilung wurden H2-Atemtests auf         eine mediterrane Ernährung umgestellt. Nach         bekanntem RDS eine zusätzlich vorliegende Glu-
Laktose-, Fruktose- und Sorbitintoleranz durch-      vier Wochen berichtete die Patientin nur von        tensensitivität postuliert. Zur Absicherung der

                                                                                                                 Bayerisches Ärzteblatt 9/2020     385
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Abbildung 1: Nachweis der intraepithelialen Lymphozyten (CD3+) einer Patientin mit Glutensensitivität: A) vor glutenfreier Diät; B) nach acht Wochen glutenfreier/gluten-
armer Diät (GFD).

Diagnose wurde eine verblindete Glutenprovo-             glutenfreie Diät nicht so streng wie bei einer            nokarzinom des Pankreas mit hepatischer und
kation durchgeführt. Die Patientin ernährte sich         Zöliakie eingehalten. Es wird geschätzt, dass ein         pulmonaler Metastasierung diagnostiziert (UICC-
weiterhin glutenfrei und erhielt in der ersten           Drittel der Patienten mit Reizdarmsymptomatik             Stadium IV). Sie berichtete über einen hohen,
Woche von uns hergestellte, glutenfreie Muffins.         eine Glutensensitivität haben, sodass eine glu-           ungewollten Gewichtsverlust von sieben Kilo-
In der zweiten Woche erhielt sie Muffins, die            tenfreie Ernährung eine weitere therapeutische            gramm in den vergangenen drei Monaten (10,6
je acht Gramm Gluten (Vitalkleber) enthielten.           Option darstellen kann.                                   Prozent ihres üblichen Körpergewichtes), Kurzat-
Bereits am zweiten Tag unter der Glutenprovo-                                                                      migkeit bei körperlicher Belastung, mäßigen Ap-
kation klagte die Patientin über Kopfschmerzen,                                                                    petit, ausgeprägte Fatigue und Bauchschmerzen.
abdominelle Beschwerden und zwei Aphten im               Fall 2 – Kombinierte Ernährungs-                          Das aktuelle Gewicht betrug 59,2 kg und der BMI
Mund. Bei nachgewiesener Glutensensitivität              und Sporttherapie bei Tumor­                              19,5 kg/m2. Im „Nutritional Risk Screening-2002“
wurde im weiteren Verlauf eine glutenarme Er-            kachexie                                                  (NRS-Screening) zeigte sich aufgrund des Ge-
nährung durchgeführt. Unter diätetischer Bera-                                                                     wichtsverlusts, der verminderten Nahrungs-
tung wurden in den folgenden Wochen wieder               Anamnese:                                                 aufnahme und der Krankheitsschwere mit vier
geringe Mengen an Gluten eingeführt. Mittler-            Bei einer 42-jährigen Patientin, verheiratet, zwei        Punkten ein hohes Risiko für Mangelernährung
weile kann die Patientin wieder geringe Mengen           Kinder, wurde im April 2018 ein duktales Ade-             (Tabelle 1).
glutenhaltige Nahrungsmittel verzehren, ohne
eine klinische Symptomatik zu entwickeln [3].

Im Verlauf erfolgte eine erneute Ösophago-                A) Störung des Ernährungszustands                                                                  Punkte
Gastroduodenoskopie. Makro- und mikroskopisch             keine                                                                                                0
war die Refluxösophagitis erfolgreich behandelt.                   Gewichtsverlust > 5 % in 3 Monaten oder Nahrungszufuhr < 50 bis 75 %
                                                          mild                                                                                                   1
Histopathologisch zeigte sich ebenfalls in den                     des Bedarfes in der vergangenen Woche
duodenalen Gewebeproben ein Normalbefund,                             Gewichtsverlust > 5 % in 2 Monaten oder BMI 18,5 bis 20,5 kg/m² und
insbesondere in Bezug auf die intraepithelialen           mäßig       reduzierter Allgemeinzustand (AZ) oder Nahrungszufuhr 25 bis 50 %                          2
                                                                      des Bedarfes in der vergangenen Woche
Lymphozyten. Die geringgradige entzündliche
                                                                      Gewichtsverlust > 5 % in 1 Monat (> 15 % in 3 Monaten)
Aktivität in der Mukosa normalisierte sich unter          schwer      oder BMI < 18,5 kg/m² und reduzierter AZ oder Nahrungszufuhr 0 bis 25 %                    3
einer glutenfreien Diät [4]. Serologisch waren                        des Bedarfes in der vergangenen Woche
ferner keine erhöhten IgG gegen deamidierte               B) Krankheitsschwere                                                                               Punkte
Gliadine mehr nachweisbar (Abbildung 1).                  keine                                                                                                0
                                                                      zum Beispiel Schenkelhalsfraktur, chronische Erkrankungen besonders mit
Fazit:                                                    mild        Komplikationen: Leberzirrhose, chronisch obstruktive Lungenerkrankung,                     1
Bei der Patientin ließ sich eine Glutensensitivi-                     chronische Hämodialyse, Diabetes, Krebsleiden
tät nachweisen. Eine Nahrungsumstellung auf                        zum Beispiel große Bauchchirurgie, Schlaganfall, schwere Pneumonie,
                                                          mäßig                                                                                                  2
                                                                   hämatologische Krebserkrankung
mediterrane Kost sowie eine FODMAP-arme
                                                                   zum Beispiel Kopfverletzung, Knochenmarktransplantation, intensiv­pflichtige
Ernährung brachten bei der Patientin zwar ei-             schwer                                                                                                 3
                                                                   Patienten (APACHE-II > 10)
ne Verbesserung der gastrointestinalen Sym-
                                                          C) wenn Alter ≥ 70 Jahre                                                                          + 1 Punkt
ptomatik, aber erst die glutenfreie Ernährung
                                                          Screening-Ergebnis = Summe Punkte A, B, C; ≥ 3 Punkte: Ernährungsrisiko liegt vor, E   ­ rstellung
konnte die intestinalen und die extraintesti-             eines Ernährungsplanes; < 3 Punkte: wöchentlich wiederholtes Screening. Wenn für den P     ­ atienten zum
nalen Beschwerden deutlich lindern und die                Beispiel eine große Operation geplant ist, sollte ein präventiver Ernährungsplan verfolgt w
                                                                                                                                                    ­ erden, um das
Lebensqualität der Patientin wiederherstellen.            assoziierte Risiko zu vermeiden.
Entsprechend den Empfehlungen wurde die                  Tabelle 1: NRS-Hauptscreening [5].

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Titelthema

            Beschreibung

            einzelne, feste Kügelchen, schwer
 Typ 1
            auszuscheiden

 Typ 2      wurstartig, klumpig

 Typ 3      wurstartig mit rissiger Oberfläche

 Typ 4      wurstartig mit glatter Oberfläche

            einzelne weiche, glattrandige
 Typ 5
            Klümpchen, leicht auszuscheiden

            einzelne weiche Klümpchen mit un-
 Typ 6
            regelmäßigem Rand

 Typ 7      flüssig, ohne feste Bestandteile
Tabelle 2: Bristol-Stuhlformen-Skala.                  Abbildung 2: Muskeltraining mittels Ganzkörper-Elektromyostimulation.

In der interdisziplinären Tumorkonferenz wurde         Diagnostik, Therapie und Verlauf:                      und eines gesteigerten Ganzkörper- und Mus-
die Empfehlung zur palliativen Chemotherapie           Bei der Patientin lag aufgrund der aggressiven,        kelproteinumsatzes bei Krebserkrankungen eine
(FOLFIRINOX-Protokoll) gegeben, die erstmals           malignen Grunderkrankung, eines hohen, unge-           erhöhte Proteinzufuhr empfohlen wird. Ergänzend
am 30. April 2018 verabreicht wurde. Gleichzei-        wollten Gewichtsverlustes und einer reduzierten        erhielt sie entsprechendes Informationsmaterial
tig wurde die Patientin an das „Hector-Center für      Nahrungsaufnahme ein ausgeprägtes Tumor-               zur Optimierung der oralen Ernährung (Liste mit
Ernährung, Bewegung und Sport“ des Universi-           kachexiesyndrom vor.                                   eiweißreichen Lebensmitteln, Rezeptvorschläge).
tätsklinikums Erlangen angebunden. Hier wurde                                                                 Als Zielzufuhr sollte die Patientin leitlinienkon-
die Patientin in ein klinisches Ernährungs- und        Laut Ernährungsanamnese nahm die Patientin             form 1,2 bis 1,5 g Eiweiß/kg Körpergewicht zu-
Sportkonzept aufgenommen. Dabei erfolgte par-          bei mäßigem Appetit nur etwa drei Viertel der          führen, entsprechend 70 bis 90 g pro Tag [6].
allel zur onkologischen Therapie über drei Monate      üblichen Portionen zu sich. Der Stuhl war breiig-
eine kombinierte, individualisierte Ernährungs- und    flüssig (Bristol-Stuhl-Skala 6 bis 7 – Tabelle 2).     Ebenfalls mit Start der Chemotherapie begann die
Sporttherapie mit dem Ziel, den Ernährungs- und        Die Patientin wurde wiederholt alle vier Wochen        Patientin ein Muskeltraining mittels Ganzkörper-
Muskelstatus, die körperliche Leistungsfähigkeit       ernährungstherapeutisch durch eine qualifizierte       Elektromyostimulation (WB-EMS – Abbildung 2).
und die Lebensqualität zu stabilisieren sowie die      Ernährungsfachkraft zu einer eiweißreichen Kost        Bei dieser zeiteffizienten Methode wird in einer
Verträglichkeit der Chemotherapie zu verbessern.       beraten, da aufgrund einer anabolen Resistenz          20-minütigen Trainingseinheit mittels elektrischer
                                                                                                              Impulse in Kombination mit leichten dynamischen
                                                                                                              Körperübungen ein Großteil der Körpermuskula-
                                                                                                              tur aktiviert (Rumpf-, Oberarm-, Oberschenkel-,
                                                                                                              Gesäßmuskulatur). Dieses Training führte die
                                                                                                              Patientin zweimal pro Woche im Sportzentrum
                                                                                                              des Hector-Centers unter Anleitung geschulter
                                                                                                              Physio- und Sporttherapeuten durch. Das erste
                                                                                                              WB-EMS-Training absolvierte die Patientin 14
                                                                                                              Tage nach der ersten Chemotherapiegabe. Bei
                                                                                                              den ersten beiden Trainingseinheiten war die
                                                                                                              Patientin noch deutlich geschwächt, sie stabili-
                                                                                                              sierte sich aber zunehmend und konnte von 24
                                                                                                              geplanten Trainingseinheiten in den drei Mona-
                                                                                                              ten 22 Trainings in vollem Umfang durchführen.
                                                                                                              Unerwünschte Ereignisse traten dabei nicht auf.

                                                                                                              Die Patientin setzte auch die Vorgaben zur ei-
                                                                                                              weißreichen Ernährung sehr gut um. Die Analyse
                                                                                                              der Drei-Tage-Ernährungsprotokolle im Verlauf
                                                                                                              zeigte eine Zufuhr im oberen Zielbereich von ca.
                                                                                                              90 g hochwertigen Proteinen pro Tag bei einer
                                                                                                              bedarfsdeckenden Energiezufuhr von 1.900 bis
                                                                                                              2.000 kcal.

                                                                                                              Die Messung der Körperzusammensetzung mit-
Grafik 1: Muskelmasse (kg) und BMI (kg/m²) im Zeitraum Mai 2018 bis Juli 2020.                                tels multifrequenter Bioimpedanzanalyse zeigte

                                                                                                                      Bayerisches Ärzteblatt 9/2020       387
Ernährungsmedizin - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Titelthema

nach drei Monaten einen Anstieg der Skelettmus-         Im Hinblick auf die Verbesserung der kardiore-
                                                                                                              %          Beschreibung
kelmasse von 19.9 kg auf 21.0 kg. Nicht nur die         spiratorischen Fitness besprachen wir mit der
Muskelmasse, auch die körperliche Funktionalität        Patientin, zusätzlich zum Krafttraining ein Fahr-                Normalzustand, keine Beschwerden,
                                                                                                              100
(Muskelkraft und kardio-pulmonale Leistungsfä-          radergometertraining durchzuführen. Die Pati-                    keine manifeste Erkrankung
higkeit) verbesserte sich: Die Patientin steigerte      entin nahm dieses Angebot sehr gerne an und           90         minimale Krankheitssymptome
sich im Sechs-Minuten-Gehtest um 30 Prozent             absolvierte im Rahmen einer laufenden Pilot-
                                                                                                                         normale Leistungsfähigkeit mit
von 600 m auf 780 m und bei der Handkraft               studie und ergänzend zum WB-EMS-Training              80
                                                                                                                         Anstrengung
um 13,3 Prozent von 30 kg auf 34 kg. Weiterhin          zweimal wöchentlich ein hocheffizientes Herz-
                                                                                                                         eingeschränkte Leistungsfähigkeit,
verbesserte sich der Karnofsky-Index (Tabelle 3)        Kreislauftraining in Form eines 15-minütigen,
                                                                                                              70         arbeitsunfähig, kann sich alleine
von 60 auf 80.                                          hochintensiven Intervalltrainings (HIIT) auf dem
                                                                                                                         versorgen
                                                        Fahrradergometer (Abbildung 3). Zur Ermittlung
Nach Abschluss des Programmes Ende Juli 2018            der individuellen Trainingsintensität wurde die       60         gelegentliche fremde Hilfe
führte die Patientin auf eigenen Wunsch die kom-        maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) mit-                        krankenpflegerische und ärztliche
                                                                                                              50
binierte Ernährungs- und Sporttherapie weiter           tels Spiroergometrie gemessen. Die Patientin                     Hilfe, nicht dauernd bettlägrig
fort. Erfreulicherweise blieben der Ernährungs-         absolvierte dieses intensive, zeiteffiziente Trai-               bettlägrig, spezielle Pflege erfor-
                                                                                                              40
zustand und der muskuläre Status der Patientin          ning mit großer Motivation über zehn Wochen,                     derlich
unter diesen Maßnahmen auch im Langzeitver-             bis aufgrund der Corona-Pandemie das Training                    schwer krank, Krankenhauspflege
lauf stabil (Grafik 1). Die Chemotherapie konnte        in unserem Zentrum vorübergehend eingestellt          30
                                                                                                                         notwendig
mit neun Zyklen FOLFIRINOX planmäßig und in             werden musste.
                                                                                                                         Krankenhauspflege und supportive
unveränderter Dosierung von April bis Septem-                                                                 20
                                                                                                                         Maßnahmen erforderlich
ber 2018 durchgeführt werden. Es zeigte sich ein        Im onkologischen Verlauf wurde die orale syste-
sehr gutes Therapieansprechen mit deutlichem            mische Therapie mit Olaparib von der Patientin                   moribund, Krankheit schreitet
                                                                                                              10
                                                                                                                         schnell fort
Regress der Metastasen, woraufhin ab Septem-            weitgehend nebenwirkungsfrei vertragen, und
ber 2018 auf eine orale Erhaltungstherapie mit          in den Restaging-Untersuchungen zeigte sich           0          Tod
Olaparib (PARP-Inhibitor – nur für Tumoren mit          eine stabile Krankheitssituation. Im Januar 2020     Tabelle 3: Karnofsky-Index in Prozent [7].
BRCA-Genmutation) umgestellt wurde.                     erfolgte eine Radiofrequenzablation und im Mai
                                                        2020 eine Re-Ablation einer progredienten Le-
                                                        bermetastase.

                                                        Der beschriebene Fallbericht zeigt eindrücklich
                                                        die hohe Relevanz, Krebspatienten auf ihren Er-      Ernährung und Sport: Wichtige Bausteine
                                                        nährungszustand hin zu screenen und frühzeitig       einer multimodalen Therapie des Tumor-
                                                        sowie parallel zur antitumoralen Therapie eine       kachexiesyndroms
                                                        individualisierte, kombinierte Ernährungs- und       Krebserkrankungen sind mit einem hohen
                                                        Sporttherapie durchzuführen [8]. Die frühzei-        Risiko für eine Mangelernährung und einen
                                                        tige orale Ernährungstherapie konnte bis jetzt       progressiven Muskelabbau verbunden (Tumor­
                                                        invasive ernährungstherapeutische Maßnahmen          kachexie) [12]. Die Tumorkachexie ist multi-
                                                        vermeiden. Das effektive und zeiteffiziente          faktoriell bedingt und sollte daher multi­modal
                                                        Muskeltraining konnte gut in den onkologischen       therapiert werden [13, 14]. Häufig findet sich
                                                        Behandlungsablauf integriert werden und ver-         ein systemisches Inflammationssyndrom, das
                                                        besserte in Kombination mit der eiweißreichen        sich auf den Protein-, Kohlenhydrat- und
                                                        Ernährungstherapie den muskulären Status und         Lipidstoffwechsel der Leber und der peripheren
                                                        die Leistungsfähigkeit der Patientin trotz der       Organe auswirkt und die Nährstoffverwer-
                                                        belastenden Chemotherapie deutlich. Zudem            tung beeinträchtigt. Neben einer schlech-
                                                        unterstützte der gute körperliche und muskuläre      teren Verträglichkeit der onkologischen
                                                        Zustand den Erfolg der Chemotherapie, indem          Behandlungsmaßnahmen und einem erhöhten
                                                        diese bei sehr guter Verträglichkeit planmäßig       Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko führt der
                                                        durchgeführt werden konnte. Die Kombinati-           Verlust an Muskelmasse und -funktionalität
                                                        on aller Maßnahmen hat entscheidend zu dem           zu einer verminderten körperlichen Aktivität
                                                        bisher günstigen Verlauf der schweren Tumor-         und Leistungsfähigkeit sowie zur Einschrän-
                                                        erkrankung beigetragen.                              kung der Selbstständigkeit und Selbstbestim-
                                                                                                             mung des Patienten im Alltag – mit negativen
                                                        Die an diesem Fallbericht gezeigten positiven        Auswirkungen auf die Lebensqualität [15].
                                                        Effekte (Steigerung der Muskelmasse, Verbesse-       Für Patienten mit Krebserkrankungen, die nicht
                                                        rung der körperlichen Funktionalität und Leis-       mehr kurativ behandelt werden können, ist die
                                                        tungsfähigkeit) durch proteinreiche Ernährung in     Erhaltung oder Verbesserung der Leistungsfä-
                                                        Kombination mit einem effektiven Muskeltraining      higkeit und Lebensqualität ein primäres Ziel
                                                        konnten wir in randomisierten und kontrollier-       des onkologischen Behandlungskonzeptes. In
                                                        ten klinischen Studien sowohl bei Patienten mit      dieser Situation werden ernährungs-, sport-
                                                        fortgeschrittenen soliden Krebserkrankungen          und bewegungstherapeutische Maßnahmen als
Abbildung 3: Patientin beim hochintensiven Intervall-   (n=131) als auch bei hämatoonkologischen Pa-         wesentliche Elemente der Supportivtherapie
training (HIIT).                                        tienten (n=31) beobachten [9, 10, 11].               empfohlen [16].

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Ernährungsmedizin - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Titelthema

 Das Wichtigste in Kürze

 zu Fall 1: Laut Leitlinien (S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom) kann bei RDS          rungs- und Leistungsstatus sowie das onkologische Behandlungskonzept
 eine FODMAP-arme Diät ausgetestet werden. Bestehen unter dieser spe-            abgestimmt werden. Sie zeigt auch, wie wichtig die multidisziplinäre
 ziellen Diätform jedoch weiterhin Beschwerden oder bei Non-Compliance           Zusammenarbeit zwischen Ernährungsmedizinern, nicht-medizinischen
 der Patienten, kann alternativ eine glutenfreie Diät angewandt werden.          Ernährungsfachkräften, Sportmedizinern und Onkologen ist.
 Patienten mit Reizdarmsymptomatik können unter Umständen eine Glu-
 tensensitivität besitzen. Bei klinischem Verdacht auf eine Glutenunver-         zu Fall 3: Bei plötzlich auftretenden neurologischen Symptomen soll-
 träglichkeit sollten jedoch unter glutenhaltiger Diät eine Zöliakie und eine    te bei Kurzdarmpatienten an eine D-Laktatazidose gedacht werden. Die
 Weizenallergie ausgeschlossen werden. Patienten mit Glutensensitivität          Therapie besteht in der Korrektur der Azidose, der antibiotischen Be-
 können nach anfänglich strikter Diät meist wieder geringe Mengen an             handlung der Darmmikrobiota und einer vorübergehenden Nahrungska-
 glutenhaltigen Nahrungsmittel tolerieren. Es existiert ein individueller        renz bei bedarfsdeckender parenteraler Ernährung.
 Schwellenwert.
                                                                                 Die dritte Kasuistik soll am Beispiel der seltenen D-Laktatazidose die
 zu Fall 2: Mit dieser Kasuistik soll auf die Bedeutung kombinierter er-         Komplexität der Betreuung von Patienten mit KDS verdeutlichen. In der
 nährungs- und sportmedizinischer Maßnahmen in der Behandlung von                Adaptationsphase des KDS sollte eine besonders engmaschige Betreuung
 Tumorpatienten hingewiesen werden. Als wesentliche Bausteine einer              durch ein spezialisiertes Team erfolgen, um die meist notwendige paren-
 multimodalen Therapie des Tumorkachexiesyndroms können sie den                  terale Ernährungs- und Flüssigkeitszufuhr der sich ändernden Resorp-
 körperlichen und muskulären Status der Patienten stabilisieren, die             tionsleistung des verbliebenen Restdarmes anzupassen. Die Anbindung
 Leistungsfähigkeit und Lebensqualität steigern und die Verträglichkeit          an ein für dieses Krankheitsbild spezialisiertes Team ist für die Patienten
 der antitumoralen Therapie verbessern. Die Kasuistik zeigt eindrucks-           auch im Langzeitverlauf wichtig, um beispielsweise seltene Komplikatio-
 voll deren Wirksamkeit und Nutzen, wenn sie frühzeitig und mit Beginn           nen frühzeitig zu erkennen und zu therapieren oder neue medikamen-
 der onkologischen Therapie initiiert sowie auf den individuellen Ernäh-         töse Therapieoptionen (zum Beispiel GLP-2 Analoga) zu erwägen.

Fall 3: D-Laktatazidose bei einer                       mit dieser Symptomatik in einer Klinik in der      schwäche persistierte, sodass wir am dritten Tag
                                                        Notaufnahme vor. Die dort durchgeführte ar-        eine weitere Bikarbonatinfusion in derselben
Patientin mit Kurzdarmsyndrom
                                                        terielle Blutgasanalyse zeigte eine kompensierte   Dosierung durchführten. Danach war auch die
Anamnese:                                               metabolische Azidose mit erhöhter Anionenlücke,    Konzentrationsschwäche nicht mehr vorhanden.
Eine 25-jährige Patientin mit Kurzdarmsyndrom           die restliche umfangreiche klinische Diagnostik    Parallel zur Bikarbonatinfusion begannen wir mit
(KDS) bei Zustand nach mehrfachen Dünndarm-             zeigte einen Normalbefund. Zum Zeitpunkt der       einer oralen antibiotischen Therapie (550 mg Ri-
resektionen infolge Bridenilei, ausgehend von           erstmaligen Beschwerden hatte die Patientin        faximin 1–1–1) zur Behandlung der Darmmikro-
einer Appendektomie und Meckel-Divertikel-              unter T. opii lediglich noch ein bis zwei Stuhl-   biota und damit zur Reduktion der Produktion
Exzision im Alter von acht Jahren (Restdünndarm         gänge täglich.                                     von D-Laktat.
90 bis 100 cm, Kolon in Kontinuität), stellte sich am
5. Juli 2020 in der internistischen Notaufnah-          Diagnostik und Therapie:                           Ernährungstherapeutisch erfolgte die Nähr-
me des Universitätsklinikums Erlangen vor. Die          Die Patientin wurde stationär aufgenommen.         stoffzufuhr bedarfsdeckend komplett parente-
Patientin ist seit zwei Jahren in der Spezialsprech-    Die initial angefertigte Laboruntersuchung war     ral über den liegenden Portkatheter. Durch die
stunde für Kurzdarmpatienten angebunden. Ihr            weitestgehend unauffällig. Die venöse Blutgas-     Nahrungskarenz sollte vermieden werden, dass
Gesundheits- und Ernährungszustand war im               analyse zeigte einen pH von 7,30 und einen Base    unverdaute Nährstoffe, insbesondere fermentier-
Verlauf unter optimierter oraler Ernährung und          Excess von -1,1 mmol/l. Die übrigen Blutwerte,     bare Kohlenhydrate, in die unteren Darmabschnit-
ergänzender parenteraler Nährstoff- und Flüs-           inklusive Elektrolyte und Thiamin, zeigten einen   te gelangen und dort durch die Darmflora zu
sigkeitszufuhr stabil (täglich 1.000 ml Voll-Elek-      normalen Befund. Die durchgeführte Diagnos-        D-Laktat oder anderen unerwünschten Sub-
trolytlösung, einmal wöchentlich parenterale            tik (Neurologie, HNO, transthorakale Echokar-      straten verstoffwechselt werden.
Ernährung mit 1.070 kcal als industrieller Drei-        diographie, Lungenfunktion) war unauffällig.
kammerbeutel inklusive Vitamine und Spurenele-          Aufgrund der Beschwerdesymptomatik und des         Verlauf:
mente). Die Stuhlfrequenz betrug zuletzt im Mai         Ausschlusses anderer Ursachen gingen wir von       Unter den beschriebenen Maßnahmen waren
2020 unter Einnahme von Tinctura opii (täglich          einer D-Laktatazidose aus. Die Bestimmung des      die neurologischen Symptome rasch komplett
15 Tropfen) zwischen vier bis zehn Stuhlgängen          D-Laktats im Blut bestätigte die Diagnose (0.97    rückläufig, und der klinische Zustand stabili-
pro Tag (Bristol-Stuhl-Skala 5 bis 7).                  mmol D-Laktat/l; Normwert: < 0.2 mmol/l).          sierte sich. Bereits drei Tage nach Therapiebe-
                                                                                                           ginn befand sich der Blutspiegel von D-Laktat
Sie berichtete nun über seit zwei Wochen be-            Wir begannen mit der täglichen Infusion von        wieder im Normbereich. Nach Entlassung wurde
stehenden Schwankschwindel, Konzentrations-             Natriumbikarbonat (1 mmol/kg Körpergewicht         die Antibiose bis Tag 14 fortgeführt, ebenso die
schwäche, pulsierende Kopfschmerzen, in-                über vier Stunden). Bereits nach zwei Infusionen   bedarfsdeckende parenterale Ernährung. Mit
spiratorisch thorakales Beklemmungsgefühl,              besserten sich die Beschwerden deutlich (keine     Ende der Antibiotikatherapie wurde die orale
Schwächegefühl sowie Muskelkrämpfe in den               Muskelkrämpfe, Patientin konnte wieder eigen-      Nahrungszufuhr sukzessive gesteigert und die
Waden. Vor acht Tagen stellte sie sich bereits          ständig gehen). Lediglich die Konzentrations-      parenterale Ernährung entsprechend reduziert.

                                                                                                                  Bayerisches Ärzteblatt 9/2020        389
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Titelthema

D-Laktatazidose bei KDS                              nen, wie zum Beispiel Neurotoxin-Mercaptane,        Wegen der eingeschränkten resorptiven Kapazität
Die D-Laktatazidose ist eine seltene Komplikati-     Aldehyde oder andere Stoffe, die als falsche Neu-   des Restdarms kann die Energie-, Nährstoff- und
on bei Patienten mit KDS. Sie äußert sich durch      rotransmitter fungieren könnten [19].               Flüssigkeitsbilanz mit einer konventionellen Diät
neurologische Symptome und kann zu schwer-                                                               nicht aufrechterhalten werden [20].
wiegenden Komplikationen führen [17]. Durch          Bei Patienten mit KDS sollte bei neurologischen
die verkürzte gastrointestinale Transitzeit können   Symptomen frühzeitig an eine D-Laktatazidose        Das Literaturverzeichnis kann im Internet
unverdaute Kohlenhydrate, inklusive FODMAPs,         gedacht werden. Der pH-Wert in der venösen          unter www.bayerisches-aerzteblatt.de
in die unteren Darmabschnitte gelangen und           Blutgasanalyse kann trotz bestehender D-Lak-        (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
dort bakteriell fermentiert werden. Das resul-       tatazidose unauffällig sein. Die Therapie besteht
tierende saure Milieu begünstigt das Wachstum        in der Korrektur der Azidose durch Infusion von     Die Autoren erklären, dass sie keine finan-
D-Laktat-produzierender Bakterien. In der Fol-       Natriumbikarbonat, der antibiotischen Sanierung     ziellen oder persönlichen Beziehungen zu
ge akkumuliert D-Laktat im Blut, begleitet von       der Darmflora (nicht resorbierbares Breitbandan-    Dritten haben, deren Interessen vom Ma-
neurologischen Symptomen.                            tibiotikum, zum Beispiel Rifaximin, über zehn bis   nuskript positiv oder negativ betroffen sein
                                                     14 Tage) und möglichst einer – vorübergehenden      könnten.
Diagnostische Kriterien sind eine metabolische       – oralen Nahrungskarenz. Die Nährstoffzufuhr
Azidose mit erhöhter Anionenlücke, normales          sollte bedarfsdeckend parenteral erfolgen. Mit
L-Laktat, Ausschluss anderer metabolischer Ursa-     Beendigung der Antibiotikagabe kann die paren-
chen für eine Azidose, Vorliegen eines KDS oder      terale Ernährung wieder reduziert und Kohlenhy-
anderer Formen der Malabsorption und charak-         drate inklusive FODMAPs sollten langsam wieder
teristische neurologische Symptome. Ein erhöhter     in die normale Ernährung eingeführt werden.
D-Laktat-Blutspiegel bestätigt die Diagnose [18].                                                         Autoren
                                                     Definition chronisches Darmversagen
Beginn und Schweregrade der D-Laktatazidose          inklusive Kurzdarmsyndrom (KDS)                      Professorin Dr. med. Yurdagül Zopf
sind jedoch bisher kaum verstanden, ebenso           Der Begriff Darmversagen bezeichnet die Unfä-        Privatdozentin Dr. rer. nat.
wenig wie die Stoffwechselwege im Metabolis-         higkeit, wegen einer eingeschränkten resorptiven     Walburga Dieterich
mus von D-Laktat und die pathophysiologischen        Kapazität des Darms (Obstruktion, Dysmotilität,      Dr. phil. Dejan Reljic
Mechanismen der neurologischen Symptome.             chirurgische Resektion, kongenitale Erkrankung,      Dr. oec. troph. Hans Joachim Herrmann
Da keine eindeutige Korrelation zwischen den         krankheitsassoziierte verminderte Absorption)
D-Laktat-Konzentrationen und dem neurolo-            die Protein-, Energie-, Flüssigkeits- und Mikro-     Universitätsklinikum Erlangen,
gischen Phänotyp nachgewiesen wurde, wird            nährstoffbilanz aufrechtzuerhalten.                  Medizinische Klinik 1, Hector-Center für
vermutet, dass die neurologischen Symptome                                                                Ernährung, Bewegung und Sport,
durch andere spezifische Stoffwechselprodukte        Der Begriff KDS bezeichnet ein Darmversagen          Ulmenweg 18, 91054 Erlangen
des Bakterienwachstums verursacht werden kön-        nach ausgedehnter Resektion des Dünndarms.

                                                                                          Lesen Sie alle Ausgaben des Bayerischen
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390      Bayerisches Ärzteblatt 9/2020
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