Teilhabe als Chance Wie Deutschland atom-waffenfrei werden kann und die Sicherheit Europas dabei noch gestärkt wird - Internationale ...
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Weltspiegel Teilhabe als Chance Wie Deutschland atom- waffenfrei werden kann und die Sicher- heit Europas dabei noch gestärkt wird. Von Pia Fuhrhop, Ulrich Kühn und Oliver Meier I n den vergangenen Wochen wurde in schen noch militärischen Spielraum, so Deutschland intensiv über die Zukunft Befürworter des Status quo. Eine kurzfris- der nuklearen Teilhabe diskutiert. Diese tige unilaterale Änderung der deutschen Debatte erweist sich auch als Chance: In Stationierungspraxis würde das Bündnis fünf Jahren könnte Deutschland atomwaf- über Gebühr belasten. Ohne die Vornesta- fenfrei sein, ohne dass Europa unsicherer tionierung amerikanischer Atomwaffen ist und die NATO geschwächt wird. Da- würde Deutschland an Einfluss verlieren. für braucht es viel Abstimmung und eine Bereits eine Diskussion über die Teilhabe Kombination aus Rückversicherung und wäre ein Punktsieg für Moskau und käme Rüstungskontrolle. einer Schwächung der NATO gleich. Ausgelöst wurde diese Debatte durch Jenseits dieser bekannten Positionen einen Vorschlag des Bundesverteidigungs- offenbart die jüngste Debatte jedoch in- ministeriums über den beabsichtigten teressante Differenzierungen. So wurde Kauf atomwaffenfähiger US-Kampfbom- erstmals betont, dass ein Abzug der in ber. Die Entscheidung fällt aber frühestens Deutschland stationierten 20 US-Atom- in der nächsten Legislaturperiode – also bomben nicht mit dem Ausstieg aus der genug Raum und Zeit für Diskussion. nuklearen Teilhabe gleichzusetzen sei. Dass eine solche Debatte auch die nuk- Auch ohne Bomben würde Berlin wei- leare Rolle der Flugzeuge miteinschließe, terhin an Diskussionen, Planungen und machte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Übungen nuklearer Missionen der NATO Mützenich deutlich. Nach seiner Einschät- teilnehmen, etwa in der Nuklearen Pla- Dr. Pia Fuhrhop zung seien die Risiken einer fortgesetzten nungsgruppe. Außerdem besteht inzwi- leitet das Berliner Büro des Instituts Stationierung amerikanischer Atomwaf- schen weitestgehend Einigkeit, dass es für Friedens- fen in Deutschland weitaus größer als ihr kein militärisches Einsatzszenario dieser forschung und sicherheitspolitischer Nutzen. Hierauf Waffen gibt, das nicht durch andere kon- Sicherheitspolitik (IFSH) an der Uni- folgte viel Kritik. Für eine Änderung der ventionelle oder nukleare Fähigkeiten der versität Hamburg. nuklearen Teilhabe gebe es weder politi- NATO bereits abgedeckt wäre. Zu guter 62 | IP • Juli / August 2020
Teilhabe als Chance Weltspiegel Letzt sind die Interessen der osteuropäi- Berlin könnte die Tornado- schen Verbündeten – und damit Deutsch- lands Verantwortung für die europäische Nachfolge von Gesprächen Sicherheit – von zentraler Bedeutung in zwischen der NATO und der Abzugsdebatte. Zu einer solchen De- batte wird es vermutlich in der nächsten Russland abhängig machen Legislaturperiode kommen, wenn die Entscheidung über die Tornado-Nachfolge ansteht. Es gibt also reichlich Gründe, den Konkret könnte dies heißen, dass Russ- politischen Handlungsspielraum auszu- land sich verpflichtet, keine neuen landge- leuchten, wie Schritte zur Verringerung stützten nuklearfähigen Kurz- und Mittel- der Rolle von Atomwaffen in Einklang mit streckenwaffen im europäischen Teil des den sicherheits-, rüstungskontroll- und al- Landes zu stationieren. Seit vielen Jahren lianzpolitischen Interessen Deutschlands hat Moskau erklärt, nukleare Sprengköp- gebracht werden können. fe für diese Waffen zentral zu lagern. Bei den Zentrallagern und dem Transport von Fünf Jahre für die Rüstungskontrolle Sprengköpfen müsste Russland nun ge- Ausgangspunkt solcher Schritte sollte genüber den NATO-Staaten endlich Trans- eine Aufrüstungspause in Europa sein, parenz herstellen. Russlands berüchtigte zumindest bei jenen Waffensystemen, „9M729“-Marschflugkörper, die zum Ende die besonders destabilisierend sind. Die des INF-Vertrags beitrugen, sollten min- kommenden fünf Jahre bieten dafür den destens bis 2025 überprüfbar in solche Rahmen, denn in diesen Zeitabschnitt fal- Lager überführt werden. len die Amtszeiten der nächsten deutschen Die NATO würde im Gegenzug erklä- und amerikanischen Regierungen. Erst ab ren, bis 2025 keine neuen landgestützten 2025 sollen nach gegenwärtiger Planung Mittelstreckenwaffen in Europa zu sta- die nuklearfähigen Tornados außer Dienst tionieren. Die Nachfolgegeneration der gestellt werden. Und in fünf Jahren kommt B61-Atomwaffe – die sogenannte B61-12 zudem die nächste Überprüfungsperiode – dürfte frühestens 2025 in Büchel und des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags anderswo stationiert werden. Die im Bau zum Abschluss. befindliche „Aegis Ashore“-Raketenab- Berlin könnte darauf hinwirken, dass wehrbasis in Polen würde nicht vor 2025 Dr. Ulrich Kühn leitet den For- die NATO und Russland ein solches ihren Betrieb aufnehmen. schungsbereich „window of opportunity“ gemeinsam Deutschland könnte die Entscheidung Rüstungskontrolle nutzen. Dafür müsste die NATO dem über die Tornado-Nachfolge vom Ergeb- und Neue Techno- logien am IFSH, Kreml konkrete, reziproke und politisch nis der Gespräche zwischen der NATO und verbindliche Schritte vorschlagen, die Russland abhängig machen. Gegebenen- beide Seiten bereit wären, für die Dauer falls würde der Tornado noch zwei bis drei von fünf Jahren zu unternehmen. Das Ziel: Jahre länger als bisher geplant fliegen. den Boden bereiten für eine nachhaltige Das gemeinsame Verabreden einer sol- Diskussion über Sicherheit und Stabilität chen Atempause wäre an sich schon ein in Europa. Für ein solches Vorgehen gäbe Erfolg. Gleichzeitig wäre es aber auch not- es vermutlich von den Verbündeten viel wendige Voraussetzung für eine Reihe von Dr. Oliver Meier Unterstützung. Es wäre zugleich ein Test Maßnahmen der Vertrauensbildung. In ist Senior Resear- für Deutschlands Einfluss in der Allianz. enger Abstimmung mit den Verbündeten cher am IFSH. IP • Juli /August 2020 | 63
Weltspiegel könnte Berlin Impulse in drei Richtungen Deutschland sollte zugesagte setzen: für eine Debatte um die Vornesta- tionierung von Atomwaffen, für Maßnah- konventionelle Fähigkeiten men der Rückversicherung innerhalb der endlich bereitstellen NATO sowie für einen rüstungskontroll- politischen Dialog zwischen der Allianz und Russland. Berlin muss in besonderem Maße für die nötige Rückversicherung Verantwor- Vornestationierung hinterfragen tung übernehmen, aber gleichzeitig stär- Zunächst sollten die fünf Staaten, in de- ker für eine zunehmende Verschränkung nen US-Atomwaffen stationiert sind, ihre der kollektiven mit der kooperativen Si- Interessen abstimmen: In Belgien und cherheit werben. Mit einer gelungenen den Niederlanden ist die Unterstützung Kombination aus Rückversicherung und für die Fortführung der Vornestationie- Rüstungskontrolle würde Deutschland rung fragil. Die Bomben im türkischen in der besten aller NATO-Traditionen ste- Incirlik lagern in gefährlicher Nähe zum hen, der auf Stärke und Dialog setzenden syrischen Kriegsgebiet; zudem hat Ankara Harmel-Doktrin. Verbündete für einen jüngst rhetorisch mit der Entwicklung ei- solchen Ansatz gäbe es in Zeiten amerika- gener Atomwaffen geflirtet. Und auch die nischer Alleingänge bestimmt. Ein deut- Kosten eines möglichen Abzugs müssten scher „Sonderweg“ wäre ausgeschlossen. diskutiert werden. Ein deutscher Beitrag zu echter Soli- Parallel sollte die vom NATO-General- darität müsste bei den konventionellen sekretär Ende März ins Leben gerufene Rückversicherungsmaßnahmen der NATO „Reflexionsgruppe“ Nuklearthemen auf ansetzen. Im Rahmen der 2016 beschlos- die Agenda nehmen. Die Gruppe wird senen NATO Enhanced Forward Presence möglicherweise das nächste Strategische beteiligen sich 24 alliierte Nationen an der Konzept der Allianz vorbereiten und trägt Sicherheit der drei baltischen Länder und schon jetzt eine deutsche Handschrift, Polens. Es ist kein Geheimnis, dass die vier weil Außenminister Heiko Maas sie mit Länder das bestehende Arrangement an- angestoßen hat und der ehemalige Ver- gesichts der regionalen Überlegenheit teidigungsminister Thomas de Maizière Russlands gerne weiter verstärkt sehen Ko-Vorsitzender ist. Angesichts des breiten würden. Hier könnte Berlin ein mögli- gesellschaftlichen Widerstands gegen die ches Quid pro quo des nuklearen Abzugs Vornestationierung wäre es wichtig, diese im Tausch gegen mehr konventionelle Si- Diskussionen so transparent wie möglich cherheit ausloten. zu gestalten, damit das Ergebnis auch Ein erster wichtiger Schritt wäre, dass möglichst breite Akzeptanz finden kann. Deutschland die bereits zugesagten kon- ventionellen Fähigkeiten bereitstellt. Lü- Rückversicherung stärken cken gibt es beispielsweise noch immer Die Vertreter des nuklearen Status quo ver- beim deutschen Beitrag zu den besonders weisen auf die Sicherheitsinteressen der mobilen Truppen der NATO-Speerspitze, östlichen Bündnispartner. Ein einseitiger die den Partnern an der Flanke militä- Abzug der US-Atomwaffen aus Deutsch- rische Unterstützung zukommen lassen land wäre unsolidarisch. Ihn darf es des- soll. So musste die Bundesregierung un- halb unabgestimmt nicht geben. längst eingestehen, dass ihr Anteil an der 64 | IP • Juli / August 2020
Teilhabe als Chance Weltspiegel Nukleare Teilhabe in der NATO Aktuelle Stationierung von US-Atomwaffen Ehemalige Stationierung von US-Atomwaffen Weitere NATO-Mitgliedstaaten Land verbietet Stationierung von Atomwaffen Alle NATO-Staaten, mit Ausnahme Frankreichs, sind Mitglieder der Nuklearen Planungsgruppe. obilen Speerspitze aus Kräften besteht, m der kollektiven mit der kooperativen Si- die weder voll ausgestattet noch einsatzbe- cherheit wäre aber auch deshalb nötig, reit sind. Auch in drei Jahren müsste sich weil die Grundakte de facto zwei Zonen die Bundeswehr vermutlich noch Material unterschiedlicher Sicherheit in der NATO zusammenleihen, wenn sie diese führen festgeschrieben hat – ein Umstand, der soll. Zusätzliche Fähigkeiten könnten die bis heute Anlass zur Klage in Osteuropa Sicherheit des baltischen Luftraums sowie gibt. Maßnahmen der Rückversicherung die direkte Grenzüberwachung zu russi- müssen Teil eines sicherheitspolitischen schem Gebiet mit einschließen. Gesamtpakets zwischen Russland und der Gespräche über effektive konventio- NATO werden, das die Grundakte idealer- nelle Rückversicherung dürfen nicht von weise überflüssig macht. vornherein an der NATO-Russland-Grund- akte scheitern. Die 1997 vereinbarte Rüstungskontrolle reformieren Grundakte untersagt die dauerhafte Sta- Doch dafür muss Moskau an Bord. Aus- tionierung zusätzlicher „substanzieller gangspunkt einer neuen Initiative könnte Kampftruppen“ in den östlichen Bünd- Emmanuel Macrons jüngster Vorstoß zur nisstaaten. Obwohl der Terminus nie Stärkung der europäischen Rüstungskont- quantifiziert wurde, würden zusätzliche rolle sein. Um gleichzeitig Russlands Ernst- konventionelle deutsche Verbände an der haftigkeit zu testen, sollten sowohl nuklea- Ostflanke zumindest den Geist der Grund- re als auch konventionelle Systeme auf den akte verletzen. Eine neue Verschränkung Begrenzungsprüfstand. Die Gespräche im IP • Juli /August 2020 | 65
Weltspiegel NATO-Rüstungskontrollausschuss über Zunächst könnte die Teilhabe ein Verhandlungsangebot sollten wieder aufgenommen werden, um zu beweisen, als Form der politischen Ab- dass die NATO auch rüstungskontrollpo- stimmung erhalten bleiben litisch handlungsfähig bleibt. Dann wäre nämlich Russland am Zug, auf die Offerte des Westens zu antworten. r ussische Vertragsbrüche dauerhaft aus Gespräche über Transparenz und dem Weg zu gehen, ist kein Zeichen der Begrenzung konventioneller Systeme Stärke, sondern der Schwäche der Allianz. wären nicht einfach und müssten sich an den drängendsten Bedrohungswahr- Für ein Gesamtpaket nehmungen orientieren. Die Angst der Ziel dieser drei Gesprächsstränge wäre es, Balten vor einer russischen Landnahme die Interessen der Stationierungsstaaten zeigt die Relevanz klassischer Streitkräfte in Einklang mit den Sicherheitsbedürf- zu Lande und in der Luft. Hinzu kommen nissen unserer NATO-Partner zu bringen. Befürchtungen, dass Russland seine Groß- Sollte es im Rahmen von Rüstungskon manöver für einen Überraschungsangriff trollgesprächen mit Russland möglich missbrauchen könnte. Moskau muss daher sein, die Rolle von Atomwaffen zu vermin- bereit sein, bestimmte konventionelle Fä- dern, könnte auf die Vornestationierung higkeiten in direkter Nachbarschaft zur verzichtet werden – in allen fünf Staaten. NATO-Ostflanke zu begrenzen. Natürlich Zwischenschritte wären denkbar. So wäre es wünschenswert, auch dual nutz- könnte die NATO zwar die US-Atomwaffen bare Abstandswaffen und neue Waffen- in die USA zurückführen, ihre nukleare technologien zu begrenzen oder hybride Infrastruktur aber so lange intakt halten, Formen der Kriegsführung zu regeln. Aber bis Russland seine taktischen Atomwaf- man kann eine Agenda auch überfrachten. fen irreversibel aus dem europäischen Teil Deshalb würde ein Rüstungskontrollrah- des Landes abgezogen hat. In jedem Fall men, der die Fähigkeiten zum Überra- würde die NATO die Teilhabe als Form der schungsangriff mindert, die Sicherheit in politischen Abstimmung erhalten. Osteuropa bereits enorm stärken. Wenn Moskau sich nach Ablauf der fünf Parallel sollte dringend über Maßnah- Jahre einer rüstungskontrollpolitischen men der nuklearen Risikominimierung in Initiative verweigert, würde Deutschland Europa geredet werden. Dabei müsste auch weiter an der nuklearen Vornestationie- die Vornestationierung von Atomwaffen rung mitwirken. Berlin würde dies aller- Thema nuklearer Rüstungskontrollgesprä- dings tun, nachdem es für stärkere Rück- che werden. Moskau wiederholt seit Jahren versicherungsmaßnahmen eingetreten ist gebetsmühlenhaft, dass es über seine rund und sich gegenüber Russland und auch 2000 taktischen Atomwaffen erst reden global für mehr Abrüstung stark gemacht will, wenn die in Europa stationierten hat. Im Idealfall hätte Berlin einen Prozess US-Atomwaffen zurückgeführt werden. Es angestoßen, der in Europa Instabilitäten ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen und reduziert und die Allianzsolidarität auf den Kreml zu fragen, zu welchen Abrüs- eine belastbare Grundlage stellt. Die fort- tungsmaßnahmen im substrategischen gesetzte Stationierung von US-Atomwaf- Bereich er im Gegenzug bereit wäre. fen aber leistet beides nicht. Sie wäre dann Solchen Gesprächen unter Hinweis auf verzichtbar geworden. 66 | IP • Juli / August 2020
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