Standpunkte Nr. 02 07/2021 - Antidiskriminierungsstelle des Bundes

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Standpunkte
Nr. 02 – 07/2021

Ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auf
zivilrechtliche Betreuungsverträge in der Kindertages-
betreuung anwendbar?

An die Beratung der Antidiskrimi-
nierungsstelle des Bundes wenden                                  Artikel 2 UN-Kinderrechtskonvention
                                                                  (1) Die Vertragsstaaten achten die in diesem
sich immer wieder Eltern, weil                                         Übereinkommen festgelegten Rechte und
sie und ihr Kind bei der Suche                                         gewährleisten sie jedem ihrer Hoheits-
nach einem Kita-Platz abgelehnt                                        gewalt unterstehenden Kind ohne jede
wurden oder weil während der                                           Diskriminierung unabhängig von der
                                                                       Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der
Vertragsdurchführung Diskrimi-                                         Sprache, der Religion, der politischen oder
nierungserfahrungen gemacht                                            sonstigen Anschauung, der nationalen,
werden.                                                                ethnischen oder sozialen Herkunft, des
                                                                       Vermögens, einer Behinderung, der Geburt
So werden Eltern und damit ihr Kind wegen                              oder des sonstigen Status des Kindes,
des Geschlechts ihres Kindes abgelehnt, weil                           seiner Eltern oder seines Vormunds.
in der Gruppe gerade noch ein Mädchen fehlt,                      (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten
und das Kind nicht das passende Geschlecht                             Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das
hat. Oder ein Kind kann beim „Vatertag“ nicht                          Kind vor allen Formen der Diskriminierung
mitmachen, weil es zwei Mütter hat. Ob und                             oder Bestrafung wegen des Status, der
wie Eltern und Kinder vor Diskriminierungen                            Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen
geschützt sind, hängt von dem Träger der                               oder der Weltanschauung seiner Eltern,
Betreuungseinrichtung und von der Rechts-                              seines Vormunds oder seiner Familien-
natur des Betreuungsverhältnisses ab. Etwa                             angehörigen geschützt wird.
zwei Drittel der Kindertageseinrichtungen
sind in Deutschland in freier Trägerschaft
und ein Drittel in öffentlicher Trägerschaft.1

1   Kathrin Bock-Famulla, Anne Münchow, Jana Frings, Felicitas Kempf, Julia Schütz, Länderreport Frühkindliche Bildungs-
    systeme 2019, Transparenz schaffen – Governance stärken, 1. Auflage 2020, Anhang, Tabelle 78

                                                                                                                           1
Öffentliche Träger einer Kindertageseinrich-                    Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist
tung können sowohl einen privatrechtlichen                      der Auffassung, dass der Betreuungsvertrag
Vertrag als auch einen öffentlich-rechtlichen                   mit den Anbietern der Kindertagesbetreuung
Betreuungsvertrag abschließen.2 Dieses Stand-                   in der Regel als ein einem Massengeschäft
punktepapier befasst sich mit den privatrecht-                  vergleichbarer Vertrag nach § 19 Absatz 1 Nr. 1
lichen Benutzungsverhältnissen, da nur für                      AGG einzuordnen ist und damit in den Schutz-
diese sich die Frage stellt, ob das Allgemeine                  bereich des Allgemeinen Gleichbehandlungs-
Gleichbehandlungsgesetz vor Diskriminierun-                     gesetzes fällt.
gen schützt.
                                                                Damit können bei Benachteiligungen wegen
                                                                des Geschlechts, der Religion, des Alters, einer
Schutz vor Benachteiligungen bei der                            Behinderung und der sexuellen Identität
Begründung, Durchführung und Been-                              Ansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbe-
digung des Betreuungsvertrages wegen                            handlungsgesetz gegenüber den Anbietern der
der in § 1 AGG genannten Merkmale                               Kindertagesbetreuung geltend gemacht und
                                                                der diskriminierungsfreie Zugang zur früh-
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz                          kindlichen Betreuung und ihre Durchführung
(AGG), das in Deutschland vor Diskriminierung                   verbessert werden.
im Zusammenhang mit privatrechtlichen
Verträgen schützt, schränkt die Vertragsfrei-                   Diese Einordnung mag zunächst nicht nahe-
heit der Träger von Kindertageseinrichtungen                    liegend erscheinen, kann doch gerade die
und der Kindertagespflegepersonen ein. Bei                      Beziehung zu Erzieher*innen und Kinder-
Abschluss, Durchführung und Beendigung                          tagespflegepersonen in besonderem Maße
eines Kindertagesbetreuungsvertrages verbie-                    von persönlichen Kontakten und Vertrauens-
tet § 19 Absatz 2 AGG die Benachteiligung                       beziehungen geprägt sein. Auf diese spezielle
wegen rassistischer Zuschreibungen und                          Beziehung bezogene Argumente werden auch
wegen der ethnischen Herkunft von Eltern                        in der wenigen Literatur zur Begründung
und Kindern.3 Bei Benachteiligungen wegen                       vorgebracht, wenn die Anwendbarkeit des
des Geschlechts, der Religion, des Alters, einer                Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf
Behinderung und der sexuellen Identität                         den Kindertagesbetreuungsvertrag verneint
besteht der Diskriminierungsschutz in § 19                      wird.4 Jedoch darf der Begriff des Massenge-
Absatz 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungs-                     schäfts im Allgemeinen Gleichbehandlungs-
gesetzes jedoch nur, wenn ein sogenanntes                       gesetz nicht mit einer unpersönlichen
Massengeschäft oder ein mit Massengeschäf-                      Massenabfertigung gleichgesetzt werden.
ten vergleichbarer Vertrag betroffen ist (ver-                  Im Vordergrund steht bei der Einordnung
gleiche § 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG). Die Einord-                   als Massengeschäft und mit diesem vergleich-
nung des Kindertagesbetreuungsvertrages                         baren Geschäft, dass die Vertragsbedingungen
unter diese Voraussetzungen ist in der Litera-                  und der Vertragsabschluss nicht von Person
tur kaum thematisiert worden. Die Rechtspre-                    zu Person variieren sowie von persönlichen
chung hat sich damit bislang nicht befasst. Um                  Eigenschaften abhängig gemacht werden.
den Diskriminierungsschutz in der Kinderta-                     Bezogen auf den Kindertagesbetreuungsver-
gesbetreuung zu verbessern, ist es notwendig,                   trag ist insofern aus Sicht der Antidiskriminie-
größtmögliche Rechtssicherheit für die                          rungsstelle des Bundes entscheidend, dass die
Betroffenen und Beteiligten zu erreichen.                       Betreuungsverträge den durch Kita-Gesetze

2   Zum Beispiel: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Mai 2015 – OVG 6 L 34.15
3   BT-Drucksache 16/1780, S. 32
4   Richter in Rust, Falke, AGG, 2007, § 2 AGG, Rn. 133

2
und durch die Bildungspläne der Länder                             zwischen den Sorgeberechtigten und dem
festgelegten Standards genügen müssen und                          Anbieter, das heißt dem Träger einer Kinder-
sich daher nicht von Eltern beziehungsweise                        tageseinrichtung beziehungsweise der Kinder-
von Kind zu Kind unterscheiden dürfen.                             tagespflegeperson. Das bedeutet, den Anspruch
                                                                   auf die vertragliche Leistung haben die Sorge-
                                                                   berechtigten.9
Massengeschäft oder vergleichbares
Rechtsgeschäft gemäß § 19 Absatz 1 Nr. 1
AGG                                                                Typischerweise ohne Ansehen der Person

§ 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG enthält für den Begriff                    Die wesentliche Voraussetzung für die An-
„Massengeschäft“ eine Legaldefinition, die                         nahme eines Massengeschäfts gemäß § 19
durch die Rechtsprechung konkretisiert                             Absatz 1 Nr. 1 AGG ist ein Schuldverhältnis,
wurde.5 Massengeschäfte sind danach zivil-                         das „ohne Ansehen der Person zustande
rechtliche Schuldverhältnisse, die typischer-                      kommt“. Diese Vorgabe beruht auf Artikel 3
weise ohne Ansehen der Person zu vergleich-                        Absatz 3 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates
baren Bedingungen in einer Vielzahl von                            vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung
Fällen zustande kommen. Rechtsgeschäfte, bei                       des Grundsatzes der Gleichbehandlung von
denen „das Ansehen der Person“ eine nachran-                       Männern und Frauen beim Zugang zu und bei
gige Bedeutung hat (massengeschäftsähnliche                        der Versorgung mit Gütern und Dienstleistun-
Geschäfte), werden von § 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG                     gen, die durch die §§ 19 ff. AGG in deutsches
ebenfalls erfasst.                                                 Recht umgesetzt wurde. Deutschland ist bei
                                                                   der Umsetzung der Richtlinie 2004/113/EG
Dabei steht außer Frage, dass der Kindertages-                     zulässigerweise10 über die Richtlinienvorgaben
betreuungsvertrag im Sinne des § 19 AGG ein                        hinausgegangen, indem neben der Benachtei-
zivilrechtliches Schuldverhältnis ist, sofern                      ligung wegen des Geschlechts in § 19 Absatz 1
kein öffentlich-rechtlicher Vertrag mit einem                      AGG auch die Benachteiligung wegen der
öffentlichen Träger abgeschlossen wurde.6 Das                      Religion, des Alters, einer Behinderung und
„Wie“ der Kindertagesbetreuung mit einem                           der sexuellen Identität verboten wird (Artikel 7
öffentlichen Träger kann privatrechtlich                           Richtlinie 2004/113/EG).
gestaltet sein.7 Die Abgrenzung ist allerdings
nur im Einzelfall möglich und stellt ein                           Wenn diese Merkmale typischerweise keine
weiteres rechtliches Problem dar, wenn es                          Rolle spielen, wird das Rechtsgeschäft ohne
um den Diskriminierungsschutz in der Kin-                          Ansehen der Person begründet, durchgeführt
dertagesbetreuung geht. Darum soll es aber                         und beendet.11 Dies ist der Fall, wenn dem
an dieser Stelle nicht gehen.                                      Unternehmen nicht wichtig ist, wer die
                                                                   Leistung entgegennimmt.12 Ein Ansehen der
Der Kindertagesbetreuungsvertrag wird durch                        Person liegt hingegen vor, wenn der Anbieter
die zivilrechtlichen Vorschriften nach § 611                       seine Entscheidung über den Vertragsschluss
des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt.8                      erst nach Würdigung des*der Vertragspart-
Dabei handelt es sich um einen Vertrag                             ner*in trifft. Enthält die Prüfung des Vertrags-

5    BGH, Urteil vom 25. April 2019 – I ZR 272/15; BGH, Urteil vom 27. Mai 2020 – VIII ZR 401/18 –, BGHZ 226, 145–161;
     BGH, Urteil vom 05. Mai 2021 – VII ZR 78/20
6    BGH, Urteil vom 18. Februar 2016 – III ZR 126/15 –, BGHZ 209, 52–71
7    Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 10. Oktober 2012 – 12CE 12.2170
8    BGH, Urteil vom 18. Februar 2016 – III ZR 126/15 –, BGHZ 209, 52–71
9    Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 26. März 2021 – 4 U 26/21
10   Franke/Schlichtmann, in: Däubler/Bertzbach, HK-AGG, § 19 AGG, Rn. 8, 9
11   BT-Drucksache 16/1780, S. 41
12   vgl. auch BGH, Urteil vom 05. Mai 2021, VII ZR 78/20

                                                                                                                         3
schlusses ein stark individualisiertes Element,                  Kindertagesbetreuung typischerweise nur
verzichtet das Gesetz im Rahmen des § 19                         eine nachrangige Rolle spielen darf:
Absatz 1 Nr. 1 AGG zugunsten der persönlichen
Willensbildung des Anbieters auf eine Benach-
teiligungskontrolle.13 Dem Massengeschäft
ähnlich sind gemäß der zweiten Alternative in
                                                                  —      Träger von Kindertageseinrichtungen
                                                                         und Kindertagespflegepersonen erfüllen
                                                                         im Rahmen der Kapazität einen Rechts-
§ 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG Rechtsgeschäfte, bei                             anspruch, der allen Kindern und ihren
denen das Ansehen der Person für die anbie-                              Eltern unter den Voraussetzungen des
tende Person zwar eine Rolle spielt, es jedoch                           § 24 SGB VIII zusteht. Dort wo gem.
eine nachrangige Bedeutung hat,14 weil der                               § 24 SGB VIII ein gesetzlicher Rechtsan-
Anbieter aufgrund der Vielzahl der Geschäfte                             spruch besteht, ist das Ziel, allen Kindern
bereit ist, mit jedem*jeder geeigneten Part-                             einen Platz zur Verfügung zu stellen.
ner*in zu vergleichbaren Konditionen einen                               Entscheidendes Kriterium ist die Kosten-
Vertrag zu schließen.15                                                  übernahme durch das zuständige Jugend-
                                                                         amt. Eine Prüfung der individuellen
Dabei ist für die Einordnung als Massenge-                               Zahlungsfähigkeit der Eltern erfolgt in
schäft nicht die im Einzelfall erfolgte Ausge-                           der Regel nicht.
staltung des Vertrages entscheidend. Vielmehr
erfolgt eine typisierende Betrachtung („typi-
scherweise“) des jeweiligen Rechtsgeschäfts.
So verlangt diese Betrachtungsweise nicht
                                                                  —      Die Bildung, Betreuung und Erziehung
                                                                         wird in der Gruppe angeboten (§ 22
                                                                         Absatz 1 Satz 1 SGB VIII).
den Abschluss des immer gleichen Vertrages,
sondern lediglich zu vergleichbaren Bedingun-
gen. Daher können auch bei Massengeschäften
individuelle Vereinbarungen getroffen wer-
                                                                  —      Vertragspartner*innen der Anbieter sind
                                                                         in der Regel die Eltern beziehungsweise
                                                                         Sorgeberechtigten.19 Die Kindertagesbe-
den.16 Ob bei der Begründung des Vertrages die                           treuung erfüllt Bedürfnisse der Eltern, da
Person des*der Vertragspartner*in eine                                   die Kindertagesbetreuung auch den
nachrangige Bedeutung hat, bestimmt sich                                 Zweck hat, den Eltern dabei zu helfen,
nach der Art des zu betrachtenden Schuldver-                             Erwerbstätigkeit und Kindererziehung
hältnisses in seiner konkreten Ausprägung.17                             besser miteinander vereinbaren zu können
                                                                         (vgl. § 22 Absatz 2 Nr. 3 SGB VIII). Mit
Nach Ansicht des Gesetzgebers kommen                                     dem Vertrag werden die den Sorge-
Verträge typischerweise „ohne Ansehen der                                berechtigten obliegenden Erziehungs-,
Person“ beispielsweise dann zustande, wenn                               Betreuungs- und Versorgungsleistungen
der Vertragsschluss hauptsächlich von der                                für den Zeitraum wahrgenommen, in dem
Zahlungswilligkeit und -fähigkeit der Vertrags-                          sich das zu betreuende Kind in der Obhut
partner*innen abhängig gemacht wird.18 Bei                               der Anbieter befindet.20
einem Vertrag über die Bildung, Erziehung und
Betreuung eines Kindes gemäß § 22 SGB VIII
sprechen folgende Gründe dafür, dass das
Ansehen der Person für die Anbieter der

13   BGH, Urteil vom 25. April 2019, I ZR 272/15, Rn. 18 m. w. N.
14   Franke/Schlichtmann, in: Däubler/Bertzbach, HK-AGG, § 19 AGG, Rn. 40
15   BGH, Urteil vom 05. Mai 2021, VII ZR 78/20
16   BT-Drucksache 16/1780, S. 41, 42
17   BGH, Urteil vom 05. Mai 2021, VII ZR 78/20
18   BT-Drucksache 16/1780, S. 41
19   Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 26. März 2021 – 4 U 26/21
20   Ebenda.

4
—       Träger von Kindertageseinrichtungen sind
        grundsätzlich bereit, mit jedermann einen
        Betreuungsvertrag abzuschließen. Sie
                                                           —      Wenn überhaupt schriftliche Betreuungs-
                                                                  verträge verwandt werden, sind diese
                                                                  vorformuliert und werden vor Abschluss
        suchen sich die Vertragspartner*innen,                    des Vertrages nicht individuell verhandelt.
        das heißt die Eltern oder Sorgeberechtig-                 Zu Beginn eines Kita-Jahres wird von dem
        ten, nicht individuell anhand bestimmter                  Träger einer Kindertageseinrichtung in der
        Persönlichkeitsmerkmale aus. Den                          Regel eine Vielzahl von Verträgen abge-
        Anbietern ist nicht wichtig, welche Eltern                schlossen, die oftmals standardmäßig
        die Betreuungsleistung in Anspruch                        mit dem Erreichen des Schulalters enden.
        nehmen. Allenfalls spielen Kriterien, die                 Im Vertrag werden dann regelmäßig die
        das Kind betreffen, eine Rolle. Das Kind ist              Bildungspläne und die Kita-Konzeption
        aber in der Regel nicht Vertragspartner*in.               als Vertragsgrundlage genannt und keine
        Anders könnte die rechtliche Situation im                 individualisierten Bildungs- beziehungs-
        Einzelfall beurteilt werden, wenn es um                   weise Betreuungsziele.
        die Betreuung in einer von Eltern selbst-
        verwalteten Kindertageseinrichtung geht,           In dem Gesetzentwurf zum Allgemeinen
        da der Träger der Einrichtung in der Regel         Gleichbehandlungsgesetz finden sich Bei-
        dann die Rechtsform eines gemeinnützi-             spiele, die verdeutlichen, wann es allgemein
        gen Vereins hat, in dem die Eltern Mitglied        für Anbieter*innen auf das „Ansehen der
        sind und den Vorstand stellen und daher            Person“ ankommen kann. Hier ist beispiels-
        die Person der Eltern eine Rolle spielen           weise der Kreditvertrag zu nennen, da für die
        kann. Anders könnte die rechtliche                 Anbieter*innen die Solvenz der Kreditneh-
        Situation auch für Kindertagespflege-              mer*innen für die Rückerlangung der Kredit-
        personen zu beurteilen sein, wenn die              summe wesentlich ist.21
        Betreuung in der Wohnung der Tages-
        pflegeperson angeboten wird und                    In der wenigen rechtswissenschaftlichen
        dem*der Vertragspartner*in mit Vertrags-           Literatur wird die Anwendung des Allgemei-
        abschluss Zutritt zur eigenen Wohnung              nen Gleichbehandlungsgesetzes auf den
        gewährt wird.                                      Kindertagesbetreuungsvertrag hauptsächlich

—       Sofern vorab Kriterien für die Vergabe des
        Betreuungsplatzes festgelegt werden,
        geht es nicht darum, die Eignung des*der
                                                           deshalb abgelehnt, weil standardisierte Ver-
                                                           tragsverhältnisse nicht in Betracht kommen
                                                           würden, da die Reife und Verfassung des
                                                           einzelnen Kindes für die Vertragsdurchfüh-
        Vertragspartner*in zu prüfen, sondern              rung eine Rolle spielen würden.22 Die Einschät-
        um eine Priorisierung der potenziellen             zung dürfte nicht mehr aktuell sein, zumal
        Vertragspartner*innen auf der Warteliste,          inzwischen jedes Bundesland einen Bildungs-
        um durch transparente Vergabekriterien             plan erstellt hat, der die Verträge standardisiert,
        Konflikte zu vermeiden. Dass die Vergabe-          um eine einheitliche Qualität der Betreuung zu
        kriterien für die Wahl des*der Vertrags-           garantieren, damit jedes Kind gleiche Chancen
        partner*in keine Rolle spielen, zeigt sich         erhält.
        auch darin, dass sie irrelevant werden,
        wenn ein Platz frei wird und das Kind auf
        der Warteliste vorrückt.

21   BT-Drucksache 16/1780, S. 42
22   Richter in Rust, Falke, AGG, 2007, § 2 AGG, Rn. 133

                                                                                                            5
Dem steht auch nicht entgegen, dass das                      Die Betreuung variiert deshalb schon nicht
Betreuungsverhältnis auch insoweit von                       von Kind zu Kind, da sich die Anbieter ver-
persönlichen Beziehungen geprägt sein kann,                  pflichten, den Standards der Bildungspläne
als sich die Erzieher*innen und Tagespflege-                 und Kita-Gesetzen zu entsprechen, um die
personen mit ihren besonderen Fähigkeiten                    staatliche Finanzierung zu erhalten.
und entsprechend dem ihnen entgegenge-
brachten Vertrauen persönlich für die Bildung,               Daher kann die Annahme, das Ansehen der
Betreuung und Erziehung des einzelnen                        Person des*der Vertragspartner*in – das sind
Kindes einsetzen. Diese Auffassung wird                      die Eltern und Sorgeberechtigten – habe beim
gestützt durch ein Urteil des Bundesgerichts-                Kindertagesbetreuungsvertrag eine mehr als
hofes vom 18. Februar 2016,23 wonach es sich                 nachrangige Bedeutung, auch unter Berück-
bei dem Betreuungsvertrag um einen einfa-                    sichtigung der besonderen Beziehung zwi-
chen Dienstvertrag handelt. Das heißt, dass                  schen Erzieher*in und Kind, nicht überzeugen.
trotz der Vertrauensstellung, die Erzieher*in-               Die Bildung, Betreuung und Erziehung eines
nen und Kindertagespflegepersonen haben                      Kindes sollen zwar spezifisch auf die Bedürf-
können24, kein Dienstvertrag im Sinne des                    nisse des Kindes bezogen sein, ordnen sich
§ 627 BGB vorliegt, bei dem höhere Dienste,                  aber in den strukturierten Alltag in der Ein-
aufgrund besonderen Vertrauens übertragen                    richtung und in die gleichzeitige Erfüllung der
werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass die                Bedürfnisse der anderen Kinder ein.
persönliche Fähigkeit der Anbieter*innen
beziehungsweise der Erzieher*innen nur auf                   In der Begründung des Gesetzentwurfs zum
der Seite der Eltern und der Kinder ein Krite-               Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz werden
rium für den Vertragsabschluss ist, in der Regel             „standardisierte“ Dienstleistungen als Haupt-
nicht jedoch auf der Seite der Anbieter*innen.               anwendungsfall für Verträge genannt, die
Letzteres ist aber maßgeblich für die Einord-                typischerweise ohne Ansehen der Person
nung, ob ein Massengeschäft beziehungsweise                  zustande kommen.25
ein massengeschäftsähnlicher Vertrag vorliegt
oder nicht.                                                  Die Bildung, Betreuung und Erziehung in den
                                                             Kinderbetreuungseinrichtungen sind solche
Für eine standardisierte Dienstleistung spricht              standardisierten Dienstleistungen, weil § 22
auch, dass die Bildung, Betreuung und Erzie-                 Absatz 4 SGB VIII bestimmt, dass die Qualität
hung – auch wenn sie auf die Individualität des              der Bildung, Betreuung und Erziehung durch
Kindes eingeht – immer, auch in der offenen                  geeignete Maßnahmen gewährleistet werden,
Arbeit, von wenigen Erzieher*innen für eine                  die durch Bildungspläne, Rahmenvereinba-
Vielzahl von Kindern gleichzeitig erbracht                   rungen und die Kita-Gesetze festgelegt und
wird. Auch wenn es Phasen gibt, in denen sich                damit standardisiert werden. Die Bildung,
einzelne Erzieher*innen für eine bestimmte                   Betreuung und Erziehung müssen daher zwar
Zeit nur mit einem Kind beschäftigen, sind                   an das jeweilige Kind angepasst werden, in
sie gleichzeitig in der Verantwortung für die                jedem Fall aber unter vergleichbaren Bedin-
anderen anwesenden Kinder. Die Betreuung in                  gungen durchgeführt werden.
einer Kindertageseinrichtung ist damit gerade
nicht eine vorrangig individualisierte Leistung.

23   BGH, Urteil vom 18.02.2016, III ZR 126/15, Rn. 34.
24   LG München I vom 23. April 2015, 6 S 16379/14, Rn. 36
25   BT-Drucksache 16/1780, S. 41

6
Ausnahme: besonderes Nähe- und                    Ergebnis
Vertrauensverhältnis
                                                  Privatrechtliche Kindertagesbetreuungsver-
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz            träge zwischen den Anbietern und den Eltern
findet gemäß § 19 Absatz 5 AGG auf zivilrecht-    beziehungsweise Sorgeberechtigten sind mit
liche Schuldverhältnisse, bei denen ein beson-    Massengeschäften vergleichbare Verträge nach
deres Nähe- oder Vertrauensverhältnis begrün-     § 19 Absatz 1 AGG. Es handelt sich um Verträge,
det wird, keine Anwendung. Dabei geht es um       bei denen das Ansehen der Person des*der
den Schutz der Privatsphäre und des Familien-     Vertragspartner*in eine nachrangige Bedeu-
lebens der Anbieter*innen.26 Damit soll           tung hat und die typischerweise zu vergleich-
sichergestellt werden, dass der engste Lebens-    baren Bedingungen in einer Vielzahl von
bereich der durch das Benachteiligungsverbot      Fällen geschlossen werden. Die Anbieter der
Verpflichteten geschützt wird.27 Typischerweise   Kindertagesbetreuung wählen ihre Vertrags-
finden die Bildung, Betreuung und Erziehung       partner*innen ohne eine besondere Würdi-
in einer Kindertageseinrichtung nicht in der      gung aus. Die Leistung erfolgt nach allgemei-
Privatsphäre der Anbieter*innen statt, sondern    nen fachlichen Qualitätsstandards auf der
in einer eigenen Einrichtung. Somit kann in       Grundlage der Bildungspläne, Rahmenverein-
der Regel nicht von einem Ausschluss des          barungen und Kita-Gesetze und somit zu
Kindertagesbetreuungsvertrages aus dem            vergleichbaren Bedingungen. Die Individuali-
Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleich-         sierung im Rahmen der Gruppenbetreuung
behandlungsgesetzes ausgegangen werden.           führt nicht dazu, dass kein massengeschäfts-
Anders ist dies in der Kindertagespflege zu       ähnlicher Vertrag vorliegt.
beurteilen, da die Betreuung durch die Kinder-
tagespflegeperson in der Regel gerade in der      Somit können, wenn Eltern oder Kinder
Wohnung und damit in der Privatsphäre der         ungerechtfertigt wegen des Geschlechts, der
Anbieter*innen erfolgt. Dann schließt § 19        Religion, des Alters, einer Behinderung oder
Absatz 5 AGG die Anwendung des Allgemeinen        der sexuellen Identität benachteiligt werden,
Gleichbehandlungsgesetzes aus. Maßgeblich ist     Ansprüche auf Unterlassen, Beseitigung,
der Einzelfall, da inzwischen vermehrt auch       Schadensersatz und Entschädigung nach
Tagespflegepersonen Räume für die Betreu-         dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
ung anmieten (§ 22 Absatz 1 Satz 5 SGB VIII).     geltend gemacht werden.

                                                  Zur Klarstellung befürwortet die Antidiskrimi-
                                                  nierungsstelle des Bundes, eine Regelung zum
                                                  Diskriminierungsschutz in das überarbeitete
                                                  SGB VIII aufzunehmen. Eine solche Regelung
                                                  ist notwendig, da die Rechtsunsicherheit und
                                                  damit die Schwierigkeit in der Rechtsdurch-
                                                  setzung, letztendlich zu Lasten der Kinder geht.
                                                  Gegebenenfalls kann ergänzend auch über die
                                                  neue Ombudsstelle, die nach der Novellierung
                                                  des SGB VIII eingerichtet werden soll (§ 9a SGB
                                                  VIII), eine Verbesserung des Diskriminierungs-
                                                  schutzes erreicht werden.

26   BT-Drucksache 16/1780, S. 42
27   Ebenda.

                                                                                                  7
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Druck: MKL Druck GmbH & Co. KG
Stand: Juli 2021
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