Identität und Persistenz - Der philosophiehistorische Hintergrund Allgemeines zur Veranstaltung

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Identität und Persistenz

                                                      Teil I

                                         Der
                                philosophiehistorische
                                     Hintergrund

           Allgemeines zur Veranstaltung 1

Webseite des Seminars:

http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/philo/persistenz.htm

          I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                                                                    1
Allgemeines zur Veranstaltung 2

Auf der Webseite des Seminars erhalten Sie
a) den Syllabus mit den jeweiligen
   Textstellen,
b) eine Literaturliste mit zusätzlichen Texten
   zu den behandelten Themen,
c) alle PowerPoint-Präsentationen als
   Webpräsentation und als PDF-Datei.

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

        Allgemeines zur Veranstaltung 3

Für Fragen zum Seminarthema wenden Sie
sich bitte an
      daniel@cohnitz.net
oder
      beeh@phil-fak.uni-duesseldorf.de.

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Allgemeines zur Veranstaltung 4

Als einführende Literatur zum Thema empfehlen
    wir:

    1. Harold Noonan: Personal Identity, Routledge
       1991.
    2. John Perry: A Dialogue on Personal Identity and
       Immortality, Hacket Pub 1978
    3. John Perry: Identity, Personal Identity, and the
       Self. MIT 2002 (Kopievorlage)
    4. John Perry (ed.): Personal Identity. UCP 1975

         I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                        Veranstaltungsverlauf

Das Seminar hat fünf thematische Hauptteile:
I. Der philosophiehistorische Hintergrund
II. Der sprachphilosophische Hintergrund
III. Der ontologische Hintergrund
IV. Lösungen der analytischen Philosophie
V. Lösungen der indischen Philosophie

         I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Lesen

Zu jeder Sitzung wird mindestens ein Text
besprochen, der im Seminarordner der
Fachbibliothek vorhanden ist und von allen
vorbereitet werden muss.
Zur Einführung in die Thematik empfehlen
wir jedem Studierenden, innerhalb der ersten
beiden Wochen Perrys Dialogue zu lesen.

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                      Was ist das Problem?

Das Problem personaler Identität über die Zeit
ist das Problem, logisch hinreichende und
notwendige Bedingungen dafür anzugeben,
wann eine Person P2 zu einem Zeitpunkt t2
identisch ist mit einer Person P1 zu einem
früheren Zeitpunkt t1.

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Wofür braucht man das?

Wissen um diachrone Personenidentität ist
beispielsweise die Grundlage für
•    eigeninteressiertes Handeln,
•    die Zuschreibung von Verantwortung
     und Schuld,
•    die Feststellung des Todes einer Person,
•    die korrekte Zuweisung von
     Eigennamen zu Personen.
       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                Rechtfertigung

Könnte man daher angeben, worin und wann
personale Identität durch die Zeit besteht,
könnten all diese Dinge an sich und in
bestimmten Fällen gerechtfertigt werden.

(Warum sollte man eigeninteressiert handeln?
Warum ist dies eine Handlung im
Eigeninteresse?)

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Erklärung

Gegeben eine solche Definition, könnte man
außerdem vielleicht erklären, warum personale
Identität (und damit unser eigenes Überleben im
wörtlichen Sinne) für uns so wichtig ist.

(Ähnliches gilt für alle anderen zuvor genannten
Dinge. Zumal Rechtfertigungen im Sinne rationaler
Rekonstruktionen in gewisser Weise Erklärungen
sind.)
        I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                     Veranstaltungsverlauf 2

Teil I: Der philosophiehistorische Hintergrund

1.   Alles Fußnoten zu Locke?
2.   Leibniz, Butler, Reid
3.   Hume

        I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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I. Der philosophiehistorische
                  Hintergrund

      1. Alles Fußnoten zu Locke?

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

             Alles Fußnoten zu Locke?

John Locke (1632-1704)

Lockes berühmte Behandlung des
Problems findet sich in Of identity and
diversity in seinem Essay Concerning
Human Understanding (Buch II, Kap. 27
- Kopieordner)

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Historische Motive

Um Lockes Theorie angemessen
beurteilen zu können, muss man zunächst
das Problem rekonstruieren, vor dem
Locke stand. Oder – um es modern
auszudrücken – es muss rekonstruiert
werden, welche Adäquatheitsbedingungen
Locke an seine eigene Theorie stellte.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

       Möglichkeit der Wiedergeburt

Die Möglichkeit der menschlichen
Wiedergeburt muss durch die Theorie erklärt
werden.

Während in modernen Ansätzen die
Möglichkeit der Wiedergeburt nur als
Gedankenexperiment in Betracht gezogen wird,
war diese zu Lockes Zeiten eine Tatsache, die
eine Theorie personaler Identität zu erklären
hatte.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Leib-Seele-Problem

Die Theorie soll gegenüber dem Leib-Seele-
Problem neutral sein.

Locke hielt den Materialismus zwar für die
unwahrscheinlichere Variante, zweifelte aber an
der Überzeugungskraft des Cartesischen
Arguments für die Immaterialität der Seele. Sein
Ansatz sollte entsprechend auch eine
materialistische Variante der Wiedergeburt
möglich machen.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                               Selbstwissen
Die Theorie soll erklären können, weshalb wir uns
so sicher sind, dass wir dieselben Personen sind
wie die, über deren Handlungen wir uns bewusst
sind sie durchgeführt zu haben.

Diese Adäquatheitsbedingung, die Locke alle
Ansätze ablehnen ließ, die die Identität einer
Person in der Identität irgendeiner Substanz
suchten, war im Grunde sehr Cartesisch. Die Erste-
Person-Perspektive wird als ein privilegierter
Standpunkt zur Beurteilung von Aussagen über das
Selbst betrachtet.
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Ein erster Schritt
                         zur Relevanzthese

Bereits Lockes Definition des Selbsts und
der darauf aufbauenden Definition einer
Person erklärt also, warum wir um unsere
Vergangenheit und Zukunft besorgter
sind, als um die Vergangenheit und
Zukunft anderer.

    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                       Selbst und Person
[Self is] that conscious thinking thing which is sensible
or conscious of pleasure and pain, capable of happiness
or misery, and so is concerned for itself as far as that
consciousness extends.
Person is the name for this self. This personality
extends itself beyond present existence only by
consciousness; whereby it becomes concerned and
accountable, owns and imputes to itself past actions,
just for the same ground and for the same reason that it
does the present. All which is founded in a concern for
happiness, the unavoidable concomitant of
consciousness: that which is conscious of pleasure and
pain desiring that that self that is conscious should be
happy.
    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Adäquatheitsbedingungen
Locke wollte also eine Theorie diachroner
   Personenidentität entwickeln, die
a) Wiedergeburt und menschliche Unsterblichkeit
   auf ontologisch neutrale Weise verständlich
   macht,
b) konsistent mit der Tatsache ist, dass wir eine
   besondere Form des Wissens über unsere
   eigene Identität über die Zeit haben,
c) erklären kann, dass unsere zukünftigen und
   vergangenen Selbste (ihre Taten und
   Schicksale) uns in einer Weise wichtiger sind,
   als die (Taten und Schicksale der) Selbste
   anderer.
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

          Principium individuationis

x ist mit y identisch genau dann, wenn (gdw) x und
y von derselben Art sind und denselben Beginn
ihrer Existenz haben. (hinreichend & notwendig)

x ist dann identisch mit y, wenn x und y von
derselben Art sind und zu (mindestens) einem
Zeitpunkt denselben Ort einnehmen. (hinreichend)

x ist nur dann mit y identisch, wenn x und y von
derselben Art sind und zu keiner Zeit verschiedene
Orte einnehmen. (notwendig)
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Lockes Theorie ist kein Beispielfall
einer generellen Theorie der Identität

Locke glaubt, dass gerade im Fall der
Wiedergeburt eine Person zwei Anfänge
ihrer Existenz hat.
Diese Inkompatibilität spricht dafür, dass
sein pricipium individuationis nur
eingeschränkte Gültigkeit besitzt,
eingeschränkt auf (1) Gott, (2) endliche
Verstande/Geister, (3) Körper.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

 Fundamentale Substanzen – die Grundlage
     des Lockeschen Reduktionismus
Diese drei Sorten von Entitäten sind für Locke
fundamentale Konstituenten der Realität und nicht
weiter reduzierbar. Für sie gilt entsprechend das
starke principium individuationis. Organismen
(Pflanzen, Tiere, Menschen) und Personen sind in
diesem Sinne nicht fundamental. Die gesamte
Geschichte einer solchen Entität kann im Prinzip
auch durch bloße Referenz auf die sie
konstituierenden fundamentalen Substanzen
angegeben werden.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Noonan: Das principium individuationis ist
                 zirkulär
Wenn die diachrone Identität fundamentaler
Substanzen aber darin besteht, dass ihre
Identität immer durch ihre Relation zum
Zeitpunkt und Ort ihrer Existenz
determiniert ist, sagt uns das praktisch
nichts.
Worin sonst könnte diese Relation nämlich
bestehen, außer darin, mit der an diesem Ort
zu jenem Zeitpunkt zu existieren begonnen
Entität identisch zu sein?
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

      Pflanzen, Tiere und Menschen

Ein notorisches Problem der Identität von
Organismen ist bekanntlich, dass sich ihre
substantielle Grundlage ständig wandelt. Ein
lebender Organismus zeichnet sich gerade
durch seinen Metabolismus, seinen
Stoffwechsel aus. Worin kann dann seine
Identität bestehen?

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Die Organisation des Lebens
Für Locke besteht die diachrone Identität von
Organismen in ihrem kontinuierlichen
Funktionieren (in der Identität des Lebens). Dieses
Funktionieren kann auch dann aufrecht erhalten
werden, wenn sich die konstituierende Materie
ändert.
Analog dazu will Locke die diachrone Identität von
Personen erklären:
So wie die Identität von Organismen zur Identität
eines Lebens steht, steht die Identität von Personen
zu der Identität des ...
    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                           ...Bewusstseins
[D]ifferent substances by the same consciousness
being united into one person, as well as different
bodies by the same life are united into one animal,
whose identity is preserved in that change of
substance by the unity of one continued life. For, it
being the same consciousness that makes a man be
himself to himself, personal identity depends on
that only, whether it be annexed to one individual
substance, or can be continued in a succession of
several.

    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Metaphysisch –theologische Motive
          dieser Theorie
Dadurch, dass Locke die Einheit der Person im
Bewusstsein verankert, kann er einerseits die
Wiedergeburt bei Wegfall der materiellen
Grundlage erklären, ohne dabei andererseits auf
den Dualismus festgelegt zu sein.
Personale Identität besteht nicht in der Identität
einer denkenden Substanz, sondern in der Identität
eines Bewusstsein, dass auch bei einer etwaigen
Änderung der konstituierenden denkenden
Substanz dasselbe bleiben kann.
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Erkenntnistheoretische Motive dieser
              Theorie
Gleichzeitig kann er ein
erkenntnistheoretisches Motiv für die
Identifizierung von Bewusstsein und Person
angeben: Ich kann mir zwar nicht sicher
sein, dass ich dieselbe denkende Substanz
bin, wie die deren Handlungen mir in
bewusster Erinnerung sind, ich kann mir
aber sicher sein, dass ich mir dieser
Handlungen bewusst bin.
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Praktische Motive dieser Theorie
Schließlich erklärt dies auch unser besonderes
praktisches Interesse an personaler Identität:
Wäre ich mit Nero bloß materiell kontinuierlich,
sollte mich das genauso wenig stören, wie
herauszufinden, dass Nero und ich dieselbe
denkende Substanz sind. Sollte ich aber plötzlich
(erste-Person-) Bewusstsein von Neros Taten
erhalten würde mich das sicherlich nicht mehr
indifferent lassen.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

   „Person“ als forensischer Begriff
Locke ist in gewisser Weise ein „begrifflicher
Pragmatist“, da er der Überzeugung ist, dass wir
unsere begrifflichen Klassifikationen entsprechend
unseren Interessen gewählt haben. (Entsprechend
sieht bereits Locke begriffliche Grenzfälle als
Entscheidungsfragen an.)
Wenn Locke daher sagt, dass der Begriff der
Person eine forensischer Begriff ist, drückt er
damit aus, dass die Interessen, die diese Methode
der Klassifikation am besten erklärt, die der Moral
und des Rechts sind.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                                                             16
Personale Identität und Recht

Nach Locke ist personale Identität (also
Identität des Bewusstseins) sowohl
hinreichend als auch notwendig, um
jemanden für eine begangene Tat zur
Verantwortung zu ziehen.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

     Inkompatibilität von Recht und
               Theorie
Lockes Theorie kollidiert allerdings an
mehreren Stellen mit unseren Intuitionen
und rechtlichen Prinzipien.

Zunächst halten wir personale Identität nicht
für hinreichend für eine Bestrafung. Unser
Rechtssystem kennt entschuldigende
Umstände.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                                                             17
Lockes Rettungsversuch

Wir akzeptieren diese Umstände auch dann,
wenn wir absolut der Überzeugung sind,
dass es sich um dieselbe Person (im
Lockeschen Sinne) handelt.

Locke versucht diese Akzeptanz allerdings
auf Fälle einzuschränken, in denen die
Kontinuität des Bewusstseins verletzt wurde.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                      In dubio pro reo 1

Ein weiteres Problem besteht darin, dass
Lockes Ansatz jeden zu entschuldigen
scheint, der vorgibt sich an seine Tat nicht
erinnern zu können.
Locke gibt an, dass wir einen Schlafwandler
und einen Betrunkenen trotzdem für seine
Taten bestrafen würden, da wir nicht
überprüfen können, ob sein
Erinnerungsreport den Tatsachen entspricht.
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                                                             18
In dubio pro reo 2

Zunächst war es bereits zu Lockes Zeiten so,
dass Schlafwandler für ihre Taten nicht
bestraft wurden.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                      In dubio pro reo 3

Außerdem wird seit Beginn der
Rechtsstaatlichkeit niemand bestraft, weil
nicht sicher erwiesen ist, ob er vielleicht
unschuldig ist! Es muss vielmehr
hinreichend erwiesen sein, dass er schuldig
ist.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                                                             19
In dubio pro reo 4
Schließlich ist Trunkenheit (in der Regel) nicht
deshalb keine Entschuldigung für eine Tat, weil
spätere Erinnerungsreporte unzuverlässig sein
können, sondern weil Trunkenheit im Gegensatz zu
Schlafwandeln oder Geisteskrankheit vom Willen
kontrolliert werden kann.

Als Theorie der moralischen Zurechnung von
Strafe und Schuld ist Lockes Theorie demnach ein
Reinfall.
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                   Zusammenfassung 1
Bei Locke findet sich die wohl wichtigste erste
systematische Überlegung zum Problem der
diachronen Personenidentität.

Die Idee, personale Identität als psychische
Kontinuität zu verstehen, hat sich bis heute als
fruchtbarer Ansatz erwiesen. Schon bei Locke
finden wir ein reduktionistisches Programm und
eine gewisse Form von begrifflichem
Pragmatismus. Beides gehört zum festen
Bestandteil praktisch aller ernstzunehmenden
modernen Ansätze.
   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                                                             20
Zusammenfassung 2
Wichtig bleibt auch die Betonung und
Weiterentwicklung der Relevanzthese (Personale
Identität ist das, worauf es beim Überleben
ankommt), sowie eine genaue Analyse des
Erinnerungskriteriums (und damit eine Analyse
des Erinnerungsbegriffs). Gerade an dieser Stelle
hatte der Lockesche Ansatz mit argen Problemen
zu kämpfen, wie schon seine Zeitgenossen
erkannten.

   I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

         I. Der philosophiehistorische
                  Hintergrund

            2. Leibniz, Butler, Reid
                 Lockes frühe Kritiker

     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                             21
Leibniz, Butler, Reid
                          Lockes frühe Kritiker

Gottfried Wilhelm Leibniz
(1646-1716)

Joseph Butler
(1692-1752)

Thomas Reid
(1710-1796)
    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                     Leibniz
Leibniz hat sich an zwei bemerkenswerten
Stellen zum Problem der diachronen
Personenidentität geäußert. Zuerst im
Discours de Métaphysique und später – als
direkte Reaktion auf Lockes Theorie – in den
Nouveaux Essais Sur L'Entendement Humain.

    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                           22
Discours de Métaphysique 1
In der kurzen Stelle im Discours (Abschnitt 34)
werden sowohl Gemeinsamkeiten mit Locke, als
auch zwei grundsätzliche Unterschiede deutlich:

Gemeinsamkeiten:
   – Leibniz hält personale Identität ebenfalls für einen
     forensischen Begriff.
   – Bewusste psychische Kontinuität ist eine notwendige
     Bedingung personaler Identität.

     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

         Discours de Métaphysique 1

Unterschiede zu Locke (laut Noonan):
   – Die Identität von Substanzen ist ebenfalls eine
     notwendige Bedingung personaler Identität.
   – Gott erlaubt nicht die Trennung von
     psychischer Kontinuität und ihrem Träger (der
     Seele).

     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                            23
Nouveaux Essais Sur
                            L'Entendement Humain.

           In seiner späteren Arbeit distanziert sich
           Leibniz allerdings weiter von Locke.
           Zunächst wird Erinnerung anscheinend als
           notwendiges Kriterium für personale Identität
           verabschiedet. Manche Stellen scheinen sogar
           im direkten Widerspruch zum Discours zu
           stehen:

                  I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                      Discours Ÿ Nouveaux Essais

Nehmen wir an, dass irgendein                              Und wenn ich alle vergangenen
Individuum plötzlich König von                             Dinge vergessen hätte und
China werden sollte, unter der                             gezwungen wäre, mich von
Bedingung jedoch, das zu vergessen,                        neuem bis auf meinen Namen
was es gewesen ist, so als ob es ganz                      und bis aufs Lesen und Schreiben
von neuem geboren worden wäre –                            belehren zu lassen, so könnte ich
ist das nicht in der Praxis oder                           immer von anderen mein
hinsichtlich der Wirkungen, die man                        vergangenes Leben in meinem
wahrnehmen kann, genau dasselbe,                           vorhergehenden Zustand
als ob es vernichtet werden sollte und                     erfahren, wie ich meine Rechte
ein König von China sollte an seiner                       bewahrt habe, ohne dass es
Stelle im gleichen Augenblick                              notwendig wäre, mich in zwei
geschaffen werden? Dieses                                  Personen zu teilen und mich zum
Individuum hat aber keinen Grund,                          Erben meiner selbst zu machen.
dies zu wünschen.
                I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

                                                                                               24
Auflösung der Widersprüche

Es scheint, als sei Leibniz der Auffassung, dass
Substanzidentität notwendig und hinreichend für
personale Identität sei, die diachrone Identität dieser
Substanz ihrerseits aber in der psychischen
Verknüpfung ihrer zeitlichen Stadien bestünde. Die
König von China-Situation ist dann unmöglich.

Eine Alternative Interpretation wäre, das König von
China-Gedankenexperiment nicht als ontologisches
Argument zu verstehen. Dann würde aber Leibniz
bereits die Relevanzthese in Frage stellen.
     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

   Das erste Verdoppelungsargument

Leibniz scheint außerdem das erste
Verdoppelungsargument vorgebracht zu haben, ein
Gedankenexperiment, in dem Lockes Theorie per
Transitivität der Identität die Inkompatibilität mit
unseren Intuitionen nachgewiesen wird.

Derselbe Gedanke wurde 1956 von Bernard
Williams wiederholt und führte zu einer ganz neuen
Debatte über personale Identität.

     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                            25
Butler und Reid

Butler und Reid sind eigentlich für den sogenannten
Zirkularitätsvorwurf berühmt geworden, der in der
Tat eine Herausfordeung für jeden psychischen
Ansatz darstellt, von ihnen jedoch sehr
wahrscheinlich nie vorgebracht wurde (ihre
Argumente klingen so ähnlich, zielen aber auf etwas
gänzlich anderes).
An dieser Stelle soll daher nur Butlers Paradox of
the Gallant Officer sowie der tatsächliche
Zirkularitätsvorwurf besprochen werden.

     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

    Paradox of the Gallant Officer 1

Suppose a brave officer to have been flogged
when a boy at school for robbing an orchard,
to have taken a standard from the enemy in
his first campaign, and to have been made a
general in advanced life; suppose also that,
when he took the standard, he was conscious
of having been flogged at school, and that,
when he made a general, he was conscious of
his taking the standard, but had absolutely lost
the consciousness of his flogging ...
     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                            26
Paradox of the Gallant Officer 2

Gemäss dem Wortlaut der Lockeschen Theorie ist
der General zwar identisch mit dem
Standartenräuber, nicht aber mit dem Schuljungen.
Da der Standartenräuber aber mit dem Schuljungen
identisch ist, sollte mit der Transitivität der
Identitätsrelation ebenfalls gelten, dass der General
mit dem Schuljungen identisch ist (Widerspruch).
Ein Problem, dem die Lockesche Theorie durch die
Einführung des Begriffs der psychischen Kontinuität
leicht begegnen kann:
     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

    Paradox of the Gallant Officer 3

P2 zu t2 ist psychisch kontinuierlich mit P1 zu
t1 gdw. P2 das letzte Glied in einer bei P1 zu t1
beginnenden Kette von Personenstadien ist,
die sich alle der Taten und Handlungen ihres
direkten Vorgängers in der Kette bewusst
sind.

     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                            27
Paradox of the Gallant Officer 4

                    Psychische Kontinuität

t1                t2                         t3                            t4   t5

                 Psychische Verknüpfung

         I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

               Der Zirkularitätsvorwurf 1

     Bekanntlich gibt es so etwas wie scheinbare
     Erinnerungen, die keine zuverlässigen
     Informationen über die Vergangenheit
     enthalten. Für das Lockesche Kriterium
     brauchen wir aber Erinnerungen, die
     zumindest insofern zuverlässig sind, dass wir
     selbst das Subjekt der Handlungen und
     Erfahrungen waren (die wir dann
     möglicherweise falsch erinnern).
         I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                                     28
Der Zirkularitätsvorwurf 2

Wollen wir nun wissen, ob wir in diesem
Sinne zuverlässige Erinnerungen haben,
müssen wir zunächst feststellen, ob wir mit
dem Subjekt der erinnerten Handlungen
identisch sind.
Wir wollten aber ja gerade herausfinden, ob
wir mit dem Subjekt der erinnerten
Handlungen identisch sind.

    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

          Der Zirkularitätsvorwurf 3

Personale Identität über das Haben von
veritablen Erinnerungen zu definieren ist dann
zirkulär: zu wissen, dass und wann eine
Erinnerung veritabel ist, setzt voraus dass man
den Begriff personaler Identität bereits
anwenden kann.

    I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                           29
Persons are thinking, intelligent
                beings 1
Ein Vorwurf an Locke, den wir ebenfalls zunächst
außer Acht lassen müssen, ist der folgende
(Rekonstruktion Shoemaker):

Locke defines 'person' as meaning 'a thinking,
intelligent being'. If persons are thinking things and
thinking things are substances then persons are
substances. And it follows from the definition of a
'person' that a person is a substance, it is surely self-
contradictory to say that the identity of a person
does not involve the identity of a substance.
     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

     Persons are thinking, intelligent
                beings 2

Aus diesem Einwand lässt sich ein
tatsächliches Problem generieren, dass wir
aber im Ontologieteil noch näher besprechen
werden und das sicherlich ebenfalls nicht
Gegenstand der Überlegungen von Butler
oder Reid war.

     I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

                                                                            30
Hume

David Hume (1711-1776)

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

                                 Hume

In seinem Treatise of Human Nature
verteidigte Hume die für seine Zeit wohl
radikalst Auffassung bezüglich des
Problems personaler Identität: personale
Identität ist eine pure Fiktion!

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

                                                             31
Of Personal Identity
              & Second Thoughts
Seine Argumentation ist im Ganzen
absolut nicht stichhaltig, und Hume hält
sie selbst in einem später angefügten
Appendix für inkonsistent. Dennoch
enthält sie die Grundidee des
Reduktionismus und seine Theorie hat
enorme Ähnlichkeiten mit modernen
Theorien des Selbsts (wie beispielsweise
Daniel Dennetts).
       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

  Whatever is distinct, is separabel by
       thought or imagination.
Offenbar versteht Hume sein obiges
Vorstellbarkeitsprinzip als hinreichend
und notwendig. Da er sich kein Selbst bar
jeder Wahrnehmung vorstellen kann, ist
das Selbst nichts anderes als ein Bündel
kausal miteinander verknüpfter
Wahrnehmungen.

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

                                                             32
Bündeltheorie des Selbsts

When I turn my reflection on myself, I
never can perceive this self without some
one or more perceptions; nor can I ever
perceive any thing but the perceptions.
'Tis the composition of these, therefore,
which forms the self.

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

            Das Selbst als Fiktion

Zwischen den einzelnen Wahrnehmungen
gibt es keine wahrnehmbare Verbindung.
Was sie zusammenhält, ist ein Gefühl des
Zusammengehörens, aus dem der Geist
die Idee eines Selbsts als Fiktion bildet.

       I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

                                                             33
Humes Zweifel

Hume selber sah es bereits als
problematisch an, wie der Geist wohl
imstande sei eine solche Idee zu bilden.

         I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

                           Humes Erbe

Allerdings wurde sowohl
a) seine Auffassung, dass Erinnerung alleine
    personale Identität nicht konstituieren kann,
    sondern nur ein Teil verschiedener, kausal
    verknüpfter psychischer Verbindungen von
    früheren und späteren Selbsten ist, sowie
b) seine Auffassung, dass das Selbst zu seinen
    Wahrnehmungen in einem solchen
    (ontologischen) Verhältnis steht, wie der
    Staat zu seinen Bürgern, fester Bestandteil
    moderner reduktionistischer Ansätze.
         I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

                                                               34
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