Thailand im Taumel des Wandels - Wie kann das Land seine Krise überwinden?
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STUDIE Thailand im Taumel des Wandels Wie kann das Land seine Krise überwinden? MARC SAXER Juni 2011 n Thailands Gesellschaftsvertrag wurde im Nachgang der Asienkrise gekündigt. Für eine Weile schien sich die Gesellschaft unter »Thaksinomics« neu zu organisieren; das breite gesellschaftliche Bündnis zerbrach jedoch an seinen inneren Widersprü- chen. Das Land zerfiel in antagonistische Koalitionen, die bis heute um die neue Austarierung der politischen und sozialen Hierarchie kämpfen. n Nachdem der Konflikt auf ein Patt zuläuft, scheinen beide Seiten zunehmend anzu- erkennen, dass sie den politischen Konflikt nicht einseitig gewinnen können. Die Wahlen eröffnen daher die Möglichkeit, den Konflikt mit einem Grand Bargain zu lösen. Doch ein solcher Ausgleich wird nur gelingen, wenn alle zentralen Akteure eingebunden sind. Auch die erneute Eskalation des Konflikts liegt daher im Interesse einiger Akteure. n Die Krise Thailands geht jedoch über den politischen Konflikt hinaus. Thailands sozio- ökonomische Erfolge haben einen paradoxen Effekt: gerade weil sich das Land wirt- schaftlich so positiv entwickelt hat, wird das Governance-System überfordert, das normative Fundament an Ideen, Werten und Identitäten untergraben und die poli- tische Ordnung delegitimiert. Die tiefere Krise ist nur durch die Anpassung der Ord- nung an die veränderten Rahmenbedingungen einer komplexen und pluralistischen Gesellschaft zu überwinden. n Wenn im Herzen des Konflikts die Legitimitätskrise der vertikalen Ordnung liegt, dann kann eine Lösung der Gesellschaft nicht einfach von den Eliten übergestülpt werden. Ein neuer Gesellschaftsvertrag muss in einem inklusiven, horizontalen und regelbasierten Prozess neu ausgehandelt werden.
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS Inhalt 1. Einleitung�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������2 2. Die Wahlen: Aufbruch oder Fortsetzung der Konfrontation?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 3. Der politische Konflikt: Thailand kämpft um einen neuen Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 4. Die Transformationskrise: Thailand braucht eine neue politische, soziale und kulturelle Ordnung. . . . . . . . . . 9 4.1 Krise der politischen und wirtschaftlichen Ordnung: Komplexität und Emanzipation überfordern das System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 4.2 Krise der sozialen und kulturellen Ordnung: Neue Ideen und Pluralität untergraben das normative Fundament. . . . . . . . . . . . . . . . 12 4.3 Fazit: Die Krise ist nur durch eine Anpassung der Ordnung lösbar. . . . . . . . . . . . . . . . 13 5. Wie organisiert man die Aushandlung eines Gesellschaftsvertrags?. . . . . . . . . . . .14 6. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS 1. Einleitung 2. Die Wahlen: Aufbruch oder Fortsetzung der Konfrontation? Nach Jahren der politischen Auseinandersetzung auf den Straßen und in den Gerichten, nach »heißen« und »stil- Seit Wochen zeigen alle Umfragen das gleiche Bild: die len« Putschen und gewaltsamen Zusammenstößen hat von Thaksin Shinawatra, dem umstrittenen ehemaligen Thailand am 3. Juli die Wahl. »Neuwahlen!«, das war der Premierminister Thailands, aus dem Exil ferngesteuerte Schlachtruf der »roten Demonstranten«, die im letzten Phüa Thai-Partei dürfte bei den Neuwahlen am 3. Juli Frühjahr das Geschäftsviertel Bangkoks lahmlegten. Die die meisten Stimmen auf sich vereinigen – vorausgesetzt, Folgen sind bekannt: das Militär schlug die Proteste ge- die Wahlen finden statt, und sind halbwegs frei und fair. waltsam nieder; 92 Todesopfern und über 2 000 Verletzte Auf dem zweiten Platz dürfte die Demokratische Par- waren zu beklagen.1 Nun also haben die Bürger Thailands tei des amtierenden Premierministers Abhisit Vejjajiva die Wahl zwischen »Roten« und »Gelben«. Und dennoch: landen. Drittstärkste Fraktion im Parlament könnte die der Mangel an Enthusiasmus unter den Wählern deutet Bhumjaithai-Partei werden, die von dem Powerbroker bereits an, wie erschöpft die Menschen von dem jahre- Newin Chidchob – selbst mit einem Politikverbot be- langen politischen Konflikt sind. Wie um die kafkaeske legt – aus dem Hintergrund dirigiert wird. Die beiden politische Situation des Landes noch einmal herauszustel- Koalitionsparteien Charthaipattana und Chart Pattana len, treten bei dieser Wahl vor allem Statthalter und Stroh- Puea Pandin hoffen auf die nachfolgenden Plätze. Das männer gegeneinander an. Auch die beiden Hauptkon- ist durchaus pikant, waren doch viele der Abgeordne- trahenten – die in kürzester Zeit zum Popstar aufgebaute ten der drei kleineren Parteien Teil der von der Phüa Schwester des ehemaligen Premierministers, Yingluck Thai-Vorgängerpartei People‘s Power Party geführten Shinawatra, und der fotogene amtierende Premierminis- »roten« Koalitionsregierung, bis ihre Parteien vom Ver- ter Abhisit Vejjajiva – sind letztlich nur die Platzhalter für fassungsgericht aufgelöst und viele ihrer Funktionäre die wahren Machthaber hinter ihnen. Und dennoch: die mit Politikverboten belegt wurden. Der Vorsitzende der Wahlkampagnen werden mit großer Leidenschaft ge- Chartthaipattana-Partei, Chumpol Silpa-Archa, zitierte führt, internationale Wahlbeobachter sollen einen akzep- kürzlich den »unwiderstehlichen Druck der unsichtbaren tablen Wahlgang garantieren und die siegreiche Partei Hand«, der die Führer der kleinen Parteien überzeugte, darf darauf hoffen, die Regierung zu bilden. Ist das Land sich unter Aufsicht des Militärs mit ihren Gegnern zu- des Lächelns also wieder zur Demokratie zurückgekehrt? sammenzutun und die »gelbe« Regierung Abhisit aufs Schild zu heben. Die fragwürdige Legitimität dieser »gel- Die Neuwahlen eröffnen zumindest die Chance für einen ben« Regierung, ermöglicht durch einen stillen Putsch neuen Anlauf zur Lösung des politischen Konflikts zwi- der Justiz und eingefädelt vom Militär, wurde von den schen den konkurrierenden Eliten. Dieses Papier argu- »roten« Demonstranten im letzten Frühjahr zum Anlass mentiert, dass die tiefer gehende Krise Thailands nur zu genommen, Neuwahlen zu fordern. lösen sein wird, wenn es gelingt, die politische, soziale und kulturelle Ordnung den neuen Bedingungen und Die entscheidende Kenngröße für das Schachern nach Erwartungen einer sich rasant modernisierenden Gesell- der Wahl ist die Anzahl der Sitze, die die beiden großen schaft anzupassen. Thailand wird erst dann wieder in- Parteien auf sich vereinigen. Das neue Wahlrecht, kurz neren Frieden finden, wenn das politische System effek- vor der Wahl durchs Parlament gepeitscht, könnte dabei tivere Mechanismen entwickelt, um mit den perma- beiden großen Parteien einen Strich durch die Rechnung nenten Konflikten einer komplexen und pluralistischen machen. Die Rückkehr zu »one man, one vote« in klei- Gesellschaft umzugehen. Wie diese Anpassung organi- neren Wahlkreisen könnte kleineren, lokal verwurzelten siert wird, ist dabei mindestens ebenso wichtig wie das Parteien eine bessere Ausgangsposition verschaffen. institutionelle Ergebnis dieses Prozesses. Ein neuer Ge- Der Phüa Thai ist in ihren Hochburgen im Norden und sellschaftsvertrag kann nicht von oben oktroyiert wer- Nordosten mit der Bhumjaithai ein gefährlicher Gegner den, sondern muss in einem inklusiven, regelbasierten erwachsen. Während Phüa Thai durch den Bann von 113 Prozess ausgehandelt werden. »roten« Spitzenpolitikern geschwächt ist, ist es vielen Abgeordneten der BJP gelungen, einen Teil der Wähler, 1. Human Rights Watch (2011): Descend Into Chaos. Thailand’s 2010 die sie 2007 als »roten« Koalitionspartner gewählt ha- Red Shirt Protests and the Government Crackdown, May 2011, http:// www.hrw.org/en/node/98399/section/2. ben, weiter an sich zu binden. Wirksamer noch dürfte 2
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS aber die Auswechslung der Provinzgouverneure und Dis- stützern vor, die jedem Hakenschlag des Patrons treu triktverwalter durch das BJP-geführte Innenministerium folgen. Es sind diese Patrone, die sich im Vorfeld einer gewesen sein. Die lokalen Behörden haben traditionell Wahl neu arrangieren, und die nach der Wahl den größt- einen großen Einfluss bei der Mobilisierung von Stimmen. möglichen Vorteil für sich und ihre Netzwerke heraus- Endemische Stimmenkäufe verzerren die Ergebnisse thai- zuschlagen versuchen. Das mitunter bizarre Schauspiel ländischer Wahlen traditionell zusätzlich. Die Demokraten unterstreicht vielmehr, was der Verkehrsminister Sohpon dürften dagegen besonders unter der Boykottkampagne Zarum in bemerkenswerter Offenheit verkündet hatte: ihrer ehemaligen Weggefährten, der gelben Bewegung die kleineren Parteien würden mit jedem Wahlsieger ko- People’s Alliance for Democracy (PAD) leiden, der wohl alieren, solange nur der Zugang zu den Fleischtöpfen in vor allem konservative Wähler folgen werden. der Regierung sichergestellt sei. Die kleineren Parteien werden ihre Stellung als Königsmacher also zu vergolden Dies alles deutet darauf hin, dass es wohl keiner der bei- wissen. Ob es der stärksten Fraktion im Parlament gelin- den großen Parteien gelungen sein dürfte, die erhoffte gen wird, eine Regierung zu bilden, hängt jedoch nicht absolute Mehrheit der Stimmen zu erringen. Die neue nur von der Zahl ihrer Sitze im Parlament ab. Denn eines Regierung wird sich also auf die Unterstützung einer Ko- ist bereits heute klar: um zum Zuge zu kommen, muss alition mit den kleinen Parteien verlassen müssen. Ohne Phüa Thai die Wahl mit großem Abstand gewinnen, um eine Intervention undemokratischer Kräfte werden diese genügend Legitimation zur Bildung einer Regierung ein- ihre Unterstützung an den Meistbietenden verschachern. zusammeln und ihre Gegner von einer verfassungswidri- gen Intervention abzuhalten. Entsprechend haben sich die großen Parteien gegenseitig übertroffen, die kleineren als Koalitionspartner zu um- Welche Seite auch immer die Regierung stellt – »Money werben oder ihre Abgeordneten gleich zum Überlaufen Politics«, also das zynische Schachern um Einfluss und zu bewegen. Es wurde gemunkelt, auf Seiten der Demo- Ressourcen, das die Politik in Thailand immer weiter dis- kraten würden diese Bemühungen von »unsichtbaren kreditiert, wird weiter gehen. Und dennoch: der Kampf Kräften« unterstützt. Auf der anderen Seite führten die um die beste Ausgangsposition für das Hauptrennen wiederholten Drogenrazzien in »roten« Hochburgen zu nach der Wahl sollte als eine genuine Form politischen einem heftigen verbalen Schlagabtausch zwischen der Wettbewerbs gesehen werden. Die Bürger entscheiden Armee und Phüa Thai. Trotz wiederholter Schwüre, jedes darüber, wem sie die besten Karten für das Pokern um Wahlergebnis zu akzeptieren, fällt es nicht schwer, die die Regierungsbildung in die Hand geben. An diesem persönliche Präferenz der Armeeführung zu erraten. Die Tisch haben allerdings bereits andere, nicht verfassungs- Wahlprogramme thailändischer Parteien unterscheiden mäßige Kräfte Platz genommen. sich kaum voneinander, was einige Parteien allerdings nicht davon abhält, sich umso heftiger zu bekämpfen. Im Kontrast zu diesen Interventionen steht die große 3. Der politische Konflikt: Thailand kämpft Zurückhaltung der Zivilgesellschaft. Im Vergleich zu frü- um einen neuen Gesellschaftsvertrag heren Kampagnen wurden in diesem Wahlkampf so gut wie keine Anliegen beworben. Das deutet bereits darauf hin, dass die weitere politische Entwicklung im Königreich Thailand nicht alleine von den Politik hat in Thailand wenig mit Ideologie und noch Wahlergebnissen abhängt. Die Wahl ist vielmehr ein wei- weniger mit Parteiprogrammen zu tun. Parteien bilden teres Kapitel in der an Wendepunkten reichen Geschichte sich, fusionieren miteinander und zerlegen sich wie- des politischen Konfliktes, der das Land seit Jahren lähmt. der. Abgeordnete wechseln mit schwindelerregender Leichtfüßigkeit die Seiten. Das unübersichtliche Gewu- Um den politischen Konflikt zu verstehen, sollte man sel beginnt sich erst zu lichten, wenn man statt auf die sich nicht von den »roten« und »gelben« Hemden in die austauschbaren Parteilabels auf die dahinterstehenden Irre führen lassen. Vor allem im Verständnis vieler west- Personen schaut. Viele der neugewählten Abgeordneten licher Medien suggeriert die Farbkodierung einen ideo- blicken bereits auf eine jahrzehntelange Karriere zurück, logischen oder klassenbasierten Konflikt zweier festge- in der sie eine Reihe von hohen Staatsämtern bekleide- fügter Lager, die es in der Realität nicht gibt. Die krude ten. Diese Granden stehen einem Netzwerk an Unter- Verkürzung – der Multimilliardär Thaksin und sein repu- 3
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS blikanisches Lumpenproletariat gegen die royalistische Die Gesellschaft schart sich um Thaksin Ober- und Mittelschicht – verstellt den Blick eher, als zu einem Verständnis der Situation beizutragen. Tatsächlich Eine solche Regierung von und für die Reichen konnte bewegen sich viele Thais – seien es die Demonstranten jedoch nur funktionieren, wenn sie gleichzeitig den Ar- auf den Straßen oder politische Akteure innerhalb der men Schutz und Hilfe vor den desaströsen Auswirkun- Institutionen – flexibel zwischen den Machtpolen der gen der Wirtschaftskrise anbot. Mit den sozialen Poli- Gesellschaft. Das Bemerkenswerte an den »roten« und tiken (vor allem die billigen Kredite für die Dörfer und »gelben« Koalitionen ist gerade, dass die Trennlinie quer die Basiskrankenversicherung für alle) gewann sie die durch alle Schichten, Ideologien, Institutionen und selbst Unterstützung der Armen und den Applaus der Zivilge- durch Familien verläuft und sich unter den jeweiligen sellschaft. Die bis heute ungebrochene Unterstützung Bannern Akteure mit durchaus gegensätzlichen Interes- des Milliardärs Thaksin durch die Armen ist auf diese sen und Wertvorstellungen zusammenfinden. Hilfen zur Selbsthilfe zurückzuführen, mit denen sich der ehemalige Premier geschickt als alternativer Patron für die politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell margina- Der traditionelle Gesellschaftsvertrag wird gekündigt lisierte Bevölkerungsmehrheit zu inszenieren wusste. Die Regierung Thaksin bemühte sich aber auch, die sozio- Zu den Hintergründen des Konflikts lohnt ein Blick zu- kulturellen Anliegen der konservativen Eliten und Mit- rück in die späten 1990er Jahre. Thailand hatte sich öko- telschichten zu bedienen (z. B. durch den Kampf gegen nomisch wie politisch so erfolgreich entwickelt, dass es die Drogenkriminalität und die Kulturkämpfe gegen das gerne als Modell für andere Schwellen- und Entwick- libertäre Nachtleben Bangkoks). lungsländer zitiert wurde. Der Zivilgesellschaft war es gelungen, dem Land eine demokratische Verfassung Unter diesem breiten Zelt konnte sich die Mehrheit der zu geben, die den Einfluss des Militärs zurückdrängen Gesellschaft um Thaksin herum versammeln. Durch Zu- sollte. Die Asienkrise machte vielen dieser Hoffnungen sammenschlüsse mit kleineren Parteien kontrollierte Thak- einen Strich durch die Rechnung. Banken und Unter- sin zwischenzeitlich bis zu zwei Drittel der Parlamentssitze nehmen gingen reihenweise Pleite, Arbeitslosigkeit und und gewann bei seiner Wiederwahl zum ersten Mal in der Armut explodierten. Die nationalen Wirtschaftseliten, thailändischen Geschichte eine absolute Mehrheit. von den neoliberalen Reformpolitiken der Regierung Chuan Leekpai unter Aufsicht des IWF an den Rand ge- drängt, sahen sich in existentieller Bedrängnis. In dieser Das breite Bündnis zerbricht an seinen Lage sahen die Wirtschaftsführer in der Übernahme des inneren Widersprüchen Staates die einzige Möglichkeit zu überleben.2 Dabei handelte es sich keinesfalls um einen ideologischen Kon- Das breite Bündnis hielt jedoch nicht lange. Vor allem flikt – denn ironischerweise war es gerade die Weiter- an den Freihandelsabkommen und Privatisierungen führung einiger neoliberaler Politiken, die das Bündnis schieden sich die Geister. Während Thaksin und andere der Wirtschaftseliten später auseinandertreiben sollte. Tycoons davon profitierten, sah das »alte Geld« seine Es ging vielmehr um den Schutz der Geschäftsinteressen Interessen bedroht. Die neoliberalen Politiken wurden der Thai-Eliten. »Altes Geld« verbündete sich mit »neu- von progressiven Nichtregierungsorganisationen und em Geld«, um den Ansturm des globalen Kapitalismus den Gewerkschaften der bedrohten Staatsbetriebe be- zu überleben. Um den nationalen Unternehmen ausrei- kämpft. Die konservative Mittelschicht missbilligte die chend Zeit zu geben, ihre internationale Wettbewerbs- Umverteilung ihrer Steuergelder an die Armen, wäh- fähigkeit wiederherzustellen, brauchten sie eine Regie- rend der astronomisch reiche Tycoon Thaksin für den rung, die sie für einige Jahre vor der übermächtigen Verkauf seines Medienimperiums keinen Baht-Steuern internationalen Konkurrenz schützen und notwendige zahlte. Die Wahlerfolge der Thai Rak Thai wurden damit Restrukturierungen in Staat und Gesellschaft kraftvoll erklärt, dass sich die »die ungebildete Landbevölkerung vorantreiben konnte. mit populistische Politiken hinters Licht führen ließ«3 2. Hewison, Kevin (2005): Neo-liberalism and Domestic Capital: the Poli- 3. Wongkul, Phitthaya (2007): Yutthasat prachachon: lakkhit lae bot- tical Outcomes of the Economic Crisis in Thailand, The Journal of Devel- rian [The people’s strategy: main ideas and lessons], Bangkok, zitiert in: opment Studies Vol. 41, Feb. 2005, S. 310-330. M. Askew (2011). 4
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS oder gleich ihre Stimme verkaufte. Hinter dieser Ver- lichen Gebieten organisieren können – wurde durch die achtung für die arme Landbevölkerung werden bereits Einbindung der Peripherie in die Verteilung staatlicher die Umrisse der »New Politics« erkennbar, mit der die Ressourcen gesichert. Obwohl die neue Formel von Tei- konservative, urbane Mittelschicht die parlamentarische len der Eliten zum Schutz ihrer Interessen ausgehandelt Demokratie suspendieren möchte. Von der progressi- wurde, und trotz Thaksins autoritärem Regierungsstil, ven Mittelschicht wurde dagegen vor allem der stetige sind »Thaksinomics« inklusiver und partizipativer als der Ausbau der Machtbasis Thaksins mit Sorge gesehen. Die alte Gesellschaftsvertrag. zunehmend autoritären Tendenzen in der politischen Auseinandersetzung (vor allem die Kontrolle der Medien In dieser Formel hatten die traditionellen Eliten keine und die brutalen Versuche Kritiker mundtot zu machen) unverzichtbare Funktion mehr. Für eine Weile schien es, alarmierten die Zivilgesellschaft, die eine Aushöhlung der als erlaube »Thaksinomics« ohne die Unterstützung, ja gerade erst erkämpften liberalen Verfassungsordnung sogar gegen die Interessen der traditionellen Eliten, den befürchtete. Die progressive Zivilgesellschaft befürchte- Staat zu kontrollieren. Für die traditionellen »Eigentümer te, der zunehmend gewalttätig und autoritär agierende der Nation« war dies nicht weniger als eine Kriegserklä- »Elektokrat«4 wolle ein autoritäres Entwicklungsregime rung. singapurianischer Bauart errichten. Die traditionellen Eli- ten waren zunehmend irritiert von dem selbstbewussten Auftreten des Premiers. Die gelbe Anti-Thaksin-Koalition entsteht Der Bruch der traditionellen Eliten mit Thaksin – im Die Mittelschicht trieb dagegen vor allem die schamlo- Grunde einer der ihren – erfolgte aber keineswegs über se Selbstbereicherung der Thaksinistas auf die Straßen. protokollarische Finessen. Um den Staat zu übernehmen Unter der gelben Farbe des Königs machten die Geg- schmiedete Thaksin ein Bündnis zwischen Wirtschafts- ner Thaksins gegen seine als »populistisch«, »korrupt« eliten, lokalen Eliten und der armen Bevölkerungsmehr- und »republikanisch« verfemte Regierung mobil. Hun- heit. Die Formel, die dieses Bündnis zusammenhielt derttausende demonstrierten 2006 und 2008 in gelben – »Thaksinomics« – kann als der Versuch gelesen wer- Hemden. In der »gelben« Koalition fanden sich autoritär den, ein neues Arrangement zwischen den zentralen orientierte Eliten aus Aristokratie, Bürokratie und der Machtpolen der Gesellschaft zur Produktion von Ord- Armee Seite an Seite mit zivilgesellschaftlichen Aktivis- nung, Legitimation von Herrschaft und Verteilung von ten und Gewerkschaftern wieder, die für den Erhalt der Ressourcen zu etablieren. Ein neues Arrangement wurde Demokratie stritten. Die alte Partei des Establishments, notwendig, nachdem der ungeschriebene Gesellschafts- die Democrat Party, gesellte sich zunächst zögernd zu vertrag, der Thailand über Jahrzehnte zusammengehal- dieser Koalition, um schließlich als große Gewinnerin die ten hatte (»Das Militär garantiert politische Stabilität, die erste »gelbe« Regierung führen zu dürfen. Regierung fördert die lokale Wirtschaft, die Wirtschaft schafft Wachstum, dessen Wohlstandsgewinne über Patronage-Netzwerke an lokale Eliten und die breite Die rote Koalition entsteht Bevölkerung weitergegeben werden«), in der Asienkrise gescheitert war und durch die neoliberalen Reformpo- Auf der anderen Seite versammeln sich in der »roten« litiken der Regierung Chuan Leekpai endgültig aufge- Koalition die »Prai«6 – also diejenigen, die in ihrer Eigen- kündigt wurde.5 »Thaksinomics« legitimierte Herrschaft wahrnehmung ungeachtet ihrer Verdienste oder Macht- unzweideutig über demokratische Wahlen. Die andau- fülle »nicht dazugehören« und von den traditionellen ernde Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit wurde »Eigentümern« von Staat und Nation an der vollwer- durch Sozialpolitiken gesichert. Die Unterstützung der tigen Teilnahme am politischen, sozialen und kulturel- lokalen Eliten – die als Abgeordnete das Parlament kon- len Leben verdrängt werden. Die »rote« Koalition ist ein trollieren und die Mobilisierung der Massen in den länd- Bündnis der »neuen« Wirtschaftseliten mit Teilen der lokalen Eliten und Mittelschichten des Nordens und 4. Tejapira, Kasian (2006): »Toppling Thaksin«, New Left Review 39 6. Traditionell bezeichnen die »Prai«, als Gegenbegriff zu der Aristokratie (May/June). der »Amart«, die Untertanen. Die Rothemden haben jedoch große An- 5. Hewison, Kevin (2005): aaO. strengungen unternommen, dem Begriff eine neue Bedeutung zu geben. 5
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS Nordostens und Teilen der Sicherheitskräfte (z. B. die Po- wurde konfisziert, er selbst floh nach einer Reihe von lizei), das seine Legitimation aus der stärkeren Inklusion Korruptionsanklagen aus dem Land. Obwohl Verfassung der armen Stadt- und Landbevölkerung gewinnt. und Wahlrecht umgeschrieben wurden, gewann die »rote« Koalition 2007 erneut die Wahlen, nur um nach Innerhalb der »roten« Koalition sollte man noch einmal neuerlichen »gelben« Massendemonstrationen durch unterscheiden zwischen der Partei Phüa Thai und der einen stillen Putsch der Justiz wieder aus der Regierung sozialen Bewegung United Front for Democracy Against vertrieben zu werden. Nachdem, Chumpol zufolge, unter Dictatorship (UDD). Phüa Thai ist strukturell keine linke dem »unwiderstehlichen Druck der unsichtbaren Hand« Partei, sondern ein Vehikel der Reichen für die Reichen, eine »gelbe« Regierung gebildet wurde, drehte sich das die ein Gegengeschäft »Hilfe gegen Unterstützung« mit Spiel um. Im Jahr 2009 stürmten »rote« Demonstran- den Armen abgeschlossen hat. Weder die Programmatik ten den ASEAN-Gipfel; Bombenanschläge erschütterten noch die Politiken Phüa Thais zielen auf eine strukturelle Bangkok und Umgebung. Im letzten Jahr legten rote Veränderung der politischen Ökonomie. Auch wenn die Massendemonstrationen für Monate das Geschäfts- Hilfen zur Selbsthilfe der »roten« Vorgängerregierungen viertel Bangkoks lahm. Premierminister Abhisit konnte die absolute Armut deutlich reduziert haben, zielten sie das folgende Drama nicht verhindern. Unter dem Druck nie auf den Aufbau eines Sozialstaates, sondern förder- seiner politischen Patrone wurden die Demonstrationen ten unternehmerische Eigeninitiative, um Beschäftigung gewaltsam aufgelöst. Untersuchungen, wer für die 90 und Produktivität zu erhöhen. Toten, 2 000 Verletzten und die Inbrandsetzung einer Reihe von Shopping Malls verantwortlich zu machen Dagegen ist es der »roten« Bewegung gelungen, die po- ist, werden bis heute unterdrückt. Das Notstandsrecht litische Ökonomie Thailands grundlegend zu verändern: gewährte den Sicherheitskräften monatelang praktisch die politische Bewusstwerdung der Massen als Klasse freie Hand. Der Crackdown gegen die Meinungsfreiheit bzw. die Emanzipation der Individuen als Staatsbürger ist selbst in der an Zensur reichen Geschichte Thailands geben der marginalisierten Bevölkerungsmehrheit ein einzigartig. Führer der außerparlamentarischen Opposi- politisches Gewicht,7 das jeder künftige Gesellschafts- tion wurden verhaftet. Menschenrechtsgruppen berich- vertrag berücksichtigen muss. Mit anderen Worten: die teten von Fällen, in denen gefoltert wurde. »Rote« Me- Unterstützung, oder zumindest das Stillhalten der Be- dien wurden verboten, mehr als 100 000 Internetseiten völkerungsmehrheit, ist künftig nicht mehr umsonst zu abgeschaltet. Die Zahl der wegen Majestätsbeleidigung haben. Auch eine Regierung der Eliten im Interesse der zu jahrelangen Haftstrafen verurteilten Kritiker ist explo- Eliten muss heute einen Preis für ihre Legitimität zahlen: diert. Im Ergebnis ist Thailand in allen Demokratie- und Schutz für die Mittelschicht und Hilfe für die Armen. Menschenrechtsindizes abgestürzt.8 Über Thailand legte sich ein Klima der Angst. Ohne hier weiter ins Detail gehen zu können, darf ange- deutet werden, dass beide Koalitionen jeweils bis in den Palast reichen. Es ist daher falsch, von einem republi- Das Patt: Keine Seite kann gewinnen kanischen und einem royalistischen Lager zu sprechen. Und dennoch hat auch nach fünf Jahren keine der bei- den Seiten den politischen Konflikt endgültig für sich Der Konflikt eskaliert entscheiden können. Die komplizierte politische Lage Im Jahr 2006 eskalierte der Konflikt. Nach den ersten 8. The Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2010: »Flawed »gelben« Massendemonstrationen putschte das Militär, democracy (Rank 57 of 167)«, Phatarathananunth, Somchai: »Chon- channam thangkanmueg (…)« [The political elite: The force opposing die Regierungsparteien wurden verboten und ihre Füh- democracy and the problem of contemporary Thai democracy], in: Fa rungen mit Politikverboten belegt. Thaksins Vermögen Diaokan 7 (1), S. 22-34. http://graphics.eiu.com/PDF/Democracy_Index_ 2010_web.pdf; Freedom House (FH), Freedom in the World (2011): »Partly free (downward trend)«, http://www.freedomhouse.org/images/ File/fiw/FIW_2011_Booklet.pdf; FH, Freedom of the press (2010): »Partly 7. Phongpaichit, Pasuk / Baker, Chris (2009): »Thaksin«, 2nd expanded free (rank 58)«, http://www.freedomhouse.org/uploads/pfs/371.pdf; Re- edition, Chiang Mai; Phatarathananunth, Somchai: »Chonchannam porters without Borders, Worldwide Press Freedom Index (2010): »Rank thangkanmueg (…)« [The political elite: The force opposing democracy 153, downward trend«, http://www.rsf.org/IMG/CLASSEMENT_2011/ and the problem of contemporary Thai democracy], in: Fa Diaokan 7 (1), GB/C_GENERAL_GB.pdf; Friedrich-Ebert-Stiftung Thailand, Asian Media S. 22-34. Barometer (2010). 6
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS nach dem erwarteten Wahlsieg Phüa Thais unterstreicht »roten« Bewegung steht dagegen die »Red Sunday«- diese Pattsituation noch einmal. Es mehren sich daher Fraktion. Die Bangkoker Gruppe der UDD hatte sich über die Anzeichen dafür, dass beide Seiten ihre Lage zu das Versammlungsverbot unter Notstandsrecht hinweg- überdenken beginnen. gesetzt und mit friedlichen Gedenkversammlungen mit Tausenden von Teilnehmern über Monate das Bild der Thaksin hat wohl eingesehen, dass eine Rückkehr ins »roten« Bewegung bestimmt. Diese Märsche gewannen politische und ökonomische Leben Thailands ohne ein mit ihrem demokratischen Tenor die Sympathie vieler Arrangement mit den traditionellen Eliten nur schwer progressiver Akteure aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft möglich ist. Ein erstes Zeichen für ein solches Arrange- und Gewerkschaften. Nach ihrer Entlassung aus der Haft ment wurde Anfang 2011 erkennbar, als die Regierung haben auch die Führer der Rothemden überwiegend es dem ehemaligen Tycoon erlaubte, auf den gerichtlich mäßigend auf die zunehmend autonom agierende Be- nicht konfiszierten Teil seines Milliarden-Vermögens zu- wegung eingewirkt. Die Kandidatur von 22 Anführern zugreifen. Thaksin selbst lässt seitdem keine Gelegen- der UDD auf den Listen der Phüa Thai unterstreicht die heit aus, seine Loyalität zur Monarchie zu demonstrie- grundsätzliche Bereitschaft der außerparlamentarischen ren. Auf die mitunter offen republikanisch agitierenden Opposition, innerhalb des verfassungsmäßigen Rah- Rothemden wirkte Thaksin aus dem selbstgewählten mens einer echten parlamentarischen Demokratie am Exil mehrfach mäßigend ein. Phüa Thai setzte sich ve- politischen Prozess mitzuwirken. hement für ein von Premierminister Abhisit geforder- tes Verbot jeglicher Nennung der Monarchie im Wahl- Auch die traditionellen Eliten haben zur Kenntnis neh- kampf ein. Die Versöhnungsklänge sind offensichtlich men müssen, dass trotz des massiven Einsatzes verfas- darauf ausgerichtet, die Phalanx seiner Gegenspieler sungsrechtlich bedenklicher Mittel die konkurrierende aufzubrechen. Die von Thaksin selbst ausgegebene Koalition nicht zerschlagen werden konnte. Mehr noch, Wahlbotschaft »Versöhnung« richtet sich explizit an die der eskalierende Transformationskonflikt delegitimiert verunsicherten Gegner. Der von der gelben Seite heftig die Institutionen und bedroht den Fortbestand der tra- kritisierte Amnestieplan würde auch die mit Haftstrafen ditionellen Ordnung. Dem Militär ist es trotz der Ein- bedrohten Führer der PAD einschließen. Der Shinawatra- setzung einer Regierung, die die Interessen der tradi- Clan verspricht, auf Rache nach einem Wahlsieg zu tionellen Eliten vertreten sollte, ein weiteres Mal nicht verzichten. Der alarmierten Armeeführung um Gene- gelungen, den politischen Konflikt mit dem Thaksin- ral Prayuth Chan-Ocha signalisierten der ehemalige Lager zu entscheiden. Zwar konnte die Armee unter Armeechef, Thaksins Cousin Chaiyasit Shinawatra, und der in den Barracken geschmiedeten und fortan gegän- die Spitzenkandidatin der Phüa Thai, Yingluck Shinawa- gelten Regierung Abhisit einen deutlichen Zuwachs an tra, mehrfach, dass eine »rote« Regierung ihn im Amt Einfluss und mehr oder minder freien Zugang zu Res- belassen würde. Thaksin verfolgt also eine Doppelstra- sourcen sichern – diese Stellung ist aber im Falle einer tegie: Phüa Thai soll bei den Wahlen das notwendige Phüa Thai geführten Regierung bedroht. Die ständig politische Kapital einsammeln, um nach den Wahlen köchelnden Putschgerüchte der letzten Monate sind – einen Grand Bargain mit den traditionellen Eliten abzu- trotz pflichtschuldiger Schwüre der Militärführung, je- schließen. des Wahlergebnis zu respektieren – ein beredtes Zeug- nis dieser Sorge. Die Muskelspiele des Militärs haben Die Heterogenität der Rothemden macht es schwieriger, die Autorität der Regierung immer weiter untergraben. in der Bewegung eine Tendenz zu erkennen. Einerseits Ob es die Besetzung von Spitzenpositionen in Armee, hat der Crackdown die republikanischen Tendenzen in- die Aufhebung des Notstandes oder die Weigerung zur nerhalb der roten Bewegung massiv verstärkt. Die »Red Zusammenarbeit mit den indonesischen Mediatoren im Siam«-Fraktion steht für diese Seite des »roten« Spek- Grenzkonflikt mit Kambodscha war – die Sicherheits- trums. Der provokante Lautsprecher der »roten« Bewe- kräfte ließen nur wenige Gelegenheiten aus, Premier gung, der Abgeordnete Jatuporn Prompan, hatte sich und Außenminister zu düpieren. über Monate eine verbale Schlacht mit den Sicherheits- kräften geliefert und wurde nach der Auflösung des Par- Um die Fußtruppen der »gelben« Koalition, die People‘s lamentes im Mai wegen vermeintlicher Majestätsbelei- Alliance for Democracy (PAD), war es nach der Bildung der digung verhaftet. Für die moderaten Tendenzen in der »gelben« Regierung still geworden. Der harte Kern der 7
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS Anti-Thaksin-Bewegung fühlte sich von den einstigen erwischt werden sollte. Hätte die Regierung die Legis- Weggefährten verraten und setzte erneut auf die Mobi- laturperiode vollendet, wären die Politikverbote für eine lisierung der Straße, um wieder an Einfluss zu gewinnen. ganze Reihe »rote« Spitzenpolitiker ausgelaufen. Das Die Vorwürfe gegen die ehemaligen Weggefährten sind monatelange Ringen um Parteivorsitz und Spitzenkan- dieselben wie gegen die »roten« Regierungen: »Korrup- didatur der Phüa Thai zeigte dann auch tatsächlich, wie tion« und der »Ausverkauf thailändischer Interessen«. schwer es der größten Oppositionspartei fiel, sich neu Gewichtiger noch ist die zunehmend aggressive Agita- aufzustellen. Die Demokraten schienen dagegen gut tion der Führung der PAD gegen das System der parla- gerüstet. Mit einem prallen Wahlkampfetat und einem mentarischen Demokratie, deren Verteidigung sie im populären Spitzenkandidaten schien ein Wahlsieg über Namen führt. Das Kalkül, durch das Schüren nationalis- die führungslose Opposition möglich. tischer Emotionen die Massen mobilisieren zu können, ist nicht aufgegangen. Nachdem das zusammenge- Ganz so sicher scheint sich die »gelbe« Seite ihrer Sache schrumpfte Häuflein Demonstranten vor dem Regie- aber dann doch nicht gewesen zu sein. Zur Sicherheit rungssitz die Regierung immer heftiger attackierte und wurde eine weitere Strategie für den Showdown mit durch Boykottaufrufe im Vorfeld der Wahlen das konser- der Gegenseite verfolgt: eingraben! Das Jahr nach dem vative Lager zu spalten drohte, hat die selbst ernannte Crackdown wurde dazu genutzt, die Mehrzahl der Insti- Bewegung zum Schutz der Monarchie die Gunst der tra- tutionen mit einer Phalanx aus treuen Verbündeten zu ditionellen Eliten verspielt. Nachdem die Führer der Beset- besetzen. Armee und Polizei werden von Offizieren der zungen des Regierungssitzes und der Flughäfen im Jahre Palastwache geführt. Die Gouverneure in den »roten« 2008 sich bis dato in Sicherheit wiegen konnten, regne- Provinzen des Nordens und Nordostens wurden ebenso te es nun Anklagen. Fulminantes Finale der Selbstzerle- ausgetauscht wie die Distriktchefs. Der Senat wurde mit gung der »gelben« Bewegung war der Machtkampf mit Gegnern Thaksins aufgefüllt. Verfassungsgericht und der aus ihr hervorgegangenen New Politics Party, die sich Wahlkommission wurden massiv unter Druck gesetzt, dem Aufruf zum Wahlboykott widersetzte und Kandida- im Sinne der Eliteninteressen zu entscheiden. Die be- ten für die Wahlen aufstellte. Die radikale, anti-demokra- sonderen Vollmachten des Notstandskomitees Center tische Haltung der PAD-Führung verprellte schließlich for the Resolution of the Emergency Situation (CRES) – die letzten Verbündeten aus der Zivilgesellschaft. Aus hinter vorgehaltener Hand als Nebenregierung kritisiert der einstmals stolzen Volksbewegung zur Verteidigung – wurden mehr oder weniger nach dem Ende des Not- der Demokratie ist ein Häuflein extremistischer Nationa- standes auf das Internal Security Operations Command listen geworden, die die parlamentarische Demokratie (ISOC) übertragen, das de facto weitgehend außerhalb aussetzen oder gleich ganz abschaffen wollen. parlamentarischer Kontrolle operiert. Die Spezialeinheit Department of Special Investigations des Justizministe- Die zentralen Akteure auf der nationalen Bühne wa- riums verfolgt weiter aggressiv die Führer der »roten« ren im Vorlauf zur Neuwahl also allesamt in einer ge- Bewegung. schwächten Position. Keine Seite erscheint stark genug, den Konflikt eindeutig gewinnen zu können. Deal? Oder neue Eskalation? Die Wahlen als Befreiungsschlag In dieser verfahrenen Situation kann die Neu-Wahl wie ein Katalysator wirken, der zumindest eine neue Chance Premierminister Abhisit ist daher wohl zu dem Schluss auf einen Ausgleich zwischen den Kontrahenten eröff- gekommen, dass er nur noch weiter an Gestaltungs- net. In einem solchen Deal könnte Phüa Thai auf den macht verlieren konnte und hat die Flucht nach vorne Premierministerposten verzichten, wenn die »gelbe« angetreten. Mit einem Wahlsieg sollte den Schatten der Seite im Gegenzug der heftig bekämpften Amnestie für Illegitimität, der seit ihrer Bildung unter den strengen Bli- Thaksin zustimmt. Auf diese Option hoffen die kleineren cken des Militärs über der Regierung lag, und die Mobi- Parteien wie die Chat Thai Pattana-Partei unter Vize- lisierung der Rothemden im März 2010 befeuerte, wett- premierminister Sanan Kachornprasart, der sich seit gemacht werden. Der Zeitpunkt der Neuwahlen deutet Monaten mit Versöhnungsinitiativen nach allen Seiten darauf hin, dass die Opposition auf dem falschen Fuß als Kompromisskandidat empfiehlt. 8
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS Diese Chance ist aber nur dann realisierbar, wenn es zu einschlägige Korruptionsverfahren gegen die »gelbe« einer win-win-Situation kommt, die keinen der wichti- Regierungspartei wurde Ende 2010 wegen fadenschei- gen Akteure außen vor lässt. Denn auch die Fortsetzung niger prozessualer Gründe eingestellt. Dem Militär wird oder Eskalation des Konflikts kann im Kalkül einiger Ak- vorgeworfen, bereits im Wahlkampf damit begonnen zu teure liegen, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. haben, Beweise gegen Phüa Thai-Kandidaten zu sam- meln, um eine »rote« Regierung damit unter Druck set- Der harte Kern der PAD hat ein existentielles Interesse an der zen oder gleich ganz verhindern zu können. Wiederbelebung der Proteste – ohne das Feindbild Thaksin dürfte das Schicksal der Gelbhemden besiegelt sein. Sollte Auch Thaksin baut eine Drohkulisse auf. Konfrontiert mit Phüa Thai versuchen, mit einem Amnestiegesetz den Weg den nicht enden wollenden Putschgerüchten drohte er für die Rückkehr Thaksins freizumachen, könnte die gelbe im Wahlkampf, ein erneuter Putsch werde nicht unblutig Bewegung daher wieder auf die Straßen gehen. hingenommen werden. Nicht von ungefähr werden damit Erinnerungen an die Serie von Bombenanschlägen wach- Die Militärführung wird ihre Vetomacht zur Wahrung ihrer gerufen, die Bangkok und die umliegenden Provinzen im Interessen einsetzen. Sollte eine rotgeführte Regierung die letzten Jahr erschütterten. Vorstellbar ist eine erneute in den Putsch 2006 und die Niederschlagung der Straßen- »rote« Protestwelle, sollte Phüa Thai trotz eines Wahlsie- proteste 2010 involvierten Offiziere kaltstellen oder eine ges die Regierungsbildung verwehrt werden – oder ein- Mitsprache der Armee bei der Besetzung des Verteidi- mal mehr eine »rote« Regierung unter fadenscheinigen gungsministeriums verweigern, könnte dies eine erneute Vorwänden durch die Gerichte zu Fall gebracht werden. Einmischung der Armee in die Politik provozieren. Unter dem Vorwand, Drogen zu bekämpfen oder »berufsqualifi- zierende Maßnahmen« durchzuführen, patrouillieren Sol- Thailand kämpft um seine daten die Wahlkreise »roter« Anführer. Von Seiten Phüa politische und soziale Hierarchie Thais wird der Armee vorgeworfen, damit die Dorfbewoh- ner einschüchtern zu wollen. Der verbale Schlagabtausch Das deutet darauf hin, dass die Krise Thailands tiefer reicht zwischen Phüa Thai und dem Armeechef gab der Sorge als der Konflikt zwischen konkurrierenden Eliten und de- über das Verhalten des Militärs nach den Wahlen neue ren Fußtruppen. Der politische Konflikt, der Thailand seit Nahrung. Der künstlich aufgeblasene Grenzkonflikt mit Jahren lähmt, ist im Kern die neue Austarierung der Kräf- Kambodscha könnte daher im Fall der Fälle schnell zu ei- teverhältnisse zwischen den Machtpolen der Gesellschaft, ner Bedrohung der nationalen Sicherheit eskaliert werden, bei der um eine neue politische und soziale Hierarchie und den »Beschützern der Nation« einen Vorwand für gerungen wird. Die Kräfteverhältnisse zwischen diesen eine erneute Intervention in den politischen Prozess bieten. Machtpolen hatten sich in den letzten Jahren schleichend verschoben. Wie in vielen Transformationsländern hat die Vor dem Hintergrund der Ereignisse im Nahen Osten rapide sozio-ökonomische Entwicklung neue wirtschaft- erscheint ein Militärputsch jedoch unwahrscheinlich. liche Eliten und eine breite Mittelschicht geschaffen, die Eleganter lassen sich die Interessen des Establishments nicht mehr im selben Maße von der Patronage der traditio- durch einen »stillen Coup« mittels der Justiz oder der nellen Eliten abhängen und so deren relative Machtstellung Wahlkommission sichern. Mittels dubioser Partei- und untergraben. Entscheidend für die Lösung des politischen Politikverbote wurden bereits 2008 die beiden »ro- Konfliktes wird daher sein, ob es den Akteuren gelingt, das ten« Regierungen Samak Sundaravej und Somchai Verhältnis zwischen den Machtpolen neu auszutarieren. Wongsawat zu Fall gebracht. Wie stark die Justiz in- strumentalisierbar ist,9 hatte sie neben den massen- weisen Verurteilungen von Kritikern noch einmal im 4. Die Transformationskrise: Parteiverbotsverfahren gegen die Demokratische Par- Thailand braucht eine neue politische, tei bewiesen. Das nach Ansicht vieler Beobachter wohl soziale und kulturelle Ordnung 9. Pivavatnapanich, Prasit (2009): »Kanmüang Thai lang pratpahan (…) Der politische Konflikt spielt sich vor dem Hintergrund [Politics after the Coup: The revival of bureaucratic power]«, Bangkok, einer tief greifenden Transformation der Wirtschaft S. 24-40; Saengkanokkul, Piyabutr (2008): »The judiciary and the demo- cracy«, 20.4.2008, http://www.prachatai.com/english/node/601. und Gesellschaft Thailands ab. Die erfolgreiche sozio- 9
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS ökonomische Entwicklung Thailands delegitimiert die Permanenter Konflikt erfordert politische, gesellschaftliche und kulturelle Ordnung, Mediationsmechanismen indem sie das Governance-System überfordert und ihr normatives Fundament an Ideen, Werten, Diskursen Die wirtschaftliche Modernisierung hat die Berufswelt und Identitäten untergräbt. Thailand hat zwar wie viele vieler Thais grundlegend verändert. Diversifiziert haben hybride Systeme eine ausgeklügelte demokratische In- sich auch die Rollenmodelle und Lebensweisen der Men- stitutionenlandschaft, die politische Realität des Landes schen, nicht nur in der Metropole Bangkok, sondern wird jedoch weiterhin maßgeblich von den hinter diesen auch in den Zentren der Tourismusindustrie und den In- Fassaden versteckten traditionellen Herrschaftsstruktu- dustriezonen. Die Gesellschaft lässt sich nicht mehr mit ren bestimmt. Diese traditionellen Strukturen werden je- traditionellen Begriffen wie »Amart« (Aristokratie) und doch derzeit von der sozio-ökonomischen Entwicklung »Prai« (Unterklasse) beschreiben, sondern ist fragmen- untergraben, während die demokratischen Elemente tiert in eine Vielzahl von Schichten, Berufsgruppen, Sub- noch nicht leistungsfähig genug sind, um unter den kulturen, ethnischen und religiösen Gemeinschaften. neuen Bedingungen die gewachsenen Erwartungen der Die Diversifizierung der Lebensbedingungen befördert Gesellschaft zu befriedigen. Der politische Konflikt um eine Vielzahl von widerstreitenden Interessen und Wer- die neue Austarierung der Kräfteverhältnisse zwischen ten. Konflikte zwischen diesen Gruppen sind die Regel, den Machtpolen ist ein Symptom dieser Transformation. nicht die Ausnahme. Vormoderne Methoden mit Kon- Die Krise geht tiefer als der politische Konflikt um die flikten umzugehen – etwa durch staatliche Unterdrü- politische und soziale Hierarchie. Thailand durchlebt die ckung politischen Dissenses oder die Aushandlung von Delegitimierung der traditionellen Ordnung und ringt Kompromissen in kleinen Machtzirkeln – werden von mit sich selbst um die Ausgestaltung eines neuen Ge- der Gesellschaft immer weniger hingenommen. Der ver- sellschaftsvertrags. Die weitere Entwicklung Thailands tikalen und semi-autoritären10 politischen und sozialen wird jedoch von der Lösung der Legitimitätskrise der Ordnung fehlen geeignete Mechanismen, um die per- politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung manenten Interessenskonflikte einer komplexen Gesell- abhängen. schaft zu moderieren und weithin akzeptierte Lösungen auszuhandeln.11 4.1 Krise der politischen und wirtschaftlichen Ordnung: Komplexität und Emanzipation Erwartungshaltungen an die Leistung überfordern das System des Staates verändern sich Komplexität erfordert effektiveres Management Ironischerweise ist es gerade der zunehmende Wohl- stand, der vormoderne Herrschaftsmethoden heraus- Thailand hat in den letzten Jahrzehnten einen spektaku- fordert. Wenn Ressourcen knapp sind, muss Vertei- lären wirtschaftlichen Entwicklungsprozess durchlaufen. lung zwangsläufig auf eine kleine Herrschaftskoalition Bereits am enorm hohen Anteil der Exporte an der Wirt- beschränkt werden, während die übergroße Mehrheit schaftskraft des Landes (2009: 72 Prozent des BIP) lässt der Bevölkerung ausgeschlossen wird. In boomenden sich ablesen, wie tief Thailand in die globale Arbeits- Ökonomien können diese Koalitionen von zwei Seiten teilung integriert ist. Der wirtschaftliche Modernisie- herausgefordert werden: einerseits von alternativen rungsprozess hat die wirtschaftlichen Abläufe ungleich Patronen aus den aufsteigenden Wirtschaftssektoren, komplexer gemacht. Interdependenzen und Wechsel- andererseits durch Verteilungsleistungen des Staates. wirkungen, widerstreitende Interessen zwischen den Die ungebrochene Unterstützung der Armen für die Sektoren und Konflikte über Prioritäten und Ressourcen »rote Koalition« ist entsprechend zu erklären: während sind an der Tagesordnung. Das zentralistische Gover- sich Thaksin geschickt als alternativer Patron stilisier- nance-System ist immer weniger in der Lage, die zu- te, wurden die »Hilfe zur Selbsthilfe«-Programme der nehmende Komplexität in Wirtschaft und Gesellschaft effektiv zu managen. Das überforderte Regierungssys- 10. Chambers, Paul / Croissant, Aurel / Pongsudhirak, Thitinan (2010): Democracy under Stress. Civil-military relations in South and Southeast tem untergräbt die Output-Legitimität der wirtschaft- Asia, Introduction, Bangkok. lichen und politischen Ordnung. 11. Mark Askew (2010): Legitimacy Crisis in Thailand, Chiang Mai, S. 18. 10
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS »roten« Regierungen als ernsthafter Versuch des Staa- politischer Herrschaft aus freien und gleichen Wahlen tes verstanden, die Lebensbedingungen der marginali- nach dem Prinzip »one man, one vote«.12 Das egalitäre sierten Bevölkerungsmehrheit strukturell zu verbessern. Selbstbild als Staatsbürger steht naturgemäß in einem Gerade Letzteres verweist jedoch auf die tiefer gehen- Spannungsverhältnis zur vertikalen sozialen Ordnung. de Veränderung der Erwartungshaltung an den Staat: Die unter den Rothemden um sich greifende, offene Der Staat soll in Zukunft besser auf die Bedürfnisse der Ablehnung der sozialen Hierarchie wird von den tradi- Menschen reagieren und aktiv Lebenschancen für alle tionellen Eliten zu Recht als Bedrohung ihrer privilegier- eröffnen. Staat und Wirtschaft gelingt es bisher nur ten Stellung wahrgenommen. unzureichend, die Lebensbedingungen der Bevölke- rungsmehrheit grundlegend zu verbessern. Abgesehen Aber auch die »gelbe« Wut über die endemische Kor- vom wachsenden Wohlstand der Eliten und Teilen der ruption verweist trotz aller Beschwörungen traditio- Mittelschicht, hatte das Entwicklungsmodell des thai- neller Werte auf einen Wertewandel: den Herrschern ländischen Staates aber keineswegs die Verbesserung werden nicht mehr ohne weiteres »die Früchte des der Lebensbedingungen der marginalisierten Mehrheit Landes« zugestanden. Das Pochen auf die Herrschaft zum Ziel. des Rechts richtet sich zwar vor allem gegen die »ro- ten« Herausforderer der traditionellen Ordnung, zeigt Das zentralistische und semi-autoritäre Regierungs- aber gleichzeitig auch, wie frustriert die Mittelschicht system erfüllt diese neuen Erwartungen an seine Leis- von der endemischen Korruption und Vetternwirtschaft tungsfähigkeit also nur unzureichend. Die prämoderne ist. Die Wurzeln der »gelben« »New Politics« können politische Ökonomie untergräbt daher die Output- entsprechend auf die Verachtung der Zivilgesellschaft Legitimität der politischen und wirtschaftlichen Ord- für die reformunfähige oder -unwillige politische Klasse nung. zurückgeführt werden.13 Auch wenn die Idee, den po- litischen Prozess von Korruption und Vetternwirtschaft durch eine Suspendierung der elektoralen Demokratie Emanzipierte Bürger haben höhere zu reinigen, natürlich fehlgeleitet ist, zeigt sie doch, Erwartungen an den politischen Prozess dass die Bürger vom politischen Personal erwarten, den Staat effizient und unter klarer Beachtung der Trenn- Die neuen Erwartungen an die Leistung des Staates sind linie zwischen privaten und öffentlichen Interessen zu Teil eines breiteren Wandels der Erwartungshaltungen führen. an den politischen Prozess. Das gilt zunächst für eine neue Definition der politischen Rolle der Menschen Allen Repressionen zum Trotz beobachten Zivilgesell- selbst, umfasst aber den gesamten Prozess, wie die schaft, Wissenschaft und Medien die politischen Ent- Gesellschaft ihr Zusammenleben organisiert. scheidungsprozesse und üben ein gewisses Maß an so- zialer Kontrolle aus. Je bewusster sich die Bürger ihrer Im Schlachtruf der »roten« Bewegung »Proud to be politischen Rolle werden, umso selbstbewusster fordern Prai« deutet sich bereits eine Umwertung der Werte sie, Interessen, Werte und Sichtweisen in die Beratungs- an, die politisch geschickt instrumentalisiert werden, und Entscheidungsfindungsprozesse einbringen zu kön- aber dennoch auf tiefer liegenden Verschiebungen in nen. Einseitige Vorgaben von oben werden nicht mehr den Bedeutungssystemen verweisen. »Proud to be ohne weiteres hingenommen. In dem Maße, in dem die Prai« steht für die politische Emanzipation der Unterta- vertikale gesellschaftliche Ordnung erodiert, wächst die nen, für die politische Bewusstseinswerdung als politi- Notwendigkeit, durch horizontale Beratung und Aus- sche Klasse. Die »rote« Klage über die weit verbreiteten handlung zu Ergebnissen zu kommen. Das kann jedoch »Double Standards« richtet sich folgerichtig gegen die nur funktionieren, wenn Deliberation von einer Diskus- gängige Praxis in Justiz und Bürokratie, Menschen aus sionskultur mit allseits akzeptierten kommunikativen Re- verschiedenem Stand mit zweierlei Maß zu messen. geln getragen wird. Hier liegt eine besondere Herausfor- Die Botschaft ist klar: auch Prai sind Staatsbürger mit derung für Thailand. gleichen Rechten und Pflichten. Die »roten« Demons- trationen waren im Kern Bekenntnisse zu den Grundsät- 12. Mark Askew (2010): aaO, S. 9. zen der elektoralen Demokratie: alleinige Legitimation 13. Mark Askew (2010): aaO, S. 8 f. 11
MARC SAXER | THAILAND IM TAUMEL DES WANDELS Die traditionelle Legitimation politischer Macht sowie die kann. Die Souveränität des Volkes steht naturgemäß in exklusive Aushandlung von Entscheidungen in Hinter- einem Spannungsverhältnis zu anderen Verortungen zimmern entsprechen diesen Erwartungen nicht mehr. der Souveränität, das erst in der Kompromissformel der Die chronischen Defizite des politischen Prozesses wer- konstitutionellen Monarchie auflösbar ist. Diese neuen den nicht länger toleriert. Die egalitäre Emanzipation der Werte und Ideen fordern die normativen Fundamente Bürger fordert die vertikale Ordnung heraus. Das Aus- der traditionellen Ordnung heraus. einanderfallen von Erwartungen und Realität erodiert die Legitimität der gesellschaftspolitischen Ordnung. Normative Widersprüche bergen Konfliktpotential 4.2 Krise der sozialen und kulturellen Ordnung: Die Vorstellungen und Erwartungen verändern sich aber Neue Ideen und Pluralität untergraben keineswegs gleichförmig zu einem neuen, allgemeingül- das normative Fundament tigen Paradigma. Vielmehr entsteht eine Vielzahl von Weltanschauungen, Bedeutungssystemen und Erzäh- Neue Ideen fordern die alten Gewissheiten heraus lungen, die sich zu neuen Wertegemeinschaften, sozia- len Bewegungen oder politischen Projekten zusammen- Die neuen Erwartungen an den Staat und an die Qua- schließen. Die grundlegend verschiedenen Erklärungen lität des politischen Prozesses sind Teil einer größeren der Gelb- und Rothemden über die Ursachen der Kri- Verschiebung und Diversifizierung der Werte, Konzep- se und die geeignetsten Wege zu ihrer Lösung deuten te, und Identitäten in der Gesellschaft. Die Veränderung auf zutiefst gegensätzliche Visionen einer »Guten Ord- der Lebensbedingungen verschiebt die Perspektiven und nung« und Konzepte zur Legitimation von Herrschaft verändert die Bedürfnisse, Haltungen und Ansichten der hin. Die »gelbe« Vision einer durch traditionelle Werte Menschen. Die Einbindung der Wirtschaft in die globa- geeinten Gesellschaft steht in einem Spannungsverhält- le Arbeitsteilung und die zunehmend kosmopolitischen nis zum emanzipatorischen Projekt der »roten« Seite, Lebensläufe der Eliten und Mittelschichten bringen neue das die Pluralität von Identitäten, Interessen und Mei- Ideen ins Land. Die Zahl der in Thailand lebenden Aus- nungen anerkennt. Der harte Kern der PAD lehnt dem- länder aus den unterschiedlichsten Ländern wächst be- entsprechend die parlamentarische Demokratie ab und ständig. Mit ihnen verbreiten sich Einflüsse und Ideen fordert stattdessen die Einsetzung tugendhafter Führer aus den unterschiedlichsten kulturellen und politischen durch die höchste moralische Autorität – den Monar- Kontexten in der thailändischen Gesellschaft. Westliche chen. Die »rote« Bewegung akzeptiert dagegen die Nor- und ostasiatische Einflüsse wetteifern um die Gunst der malität der widerstreitenden Interessen und Werte, und Jugend. sucht nach neuen Mechanismen, die eine demokratische Willensbildung unter diesen Bedingungen ermöglichen. Mit diesen neuen Ansichten, Werten und Diskursen verbreiten sich auch neue Ideen und Konzepte über In dieser Unterschiedlichkeit der Werte und Weltan- das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, über die Le- schauungen liegt enormes Konfliktpotential. Das wird gitimität politischer Herrschaft und über den Modus noch gesteigert, wenn der Konflikt auf die nationalen der gesellschaftlichen Willensbildung. Thai-Werte wie Symbole übertragen wird. Der rapide Wandel der Le- Samakii (Einheit) und Sa Ngop (Ruhe) werden dort in- bensbedingungen, Lebensweisen und Rollenbilder führt frage gestellt, wo sie der Meinungsfreiheit und dem in Transformationen regelmäßig zu Identitätskrisen. Die Ideal demokratischer Willensbildung entgegenstehen.14 nationalen Symbole und Traditionen sollen in Zeiten ra- Die Erwartungen, wie Herrschaft legitimiert und kon- santen Umbruchs, in denen kaum etwas so bleibt, wie trolliert werden soll und wie die Gesellschaft Entschei- es war, Halt geben. Nicht von ungefähr kristallisieren dungen über ihr Zusammenleben trifft, verändern sich. sich politische Konflikte um symbolische Fragen herum, Mit der politischen Bewusstseinswerdung der Unterta- die das komplexe und wenig greifbare Geschehen für nen als Bürger ist die Erwartung verbunden, dass nur die Menschen sichtbar und fühlbar machen. Die extre- das Volk als Souverän politische Herrschaft legitimieren me Paranoia um den angeblichen »Ausverkauf der Na- tion« oder die »Bedrohung der Monarchie« eignet sich 14. Mark Askew (2010): aaO, S. 16. daher ausgezeichnet zur politischen Mobilisierung, weil 12
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