Technologischer Opti-mismus reicht nicht - Lehren aus dem internationalen Kampf gegen die Cholera im 19. Jahrhundert

Die Seite wird erstellt Hertha Bayer
 
WEITER LESEN
Technologischer Opti-mismus reicht nicht - Lehren aus dem internationalen Kampf gegen die Cholera im 19. Jahrhundert
Technologischer Opti-
mismus reicht nicht
Lehren aus dem internationalen Kampf gegen
die Cholera im 19. Jahrhundert

Warum war der Suezkanal eine wichtige Verteidigungslinie gegen das
Voranschreiten der Cholera im 19. Jahrhundert? In der historischen
Betrachtung zeigt sich, dass das nicht nur mit epidemiologischen Er-
wägungen zu tun hatte, sondern auch mit kolonialen Konkurrenzen
zwischen den europäischen Staaten. Der Ökonom und Politikwissen-
schaftler Luis Aue analysiert die Beschlüsse der internationalen Sani-
tärkonferenz von Venedig im Jahr 1892, ein Meilenstein auf dem Weg
zu einer global abgestimmten Gesundheitspolitik. Aus damaligen Feh-
lern lassen sich heute noch Schlüsse für eine effektive globale Gesund-
heitspolitik ziehen.

                                            Luis Aue

N
       ach zwei Jahren globaler Covid-19-Pan-     Ein Rückblick in die zweite Hälfte des 19. Jahr-
       demie befindet sich die internationale     hunderts zeigt, dass internationale Kooperatio-
       Gesundheitspolitik in einer nahezu pa-     nen schon einmal zentral in der Bekämpfung
radoxen Situation: Auf der einen Seite wird       globaler Pandemien waren. Cholera-Pandemien
die Notwendigkeit internationaler Kooperati-      zogen im 19. Jahrhundert in immer neuen Wel-
on beschworen, sogar ein neues internationa-      len durch die Welt. Der „blaue Tod“ führte zu
les Vertragswerk zur Bekämpfung von Pande-        plötzlichen, von Krämpfen und massiven Aus-
mien ist in der Diskussion. Die globale Pande-    scheidungen begleiteten und damit besonders
mie legt ein internationales Vorgehen nahe,       schockierenden Todesfällen. Seit 1851 tagten
da neue lokale Virus-Varianten potenziell die     internationale Sanitärkonferenzen, um Chole-
gesamte Weltbevölkerung gefährden. Auf der        ra-Pandemien auch staatsübergreifend zu be-
anderen Seite werden die bestehenden Me-          kämpfen. Erst bei der Konferenz von Venedig
chanismen internationaler Gesundheitsko-          1892 kam es allerdings zu einer Übereinkunft.
operation untergraben: Die Zusagen zur Be-        Hier beschlossen die europäischen Delegierten
reitstellung von Impfstoff zur globalen Um-       – ausschließlich Europäer waren stimmberech-
verteilung im Rahmen der internationalen          tigt und ausschließlich Männer anwesend –
COVAX-Initiative werden nicht erfüllt. Auch       eine desinfizierende Barriere am Suezkanal zu
die internationalen Regularien zu Grenz-          errichten, um die Übertragung von Chole-
schließungen werden seit Beginn der Pande-        ra-Bakterien aus Indien nach Europa zu ver-
mie nicht eingehalten.                            hindern. Die Konferenz verabschiedete Regula-

                                                                                                     Titelthema45
Technologischer Opti-mismus reicht nicht - Lehren aus dem internationalen Kampf gegen die Cholera im 19. Jahrhundert
rien zum Umgang mit Schiffen aus von Cholera         ein Menetekel: Die Bedeutung zwischenstaatli-
                betroffenen Gegenden. Sanitärstationen wur-          cher Machtpolitik auch für augenscheinlich
                den eingerichtet zur Desinfektion von Mann-          neutrale Expertendiskussionen ist nicht zu un-
                schaften, Passagieren und Schiffen.                  terschätzen. Machtpolitische Erwägungen und
                                                                     Kompromisse können die Funktionalität inter-
                Ob diese Interventionen ein Erfolg waren, ist        nationaler Übereinkünfte massiv beeinträchti-
                zweifelhaft. Auf jeden Fall aber prägten sie die     gen. Die in Venedig versammelten Delegierten
                internationale Gesundheitspolitik dauerhaft. So      sahen sich den Erkenntnissen der Bakteriologie
                bauten die noch heute bestehenden internatio-        verpflichtet, viele waren Medizinprofessoren.
                nalen Gesundheitsinstitutionen sukzessive auf        Dennoch zeigt ein Blick in die Protokolle, wie
                den Beschlüssen der Konferenz von Venedig            prägend machtpolitische Erwägungen für ihre
                                                                     Diskussionen und Ergebnisse waren. Die gegen-
                                                                     wärtigen Gespräche in Gremien der Welthan-
                           „Die heutigen inter­                      delsorganisation zu Lockerungen im Patent-
                        nationalen Gesundheits-                      schutz für Impfstoffe werden von Deutschland
                        institutionen bauen auf                      blockiert. Möglicherweise beeinflusst auch hier
                                                                     zwischenstaatliche Machtpolitik die deutsche
                           den Beschlüssen der                       Positionierung wesentlich: Deutschlands ehe-
                         ­Konferenz von Venedig                      malige Bundesregierung sah sich im Hinblick
                                                                     auf die mRNA-Technologie im globalen Wettbe-
                                1892 auf.“                           werbsvorteil, den es zu bewahren gelte. Venedig
                                                                     lehrt uns hingegen, zwischenstaatliche Macht-
                auf. Von heute aus betrachtet zeigen diese Be-       politik kritisch zu begleiten: Sie kann dazu füh-
                schlüsse einige problematische Seiten. Doch          ren, dass internationale Vereinbarungen nicht
                vielleicht bieten gerade diese Schattenseiten        den eigenen Ansprüchen gerecht werden.
                Ansatzpunkte, darüber zu reflektieren, welche
                alten Pfade gegenwärtige Reformbemühungen            Zweitens zeigt die Konferenz von Venedig, wie
                verlassen sollten.                                   sich rassistische und koloniale Strukturen in
                                                                     internationalen Gesundheitsregulierungen nie-
                Erstens wurden die Ergebnisse von Venedig            derschlagen. So etablierte die Konferenz von
                wesentlich durch zwischenstaatliche Machtpo-         Venedig unterschiedliche Regularien und Maß-
                litik beeinflusst. Das zeigt etwa der Fokus auf      nahmen für muslimische Reisende, die durch
                den Suezkanal: Dieser verband Großbritannien         den Suezkanal nach Mekka fuhren. Für sie
                mit den kolonisierten Gebieten in Südasien.          wurden getrennte Sanitärstationen errichtet.
                Und so versteiften sich gerade die europäi-          Während nicht muslimische Reisende durch die
                schen Rivalen des britischen Königreichs im          neuen Regulierungen unbeschwerter reisen
                kolonialen Wettstreit auf den Suezkanal als Ziel
                von Interventionen. Frankreich und Öster-
                reich-Ungarn legten Vorschläge für ein Ver-
                tragswerk vor, das primär den Suezkanal be-
                traf – obwohl bereits bekannt war, dass der
                Suezkanal nicht das einzige Einfallstor für die
                Cholera war. Reisebeschränkungen verspra-
                chen eben primär die englische Wirtschafts-
                macht zu treffen. Gleichzeitig führte dieser
                machtpolitische Konflikt dazu, dass die engli-
                schen Delegierten es als ihre primäre Aufgabe
                sahen, die Regulierungen zu lockern. Mit jeder
                Verhandlungsrunde wurden die Vorschriften
                laxer. So galten für englische Militärschiffe bei-
                spielsweise weitreichende Ausnahmen, die das
                Vertragswerk nahezu ad absurdum führten.             Luis Aue ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der
                Militärisch genutzte Schiffe konnten auch mit        Forschungsgruppe Globale humanitäre Medizin. Zu
                Cholera an Bord den Kanal passieren.                 seinen Forschungsinteressen gehören unter an-
                                                                     derem die globale Gesundheits- sowie die trans-
                Für die gegenwärtigen Diskussionen ist die Kon-      nationale Wohlfahrtspolitik. luis.aue@wzb.eu
                ferenz von Venedig an diesem Punkt geradezu          Foto: © WZB/privat, alle Rechte vorbehalten.

46    | Mitteilungen
Endlich wieder Halloween nach einem Jahr Corona-
                                                                        pause. In Greenwich Village, New York City, hat sich
                                                                        im Oktober 2021 ein Mann als Pestarzt verkleidet.
                                                                        Bedrohliche Pandemien gab es in der Menschheits-
                                                                        geschichte immer wieder. Lernt die Weltgemeinschaft
                                                                        damit umzugehen?
                                                                        Foto: Ed Lefkowicz/VWPics/Redux/laif,
                                                                        alle Rechte vorbehalten

sollten, waren muslimische Reisende nach wie        derholen, bedeutet, bei diesen anstehenden
vor von generalisierenden Quarantänebestim-         Überarbeitungen neokolonialen Mobilitätsregi-
mungen betroffen. Die ägyptische Delegation         men entgegenzuwirken.
protestierte heftig gegen die Entscheidungen,
da eine Sanitärstation auf ägyptischem Boden        Drittens zeigt die Konferenz von Venedig einen
errichtet und ägyptische Regierungsbehörden         ausgeprägten technologischen Optimismus. Die
unter die Kontrolle „internationaler“ – sprich      Experten waren davon überzeugt, mit techni-
europäischer – Experten gestellt wurden. Die-       schen Sofortlösungen wie Desinfektionsappa-
ser Protest blieb allerdings folgenlos, da Ägyp-    raten die Übertragung von Cholera nach Euro-
ten sich zum Zeitpunkt der Konferenz schon in       pa verhindern zu können. Die Bakteriologie
weitgehender finanzieller Abhängigkeit von          mache es möglich, Cholerakeime einfach und
europäischen Staaten befand.                        schnell zu töten. Dabei entsprach dieses Selbst-
                                                    bewusstsein kaum den technischen Möglich-
In der gegenwärtigen Covid-19-Politik drohen        keiten. Schon wenige Jahre später klagte der
sich diese kolonialen Mobilitätsregime zu re-       europäische Leiter der ägyptischen Sanitärsta-
produzieren. Eine vollständige Impfung wird         tionen, dass Desinfektion einer großen Masse
vermehrt unilateral zur Einreisebedingung er-       von Reisenden technisch schlicht nicht durch-
klärt. Gleichzeitig hat ein großer Anteil der Be-   führbar sei.
völkerung des globalen Südens keinen Zugang
zu Impfstoffen – jedenfalls zu Impfstoffen, die     In meiner Dissertation bin ich besonders die-
als gleichwertig mit europäisch-amerikani-          sem Fokus auf technische Sofortlösungen
schen anerkannt werden. Reisefreiheit droht         nachgegangen. Im Rahmen historischer Fall-
noch mehr ein Privileg ehemaliger Kolonial-         studien habe ich gezeigt, wie auch nach der
mächte zu werden. Gegenwärtig wird eine Re-         Konferenz von Venedig die internationale Ge-
form der internationalen Gesundheitsvor-            sundheitspolitik von einem überraschenden
schriften diskutiert, die Möglichkeiten von         technologischen Optimismus gekennzeichnet
Grenzschließungen im Falle von Pandemien re-        war. Ich argumentiere, dass internationale Ge-
gulieren. Die Fehler von Venedig nicht zu wie-      sundheitsexpertise auf technische Sofortlösun-

                                                                                                            Titelthema    47
gen setzt, weil sich diese in einem Klima politi-             zungen der Public-Health-Forschung bis zum
                scher Unbeständigkeit gut durchsetzen lassen.                 heutigen Tag weltweit ein bis vier Millionen
                Die Delegierten in Venedig wurden in ihrer                    Menschen jährlich.
                Kompetenz, ihrer Finanzierung und ihrer Legi-
                timität grundsätzlich hinterfragt: Ist national-              Es gilt also auch in der gegenwärtigen inter-
                staatliche Gesundheitspolitik nicht doch aus-                 nationalen Gesundheitspolitik, über technolo-
                                                                              gische Sofortlösungen hinauszudenken. Die
                                                                              Aufmerksamkeit der internationalen Gesund-
                        „Technische Sofortlösun-                              heitspolitik liegt derzeit primär auf der Ver-
                         gen suggerieren Hand-                                teilung von Impfstoffen und anderen Techno-
                                                                              logien (der entsprechende globale Aktions-
                           lungsfähigkeit trotz                               plan trägt den Titel „Access to COVID-19 Tools
                         schwieriger politischer                              Accelerator“). Eine globale Verfügbarkeit von
                                                                              Technologien wie Impfstoffen ist fundamental
                               Umstände.“                                     für die Bekämpfung der Pandemie. Gleichzei-
                                                                              tig wird immer deutlicher, dass es für eine
                reichend? Sollen wirklich Steuergelder an den                 wirksame Bekämpfung von Covid-19 mehr
                Suezkanal fließen? In diesem Kontext konnten                  braucht als verfügbaren Impfstoff. Es braucht
                sich die technischen Sofortlösungen einfacher                 Gesundheitspersonal, das medizinische Inter-
                durchsetzen, weil diese trotz schwieriger poli-               vention nicht nur durchführen kann, sondern
                tischer Umstände Handlungsfähigkeit sugge-                    auch einordnet und Vertrauen schafft. Die Ge-
                rierten. So war die Installation eines Desinfek-              sundheitsinfrastruktur muss gepflegt, ausge-
                tionsregimes unter internationaler Führung                    baut und erhalten bleiben. Solche Forderun-
                durchführbar – auch ohne stabile Autorität der                gen nach umfassenderer Stärkung von Ge-
                internationalen Gesundheitspolitik.                           sundheitssystemen werden wiederholt in den
                                                                              Gremien der Weltgesundheitsorganisation
                Der Fokus auf technologische Sofortlösungen                   vorgebracht, führen aber nur begrenzt zu
                war also politisch opportun; er hatte nur einen               konkreten Programmen.
                großen Haken: Oftmals lassen sich Gesund-
                heitsprobleme nicht mit einfachen technologi-                 Um über begrenzt zugängliche technische So-
                schen Maßnahmen dauerhaft wirksam be-                         fortlösungen hinauszukommen, muss die Auto-
                kämpfen. Für die Bekämpfung der Cholera wa-                   rität der internationalen Gesundheitsinstitutio-
                ren nicht die Beschlüsse von Venedig                          nen gestärkt werden. Nur eine unabhängige
                maßgeblich, sondern der Bau von Wasser- und                   und stark legitimierte internationale Zusam-
                Sanitärinfrastruktur in urbanen Zentren im                    menarbeit in Gesundheitsfragen kann es sich
                späten neunzehnten Jahrhundert. Wo solche In-                 erlauben, die dicken Bretter der Gesundheits-
                frastrukturmaßnahmen fehlen, sterben immer                    politik zu bohren.
                noch Menschen an der Cholera – nach Schät-

                 Literatur

                Howard-Jones, Norman: The Scientific Back-                    and Beyond, 1869-1914. Cambridge University
                ground of the International Sanitary Confe-                   Press 2013.
                rences, 1851-1938. Genf: World Health Organi-
                zation 1975.                                                  White, Alexandre I R: „Historical Linkages: Epi-
                                                                              demic Threat, Economic Risk, and Xenophobia“.
                Huber, Valeska: Channelling Mobilities: Migrati-              In: The Lancet, 2020, Jg. 395, H. 10232, S. 1250-
                on and Globalisation in the Suez Canal Region                 1251.

                    Der Text ist gemäß der Creative-Commons-Lizenz CC BY 4.0 nachnutzbar: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

48    | Mitteilungen
Sie können auch lesen