Stellenwert der Opioide zur Therapie chronischer Schmerzen
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CME-FORTBILDUNG medizinonline.ch Pharmakologische Schmerztherapie Stellenwert der Opioide zur Therapie chronischer Schmerzen Emmanuel Coradi, Konrad Maurer, Zürich Opioide | Schmerztherapie | nicht-tumorbedingte Schmerzen ■ Der Begriff Opioide ist dem Griechischen entnom- hilft im klinischen Alltag, die zu erwartende Wirkung men und meint «dem Opium ähnlich». Die Opioide eines bestimmten Opioids abschätzen zu können. bilden eine pharmakologisch heterogene Gruppe von synthetischen, halbsynthetischen und natürlichen Epidemiologie Wirkstoffen, deren gemeinsames Merkmal die Bin- In der schweizerischen Gesundheitsbefragung von dung an Opioidrezeptoren ist. Opioidrezeptoren 2017 zeigte sich, dass in der Schweiz um 2,5 Mio. Men- finden sich sowohl im peripheren als auch zentralen schen unter chronischen Schmerzen leiden. Ungefähr Nervensystem. Bezüglich der Entfaltung analgeti- 0,6 Mio. der Betroffenen leiden unter moderaten bis scher Effekte sind die Opioidrezeptoren im zentralen schweren Schmerzzuständen, die limitierende Aus- Nervensystem entscheidend. Durch die Aktivierung wirkungen auf die Aktivität und die Lebensqualität präsynaptischer Opioidrezeptoren im Hinterhorn des haben. Frauen geben häufiger an, unter chronischen Rückenmarkes, wird die Weiterleitung von Schmerz- Schmerzen zu leiden [2]. impulsen gehemmt. Eine durch Opioide hervorgeru- Obwohl es verschiedene therapeutische Ansätze fene Aktivierung von Opioidrezeptoren in gewissen zur Behandlung von Schmerzen gibt, werden auch in Regionen des Hirnstamms bewirkt eine zusätzliche der Schweiz immer häufiger Opioide verordnet. Der Stimulation von absteigenden, inhibitorischen Ner- Einsatz von Opioiden ist für die Behandlung schwe- venbahnen. Dadurch wird die Weiterleitung von im rer akuter Schmerzen, z.B. im perioperativen Setting, Hinterhorn eintreffenden Schmerzsignalen gehemmt. bestens anerkannt und meist sehr sinnvoll. Auch zur In subkortikalen Regionen des limbischen Systems Behandlung tumorbedingter Schmerzen stellen Opio- führt die Aktivierung von Opioidrezeptoren zu einer ide oft eine unverzichtbare und weltweit anerkannte Dämpfung der emotional-affektiven Komponente der Therapieoption dar [3]. Chronische nicht-krebsbe- Wahrnehmung einer Schmerzsensation [1]. dingte Schmerzen stellen im Gegensatz dazu meist Der menschliche Körper stellt selbst endogene eine weniger gute Indikation für eine längerfristige Opioide her, die im Rahmen von Stressreaktionen Behandlung mit Opioiden dar. Es ist unklar, ob der ausgeschüttet werden und zur Unterdrückung von Einsatz hochpotenter Opioide mittel- bis langfristig in Schmerzen und Hungergefühl führen. In der medi- einer Verbesserung der Kontrolle chronischer nicht- zinischen Praxis werden grundsätzlich synthetische krebsbedingter Schmerzen führt [4]. Opioide eingesetzt. Pharmakodynamische Differenzen Gerade deshalb ist es bedenklich, dass heute 85% zwischen den verschiedenen Opioiden zeigen sich in aller verschriebenen Opioide zur Behandlung nicht- der unterschiedlichen Affinität zu Opioidrezeptoren krebsbedingter Schmerzen eingesetzt werden [5]. bzw. zu einzelnen Rezeptor-Subtypen. Die genaue Ungefähr 25% der betroffenen Patienten erhalten die Kenntnis dieser pharmakodynamischen Unterschiede verschriebenen Opioide während einer Dauer von >90 Tagen. Eine Langzeitanwendung über Jahre hinweg ist häufig die Folge. Dr. med. Emmanuel Coradi Taxonomie der Schmerzmechanismen Institut für interventionelle Eine adäquate und wirksame pharmakologische Schmerzmedizin Zürich – IISZ Schmerztherapie kann am zuverlässigsten erreicht Pfingstweidstrasse 60B 8005 Zürich werden, wenn die Mechanismen der Schmerzentste- coradi.iisz@hin.ch hung möglichst gut eingegrenzt werden. Eine detail- lierte Anamnese und eine fokussierte klinische Un- PD Dr. med. Konrad Maurer Institut für interventionelle Schmerzmedizin Zürich – IISZ Pfingstweidstrasse 60B 8005 Zürich > Fortbildungsfragen auf Seite XX maurer.iisz@hin.ch 2
InFo SCHMERZ & GERIATRIE 2021; Vol. 3, Nr. 1 CME-FORTBILDUNG tersuchung sind grundlegend zur Erkennung eines Schmerz-Entstehungsmechanismus. Situativ, im Falle spezifischer Fragestellungen, sind radiologische, la- borchemische und andere Zusatzuntersuchungen hilf- reich. Folgende Schmerzmechanismen müssen dabei identifiziert oder ausgeschlossen werden: Nozizeptive Schmerzen: Dieser Mechanismus ist verantwortlich für die Aufrechterhaltung der kör- perlichen Integrität und wird auch als «normale, üb- liche» Schmerzempfindung verstanden. Nozizeptive Schmerzsignale helfen, Verletzungen zu verhindern. Die Schmerzen sind Stimulus-abhängig, in der Regel von kurzer Dauer und das stimulierte Gewebe bleibt dabei intakt. Bei fortdauerndem nozizeptiven Stimulus kann es zu neuronalen Veränderungen im Bereich des Abbildung: IISZ Hinterhorns des Rückenmarks kommen. Diese Verän- derungen sind in der Regel kurzzeitig und bilden sich zurück. Persistierende Schmerz-Sensibilisierungsphä- nomene werden nicht erwartet. Abb. 1: Für eine adäquate Schmerztherapie ist Erkennung von Schmerzmechanis- Nozizeptiv-inflammatorische Schmerzen: Bei bereits men zentral. In diesem Zusammenhang kann der Einsatz apparativer/interventio- eingetretenem Gewebeschaden treten akut bis subakut neller diagnostischer Mittel oft sehr hilfreich sein. Schmerzen auf. Trigger sind freigesetzte Entzündungs- mediatoren (z.B. Interleukine). Einerseits kommt es zur direkten Aktivierung von peripheren Schmerzfa- zeptiver Schmerzzustände eine normale Funktion des serendigungen, andererseits werden im Rahmen die- somatosensorischen Systems besteht, während genau ses Prozesses neue, bis anhin inaktive Schmerzfasern dieses bei neuropathischen Schmerzzuständen ge- rekrutiert und zusätzlich sensibilisiert. Gesamthaft be- schädigt ist. Viele Patienten mit chronischen Schmer- trachtet kommt es zu einer Senkung der elektrophy- zen lassen sich keiner dieser Entitäten zweifelsfrei siologischen Erregbarkeitsschwelle. Dadurch wird die zuordnen [7]. Bei diesen Patienten kann weder eine Bildung von peripheren Sensibilisierungsphänomenen Aktivierung von Nozizeptoren noch eine Läsion des möglich. somatosensorischen Systems angenommen werden. Neuropathische Schmerzen: Neuropathische Schmer- In solchen Fällen liegt eine noziplastische Schmerz- zen treten ebenfalls akut oder subakut auf. Ursache problematik vor. Eine grosse Gruppe von Patienten des Schmerzsignals ist hier jedoch nicht das umlie- ist davon betroffen: Unspezifische Rückenschmerzen, gende Gewebe, sondern das somatosensorische Sys- unspezifische Schmerzen in peripheren Gelenken, Fib- tem selbst [6]. Die Schädigung von Nervenzellen selbst romyalgie, Complex Regional Pain Syndrome (CRPS) bildet die Grundlage für neuropathische Schmerzen. Typ 1. Praktisch immer kommt es dabei zur Entstehung von Überlagerung von Schmerzmechanismen/«Mixed peripheren und zentralen Sensibilisierungsphänome- Pain»: Sehr häufig kann bei Patienten mit chronischen nen. In der Regel können «positive» und/oder «nega- Schmerzen eine Überlagerung der oben erwähnten tive» Sensibilisierungsphänomene dokumentiert wer- Schmerzmechanismen festgestellt/angenommen wer- den. Häufig besteht eine grosse Diskrepanz zwischen den. Bei «Mixed Pain» sind häufig sämtliche der oben der vom Patienten beklagten Schmerzintensität, der beschriebenen Mechanismen an der Entstehung, res- Ausdehnung des von Schmerzen betroffenen Areals pektive Modulierung des Schmerzsignales beteiligt. In und den objektiven Befunden, die durch den Untersu- cher festgestellt werden können. Ein wichtiges Sensibilisierungsphänomen ist die Hyperalgesie. Sie tritt sowohl bei neuropathisch als TAKE-HOME-MESSAGES auch inflammatorisch bedingten Schmerzzuständen ― Vor Beginn einer pharmakologischen Schmerztherapie im Allgemeinen und auf. Die Hyperalgesie kann als Zustand definiert einer Behandlung mit Opioiden im Speziellen, muss der zugrunde liegende werden, während welchem ein normalerweise leicht Schmerzmechanismus eingegrenzt werden. schmerzhafter Reiz als übermässig schmerzhaft emp- ― Opioide sind für die Behandlung schwerer akuter und tumorbedingter funden wird (z.B. Pieksen mit Zahnstocher). Die Schmerzen oft Mittel der Wahl. Allodynie ist ein weiteres «positives» Sensibilisie- ― Eine Langzeittherapie von nicht-tumorbedingten chronischen Schmerzen rungsphänomen und stellt eine Steigerungsform der soll im Gegensatz dazu nur im Ausnahmefall erfolgen und, wenn immer Hyperalgesie dar. In einem von Allodynie betroffe- möglich, mit nicht-medikamentösen Massnahmen kombiniert werden. nen Hautareal, wird ein eigentlich schmerzloser Sti- mulus als schmerzhaft empfunden (z.B. Berührung ― Eine Langzeittherapie mit Opioiden muss sich an messbaren Zielen orien- mit Pinsel). tieren. Werden diese Ziele nicht erreicht, soll die Opioid-Behandlung sistiert Noziplastische Schmerzen: Nozizeptive/Inflammato- werden. rische Schmerzen und neuropathische Schmerzen ― Im Rahmen einer Langzeittherapie mit Opioiden entwickelt sich immer eine sind letztlich mechanistisch definierte Entitäten. Der körperliche Abhängigkeit, die teilweise von einer psychischen Komponente, entscheidende Unterschied ist, dass im Rahmen nozi- im Sinne einer Sucht, begleitet wird. 3
CME-FORTBILDUNG medizinonline.ch weisen darauf hin, dass Opioide zur Therapie chro- nischer nicht-krebsbedingter Schmerzen nicht wirk- samer sind als andere Analgetika. – Bevor eine Schmerztherapie mit Opioiden überlegt wird, sollten daher verschiedene andere therapeuti- sche Massnahmen bereits ergriffen oder zumindest probiert worden sein (physikalisch, physiothera- peutisch, medikamentös, interventionell, psycholo- gisch). – Zusammen mit dem Patienten sollen sinnvolle und erreichbare Therapieziele erarbeitet werden. Im Fo- kus sollten dabei Ziele wie eine Schmerzreduktion Abbildung: IISZ um mindestens 30%, die Arbeitswiederaufnahme oder auch die Erledigung alltäglicher Aufgaben, z.B. im Haushalt, stehen. Abb. 2: Ist unklar, ob eine Langzeittherapie mit einem Opioid indiziert – Patienten sollten detailliert auf die möglichen Ge- ist oder nicht, kann der i.v.-Opioid-Test als Wegweiser dienen. fahren hingewiesen werden, die im Rahmen einer Langzeittherapie mit Opioiden auftreten können. Nebst den bekannten Nebenwirkungen wie Obs- der Regel steht der eine oder andere Schmerzmecha- tipation, Mundtrockenheit, Nausea, Unwohlsein, nismus im Vordergrund. Verwirrtheitszuständen, Stürze soll auch auf eine Opioide spielen eine wichtige Rolle in der Behand- potenziell lebensgefährliche Atemdepression als lung nozizeptiver Schmerzen, können aber auch bei Folge von Fehl-/Überdosierungen hingewiesen wer- neuropathischen Schmerzen zu einer guten Schmerz- den. kontrolle beitragen. Im Falle noziplastisch bedingter – Die Patienten müssen darüber informiert werden, Schmerzzustände ist der therapeutische Wert von Opi- dass es durch eine Therapie mit einem Opioid in der oiden meist nicht vorhanden. Regel zu einer körperlichen Abhängigkeit kommt. – Während der ersten 1–2 Wochen einer Therapie, Die 4 Säulen der Analgesie in der Einstellungsphase, bei einer Dosiserhöhung Zur Erreichung einer möglichst zufriedenstellenden oder beim Wechsel auf ein anderes Opioid muss auf analgetischen Behandlung, ist das Erkennen der oben das Autofahren bzw. das Bedienen von Maschinen vorgestellten Schmerz- und Sensibilisierungsmecha- verzichtet werden. Während dieser Zeit sind Ne- nismen zentral. Unabhängig von der therapeutischen benwirkungen häufig, welche die Reaktionsfähig- Modalität beruht eine zielgerichtete Therapie von keit einschränken. Schmerzzuständen, bzw. das Erreichen einer «An- algesie» demzufolge auf den folgenden vier Säulen: Wann kann eine Langzeittherapie >120 Tage «Antinozizeption», «Antiinflammation», «Antihyper- mit Opioiden in Erwägung gezogen werden? algesie» und «Antineuropathie» [8]. Es gilt der Grundsatz, dass Opioide zur Langzeit Im Rahmen einer pharmakologischen analgeti- therapie (>120 Tage) eines chronischen Schmerz- schen Therapie ist es also entscheidend, Medikamente zustandes nur eingesetzt werden sollen, falls der be- einer oder mehrerer Stoffklassen einzusetzen, die troffene Patient während einer 4- bis 12-wöchigen möglichst das gesamte Spektrum der diagnostizierten probatorischen Therapie eine für ihn bedeutsame Schmerzmechanismen abdecken können. Schmerzreduktion und/oder Verbesserung seines All- gemeinzustandes verzeichnen konnte. Zusätzlich soll- Empfohlene Massnahmen vor Beginn ten national und international geltende Richtlinien einer Schmerztherapie mit einem Opioid in die Überlegungen rund um eine Indikationsstel- Ob ein Behandlungsversuch mit einem Opioid-An- lung mit einbezogen werden. Eine empfehlenswerte algetikum sinnvoll ist oder nicht, bedarf einer sorg- Ressource stellt z.B. die Richtlinie zur «Langzeitan- fältigen gemeinsamen Abwägung zwischen Arzt und wendung von Opioiden bei chronischen nicht tumor- Patient. Ob schwach- oder starkwirksame Opioide bedingten Schmerzen (LONTS)» [9] der Deutschen eingesetzt werden sollen, spielt eine untergeordnete Schmerzgesellschaft dar. Aktuell ist eine Langzeit- Rolle. Folgende Punkte sollten speziell berücksichtigt therapie mit einem Opioid nur beim Vorliegen einer werden [9]: schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie empfoh- – Die der Schmerzproblematik zugrunde liegenden len. Im Gegensatz dazu wird im Falle verschiedener Entstehungsmechanismen müssen gezielt gesucht anderer chronischer Schmerzleiden sogar konkret von und identifiziert werden. einer Langzeittherapie mit Opioiden abgeraten (siehe – Es ist empfehlenswert, eine genauere psychosoziale auch Tabelle 1). Anamnese und ein Screening auf das Vorliegen psy- chisch bedingter Einflüsse auf die Schmerzproble- Im Zweifelsfall: Der i.v. Opioid-Test als Wegweiser matik durchzuführen. Falls Unsicherheit darüber besteht, ob eine Schmerz- – Chronische nicht-krebsbedingte Schmerzen sollten therapie mit Opioiden länger als 12 Wochen weiter- nach Möglichkeit niemals ausschliesslich mit Opi- geführt werden soll, kann ein ambulant durchgeführ- oiden behandelt werden. Wissenschaftliche Daten ter intravenöser (i.v.) Opioid-Test hilfreich sein [10] 4
InFo SCHMERZ & GERIATRIE 2021; Vol. 3, Nr. 1 CME-FORTBILDUNG Tab. 1 Die «Opioid-Ampel»: Empfehlungen für oder gegen eine Langzeittherapie mit Opioiden bezüglich ausgewählter Schmerzerkrankungen Langzeittherapie mit Opioiden NICHT empfohlen – Primäre Kopfschmerzerkrankungen, – Schmerzen bei chronischer Pankreatitis z.B. Migräne, Spannungskopfschmerz – Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen – Funktionelle Störungen, z.B. Fibromyalgie, – Schmerzen als Leitsymptom psychischer Reizdarm- und Reizblasensyndrom Störungen Individuelle Therapieversuche mit Opioiden möglich – Postzoster-Neuralgie – Arthrose – Phantomschmerz – Chronische Rückenschmerzen – Nervenwurzelschmerz/Radikulopathie – Postop. Schmerzen (Hernien, Thorax) – Rheumatoide Arthritis – Ischämischer Schmerz/PAVK – Schmerzen nach Nervenverletzung – Osteoporotische Frakturen Mögliche Indikationen zur Langzeittherapie mit Opioiden – Schmerzhafte diabetische Polyneuropathie Quelle: IISZ (Abb. 2). Solche Tests werden in der Schweiz durch im Rahmen chronischer Opioidbehandlungen aber verschiedene schmerzmedizinische Zentren angebo- zu Toleranzentwicklung mit konsekutiver Minderung ten. Durch die protokollierte i.v. Gabe eines ultra- der analgetischen Wirkung des eingesetzten Opioids. kurzwirksamen Opioids ist es meist möglich herauszu- Als Ursache wird eine Migration von Opioidrezepto- finden, ob ein Schmerzleiden wirkungsvoll durch ein ren von der Zelloberfläche in das Zellinnere vermutet, Opioid behandelt werden kann oder nicht. sodass sie nicht mehr für die analgetische Wirkung zur Verfügung stehen. Ein weiteres Phänomen, das im Zu- Kurzwirksame vs. langwirksame Opioidpräparate sammenhang mit einer Schmerzzunahme unter einer Zur Behandlung chronischer Schmerzen sollen mög- laufenden Therapie mit Opioiden eintreten kann, ist lichst Präparate mit retardierter Galenik bzw. langer die opioidinduzierte Hyperalgesie. Die diskutierten Wirkdauer eingesetzt werden. Die Einnahme sollte Entstehungsmechanismen einer opioidinduzierten nach einem fixen Schema erfolgen. Erfahrungen zei- Hyperalgesie sind vielschichtig und reichen von einer gen, dass so eine bessere Schmerzkontrolle und eine Down-Regulation der Opioidrezeptoren über eine bessere Therapieadhärenz erreicht werden kann. Aus- mögliche zentrale Sensibilisierung bis hin zu einer sy- serdem kann durch dieses Vorgehen das Risiko für naptischen Langzeitpotenzierung. Komplikationen verringert werden. Kurzwirksame und ultra-kurzwirksame Opioide Unerwünschte Effekte bei Langzeitanwendung sollen im Rahmen der Behandlung nicht-tumorbe- Die Langzeitanwendung von Opioiden kann folgende dingter chronischer Schmerzen nur in Ausnahmefällen unerwünschten Effekte zur Folge haben: zum Einsatz kommen. Sie sind auch als Bedarfsmedi- – Verlust des sexuellen Verlangens kation nicht zu empfehlen. Klinische Erfahrungen zei- – Impotenz gen, dass kurzwirksame Opioide rasch auch zu einer – Zyklusstörungen der Frau psychischen Abhängigkeit führen können. Die Folge – Erhöhte Gesamtsterblichkeit ist leider oft auch eine missbräuchliche Verwendung. – Passivität/Antriebslosigkeit – Merkfähigkeitsstörungen Outcomes einer Langzeittherapie mit Opioiden – Erhöhte Sturzgefahr Die aktuell zur Verfügung stehende wissenschaftliche Evidenz zur Beurteilung der Effektivität einer Opo- Wann soll eine Langzeittherapie mit Opioiden idtherapie >120 Tage bezüglich nicht-tumorbedingter beendet werden? chronischer Schmerzen ist ungenügend. Dies impli- Eine Langzeittherapie mit einem Opioid sollte perio- ziert automatisch unsichere Erfolgsaussichten [11]. disch reevaluiert werden. Ist unklar, ob die Therapie Im Rahmen einer chronischen Anwendung von mit einem Opioid eine Schmerzlinderung bewirkt, Opioiden kommt es nicht selten zu einer Wirkungs- sollte auf eine Beendigung dieser Therapie hingear- abnahme der eingesetzten Opioidmedikation. Es gibt beitet werden. Es wird empfohlen, eine Therapie mit verschiedene Differenzialdiagnosen, die diese Ent- einem Opioid schrittweise zu beenden, wenn: wicklung erklären können. Auch im Falle von nicht-tu- – In der Einstellungsphase (4 bis 12 Wochen) die in- morbedingten chronischen Schmerzen kann es zu einer dividuell festgelegten Therapieziele nicht erreicht Krankheitsprogression kommen, die zu einer Verstär- werden konnten und/oder bedeutsame Nebenwir- kung der Schmerzproblematik führt. Oft kommt es kungen aufgetreten sind. 5
CME-FORTBILDUNG medizinonline.ch – Im Laufe der Behandlung ein Wirkungsverlust des Literatur: eingesetzten Opioids festgestellt werden muss und 1. Ossipov MH, Dussor GO, Porreca F: Central modulation of pain. J Clin Invest 2010; 120: 3779–3787. dieser durch eine moderate Anpassung der Dosis 2. Schweizerische Gesundheitsbefragung 2017, Gesundheit und bzw. dem Wechsel auf ein anderes Opioid nicht wei- Geschlecht, Bundesamt für Statistik, BFS-Nummer 213–1718. 2020. ter verhindert werden kann. 3. Wertli MM, Steurer J: In Process Citation. Praxis 2015; 104(11): – Während der Behandlung Hinweise für einen Fehl- 541–542. gebrauch auftreten (selbstständige Dosiserhöhun- 4. Breivik H, Stubhaug A: Burden of disease is often aggravated by opioid treatment of chronic pain patients: Etiology and prevention. gen, Verordnung durch mehrere Ärzte). PAIN 2014; 155(12): 2441–2443. 5. Wertli M, Held U, Signorell A, et al.: Analyse der Entwicklung der Schlussfolgerung Verschreibungspraxis von Schmerz- und Schlafmedikamenten zwischen 2013 und 2018 in der Schweiz. Universitätsspital Bern Opioide stellen eine der wichtigsten Stoffklasse zur 2020. Behandlung von starken Schmerzen dar. Sie werden 6. Jensen T, Baron R, et al.: A new definition of neuropathic pain. Pain 2011; 152: 2204–2205. nie als Erstlinienoption eingesetzt und sollen immer 7. Trouvin AP, Perrot S.: New concepts of pain. Best Practice von nicht-medikamentösen Massnahmen begleitet & Research Clinical Rheumatology 2019; 33(3). werden. Eine Langzeittherapie wird nur bei Thera- 8. Maurer K: Praktikable Stufentherapie für den Hausarzt. Der infor mierte Arzt 2017. pierespondern durchgeführt, wobei der Effekt durch 9. Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumor Definieren und Überwachen von Therapiezielen regel- bedingten Schmerzen (LONTS), 2. Aktualisierung 2020; AWMF- mässig evaluiert werden muss. Eine nicht-funktionie- Leitlinien-Register Nr. 145/003. 10. Gustorff B: Intravenous opioid testing in patients with chronic non- rende Therapie mit Opioiden muss rechtzeitig beendet cancer pain. Eur J Pain 2005; 9(2): 123–125. werden. 11. Chou R, Turner JA, et al.: The Effectiveness and Risks of Long-Term Opioid Therapy for Chronic Pain: A Systematic Review for a National Institutes of Health Pathways to Prevention Workshop. Ann Int Med 2015; doi: 10.7326/M14-2559. 6
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