Stettin Swinemünde Insel Wollin - via reise verlag

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Stettin Swinemünde Insel Wollin - via reise verlag
reise trip

                           Wolfgang Kling

              Stettin
             Swinemünde • Insel Wollin

                                Symbole
   Tipp Lieblingsorte                Hotels (DZ) & Pensionen in der
unseres Autors Wolfgang Kling        Hauptsaison
     Highlights                      €         bis 60 Euro (bis 240 zł)
                                     €€        60 bis 100 Euro
 1   Sehenswürdigkeiten                        (240 bis 400 zł)
 1   Unterkünfte                     €€€       über 100 Euro
 1   Restaurants & Cafés                       (über 400 zł)
Stettin Swinemünde Insel Wollin - via reise verlag
Inhalt                                                                                                                                                  Inhalt

Das Beste in Stettin, Swinemünde und auf der Insel Wollin | 4

Land & Leute | 6                                                                  Swinemünde (Świnoujście) | 96
Westpommern heute | 8                   Pommern im Lauf der Zeit | 18             Grenzstadt auf drei Inseln | 97
Architektur | 10                        Landschaft & Natur | 22                   Theodor Fontane in Swinemünde | 101                          Swinemünde
Polnische Lebensart | 12                Nachhaltig & regional | 32                Die preußischen Fortanlagen | 106
Zu Tisch in Westpommern | 14            Was ist los in Stettin & Umgebung? | 34   Sehenswertes in Swinemünde | 108                                    Wollin
Typisch polnische Gerichte | 17                                                   Die Stadt der Promenaden | 111
                                                                                  Praktische Tipps | 115
                                                                                  Tour 1: Radtour zu den deutschen Kaiserbädern | 124
                                                                                  Tour 2: Radtour Kamminke und Wolgastsee | 126
Stettin (Szczecin) | 38                                                           Tour 3: Haffradweg nach Usedom (Stadt) | 129
Grüne Stadt am Wasser | 39                                                        Tour 4: Radrundtour Insel Kaseburg (Karsibór) | 134
          Stadtgeschichte | 40
          Stadt im Wandel | 47                              Stettin
Spaziergang durch Stettins Innenstadt | 50
          Alfred Döblin | 55                                                      Insel Wollin (Wolin) | 138
          Aufstieg und Fall der Familie Loitz | 56                                Naturjuwel mit drei Landschaften | 139
          Dialogzentrum „Przełomy“ (Umbrüche) | 65                                Misdroy (Międzyzdroje) | 141                                Swinemünde
Außerhalb der Roten Route | 70                                                               Sehenswertes in Misdroy | 144
          Pariser Viertel | 71                                                               Wandern rund um Misdroy | 149
          Orion-Plätze in Stettin | 71                                            Tour 5: Von Misdroy nach Lubin (Lebbin) | 150
          Die Goldene Route | 72                                                  Tour 6: Über den Kaffeeberg zu den Wi-
          Park Kasprowicza | 73                                                   senten | 154
          Zentralfriedhof (Cmentarz Centralny) | 74                               Heidebrink & Dievenow | 160
Museen | 76                                                                       Mit dem Fahrrad unterwegs | 163
Praktische Tipps | 78                                                             Wollin Stadt (Wolin) | 164
          Kult-Lokale | 80                                                                   Sehenswertes in Wollin Stadt | 166
                                                                                  Cammin (Kamień Pomorski) | 168

Land um Stettin | 88
Dammscher See (Jezioro Dąbie) und Landschafts-                                    Reisepraktisches | 174
park Buchheide (Puszcza Bukowa)| 89                                               Klima & Reisezeit | 176                Die schönsten Strände | 183
           Dammscher See (Jezioro Dąbie) | 89		                 Stettin           Ankommen | 177                         Wissenswertes von A–Z | 184
           Smaragdsee (Jezioro Smaragdowe) | 89                                   Unterwegs zwischen Stettin,            Register | 186
           Der „schiefe Wald“ (Krzywy Las) | 89                                   Swinemünde & Wollin | 179              Impressum | 188
Stargard in Pommern (Stargard) | 90                                               Übernachten | 180                      Kartenregister und -symbole | 190
Nach Norden zum Stettiner Haff | 92                                               Sport & Aktivitäten | 181              Etwas Polnisch für unterwegs | 191
           Pölitz (Police) | 92                                                   Mit Kindern | 182
           Ziegenort (Trzebież) | 93
           Neuwarp (Nowe Warpno) | 94
Stettin Swinemünde Insel Wollin - via reise verlag
Das Beste in Stettin, Swinemünde und Wollin

         Das Beste in Stettin, Swinemünde
              und auf der Insel Wollin

Stettin – grüne Stadt am Wasser
Die geschichtsträchtige Hafenstadt an der Mündung der Oder ins Stettiner
Haff besitzt eine einzigartige maritime Lage. Wer Stettin mit seinen vielen Se-
henswürdigkeiten und Parks besucht, sollte die Stadt daher unbedingt auch
vom Wasser aus erleben. Eine Schifffahrt ist bekanntlich lustig, aber sie bringt   Stettins Hakenterrasse – Flaniermeile mit Aussicht
einem die Odermetropole auch auf völlig neue Weise näher.                          Wie ein Balkon zur Oder: Von der einheitlich aus Sandsteinblöcken gemauer-
                                                                                   ten Anlage in 19 Metern Höhe schaut man weit über die unten vorüberfließen-
                                                                                   de Oder mit ihren beiden Inseln, den Hafenkränen und Werftanlagen. Eine Au-
Flanieren …                                                                        genweide ist auch der Blick von unten auf das pompöse Gebäudeensemble mit
… durch das Pariser Viertel in Stet-      Die Oderinsel Lastadie …                 dem Meeresmuseum im reinsten Jugendstil in seiner Mitte (£ Seite 58).
tins Neustadt: Kreisrunde Plätze, von     … gehört zu den interessantesten
denen sternenförmig breite Boule-         und spannendsten Orten des moder-
vards abgehen, Gründerzeitfassa-          nen Stettin. Hier kann man gewisser-
den, hier wunderbar renoviert, dort       maßen live den Aufbau eines neuen                                                 Bei den Fischern von
bröckelt noch arg der Putz, filigra-      Stadtviertels miterleben. Im restau-                                              Misdroy
ne gusseiserne Balkone, pompöse           rierten ehemaligen Schlachthof der                                                Von Dorsch und Hering über
Jugendstilvillen. Man fühlt sich fast     Hafenstadt lockt ein Mix aus Gast-                                                Zander und Flunder bis zu Aal
nach Paris oder Berlin versetzt. Unter-   ronomie, Kunst und Kultur, auf der                                                und Heilbutt, gebacken, gebra-
wegs trifft man auf kleine gemütliche     Nachbarinsel Grodzka der neue Stet-                                               ten oder geräuchert – hier am
Cafés, urige Lädchen, immer wieder        tiner Sommerstrand (£ Seite 60).                                                  Fischerstrand mit seinen bun-
auf viel Überraschendes (£ Seite 71).                                                                                       ten Kuttern wird der Ostsee-
                                                                                                                            fisch fangfrisch auf den Buden-
                                          Café 22                                                                           terrassen serviert (£ Seite 145
                                          Der Aus- und Weitblick ist überwälti-                                             und 147).
                                          gend: Vom 22. Stock des Stettiner PA-        Die Mühlenbake
                                          ZIM-Hochhauses überblickt man aus
                                          80 Metern Höhe die ganze Stadt, den
                                                                                       von Swinemünde
                                          Hafen, den Dammschen See und die
                                          weitere Umgebung. Ganz entspannt           Auf der Westmole direkt an der
                                          bei einer Tasse Kaffee und einem           Swinemündung in die Ostsee
                                          Stückchen Kuchen (£ Seite 82).             steht das fotogene Wahrzei-                           Wolfgang Kling …
                                                                                     chen der Kur- und Hafenstadt.                         … ist Verfasser
                                                                                     Die schneeweiße Mühlenbake,                            zahlreicher Reise-
    Dampferfahrten und Hafenrundfahrten …                                            gemeinhin „Windmühle“ ge-                              führer zu Deutsch-
    … sind das maritime Erlebnis in den Hafenstädten Stettin und Swinemün-           nannt, entzückt die vielen Hob-                       land und Polen.
    de. In Stettin fahren die Schiffe während der Saison auch zum Damm-              byfotografen besonders dann,                         Zusammen mit sei-
    schen See und über das Stettiner Haff und den Kaiserkanal bis nach Swi-          wenn gerade eine der Schwe-                      ner polnischen Ehefrau
    nemünde. Dort verkehren die Dampfer zu den deutschen Kaiserbädern                denfähren fast zum Greifen nah       Grażyna, die ihn bei diesem Buch tat-
    auf Usedom und zum Seebad Misdroy auf Wollin (£ Seite 86 und 122).               vorübergleitet (£ Seite 112).        kräftig unterstützt hat, lebt er in Ber-
                                                                                                                          lin und Swinemünde.

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Stettin Swinemünde Insel Wollin - via reise verlag
Westpommern – das alte Kulturland an Oder und Ostsee ist heu-
                   te eine herrliche, völlig unkomplizierte Urlaubsregion im Nordwes-
                   ten Polens. Fast gänzlich industriefrei dominiert hier an den weiten
    Land & Leute   Sandstränden und den pommerschen Wäldern der Bade- und Natur-
                   tourismus. Immer beliebter: der Städtetrip nach Stettin.

                   • Blick auf Swinemünde und den Fluss Swine, der die Inseln Usedom und Wollin
                   trennt. Im Hintergrund das Stettiner Haff

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Westpommern heute

Westpommern heute                                                                                                  Westpommern

Altes Kulturland mit großen Zukunftsplänen                                             Polnisch: Woiwodschaft Zachod-
                                                                                       niopomorskie
                                                                                                                            wirtschaft, Tourismus (besonders
                                                                                                                            Küste)
                                                                                       Verwaltung: Die Woiwodschaft         Fläche: 22 896 km²
Die Woiwodschaft Westpommern               pommern und Brandenburg ist wie
                                                                                       ist in 18 Landkreise unterteilt      Landschaftliche Struktur: Land-
entspricht annähernd dem Ge-               ganz Polen eine vollkommen unkom-
                                                                                       Telefon-Vorwahl: aus Deutsch-        wirtschaft 49,9 %, Wälder 36,2 %,
biet, das die Deutschen bis 1945           plizierte Reiseregion, die Menschen
                                                                                       land nach Westpommern:               Gewässer 5,2 %
Hinterpommern nannten. Der                 sind ausgesprochen gastfreundlich.
                                                                                       (00 48) 91, nach Deutschland:        Einwohner: 1 687 000
dünn besiedelte Verwaltungs-               Nicht zuletzt mit EU-Milliarden wur-
                                                                                       (00 49)                              Arbeitslosenquote: unter 8 %,
bezirk mit seinen 1,7 Millionen            den in den letzten zehn Jahren große
                                                                                       Wirtschaft: Wichtige polnische       Swinemünde unter 4 %
Einwohnern liegt im äußersten              Teile der Infrastruktur erneuert, vie-
                                                                                       Häfen in Stettin und Swinemün-       (Stand 2019)
Nordwes­ten Polens. Er nimmt eine          le Ortschaften wurden grundlegend
                                                                                       de, Werftstandort Stettin, Land-
Fläche von 23 000 Quadratkilome-           saniert, zahlreiche moderne Ferien-
tern ein und gehört zu den größe-          anlagen mit umfangreichen Well-
ren der 16 polnischen Woiwod-              ness- und Spabereichen entstanden.
schaften.                                                                           desinneren mancherorts noch fast        Stettin. Sie ist eine der größten Werf-
                                           Tourismus & Landwirtschaft               20 Prozent erreicht, liegt sie an der   ten Europas und seit 2013 mit der
Das alte Kultur- und Naturland mit         Der Tourismus findet bisher nahezu       Küste bei weit weniger als zehn Pro-    Stocznia Remontowa S. A. in Swine-
seinen kristallklaren Seen, Flüssen,       ausschließlich an der fast 200 Kilo-     zent. In Swinemünde betrug die          münde verbunden. In dieser Repa-
den kilometerlangen Chausseen,             meter langen Küste Westpommerns          Quote 2019 sogar weniger als vier       raturwerft mit rund 500 Beschäftig-
weiten Wiesen und tiefen Wäldern           statt. Das hat natürlich gravierende     Prozent.                                ten werden an zwei Docks Hochsee-
ähnelt durchaus der Mecklenburgi-          wirtschaftliche Auswirkungen. Wäh-          Die westpommersche Situation         schiffe repariert und umgebaut. Im
schen Seenplatte. Die Woiwodschaft         rend die Arbeitslosenquote im stark      spiegelt die Lage in ganz Polen wi-     Swinemünder Handelshafen werden
an der Grenze zu Mecklenburg-Vor-          landwirtschaftlich geprägten Lan-        der. Etwa zwölf Prozent der Beschäf-    Kohle, Eisenerz und Stückgut umge-
                                                                                    tigten arbeiten in der Landwirtschaft   setzt. Und im hochmodernen Gazo-
Junge Angestellte in Stettin genießen bei ihrer Mittagspause die Aussicht           (EU-Durchschnitt 5 Prozent!) und die    port direkt an der Swinemündung
                                                                                    wird in Polen nach wie vor sehr ar-     wird seit 2015 flüssiges Gas aus arabi-
                                                                                    beitsintensiv betrieben. Das führt      schen Ländern angeliefert.
                                                                                    seit Jahren zum schleichenden Bank­        Westpommern ist seit 1995 Mit-
                                                                                    rott vieler polnischer Bauern. Die      glied der länderübergreifenden Eu-
                                                                                    meisten westpommerschen Bauern          roregion Pomerania. Das Ziel: Ge-
                                                                                    bearbeiten Parzellen, die kaum fünf     meinsame Programme und Investi-
                                                                                    Hektar groß sind. Vom ökologischen      tionen in Wirtschaft, Infrastruktur,
                                                                                    Standpunkt aus gesehen hat das na-      Bildung und Kultur sollen Polen und
                                                                                    türlich durchaus Vorteile: Es gab in    Deutsche einander näherbringen.
                                                                                    Polen keine Agrarkatastrophen wie       Von der grenzüberschreitenden Ent-
                                                                                    BSE und die Nutztiere werden durch-     wicklung mit einem nachhaltigen
                                                                                    weg artgerecht gehalten.                Natur- und Ökotourismus verspricht
                                                                                       Insgesamt liegt das polnische        sich vor allem die Kulturmetropole
                                                                                    Wirtschaftswachstum jedoch deut-        Stettin neue wirtschaftliche Impulse.
                                                                                    lich über dem EU-Durchschnitt.          Die Zukunftsvision heißt ganz selbst-
                                                                                                                            bewusst: Szczecin 2050 – floating gar-
                                                                                    Industrie & Natur                       den (£ Seite 49).
                                                                                    Die Industrie spielt in der nordwest-
                                                                                    lichsten Ecke Polens kaum eine Rol-
                                                                                    le. Eine überregionale Bedeutung
                                                                                    besitzt lediglich die Gryfia-Werft in

8                                                                                                                                                                9
Architektur

Architektur
Roter Backstein und Juwelen des Jugendstils
Die Odermetropole Stettin und ihr           Straßen und Alleen wurden binnen
Umland begeistern mit einer ar-             kurzer Zeit mit meist viergeschos-
chitektonischen Vielfalt, die von           sigen Wohnhäusern bebaut. Wie in
der mittelalterlichen Backstein-            Berlin wurden Vorderhäuser, Seiten-
gotik über die Bebauung der neu-            flügel und Quergebäude hochgezo-
en Innenstadt im Stil des His-              gen. So entstanden wie in der Reichs-
torismus bis zu spektakulären               hauptstadt enge, dunkle Hinterhöfe.
Neubauten reicht. In den nahen                 Viele Straßenzüge um den zentra-
Ostseebädern dominiert in den               len Plac Grunwaldzki herum besitzen
Kurvierteln die Bäderarchitektur.           fast lückenlos bis heute gründerzeitli-
                                            che Gebäude im Stil des Historismus.
Gotik, Renaissance & Barock                 Die­se Mietshäuser wurden in einer
Aus mittelalterlicher Zeit ist nicht viel   Art Massenproduktion schnell errich-
erhalten geblieben. In einigen west-        tet, die Räumlichkeiten waren in der
pommerschen Landstrichen lugen              Regel ohne jeglichen Komfort. Mus-        Jugendstil-Juwel: das Meeresmuseum in Stettin
noch spätgotische Kirchtürme aus            terkataloge mit Stuckaturen bedien-
den Dörfern und Ortschaften, back-          ten die neuen Hausbesitzer für die
steinrote Überbleibsel aus dem 14.          zeitgemäße Gestaltung der Hausfas-        lungen von Blumen- und Pflanzen-          Architektur nach 1989
und 15. Jahrhundert, als das Pommer-        saden. Neben diesen Mietskasernen         mustern sowie elegant geschwun-           Die aufwendige Rekonstruktion der
land schon längst christianisiert war.      entstanden in der Gründerzeit auch        gene Linien sollen den Fassaden und       im Krieg nahezu vollständig zer-
In Stettin sind vor allem drei spät-        Gebäude, die das neue bürgerliche         Räumen Rhythmus und Leben geben.          störten Altstadt war zu Beginn des
gotische Kirchen erhalten: St. Jako-        Selbstbewusstsein des neureichen                                                    20. Jahrhunderts die größte bauli-
bi, die Johanniskirche und St. Peter        Bürgertums und die Repräsentati-          Bäderarchitektur & Plattenbau             che Herausforderung der Stadt. Das
und Paul.                                   onsansprüche des Staates zur Schau        An der Küste, vor allem im Seebad Swi-    Großprojekt ist noch nicht abge-
   Das Stettiner Schloss aus dem            stellten. In Stettin beeindruckt bei-     nemünde auf Usedom, aber auch im          schlossen. Der spektakulärste Neu-
16. Jahrhundert ist ein Meisterwerk         spielsweise die heutige Post- und Te-     Seebad Misdroy auf Wollin, dominiert      bau Stettins ist aber eindeutig die
der Renaissance, im Stil der Frühre-        lekommunikationszentrale in der ul.       in den alten Kurvierteln des 19. Jahr-    neue Philharmonie. Sie entstand
naissance hat man das schmucke Bür-         Niepodległości im Stil der Neugotik,      hunderts weitgehend die sogenannte        2014 am heutigen Platz der Solidari-
gerhaus einer steinreichen Bankiers-        in der gleichen Straße das Gebäude        Bäderarchitektur. Wie der His­­torismus   tät direkt neben dem düster neugoti-
Familie gestaltet, das Loitzenhaus.         der PKO-Bank im Stil des Neobarock,       ist auch sie ein Stilgemisch. Charakte-   schen Polizeipräsidium. Die Architek-
   Aus dem frühen 18. Jahrhundert           das Regierungsgebäude der West-           ristisch sind Kombinationen von klas-     tur des modernsten Philharmonie-
und damit aus barocker Zeit stam-           pommerschen Woiwodschaft auf der          sischen Formen mit Jugendstilorna-        gebäudes Polens ist höchst originell,
men das Königstor und das Berliner          Hakenterrasse im Neorenaissancestil,      menten. Beliebt sind Loggien, Eck-        eigenwillig präsentiert sich das ex-
Tor.                                        das Rote Rathaus Stettins wiederum        türmchen und Erker aus Holz, meist        pressionistische Haus ohne Fenster
                                            im Stil der Neugotik.                     filigran gearbeitet und verziert.         und Schaufensterfront als strahlende
Historismus & Jugendstil                       Gegen diesen bis zur Jahrhundert-          Im krassen Gegensatz dazu stehen      Stadtkrone mit markanten, asymme-
Der vorherrschende Architekurstil           wende vorherrschenden Historismus         die architektonisch einfallslosen Plat-   trisch abfallenden Spitzen – kirsch-
der Gründerzeit war der His­torismus:       wandte sich ab 1895 eine neue Stil-       tenbaukomplexe aus der realsozia-         blütenweiß schimmernd am Tage,
Unter den reichen Dekorationen der          richtung, die auch in Stettin Fuß fass-   listischen Nachkriegszeit, die an den     bei Dunkelheit mit Hilfe tausender
Fassaden werden historische Muster          te – der Jugendstil. Das schönste in      Peripherien der Bäder, aber auch in       LEDs von innen strahlend. Die futu-
mit Bezug zur Renaissance, zum Ma-          der Stadt erhaltene Gebäude dieses        Stettin in die Höhe gebaut wurden,        ristische Architekturikone wurde mit
nierismus und Barock nachgeahmt.            Stils ist das Meeresmuseum auf der        um schnell und billig notwendigen         dem renommierten Mies-van-der-
Die neuen, sehr breit angelegten            Hakenterrasse. Großflächige Darstel-      Wohnraum zu schaffen.                     Rohe-Preis ausgezeichnet.

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Polnische Lebensart

Polnische Lebensart
Zwischen Tradition und neuer Freiheit                                                      Polnisch …
                                                                                           … gilt als die komplizierteste slawische Sprache. Für die deutsch-
Andere Länder, andere Sitten! Die            derte und noch bis in die Gegenwart           sprachige Zunge ist die polnische Aussprache ein Graus und gera-
polnischen Gotteshäuser sind al-             hinein ist die strenge Religiosität           dezu Schwerstarbeit. Man mag kaum glauben, dass einem irgend-
lerorten zur Sonntagsmesse bre-              und schier inbrünstige Frömmigkeit            wann das Kunststück gelingen könnte, grandiose Zungenbrecher
chend voll. Die katholische Kirche           der meisten Polen fast unverändert            wie w stizebrzeszynie chrząsz brzmi w tczcinie („In Szczebrzeszyn tönt
versorgt ihre Gläubigen mit einer            geblieben. In wohl keinem anderen             der Käfer im Schilfrohr“) verständlich über die Lippen zu bringen.
handfesten Lebensmoral. Doch                 christlich geprägten Land werden              Dazu kommt es bei den stark von Konsonanten und vielen Zischlau-
vor allem im Westen und Norden               so viele neue Kirchen gebaut. Und             ten geprägten Wörtern auf eine exakte Aussprache an, um sogleich
des Landes bröckeln die altherge-            wer am Sonntagmorgen im Lande                 verstanden zu werden. Auffallend ist der enorme Redeschwall der
brachten Werte zusehends.                    unterwegs ist, bemerkt sofort, dass           Polen, der in einem atemberaubenden Tempo vorgetragen wird.
Musik – von Folklore über Klassik            es trotzdem immer noch an Gottes-             Die Stimmen erreichen dabei – je nach Stimmungslage – für unse-
bis zu Pop und Jazz – ist nicht nur          häusern mangelt. Kaum eine Kirche,            re Ohren ungewohnte Tiefen, aber vor allem sensationelle Höhen.
ein fundamentaler Bestandteil                die zur Sonntagsmesse nicht von               (Etwas Polnisch für unterwegs £ Seite 191)
der polnischen Kultur. Man hat               Gläubigen überquillt, sodass zahlrei-
den Rhythmus im Blut, heißt es.              che draußen vor der Tür den Gottes-
                                             dienst verfolgen müssen.
Glaube &                                       Doch die Formel „Polnisch = ka-
traditionelle Werte                          tholisch“ hat in den letzten Jahren     Klerus versuche zu sehr, sich in die       Musik
In Sachen Glaube und Religion gibt           zumindest in der Praxis Risse erhal-    Tagespolitik und in die Privatsphä-        Polen haben den Jazz im Blut, sagt
es in Polen keine regionalen Unter-          ten. Nur noch rund ein Drittel der      re einzumischen. So demonstrierten         man. Polnische Jazzgrößen wie To-
schiede wie etwa in Deutschland: Un-         polnischen Katholiken hält sich kon-    in den letzten Jahren etwa Tausende        masz Stańko, Krzysztof Komeda,
sere Nachbarn sind zu rund 95 Pro-           sequent an die Glaubens- und Le-        Frauen gegen die rigorosen Abtrei-         Michał Urbaniak, Władysław Paw-
zent katholisch. Über die Jahrhun-           bensregeln der Kirche. Grund: Der       bungsgegner in Kirche und Staat.           lik und Urszula Dudziak sind weit
                                                                                        Die 2019 wiedergewählte Regie-          über die Grenzen Polens hinaus be-
                                                                                     rung der streng nationalkonserva-          rühmt. Der polnische Jazz gilt als be-
Gläubige vor überfüllter Kirche in Kolberg                                           tiven Partei Recht und Gerechtig-          sonders tief empfundener, fast spi-
                                                                                     keit (PiS) um ihren Vorsitzenden           ritueller Jazz. In den Kompositionen
                                                                                     Jarosław Kaczyński hat eine „antipol-      finden sich daher auch Anleihen bei
                                                                                     nische Verwestlichung“ in der Gesell-      sakraler Musik, aber auch bei Folklo-
                                                                                     schaft ausgemacht. Seit Beginn ihrer       re und Klezmer. Überall in Polen, auf
                                                                                     Alleinregierung im Jahr 2015 werden        Festivals ebenso wie in vielen Musik-
                                                                                     unter anderem die öffentlichen Me-         cafés und Tanzclubs trifft man auf die
                                                                                     dien stark kontrolliert. Mit schrillen     enorme Beliebtheit und Vitalität des
                                                                                     Tönen und antidemokratischen Ak-           Polski-Jazz. Natürlich auch in Stettin
                                                                                     tionen agieren sie gegen den „sitt-        und an der Küste. Und dazu wird ge-
                                                                                     lichen Verfall“ in Polen. Nun wollen       tanzt! Tanzen ist fast ein nationaler
                                                                                     sie wieder „christliche und nationale      Volkssport. Getanzt wird überall, wo
                                                                                     Werte“ in den Vordergrund rücken.          Musik erklingt. Also oft auch dort, wo
                                                                                     Religiös-ideologische Unterstützung        man gerade isst. Im Sommer werden
                                                                                     bekommen sie dabei von dem erz-            dann gerne die Terrassen der Restau-
                                                                                     konservativen katholischen Privat-         rants, Pubs und Strandbars (nicht sel-
                                                                                     sender Radio Maryja.                       ten spontan) zu Dancefloors.

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Stettin (Szczecin)                                                                  Karte £ Umschlagklappe vorn                    Spaziergang durch Stettin

Spaziergang durch                        um 1240 aus Westfalen nach Stettin
                                         gekommen waren. Nach der Refor-
Stettins Innenstadt                      mation wurde das gotische Gottes-
                                         haus protestantische Gemeindekir-
Der Stadtspaziergänger kann sich         che. Die Franzosen nutzten es wäh-
an den roten Farbstrichen auf            rend ihrer Herrschaft über die Stadt
dem Pflaster orientieren: Die so-        (1806–1813) als Getreidespeicher. Au-
genannte Rote Route beginnt              ßen beeindruckt die mit Fialen be-
und endet am Hauptbahnhof und            krönte Giebelfassade, drinnen sind
führt die Touristen zu allen histo-      noch die Barockorgel aus dem späten
rischen Sehenswürdigkeiten der           18. Jahrhundert und Freskenfragmen-
Stadt, nummeriert von 1 bis 42.          te aus der Ursprungszeit erhalten.
                                            Nahe der Kirche – an der ul. Pod-
Der eingefärbte Touristikweg ist         górna – kann man noch (stark ver-
knapp sieben Kilometer lang und          witterte) Reste der mittelalterlichen
dauert ohne Museen- und Kirchen-         Stadtmauer aus dem 13./14. Jahrhun-
besichtigungen circa 3 bis 4 Stunden.    dert sehen.
   Übersichtskarten, auf denen die
komplette Rote Route verzeichnet         Lange Brücke (Most Długi)          6       Rekonstruierte Barockfassaden am ehemaligen Heumarkt
ist, gibt es kostenlos am Bahnhof und    Die viel befahrene Brücke wur-
an den Touris­teninformationsstellen.    de 1959 erbaut. Zuvor überquer-
   Auch wir orientieren uns bei un-      te hier die am Ende des Krieges von        św. Trójcy) die Vorstadt Lastadie. Das   vielen Pubs und Restaurants auf der
serer Vorstellung der Sehenswürdig-      SS-Schergen gesprengte Hansabrü-           Gotteshaus aus dem Jahre 1897 dient      anderen Platzseite. Krasser lässt sich
keiten an dieser Tour. Da uns aber       cke die Oder. Aber schon Ende des          heute der deutschen evangelischen        kaum ein architektonischer Kontrast
der Weg durch die Stadt nicht durch-     12. Jahrhunderts gab es an dieser          Gemeinde.                                vorstellen. Die Rekonstruierungsar-
weg interessant erscheint, haben wir     Stelle einen hölzernen Flussüber-                                                   beiten sind noch nicht abgeschlos-
die schönsten und sehenswertesten        gang, natürlich viel niedriger als heu-    Altes Rathaus am Heumarkt                sen, irgendwann soll auch die Plat-
Highlights rausgepickt.                  te. Zum Ärger der Kaufleute, die auf       (Rynek Sienny) 7                         tenfront Schönerem weichen. Der
                                         dem Wasserwege von weither ka-             An der breiten ul. Kardynała             Heumarkt mit seinen neuen Altstadt-
Los geht's am Hauptbahnhof         1     men und mit ihren großen Schif-            Wyszyńskiego, wo zahlreiche Kios-        häusern zählt gewiss zu den schöns-
Der renovierte Stettiner Hauptbahn-      fen nicht unter der Brücke durchfah-       ke und Imbissbuden stehen und die        ten Plätzen Stettins!
hof (Szczecin Główny), zu großen Tei-    ren konnten. So mussten sie ihre Wa-       städtischen Trambahnen in fast alle         Ins mittelalterliche Gewölbe des
len in den 1950er-Jahren erbaut, liegt   ren notgedrungen den Händlern der          Richtungen abfahren, biegt die klei-     Rathauskellers, einst Gefängnis und
am südwestlichen Rande der Neu-          Stadt verkaufen, denen die Brücke          ne ul. Mściwoja rechts ab zum ehe-       später Weindepot, ist eine Famili-
stadt. Das Innere schmückt eine gro-     einträgliche Geschäfte brachte.            maligen Heumarkt (Rynek Sienny)          enbrauerei (£ Seite 81) eingezogen.
ße Landkarte Pommerns. Unter dem            Auf der gegenüberliegenden Sei-         und zum gleich dahinter liegenden        Oben ist im einstigen Ratsherrensitz
Bahnhof ist seit 2008 der ausgedehn-     te der Brücke breitet sich das Ha-         Neuen Markt (Rynek Nowe). Er ent-        das interessante Stadtmuseum (Mu-
te Untergrund Stettins zu besichti-      fengebiet mit der Insel Lastadie           stand 1811 an der Stelle der abge-       zeum Miasta) untergebracht (£ Sei-
gen, mit Führungen durch den riesi-      (Łasztownia) aus. Das östliche Ha-         brannten gotischen Nikolaikirche. In     te 77). Unter Glas liegen da die Sie-
gen, unterirdischen Luftschutzbunker     fenbecken, Basen Wschodni, entstand        der Mitte – zwischen beiden Markt-       gel der Pommernherzöge, die das
des Zweiten Weltkriegs (£ Seite 87).     in den 1890er-Jahren, als hier ein Frei-   plätzen – steht das historische Al-      Fabelwesen Greif ziert. Das vierfüßi-
                                         hafenbezirk war.                           te Rathaus aus dem 14./15. Jahr-         ge Flügeltier mit Löwenrumpf und
Johanniskirche (Kościół św.                 Das große, ufernahe Gebäude des         hundert, umgeben von tristen             Adlerkopf findet sich heute noch im
Jana Ewangelisty) 5                      ehemaligen Zollamtes wurde 1907            – mittlerweile zumindest frisch ge-      Stadtwappen von Szczecin. Der Rit-
Die dreischiffige Kirche mit kleinem     im Neorenaissancestil erbaut. Mit sei-     tünchten – niedrigen Plattenbauten       ter Zelisław, so weiß die Sage zu be-
Dachreiter nebst Glocke errichteten      nen 64 Metern überragt der Turm der        auf der einen und von wunderschön        richten, entdeckte einen Greif, der
Mönche des Franziskanerordens, die       neugotischen Gertrud-Kirche (Kośc.         rekonstruierten Barockhäusern mit        in seinem Horst auf einer alten Eiche

50                                                                                                                                                              51
Stettin (Szczecin)                                                                Karte £ Umschlagklappe vorn                     Spaziergang durch Stettin

goldene Eier ausbrütete. Von Stund        Haus mit seinem charakteristischen      morskich). Das sehr stattliche Ge-
an, so bestimmte es der Herzog, war       spiralenförmigen Stiegenhaus und        bäude besitzt eine bewegte Bauge-
der Vogel Greif das Wappentier sei-       schönem Maßwerk in den Besitz der       schichte. Im Jahre 1346/47 entsteht
ner herrschaftlichen Familie.             Schweizer Brüder Dubendorf über,        an der Stelle eines heidnischen Tem-
                                          die dort eine Gaststätte einrichte-     pels zu Ehren des dreiköpfigen Sla-
Loitzenhaus                               ten. Nach erheblichen Kriegsschäden     wengottes Triglaw ein „Steinhaus“.
(Kamienica Loitza)      8                 wurde auch dieses Haus wieder auf-      Der Ausbau zum herrschaftlichen
In der ul. Kurkowa unterhalb des          gebaut. Es ist heute Sitz des Lyzeums   Schloss erfolgt erst ab 1474 unter
Schlosses steht das frisch herausge-      der Bildenden Künste.                   dem berühmtesten aller Greifenher-
putzte ockergelbe Gebäude. Es ist                                                 zöge, Bogislaw X., der das geteilte
sicherlich eines der schönsten Bür-       Schloss der                             Pommern wieder vereinigen kann.
gerhäuser Stettins. Die steinreiche       Pommernherzöge            9             Stettin wird zur Hauptstadt. Er hei-
Kaufmannsfamilie Loitz (£ Seite 56),      Auf dem Schlossberg, ursprüng-          ratet Anna Jagiellonka, die Toch-
Hausbankiers der Jagiellonen-Köni-        lich zu slawischer Zeit Triglaw-Hü-     ter des polnischen Königs Kasimir
ge, ließ sich das schmucke Gebäude        gel genannt, thront das einstige Re-    Jagiellończyk. Die Hochzeit muss die
1547 im Stil der Frührenaissance er-      sidenzschloss der Pommern- und          üppigste Party gewesen sein, die je
bauen. Im 18. Jahrhundert ging das        Greifenherzöge (Zamek Książąt Po-       im Schloss gefeiert wurde. Während
                                                                                  der Regierungszeit von Bogislaw X.
                                                                                  entsteht der Südflügel, das so ge-
Blick vom Turm der St. Jakobikirche auf das schneeweiße Schloss und die Oder
                                                                                  nannte Große Haus.
                                                                                     In den 70er-Jahren des 16. Jahr-
                                                                                  hunderts lässt Herzog Jan Fryderyk
                                                                                  die Burg schließlich in eine Schloss­    Astronomische Uhr des Südflügels
                                                                                  anlage im Renaissancestil umwan-
                                                                                  deln. Als Baumeister holt er den Ita-       Nach gezielten Bombenangrif-
                                                                                  liener Guglielmo di Zaccaria. Doch       fen im Kriegsjahr 1944 – das Schloss
                                                                                  nur wenige Jahrzehnte später, im         wird als Kaserne und Flakstellung ge-
                                                                                  Jahre 1637, stirbt mit dem völlig ver-   nutzt – bleibt nur eine traurige Ruine.
                                                                                  armten Bogislaw XIV. das Greifenge-      Der teure und schwierige Wiederauf-
                                                                                  schlecht aus.                            bau der fünf Gebäudeflügel mit drei
                                                                                     Von nun an geht es mit dem groß-      Türmen und zwei Innenhöfen beginnt
                                                                                  artigen Renaissance-Bauwerk berg-        1958 und ist erst 1982 abgeschlossen.
                                                                                  ab. Kriege, Belagerungen, Verfall und    Die polnischen Denkmalpfleger be-
                                                                                  dilettantische Umbauten verschan-        seitigen die preußischen „Zutaten“
                                                                                  deln das einheitliche Erscheinungs-      aus dem 18. und 19. Jahrhundert und
                                                                                  bild und vernichten wertvolle Bau-       verwenden stattdessen wieder Stil-
                                                                                  elemente. Die Preußen funktionieren      elemente der Renaissance, wie sie auf
                                                                                  1729 den Südflügel zum Arsenal um.       alten Ansichten noch erkennbar sind.
                                                                                  Ein prachtvoller gotischer Ziergiebel       Während archäologischer Ausgra-
                                                                                  wird dabei kurzerhand durch ein ein-     bungen stößt man auf Fundamente
                                                                                  faches Mansardendach ersetzt. Ins        früherer Bauwerke am Schlosshügel.
                                                                                  Schloss zieht danach der Chef der        Wenn man den Blick auf das Kopf-
                                                                                  Stettiner Garnison, der blaublüti-       steinpflaster im großen Innenhof
                                                                                  ge General von Anhalt-Zerbst. Seine      richtet, sieht man auf dem Boden die
                                                                                  Tochter, die Prinzessin Sophia Augus-    Mauerumrisse der ehemaligen goti-
                                                                                  ta, wird später zur mächtigen russi-     schen Kapelle und des „Steinhauses“
                                                                                  schen Zarin Katharina II.                aus dem 14. Jahrhundert.

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Stettin (Szczecin)                                                                   Karte £ Umschlagklappe vorn                  Spaziergang durch Stettin

                                                                                     Der Nordflügel
                                                                                     Hier dient der repräsentative und mit
                                                                                     einer klangvollen Orgel ausgestattete
                                                                                     Boguslaw-Saal, die frühere Schloss-
                                                                                     kapelle, vielfältigen Veranstaltungen.
                                                                                     Die neue Dachterrasse auf dem Nord-
                                                                                     flügel bietet einen herrlichen Pano-
                                                                                     ramablick auf das Hafengelände und
                                                                                     die Innenstadt. Sie soll in den Som-
                                                                                     mermonaten auch als Konzertterras-
                                                                                     se genutzt werden. In der ehemali-
                                                                                     gen Krypta – 1654 zugemauert – tritt
                                                                                     das moderne Krypta-Theater (Teatr
                                                                                     Krypta) auf. Besuchenswert ist auch
                                                                                     die Galerie im Nordflügel.
                                                                                        Wer die Stadt und das Stettiner
                                                                                     Umland aus der Vogelperspektive
                                                                                     bewundern will, kann den 35 Me-               Alfred Döblin
                                                                                     ter hohen Glockenturm des Schlos-
                                                                                     ses erklimmen. Von der Aussichts-        Alfred Döblin (1878–1957),
Ort vieler Kulturveranstaltungen: der Schlosshof                                     plattform blickt man weit über die       Schriftsteller und Psychiater.
                                                                                     Altstadt und bis zum Oderhaff so-        Er gehört 1910 zu den Grün-
                                                                                     wie auf das sogenannte Quartier          dern der expressionistischen
Der Südflügel                              Der Ostflügel                             an der Bastei (Kwartał przy Baszcie).    Zeitschrift „Der Sturm“.
Er ist der älteste und wirkungsvollste     Hier ist im Gewölbe des Kellers das       An einem der neuen Häuser, schmal
Teil des Schlosses. Die Fassade ist mit    Schlossmuseum eingezogen. Es be-          wie ein Handtuch, marineblau ge-         Sein schriftstellerisches Haupt-
Renaissanceschmuckgiebeln verziert.        sitzt drei Räume: Links vom Eingang       tüncht und mit der Hausnummer 16         werk ist der naturalis­tische Ro-
   Die Hofseite des Flügels wird vom       stehen sechs mit filigraner Orna-         versehen, erinnert eine Gedenktafel      man Berlin Alexan­derplatz (1929),
Uhrturm unterbrochen. Sofort ins           mentik ausgestattete Zinn-Sarko-          an den Schriftsteller und Arzt Alfred    die Geschichte des Transport-
Auge springt das farbenfrohe baro-         phage aus der Renaissance. Sie wur-       Döblin, der hier 1878 in einem der       arbeiters Franz Biberkopf. In
cke Ziffernblatt der bemerkenswer-         den 1946 zusammen mit acht wei-           früheren Gebäude geboren wurde.          Die Vertreibung der Gespenster
ten und originellen astronomischen         teren Särgen der Greifendynastie in          Leider sind sowohl der Nordflügel     schreibt Döblin autobiografisch:
Uhr, die 1693 von Johann Friedrich         der Krypta unter der Schlosskapel-        als auch der Glockenturm aufgrund        „In Stettin an der Oder lebte ein-
Eosander entworfen und vom pom-            le entdeckt. Etwas tiefer liegen die      von Baumaßnahmen bis auf Weiteres        mal mein Vater. Der hieß Max
merschen Uhrmachermeister Kas-             beiden anderen Räume. Im mittle-          nicht zugänglich. Das Foucault'sche      Döblin und war seines Zeichens
par Ritardy gefertigt wurde – ein Ge-      ren ist die interessante Dauerausstel-    Pendel, das früher das Innere des        ein Kaufmann … Dieser Mann
schenk der Schweden an die Stadt           lung zur Schlossgeschichte unterge-       Glockenturms schmückte, befin-           war verheiratet und hatte es
Stettin für ihre treuen Dienste im         bracht (£ Seite 77). Zu sehen sind alte   det sich jetzt in der St. Jakobikirche   im Laufe der Jahre, wenn auch
Krieg mit den Brandenburgern. Beim         Fotos, Stiche, Schlossmodelle, Pläne      (£ Seite 64).                            nicht zu Geld, so doch zu fünf
genaueren Hinsehen lassen sich auf         und vieles mehr (alle Exponate sind                                                Kindern gebracht. Auch ich war
dem Ziffernblatt interessante Details      deutsch untertitelt). Der dritte Saal,    Der Münzflügel                           darunter. Er war mit vielen Nei-
ausmachen: Die Augen des Maska-            die Gotische Galerie, dient Zeitaus-      Der Münzflügel am kleinen Hof, dem       gungen und Begabungen ge-
rons auf dem Ziffernblatt folgen den       stellungen. Ebenfalls im Ostflügel be-    sogenannten Münzhof gegenüber            segnet, und man kann wohl sa-
Uhrzeigern, der Mund zeigt das Da-         finden sich seit 1978 die renommier-      dem Westflügel, ist Sitz des Mar-        gen: was ihm seine Begabungen
tum. Die dunkelblau-goldene Kugel          te Schlossoper und die Operette so-       schallamtes und des Informations-        einbrachten, nahmen ihm seine
gibt die Mondphasen an. Der Narr           wie ein Kino.                             zentrums für Kultur- und Touristik-      Neigungen wieder weg.“
schlägt Viertel- und volle Stunden.                                                  veranstaltungen (£ Seite 78).

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Stettin (Szczecin)                                                                  Aufstieg und Fall der Familie Loitz

           Aufstieg und Fall der Familie Loitz

     Als wär's ein Lehrstück von heute: Durch kluge Schachzüge schafft
     es die Familie Loitz innerhalb weniger Jahre ganz nach oben in der
     Stettiner Gesellschaft – doch der Erfolg ist nicht von Dauer. Mit Hans
     Loitz nimmt die furiose und kuriose Familiengeschichte 1433 ihren
     Anfang.

     Verdient Hans noch ganz bodenständig als Fischhändler seinen Lebensun-
     terhalt, erklimmt bereits sein Sohn Michael die höheren Sphären der Stet-
     tiner Gesellschaft, indem er eine lukrative „Vernunftehe“ mit einer reichen
     Witwe eingeht. 1484 wird Michael Ratsherr und Bürgermeister von Stettin.
     Als Geschäftsmann beteiligt er sich profitabel an einer dänischen Witte, al-
     so an einer Niederlassung der Hansestadt, in der die reichen Fischhändler
     ihre Heringsfänge billigst ausweiden, einsalzen und auf ihre Schiffe laden
     lassen, um sie fix und fertig und mit hohem Gewinn auf dem großen Fisch-
     markt zu Stettin zu verhökern.
        Michaels Sohn Hans II. Loitz wird ebenfalls Stettiner Bürgermeister. Dar-
     über hinaus internationalisiert er die Geschäfte seines Vaters und steigt in
     das Salzgeschäft ein. Wo man Heringe transportiert, braucht man schließ-
     lich auch Salz. Unter dem zweiten Hans prosperiert die Loitz-Firma zu ei-
     nem europaweit tätigen Konzern, dem mittlerweile ein eigenes Bankhaus
     angeschlossen ist. Systematisch werden durch Heiraten seiner drei Söhne
     neue Dependancen des Unternehmens gegründet: Michael II. Loitz ver-
     mählt sich in der Hafenstadt Danzig, um die Geschäfte mit Polen auszuwei-
     ten, Stephan Loitz ehelicht eine der reichsten Lüneburger Salzwitwen. Die
     „Fugger des Nordens“ besitzen nun eine eigene Handelsflotte, ihr erklärtes
     Ziel ist das Salzmonopol in Mitteleuropa.
        Längst sind Patrizier, aber auch die pommerschen Herzöge, der bran-
     denburgische Kurfürst und selbst der polnische König Schuldner der Loitz-
     bank, nicht zuletzt weil die teuren Kriege dieser Herren finanziert werden
     müssen.
        Einen ersten Rückschlag erleiden die Salzgeschäfte, als Dänemark den
     Salztransport durch die Belte mit hohen Zöllen belegt. Zur Katastrophe und
     zum jähen Kollaps ihres Handelsimperiums kommt es, als sich 1572 der ge-
     rade inthronisierte polnische König Batory weigert, für die Großkredite sei-
     nes Vorgängers Sigismund II. nach dessen Ableben aufzukommen. Wie ei-
     ne riesige Seifenblase platzt das aufgeblähte mitteleuropäische Kreditsys-
     tem. Der Bankrott ist unwiderruflich, die Familie flieht nach Krakau, um der
     Verhaftung zu entgehen.

                             Herausgeputzte Frührenaissance – das Loitzenhaus 8

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