Der Ukraine-Konflikt Dossier VII
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M o n i t or i ng- Pr oj ekt Zivile Konfliktbearbeitung · Gewalt- und Kriegsprävention Dossier VII Der Ukraine-Konflikt Kooperation statt Konfrontation Vorgelegt von Andreas Buro und Karl Grobe mit Zuarbeit von Clemens Ronnefeldt Herausgegeben von der Kooperation für den Frieden
Impressum Kooperation für den Frieden (www.koop-frieden.de) Herausgeberin: Kooperation für den Frieden ist ein Zusammenschluss friedenspolitisch Römerstraße 88 · 53111 Bonn aktiver Organisationen und Initiativen in der Tel. 02 28/69 29 04 · Fax 02 28/69 29 06 Bundesrepublik Deutschland. info@koop-frieden.de Die Kooperation für den Frieden www.koop-frieden.de n organisiert Diskussions- und Beratungsprozesse in Zusammenarbeit mit innerhalb der Friedensbewegung dem Förderverein Frieden e.V. n fördert den Austausch von Informationen Spendenkonto: Förderverein Frieden e.V. und Einschätzungen zwischen Organisationen Kto.-Nr. 4041 860 401 und Gruppen GLS Bank, BLZ 430 609 67 n unterstützt oder initiiert Veranstaltungen Stichwort: Monitoring-Projekt und Kampagnen Monitoring-Projekt: Zivile Konfliktbearbeitung, n veröffentlicht die aus diesen Prozessen Gewalt- und Kriegsprävention hervorgegangenen Positionen Dossier VII: Der Ukraine-Konflikt n verbreitet Aktionsvorschläge für Grafik & Satz: kippconcept gmbh, Bonn die Friedensarbeit Fotos: Maksymenko Olsekandr n ermöglicht persönliche Kontakte zwischen 1. Auflage September 2014; 5.000 Exemplare Aktiven, z.B. bei der Mitarbeit im Koopera Bestellung und Preise siehe Rückseite tionsrat oder bei den jährlichen Konferenzen. Text und v.i.S.d.P.: Andreas Buro, Karl Grobe c/o Kooperation für den Frieden Die Dossiers der Monitoring-Reihe als PDF finden sich unter www.koop-frieden.de/das-monitoring-projekt/ Mitwirkende der Kooperation für den Frieden Aachener Friedensmagazin aixpaix; Aachener Friedenspreis e.V.; Aktionsbündnis Freiheit statt Angst e.V.; Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF); Aktionsgemeinschaft Friedenswoche Minden; Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (asfrab); Bil- dungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion KURVE Wustrow; BI OFFENe HEIDe; Bremer Aktion für Kinder (BAKI); Bremer Friedens-forum; Bund demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi); Bund für soziale Verteidigung (BSV); Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU); Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW); Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK); EUCOMmunity; Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK); Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland – Friedensausschüsse; Forum Friedensethik in der Evangelischen Landes- kirche in Baden; Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e.V.; Frauen in Schwarz Hamburg; Frauen in Schwarz Köln; Frauennetzwerk für den Frieden e.V.; Friedensbündnis Braunschweig; Friedensfestival Berlin; Friedensforum Münster; Friedensgruppe Altenholz; Friedensinitiative Kyritz-Ruppiner Heide; Friedensinitiative Nottuln e.V.; Friedensrat Müll- heim; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Hauptvorstand; Heidelberger Friedensratschlag; IALANA (International Association of Lawyers against Nuclear Arms); IFIAS (Institute for International Assistance and Solidarity); Impuls-Afghanistan e.V., Ravensburg; Infostelle für Friedensarbeit, Meckenheim; Initiative Musiker/innen gegen Militärmusikkorps; IPPNW, Deutsche Sektion der internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung; Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit; Internationaler Versöhnungsbund – deutscher Zweig (VB); Keine Waffen vom Bodensee; Komitee für Grund- rechte und Demokratie; Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung in der Region Ingolstadt; Lebenshaus Schwäbische Alb; Leserinitiative Publik e.V.; Menschen für den Frieden/Anti-Kriegsbündnis Düsseldorf; Mönchengladbacher Friedensforum; Natur- wissenschaftlerInnen-Initiative „Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit“; Netzwerk Friedenskooperative; Netzwerk Friedens- steuer; Ökumenische Initiative zur Abschaffung der Militärseelsorge; Ökumenisches Friedensnetz Düsseldorfer Christinnen und Christen; Ökumenisches Netz Württemberg; Ökumenisches Zentrum für Umwelt-, Friedens- und Eine-Welt-Arbeit, Berlin; Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF); pax christi/Deutsche Sektion; RIB e.V. – Rüstungsinformations Büro Baden-Württemberg e.V.; Rhöner Friedenswerkstatt im UNESCO Biosphärenreservat, Künzell; Sichelschmiede, Werkstatt für Friedensarbeit in der Kyritz-Ruppiner Heide; Ulmer Ärzteinitiative; Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der AntifaschistInnen (VVN-BdA); Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden; Würselener Initiative für den Frieden (Stand 8/2014) l 02 Der Ukraine-Konflikt
Editorial Der Ukraine-Konflikt, der noch vor drei Jahren kaum vorstellbar war, birgt gefährliches Eskalati- onspotential in sich. Er spielt sich auf drei Ebenen ab, der Konfrontation zwischen den West- und Ost-Großmächten, auf der Ebene der innergesellschaftlichen Gegensätze der Ukraine und im bislang wenig beachteten Bereich zwischen den USA und der EU. Militärstrategische wie wirtschaftliche Komponenten sind von großer Bedeutung. Ohne einen Blick auf die Geschichte, sind die vielen Fäden des Konfliktes nicht zu entwirren. Die Gefahr der Eskalation des Konflikts ist beträchtlich. Sie darf nicht zum Selbstläufer werden, den möglicherweise keiner der Konfliktakteure unter Kontrolle bekommt, sei es aus außen- oder innenpolitischen Gründen. Unser Dossier hat zum Ziel, die Mög- lichkeiten einer Deeskalation darzustellen und damit einen Weg vorzuzeichnen, der Konfrontation zu Kooperation werden lässt. Auf ihrer Strategiekonferenz im Januar 2005 hat die „Kooperation für den Frieden“ – eine Dachorganisation von etwa 60 Friedensorganisationen in Deutschland – beschlossen, ein ‚Moni- toring Projekt für Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention’ aufzubauen, um gewaltsamen, militärischen Konfliktaustrag überwinden zu helfen. In diesem Sinne soll an Hand konkreter krisenhafter eskalationsträchtiger Situationen im Einflussbereich von BRD und EU gemahnt werden, rechtzeitig mit zivilen Mitteln zur Deeskalation und – wo möglich – zur Lösung von Konflikten beizutragen. Neben der Situationsanalyse sollen deshalb Vorschläge für zivile Kon- fliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention unterbreitet und auf gelungene Bemühungen dieser Art hingewiesen werden. Unser Monitoring soll auch dazu dienen, in Politik, Medien und Öffentlichkeit zivile Kon- fliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention als Leitkonzepte zu verankern. Damit wollen wir die Möglichkeiten verbessern, über Druck aus der Gesellschaft die Schaffung und Stärkung der für unsere Alternativen erforderlichen Voraussetzungen (Institutionen, Strukturen, Ausbildungen und finanziellen Mittel) in der Politik durchzusetzen. Möge es gelingen oder doch wenigstens dazu beitragen! Dieses Dossier ist das erste, das ohne die Mitwirkung von Mani Stenner herausgegeben wird. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir sein Fehlen schmerzlich spüren. Susanne Grabenhorst 03 l
Die Grundkonstellation des aktuellen Konflikts Was lässt sich über das scheinbare Chaos halbwegs sicher sagen? Die Krim ist Russland einverleibt – das teidigungsministeriums der USA gestellt, um scheint nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt humanitäre und andere Missionen auszufüh- zu werden, obwohl diese Usurpation aus ren. Das ist eine sehr wichtige Aussage, um rechtlichen und pazifistischen Gründen nicht die Spannungen zu verringern“, Saakaschwi- gebilligt werden kann. Sie ist aus machtpoli- lis Worte und Georgiens Eingreifen in Süd- tischen, militärischen Gründen zu erklären. Ossetien waren der Versuch, die USA in den Sicher ist auch, dass am Ende des West- Konflikt einzubeziehen und mussten in Mos- Ost-Konflikts US-Präsident Bush sen., kau sehr bedrohlich wirken. So ist kaum zu US-Außenminister Baker und nicht zuletzt bezweifeln, dass Moskau mit dem Eingreifen NATO-Generalsekretär Wörner Michael in Georgien 2008 eine erste deutliche War- Gorbatschow versicherten, die Staaten des nung an den Westen gab, diese Politik der ehemaligen Warschauer Pakts würden nicht militärischen Einkreisung nicht fortzusetzen. Mitglieder der NATO werden. Die NATO Doch der Westen blieb schwerhörig, wie er würde also nicht an die Grenzen der Sowjet- bereits ein Jahr zuvor warnende Äußerungen union rücken. Putins auf der Münchener Sicherheitskonfe- Nichts dergleichen geschah. Die EU und renz ignoriert hatte. Vor diesem historischen im Gefolge die NATO expandierten gen Hintergrund ist der Konflikt um die Ukra- Osten. Nach 1999 traten Polen, Tschechien, ine vorrangig als ein strategischer Konflikt Ungarn, nach 2004 Bulgarien, Estland, Lett- zwischen zwei nuklearen Großmächten und land, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowe- ihren Bündnispartner zu verstehen. nien und nach 2009 Albanien und Kroatien Diese Annahme ist angesichts der vehe- der NATO bei. Fast alle sind Länder, die menten Unterstützung der aufständischen einst zur Sowjetunion oder zum sogenannten Kräfte in der Westukraine durch den Westen Ostblock gehörten. keineswegs abwegig, die angesichts der von Sicher ist ebenso: Die Bemühungen um Russland geförderten separatistischen Bewe- weitere NATO-Beitritte sind damit nicht gungen in der Osturkraine übersehen wird. beendet. Georgien, Moldawien und die Uk- Die für Europa und Eurasien zuständige Ab- raine waren und sind die nächsten Kandi- teilungsleiterin des US-Außenministeriums daten. EU-Assoziierungsabkommen dienen Victoria Nuland berichtete am 13. Dezember als Vehikel zu diesem Ziel. 2013 in Washington vor der U.S.-Ukraine Es ist ferner kaum zu bezweifeln, dass der Foundation, die US-Regierung habe seit Kreml diese NATO-Einkreisung als Bedro- 1991 mehr als fünf Milliarden US-Dollar für hung empfindet. eine „wohlhabende und demokratische Uk- Am 13. 8. 2008 verkündete Georgiens raine“ investiert. Mit dieser Summe sollten Präsident Michail Saakaschwili in einer Fern- die Voraussetzungen geschaffen werden, die sehansprache. „Die georgischen Häfen und Ukraine der EU zuzuwenden. Die westliche Flughäfen werden unter Kontrolle des Ver- Strategie beruht auf dem ausgehandelten aber l 04 Der Ukraine-Konflikt
dann vom damaligen ukrainischen Präsi- Die Bürgerinnen und Bürger, die vor denten Janukowytsch nicht unterzeichneten allem in Kiew und den westlichen Landes- Partnerschaftsvertrag mit der EU. Der Ver- teilen der Ukraine den Protest gegen die Ja- trag hätte eine Westorientierung der Uk- nukowytsch-Präsidentschaft getragen haben, raine bewirkt. Die bisherige Bindung an fürchteten zu Recht, ihre demokratischen Russland wäre deutlich verringert worden. Freiheiten würden zunehmend erstickt wer- Das Vordringen des Westens in den ehe- den. Sie hoffen wohl auch auf eine bessere maligen Herrschafts- und nun zumindest wirtschaftliche Entwicklung durch den As- Einflussbereich Russlands ist die dominante soziierungsvertrag. Ihr Aufstand wurde je- strategische Komponente der aktuellen Aus- doch von sehr unterschiedlichen politischen einandersetzung über die Ukraine. Die große Kräften getragen, darunter auch marginalen, Heterogenität von Bevölkerung, Land und aber höchst aktiven nationalistischen bis fa- Wirtschaft sind vor allem als die taktischen schistischen. Während die westliche Ukraine Elemente in der Auseinandersetzung zu se- schon seit langer Zeit trotz einer furchtbaren hen. Vergangenheit auf Mittel- und Westeuro- Der Kreml will offensichtlich den Marsch pa kulturell und sprachlich ausgerichtet ist, des Westens nach Osten nicht länger hinneh- orientiert sich der Osten in Teilen nach Rus- men. Nach dem Aufstand gegen die korrupte sland und spricht auch Russisch. Die großen Janukowytsch-Regierung und der zweifel- Bodenschätze liegen im östlichen Teil des haften Legitimität und demokratischen Bo- Landes. Die dortige verarbeitende Industrie nität der neuen provisorischen Regierung in ist ein wichtiger Zulieferer für die russische Kiew spielte Russland die alte Regierung ge- Rüstungsindustrie. gen die neue aus und ging zur Unterstützung Zu der Grundkonstellation des Konflikts separatistischer Bewegungen über. Es lässt Ja- gehören auch die Differenzen zwischen den nukowytsch aus dem Exil im russischen Ro- USA und der EU. Die USA sind im Handel stow die neue Regierung in Kiew als faschi- und mit Investitionen in Russland weit we- stisch und anti-semitisch, sowie sich selbst niger involviert als die EU-Staaten. Sie sind weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten der außerdem nicht von Gas- und Öllieferungen Ukraine bezeichnen. aus Russland abhängig, die für die EU-Staa- Der Konflikt löste Befürchtungen in den ten von großer Bedeutung sind. ehemaligen Mitgliedsländern des Warschau- er Pakts wie Polen und den ehemaligen So- Die Fortdauer der west-östlichen wjetrepubliken mit starken russischen Min- militärischen Abschreckungspolitik in derheiten ( Estland, Lettland ) aus. Könnten ihrer Bedeutung für den Konflikt russische Übergriffe auch sie treffen? Sie fordern eine militärische Verstärkung. Doch Nach dem Ende des West-Ost-Konflikts hat- haben sie wirklich als NATO-Mitglieder ei- ten viele damit gerechnet, das System der ge- nen Angriff zu erwarten? Das wäre nur vor- genseitigen militärischen Abschreckung wür- stellbar, falls es zu einer großen kriegerischen de bald der Vergangenheit angehören. Die Auseinandersetzung zwischen Russland und USA und Russland würden gemäß ihren Ver- der NATO käme. pflichtungen aus dem Atomwaffen-Sperrver- 05 l
von Raketenabwehrsystemen in Europa. An- geblich seien sie gegen iranische Atomrake- ten gerichtet, die es jedoch noch gar nicht gab. Russlands Strategen dürften dies anders wahrnehmen. Die Raketenabwehr soll das Abschreckungspotential Russlands tenden- ziell ausschalten, indem sie russische strate- gische Raketen bereits nach dem Start ab- schießen könnte. Die US-Strategie zielt also mit den genannten Entwicklungen auf eine potentielle militärische Überlegenheit. Diese würde es den USA erlauben, einseitige mi- litärische Aktionen vorzunehmen, ohne auf Russlands Einwände oder militärischen Po- tentiale Rücksicht nehmen zu müssen. Nach 1999 traten drei ehemalige Sowjetrepubliken der NATO bei, ebenso wie sechs frühere Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts und zwei Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die Es- kalation der ukrainischen Krise veranlassten die USA in den drei baltischen Staaten sowie in Polen längerfristig kleine Kontingente von US-Truppen zu stationieren. trag ihre strategischen Waffen entsorgen. Verbindet man diese US-Militär-Bemü- Das trat jedoch nicht ein. Es wurde zwar die hungen mit der systematischen Ausweitung Anzahl vermindert, aber insbesondere die der NATO-Mitgliedschaften gen Osten und USA arbeiteten konsequent auch während der Perspektive, die Ukraine würde Bünd- der Präsidentschaft Obamas an der Moder- nispartner der NATO, so lässt sich aus mi- nisierung ihrer Waffensysteme. Zuvor hatte litärischer Logik der Griff Russlands auf die Präsident Reagan den ABM-Vertrag einseitig Krim begreifen, wenn auch nicht billigen. gekündigt. Er sollte die Verwundbarkeit von Man stelle sich vor, die NATO würde un- Städten in beiden Ländern garantieren und mittelbar neben dem wichtigsten russischen damit einen totalen Schutz durch Rake- Marinestützpunkt Sewastopol ihren eigenen tenabwehrsysteme verhindern. So sollte die Stützpunkt bauen. Zudem werden in der Os- gegenseitige Zweitschlagsfähigkeit und damit tukraine wichtige Komponenten für die rus- die Sicherheit des Abschreckungssystems ge- sische Rüstungsindustrie gefertigt. Russische festigt werden. Die Kündigung erlaubte den Kommentatoren haben die Osterweiterung USA jedoch, alle wichtigen Ziele in den USA der NATO des längeren mit den roll-back- mit Abwehrraketen abzusichern. Strategien der USA am Anfang des Kalten Parallel dazu bemühten sich die USA und Krieges verglichen. die NATO hartnäckig um die Stationierung l 06 Der Ukraine-Konflikt
Die Eskalationsentwicklung des Konflikts ( Zur Vorgeschichte s. Anhang 1) Seit der Unabhängigkeit der Ukaine setzten „Orangen“ Bewegung desillusioniert waren. sich Aufsteiger aus der sowjetischen Ma- Eine unpopuläre Kultur- und Sprachpolitik nagement-Schicht sowie den Geheimdiens- der Partei der Regionen (Janukowytsch) ten in den Besitz der entscheidenden Pro- vertiefte die bestehenden Gegensätze zwi- duktions- und Dienstleistungsunternehmen, schen der Westukraine einerseits und der verhinderten Entflechtungen und Reformen Ostukraine sowie der Zentralregierung an- und kontrollieren seither die Volkswirtschaft dererseits. der Ukraine. Die zwischen verschiedenen Nach 2008 wurde die rechtsradikale Par- Oligarchen-Gruppen widerstreitenden Inte- tei Swoboda, die sich explizit auf Stepan ressengegensätze – Russland-Beziehungen, Bandera beruft, zur stärksten Partei in zwei West-Interessen – ermöglichten eine landes- Regionen Galiziens, in denen allerdings ad- spezifische Parteien- und Medienvielfalt. ministrative Maßnahmen die Wahlkandida- Diese Strukturen spiegelten sich deut- tur der größeren „orangen“ Parteien verhin- lich zuerst in der Präsidentenwahl von dert hatten. Bandera (1909–1959) war als 2004/2005 und der „Orangen Revolution“. Führer des faschistischen Bataillons Nach- Diese vermochte es nicht, den verschiedenen tigall aus Exilukrainern verantwortlich für Oligarchen-Clans die politische Macht strei- den Massenmord an 7.000 Juden in Lemberg tig zu machen. Sie bewirkte aber eine tief- 1941, darunter sämtlicher jüdischer Profes- ere Spaltung zwischen Oligarchengruppen soren. Kurzzeitig im KZ, wurde er 1944 für „pro-westlicher“ (Timoschenko, Juscht- den Partisanenkrieg gegen die Sowjetunion, schenko) und „pro-russischer“ (Janukowy- der bis 1954 anhielt, reaktiviert. Präsident tsch u.a.) Orientierung. Danach förderten Juschtschenko wertete ihn 2009 zum Natio- westeuropäische Nichtregierungsorganisati- nalhelden auf. In der Westukraine wird Ban- onen, aber auch staatliche und überstaatli- dera ebenso verehrt wie seine ‚Aufständische che Institutionen einseitig die im Norden Armee‘ (UPA). In der Ostukraine gelten sie und Westen überwiegenden Parteien und eher als Helfershelfer der NS-Diktatur. Politiker. Die Wiedererringung der Mehr- Seit September 2008 hatten der damalige heit durch Janukowytschs Regierung – nach Präsident Viktor Juschtschenko und die EU vielen Frontwechseln von Parteien und Po- über ein Wirtschaftsabkommen verhandelt. litikern – und ökonomische Druckmittel Über dessen militärpolitische Klauseln wur- (Erdgaslieferungen, Absatzmarkt Russlands de die Öffentlichkeit kaum informiert. Ein für Rüstungsgüter u.a.) sorgten für größeren halbes Jahr später trat die Ukraine der „Öst- russischen Einfluss, der allerdings propagan- lichen Partnerschaft“ der EU bei, einer Grup- distisch stark überzeichnet wurde. pe von Staaten, denen die EU wirtschaftliche Unterdessen zogen rechtsradikale Be- Vergünstigungen und engere Zusammen- wegungen besonders in der Westukraine arbeit oder sogar Mitgliedschaft in Aussicht größere Schichten an, die vom Versagen der stellte. Es handelte sich um die ehemaligen 07 l
Sowjetrepubliken Belarus, Moldawien, Ge- einen Beitritt haben Meinungsumfragen zu orgien, Aserbaidschan, Armenien, das aller- keiner Zeit zeigen können. dings enge Beziehungen zu Russland unter- Neuer Massenprotest folgte in Kiew hält, und nun auch um die Ukraine. Deren (Euromaidan; Maidan = Platz; nämlich der wirtschaftliche und politische Beziehungen Unabhängigkeit) und Lemberg. Anfang De- zu Russland, mit dem die EU eine Reihe zember stieg die Zahl der Demonstranten eigener Abkommen geschlossen hatte, sollten bis 800.000 an. Der Unabhängigkeitsplatz durch die „Östliche Partnerschaft“ nicht tan- (kurz: Maidan), das Kiewer Rathaus und giert werden, jedoch warb Juschtschenko für einzelne Ministerien wurden besetzt. Dabei den Beitritt. traten rechtsextreme Gruppen – Swoboda, Die Präsidentenwahl im Januar und Fe- Prawy Sektor – besonders aktiv auf. Gegen bruar 2010 gewann Viktor Janukowytsch in die Kundgebungen schritt die Sonderpolizei der Stichwahl knapp gegen Julia Timoschen- Berkut ein und nahm (bis Januar) insgesamt ko. Gegen diese wurden alsbald – politisch 234 Demonstranten fest. Mehrere Demons- motivierte – Strafverfahren wegen Machtmi- tranten wurden erheblich verletzt. ssbrauch während ihrer Amtszeit als Regie- Die auf dem Maidan, zunehmend auch rungschefin eingeleitet. Timoschenko durfte in anderen Städten, Demonstrierenden for- die Ukraine nicht mehr verlassen und wurde derten allgemein den Rücktritt der Regie- inhaftiert. Die politische Spaltung zwischen rung und des Präsidenten. Abgesehen von dem Lager Janukowytschs und dem Timo- Forderungen nach Verringerung des Oligar- schenkos (und Juschtschenkos, der allerdings chen-Einflusses wurden soziale Fragen kaum kaum mehr eine Rolle spielte) war tiefer laut. Der „Maidan“ stellte sich als Protest- geworden. Sie stellte sich auch als geogra- bewegung des städtischen, intellektuellen phische Spaltung dar. Timoschenko wurde Mittelstandes dar, was der Wählerschaft der in der westlichen Öffentlichkeit zum Sinn- Oppositionsparteien und dem Bild des ersten bild der Demokratie stilisiert; ihre frühere Maidan von 2004/2005 gut entspricht. Stim- Tätigkeit im Gasgeschäft, durch die sie vor men gegen die Übermacht der Oligarchen 1996 zur reichsten ukrainischen Oligarchin traten mehr in der westlichen und der nicht geworden war, und damit zusammenhän- großstädtisch geprägten nördlichen Ukraine gende justiziable Maßnahmen wurden aus- auf, in der Westukraine trat die Swoboda als geblendet. Organisator der Proteste hervor. Das EU-Abkommen unterzeichnete Ja- Unter den Oligarchen hielten sich die nukowytsch nicht. Am 21. November 2013 wichtigsten Donbass-Wirtschaftsführer zu- fällte seine Regierung einen entsprechenden rück. Ihre Geschäftsinteressen richteten sich Beschluss. Gleichzeitig wurde Timoschenko sowohl auf Russland – dessen Präsident sich ein weiteres Mal die Ausreise verweigert. deutlicher hinter Janukowytsch stellte – als Für ihre Freilassung und vor allem gegen die auch auf Westeuropa und Nordamerika. Le- Korruption Janukowytschs und seiner Um- diglich der Oligarch Petro Poroschenko, der gebung hatte es seit Mitte November Kund- das Süßwarengeschäft monopolisiert hatte gebungen gegeben. Eine eindeutige Mehrheit und dem ein landesweites Fernsehnetz ge- für eine Annäherung an die EU oder gar für hörte, unterstützte die Protestbewegung of- l 08 Der Ukraine-Konflikt
fen. Sein Netz des Schokoladenhandels in Stockwerken. Doch gelang es nicht, sie nach Russland wurde dort boykottiert. den Hintergründen und Motiven zu befra- Russlands Präsident Putin kam am 17. gen. Oft wurde die Spezialpolizei Berkut Dezember 2013 der Regierung Janukowy- als Tätergruppe genannt. Indizien scheinen tsch durch den Aufkauf einer Staatsschuld die Verantwortung regierungsnahen Kräften von $ 15 Mrd. und erhebliche Senkung des teilweise zuzumessen. Doch ist eine Täter- Gaspreises entgegen. Den erwünschten Ef- schaft, wenigstens Mittäterschaft, des rechten fekt auf die Demonstranten hatte dies nicht. Flügels der Maidan-Besetzer nicht widerlegt Als dynamische Kraft zeigte sich seit worden. Die folgende Debatte nützte haupt- November 2013 eine unstrukturierte Volks- sächlich der bürgerlichen Opposition, weil bewegung. Sie bestimmte, unter zeitweilig die Opfer durchweg zu ihr gehörten; außer- starkem Druck weit rechtsstehender Ele- dem wurden Berichte in den regierungstreu- mente, den Fortgang der Entwicklung bis en Medien als noch weniger glaubwürdig wenigstens zum Februar 2014, dem Sturz wahrgenommen als deren Konkurrenten. Janukowytschs und noch nach der Über- In den Bezirkshauptstädten der Westu- gangs-Vereinbarung, die von den drei West- kraine besetzten in derselben Zeit Demons- Außenministern erwirkt, vom „Maidan“ aber tranten die Sitze der regionalen Regierungen. verworfen wurde Dabei waren Angehörige der rechtsgerich- Maßnahmen der Übergangsregierung teten Swoboda-Partei aktiv. In Lwiw (Lem- verursachten die Rebellion in ostukrainischen berg) und Ternopil hatte Swoboda als einzige Bezirken, besonders die Rücknahme des dezidierte Opposition zuvor Regionalwahlen Sprachgesetzes der Janukowytsch-Regierung. gewonnen – in Abwesenheit der dort admi- Die Rücknahme wurde wahrheitswidrig von nistrativ nicht zugelassenen Koalition der russischsprachigen Gruppen als Verbot der Parteien Timoschenkos und Juschtschenkos. russischen Sprache dargestellt. Die so akzen- Regierungschef Mykola Asarow trat am tuierte Regionalisierung zog Sezessionismus 29. Januar zurück. Das Parlament zog die nach sich, der in weiterer Eskalation zur scharfen Demonstrationsgesetze zurück und Konfrontation der NATO, der USA und der versprach, alle Anklagen gegen Demons- EU mit Russland führte. Im einzelnen ist zu tranten fallen zu lassen, wenn diese die be- nennen: setzten Gebäude freigäben, was nicht ge- Am 16. Januar 2014 eskalierte die Lage, schah. als das Parlament (Verchowna Rada) re- Bis zum 20. Februar nahmen die Kämpfe striktive Demonstrationsgesetze erließ, und weiter zu. An diesem Tage wurden nach erstmals töteten Scharfschützen zwei Pro- offiziellen Angaben 88 Menschen getötet, testler durch gezielte Schüsse. In diesem wie meist von Schützen in Tarnuniform und mit in späteren Fällen blieben der Hintergrund Masken versehenn. und die politische Orientierung der Täter In Kiew bemühten sich die Außenmini- ungeklärt. Auch in dem den Maidan über- ster Laurent Fabius (Frankreich), Frank-Wal- blickenden Hotel, in dem viele Fernseh- ter Steinmeier (Deutschland) und Radosław teams untergebracht waren, bewegten sich Tomasz Sikorski (Polen) um Konfliktlö- vermummte Scharfschützen in mehreren sung. Die Einmischung der drei Außenmi- 09 l
nister bewirkte, dass Präsident Janukowytsch dem Euromaidan, ein politischer Umsturz am 21. Februar die Bereitschaft zum Amts- geworden. verzicht erklärte bei gleichzeitig für Ende Die im Mai folgende Wahl des Oligarchen 2014 geplanten Parlamentswahlen, jedoch Petro Poroschenko zum Staatspräsidenten wurde diese Einigung bereits am selben Tag legalisierte den Umsturz nur teilweise. Bei von der Protestbewegung abgelehnt, worauf den Wahlen entfielen auf die rechtsxtremen Janukowytsch das Land verließ. Die Öffnung Gruppierungen zusammen nur zwei Prozent seiner sehr ausgedehnten Liegenschaft Mez- der Stimmen, eine Stichwahl war nicht erfor- hyhirja diente öffentlichkeitswirksam seiner derlich, da Poroschenko im ersten Wahlgang Diskreditierung. über 50 Prozent der Stimmen erhielt. Als neue Machthaber präsentierten sich In der Zeit vor der Wahl am 25. Mai Arsenij Jazenjuk (stellvertretend für Julia Ti- 2014 spielten sich außerhalb der Hauptstadt moschenko und ihre Partei), Vitalij Klitschko folgenschwere Ereignisse ab. Am 1. März (für die von der Konrad-Adenauer-Stiftung billigte die russische Staatsduma den Antrag finanzierte Partei Udar) und Oleh Tjahnibok Putins, russische Streitkräfte in der Ukraine (Chef der rechtsradikalen Swoboda). Die als zum Schutz russischer Interessen einzusetzen. faschistisch eingestufte paramilitärische Or- Der ukrainische Interims-Premier Jazenjuk ganisation Prawy Sektor (Dmytro Jarosch) bezeichnete das als eine „effektive Kriegser- wurde an der Macht beteiligt. Der informelle klärung“. Maidan-Rat delegierte u.a. Andrij Parubij Auf der Krim wurden pro-russische in die Übergangsregierung. Dieser gehörte Bewaffnete aktiv. Putin bezeichnete sie als der Partei Batkywtschina (Vaterlandspartei) „nicht russische Soldaten, sondern Selbst- Timoschenkos an. Vorher war er Mitgründer verteidigungskräfte“. Am 16. März sollen einer radikalen Vorläuferpartei der Swoboda. nach amtlichen Angaben 96,6 Prozent aller Als „Kommandeur des Maidan“ kollaborierte Wähler auf der Halbinsel bei einer Betei- er mit dem Prawy Sektor des Faschisten ligung von mehr als 80 Prozent für den Dmytro Jarosch. Vom 27. Februar bis 7. Beitritt der Krim zur Russischen Föderation August 2014 war er Sekretär des Nationalen gestimmt haben. Die Zahlen sind nicht plau- Sicherheits- und Verteidigungsrats der Uk- sibel. Rund 24 Prozent der Einwohner waren raine. zu diesem Zeitpunkt Ukrainer, 12,1 Prozent Die Funktionen des Präsidenten über- Krimtataren (zur Geschichte der Krimtartaren nahm interimistisch Parlamentschef Olek- s. Anhang 2). Beide Gruppen waren erklärter- sandr Turtschynow, der ebenso wie Jazenjuk maßen Gegner des Anschlusses an Russland. der Batkytschina (Vaterlandspartei) ange- Indessen hätte auch ohne Zahlenmanipu- hört. In der Rada erklärten unterdessen die lation die russische Bevölkerungsmehrheit meisten Abgeordneten der Partei der Regi- (58,5 Prozent) eine Majorität ergeben. Die onen (Janukowytsch), dass sie ihre Mandate Sezession der Halbinsel, die den Status einer weiter wahrnehmen; meist stimmten sie nun Autonomen Republik innerhalb der Ukraine mit der bisherigen Opposition. hatte, widersprach der Verfassung der Uk- Damit war im Februar 2014 aus einem raine ebenso wie jener der Krim. Die ukrai- vom Mittelstand initiierten Volksprotest, nischen Truppen verließen auf Anordnung l 10 Der Ukraine-Konflikt
Maidan-Platz in Kiew des Interimspräsidenten der Krim Turtschy- In den ostukrainischen Bezirken Donezk now in der letzten Märzwoche die Krim und und Luhansk, dem eigentlichen Donbass- übergaben ihre Einrichtungen an Russland. Industriebezirk, übernahmen Anfang April Überwiegendes Interesse am Anschluss der 2014 in mehreren Orten bewaffnete Grup- Krim hatte Russland einerseits wegen des pen die Macht, die teils einen neuen Staat hohen Bevölkerungsanteils der Krim-Russen, (Volksrepublik Donezk) ausriefen – auch andererseits wegen des Flottenstützpunkts unter dem Namen Neurussland –, teils den Sewastopol, bisher schon Heimathafen der direkten Anschluss an Russland forderten. Schwarzmeerflotte (zur Geschichte von Sewa- In Donezk und Luhansk erwies sich diese stopol s. Anhang 3). Besetzung als dauerhaft. In Charkiw dauerte Im Zusammenhang mit der Sezession der sie nur wenige Tage. Den „Milizen“ der so- Krim beschloss das ukrainische Parlament genannten Separatisten strömten Hilfskräfte den Aufbau einer 60.000 Mann starken Na- aus Russland zu, darunter aus Tschetsche- tionalgarde. Die EU und die USA beschlos- nien und Dagestan, und übernahmen schritt- sen Sanktionen: Reisebeschränkungen gegen weise das Kommando. Darüber wurde die Amtsträger in Russland und in der Ukraine westliche Öffentlichkeit ausführlich und in sowie Einfrieren ihrer Auslandsguthaben. der Regel zutreffend informiert. Die Anwe- Wegen der Sezession der Krim und we- senheit zahlreicher – bis zu 400 – Söldner gen russischer Truppenkonzentrationen nahe amerikanischer „Sicherheitsfirmen“ in der der ukrainischen Grenze im Zusammenhang Nachfolge von Blackwater, Academi usw., mit Manövern brach die NATO die gesamte wurde nur kursorisch erwähnt, ihre Tätigkeit zivile und militärische Zusammenarbeit mit ist nicht näher beobachtet oder untersucht Russland ab. worden. 11 l
In der Hafenstadt Mariupol schlugen uk- nicht in ihrem Auftrag, in der unmittelbaren rainische Kämpfer, verstärkt durch Angehö- Nähe der besetzten Stadt tätig waren. Eine rige des rechten Prawy Sektor, die Besetzung weitere Gruppe wurde wenig später festge- öffentlicher Gebäude durch Separatisten am nommen. Beide wurden nach einigen Tagen 17. April zurück Die aus diesen Milizen her- wieder freigelassen. Während eines Angriffs vorgegangene, vom Prawy Sektor dominierte der ukrainischen Armee auf Slawjansk schos- Einheit war bei den folgenden Kämpfen in sen Rebellen erstmals Armeehubschrauber und um Donezk als Streitmacht der Kiewer ab. Slawjansk, Standort eines großen Arsenals Regierung entscheidend beteiligt (über 10.000 Kalaschnikow-Sturmgewehre), Es war die erste größere bewaffnete Kon- blieb neben den wesentlich größeren Indus- frontation mit Rebellen-Milizen. Endgülig triestädten Donezk und Luhansk zunächst war Mariupol Mitte Juni wieder in der Hand unter der Kontrolle von Rebellen. der Regierung. In Odessa kam es am 1. und 2. Mai Wenige Tage später nahmen Rebellen in 2014 zu Zusammenstößen zwischen De- der Stadt Slawjansk (ukr.: Slowjansk) acht monstranten für die nationale Einheit der ausländische Militärbeobachter in Haft, die Ukraine und – wie Interimspremier Jazenjuk in Zusammenarbeit mit der OSZE, aber sagte – pro-russischen Elementen. Viele seien l 12 Der Ukraine-Konflikt
aus dem nahegelegenen Gebiet Transnistrien material der jeweiligen Gegner sein sollten, ist gekommen, einem abtrünnigen Teil der Re- eine professionelle und unabhängige Unter- publik Moldau, das den Anschluss an Russ- suchung nicht möglich gewesen. Die aus den land anstrebt. Sie hätten den Demonstrati- Milizen hervorgegangene, vom Prawy Sektor onszug, mehrheitlich organisierte Fans des dominierte Einheit war bei den folgenden örtlichen Fußballclubs Tschernomorez, at- Kämpfen in und um Donezk als Streitmacht tackiert. Die Polizei verhielt sich abwartend. der Kiewer Regierung entscheidend beteili- Die pro-russischen Demonstranten flohen gtDrei Wochen nach dem Abschuss waren in das Gewerkschaftshaus. Dieses geriet in die Absturzorte gründlich verändert, unter Brand, offenbar durch Benzinbomben (Mo- anderem durch Gruppen bewaffneter Re- lotow-Cocktails). 40 Personen verbrannten. bellen und die späte Bergung der Todesopfer. Örtliche Blogger lassen unabhängig von ihrer Qualifizierte Untersuchungsgruppen wurden politischen Einstellung keinen Zweifel daran, nur zögerlich von den Ort beherrschenden dass die Benzinbomben von „staatstreuen“ Rebellen zugelassen, die Forderung nach be- Demonstranten geworfen wurden. Versuche waffnetem Begleitschutz enthielt die Gefahr ukrainischer Nationalisten, das Leben Ein- weiter eskalierender Zusammenstöße Ferner geschlossener zu retten, wurden aber ebenso fehlt noch die vollständige Veröffentlichung dokumentiert. der Daten, die von US-Spionagediensten Russland zog unterdessen Miltärverbän- ermittelt worden sind. de, die im Verlauf der Krise nahe an die ukra- Hatten Massenmedien schon zu Beginn inische Grenze gebracht worden war, wieder des Euromaidan Russland und besonders zurück. Die Zusammenarbeit im Rahmen Putin zum „Brandstifter“ (Spiegel) erklärt, der OSZE ging weiter, und Russlands Re- so folgten nun Schuldzuweisungen an die- gierung erklärte ihren Willen zu weiterer selbe Adresse, ohne dass eine Beteiligung wirtschaftlicher Kooperation, garantierte die Russlands an dem Flugzeug-Abschuss oder Belieferung Westeuropas mit Erdgas und die gar die Verantwortung Putins dafür nach- Erfüllung weiterer wirtschaftlicher Verträge. gewiesen wäre (Spiegel: Schlagzeile „Stoppt Putin jetzt“ auf der Titelseite, die mit teils Der Abschuss eines malaysischen Pas- widerrechtlich beschafften Porträtfotos der sagierflugzeugs am 17. Juli 2014 hatte neue Todesopfer unterlegt war). Eskalation zur Folge, nunmehr endgültig Die These, das Flugzeug sei durch eine in Form einer Konfrontation zwischen den Flugabwehrrakete vom Typ SA-11 (Buk) ab- NATO-Staaten und Russland. Während geschossen worden, ist keineswegs bewiesen. die den US-Geheimdiensten vorliegenden Falls sie zutrifft, muss geklärt werden, welche Fakten aus der Satellitenfotografie, Funk- Mannschaft die Abschussrampe bedient hat. überwachung und anderen Quellen bisher Dafür kommen Spezialisten mit einschlä- weitgehend zurückgehalten werden, jene aus giger Ausbildung in Frage, Angehörige oder entsprechenden russischen und ukrainischen ehemaliger Angehörige sowjetischer bzw. Quellen (Regierung und Separatisten) eben- russischer oder ukrainischer Truppen, au- falls in zusammenhanglosen Bruchstücken ßer regulären auch ehemalige Soldaten, etwa vorliegen und augenscheinlich Belastungs- Überläufer aus der ukrainischen Armee zu 13 l
den Separatisten usw. Letztere Annahme hat Überflugsrechte zu entziehen. Die Eskalation höhere Plausibilität als jene, die eine funkti- erreichte eine neue Schärfe. Demgegenüber onierende Kommandostruktur einer Armee dienen Unterstellungen russischer Verant- voraussetzt. Denn dies würde die staatlich wortung der Verstärkung eines Feindbilds beschlossene Tötungsabsicht voraussetzen. – von diversen Verschwörungstheorien bis Falls Rebellen mit Spezialkenntnis den Ab- zu Kommentaren sonst seriöser Medien, die schuss vorgenommen haben, ist zu klären, ob nach schärferer Konfrontation verlangen. In sie das Zivilflugzeug versehentlich abgeschos- diesen Zusammenhang gehört die Verhän- sen haben, aus Verwechslung mit einer großen gung immer neuer Sanktionen, die Gegen- Militärmaschine oder infolge einer Fehlbedie- Sanktionen nach sich ziehen und so eine nung der Abschussrampe. Ein Abschuss „aus gefährliche Eskalation einleiten würden. Versehen“ (so wegen der Verwechslung mit einer Militärmaschine) scheint plausibel, ist aber ebenfalls nicht bewiesen. Sollte aber die Luftabwehr eines Staates die Tat mit Vorsatz vollbracht haben, so könnte dies zum casus belli werden. An einem Krieg über den Rahmen der Kämpfe in der Ostukraine hinaus dürfte Russland wenig interessiert sein. Schon deshalb sind Schuld- zuweisungen der betreffenden Medien und Institutionen (NATO) unverantwortlich. Andererseits kann die Ukraine wegen der eigenen militärischen Schwäche einen Krieg mit Russland nicht wollen. Schließlich ist ein Interesse anderer Mächte, die über die nötigen Verbindungen zur Szene – oder ganz andere technische Mittel zum Abschuss – verfügen, nicht nachweisbar. Die Annahme, der Abschuss sei versehentlich erfolgt, ist immer noch wahrscheinlicher. Die Folge war aber eine substanzielle Verschärfung der Sanktionen gegen Russland und Drohungen mit einer noch verstärk- ten NATO-Präsenz u.a. durch deren Gene- ralsekretär Anders Fogh Rasmussen. Nun konterte Russland mit Gegenmaßnahmen wirtschaftlicher Art – die Sanktionen der NATO-Staaten, der USA und der EU be- trafen ebenfalls die Wirtschaft – bis zur Er- wägung, bestimmten Fluggesellschaften die l 14 Der Ukraine-Konflikt
Zusammenhänge mit dem globalen Wandel von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt Nach dem Ende des West-Ost-Konfliktes USA stellt diese Entwicklungen einseitig dar. hatten die USA eine einzigartige dominie- Eine kritische Untersuchung unterbleibt rende Position inne. Man sprach von einer meist. unipolaren Welt. Sie nutzten sie für viele militärische Interventionen (z.B. Kosovo, Afghanistan, Irak, Libyen). Die damit ver- Differenzen zwischen bundenen Misserfolge, das Aufkommen so- den USA und der EU in Bezug genannter Mittelmächte auf dem Wege zum auf den Ukraine-Konflikt Status von Großmächten (BRICS : Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und der USA und EU reagieren unterschiedlich auf relative Abstieg ihrer wirtschaftlichen und fi- die von Russland unterstützten separatis- nanziellen Potenzen haben die Situation hin tischen Bestrebungen in der Ost-Ukraine. zu einer multipolaren Welt verändert. Die Beide machen Russland dafür verantwort- USA kämpfen in ihr nun um ihre Position in lich, doch die USA drängen stärker auf der globalisierten Welt. wirtschaftliche und politische Sanktionen als Russland, das nach dem Zusammen- die EU. Für die USA steht die Ausweitung bruch der Sowjetunion als Großmacht sehr der NATO nach Osten unter militärstrate- zurückgefallen war, versucht dagegen seine gischen und wirtschaftlichen Aspekten der Weltbedeutung wieder aufzubauen und in Globalisierung im Vordergrund. Dies führt diesem Zusammenhang – neben einem wirt- zu einer harten Gangart der USA gegenüber schaftlichen Zusammenschluss mit benach- Moskau. Sanktionen sollen den Kreml in die barten Staaten – seine Stellung als ernst zu Knie zwingen, während die EU weit mehr nehmender Partner der USA in dem System auf Verhandlungen drängt, um Kooperation gegenseitiger atomarer Abschreckung zu si- mit Russland weiter zu ermöglichen und in chern. Dabei wendet Moskau auch militä- der Perspektive zu erweitern. Eine Politik der risch unorthodoxe und subversive Methoden eurasischen Kooperation, die den Spielraum wie auf der Krim und in der Ost-Ukraine an. der EU gegenüber den USA vergrößern wür- Gleichzeitig verstärkt es den Ausbau seiner de, ist zudem für die USA auch unter dem Militärpotenziale. Gesichtspunkt, die Bedeutung des Dollars Beide Mächte setzen in ihrer Konkurrenz als Leitwährung gegenüber dem Euro zu also vorwiegend auf militärische Gewalt. Bei sichern, negativ besetzt. Die EU ist stärker der Angliederung der Krim an Russland trifft bemüht, Dialoge zu organisieren. Besonders Moskau allerdings auf Ablehnung aus vielen engagiert sind der deutsche, der französische Teilen der Welt – vor allem der Vielvölker- und der polnische Außenminister. Dabei Staaten – die bei sich selbst separatistische spielen wirtschaftliche Interessen – Investi- Bewegungen bekämpfen oder fürchten. Die tionen in Russland, Technologie-Exporte veröffentlichte Meinung in Europa und den und vor allem Gas- und Ölimporte in die 15 l
EU – eine entscheidende Rolle. Für die EU Deutschlands Bezug betragen die Exporte nach Russland 2,6 Pro- zum Ukraine-Konflikt zent der Gesamtexporte (taz 2.8.2014,S.7). Die Ukraine ist im 20. Jahrhundert zweimal Dies ist kein sehr hoher Anteil, doch wird der von deutschem Militär besetzt worden. Im russische Markt für die Zukunft als Wachs- Zweiten Weltkrieg vernichteten die Wehr- tumsmarkt eingeschätzt. macht, die SS und andere militärische Kräfte Für die USA, die in Russland weni- die Industrieanlagen und große Teile der In- ger wirtschaftlich involviert sind, besteht ein frastruktur der Ukraine, spätestens bei ihrem Interesse, EU-Einkäufe verstärkt auf US- Rückzug. Unter der deutschen Besetzung Angebote und Angebote aus dem Dollar- und infolge der Kriegshandlungen kamen Raum zu lenken. Sie fürchten, die EU würde rund 20 Prozent der ukrainischen Bevöl- durch eine engere Kooperation mit Russland kerung und faktisch ihre gesamte jüdische eine größere Eigenständigkeit gewinnen und Bevölkerung ums Leben. Dabei halfen uk- sich ihrem Einfluss tendenziell entziehen. rainische Hilfstruppen, die – obwohl am Die Folge dieser Konstellation besteht darin, Aufbau eigener Verwaltungen nachhaltig ge- dass die USA eine besonders enge Beziehung hindert – für das Hitler-Reich in der letzten zu Kiew aufbaut, so dass die EU nur noch Kriegsphase und darüber hinaus Partisanen- geringen Einfluss auf dessen Verhalten hat. krieg gegen die Sowjetunion führten. Dabei machen sich die USA die Aversionen gegen Russland zu nutze, die in ostmitteleu- Deutschland ist ein führendes Mitglied ropäischen Staaten, besonders in Polen, aus in der NATO wie auch in der EU. Es historischen Gründen verbreitet sind. hat eine bedeutende diplomatische Rolle Stimmen gewichtiger US-Politiker lassen bei der Überwindung des West-Ost-Kon- erahnen, ein Zusammenprall zwischen EU flikts gespielt, wobei die Nichtausweitung und Russland, der beide Seiten schwächt, der NATO nach Osten versprochen wurde. könne durch aus im Interesse von US-Strate- Trotzdem hat es seit den 1990er Jahren, die gien liegen. Die EU würde sich dann stärker Ausweitung der NATO stets unterstützt und unter die Obhut der USA begeben müssen. mit exekutiert. Der EU-Assoziierungsvertrag Die betont provozierende Haltung der USA mit der Ukraine, der auch gewichtige mili- könnte einer solchen Orientierung entspre- tärische Komponenten enthält, wurde von chen. Ob die drei Außenminister das erkannt Deutschland ebenso mitgetragen, wie die haben? massive Unterstützung der Maidan-Revolte. Eine Einmischung sondergleichen! Eine Rol- le Deutschlands als Vermittler dürfte deshalb von russischer Seite mit großer Skepsis gese- hen werden. l 16 Der Ukraine-Konflikt
Erläuterung des Begriffs „Legitime Interessen“ (allgemein) Unter legitimen Interessen werden hier solche verstanden, die mit der Charta der Vereinten Natio- nen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte übereinstimmen. Entscheidungen des UN- Sicherheitsrates konstituieren nicht unbedingt legitime Interessen, da sie auch von den partikularen Interessen mächtiger Staaten bestimmt sein können. Trotz dieses zunächst klaren Bezugs des Begriffs werden immer wieder Probleme auftauchen, besonders, wenn wie im Falle der Ukraine, macht- politische und militärpolitische Konstellationen eine große Rolle spielen, die nicht im Rahmen der Bearbeitung des engeren Konflikts auflösbar seien werden. Benennung von legitimen Interessen in diesem Konflikt Ukraine p Entfaltung eurasischer Kooperation und Stärkung der OSZE p Einen Bürgerkrieg im Lande zu vermeiden. p Abbau gegenseitiger Bedrohungspotentiale p Abbau von Feindbildern in der eigenen p Entfaltung von Vertrauen bildender Maß- Gesellschaft und nach außen. nahmen und Abbau von Feindbildern p Minderheiten im Lande angemessen in ihren Interessen zu berücksichtigen, auch EU wenn sie keine Mehrheiten in den zentra- len politischen Institutionen haben. p Ausbau von wirtschaftlicher und poli- p Zulassung und Förderung regionaler, tischer Kooperation nach Osten sprachlicher und religiöser Besonder- p Abbau gegenseitiger Bedrohungspotentiale heiten in den Regionen der Ukraine p Stärkung der OSZE und Ausbau von p Demokratische Verhältnisse, so weit vor- Methoden und Institutionen ziviler Kon- handen, zu sichern und auszubauen. fliktbearbeitung p Sicherung des Handels und guter politischer p Abbau von Feindbildern und Entfaltung Beziehungen zu allen umliegenden Staaten von Vertrauen bildender Maßnahmen unter Berücksichtigung der ukrainischen entwicklungspolitischen Bedürfnisse. USA p Überwindung der Korruption und des ille- gitimen großen Einflusses der Oligarchen. Stabilisierung der eurasischen Beziehungen, um Konflikteskalationen in dieser Region vorzubeugen. Russland p Zugang zu den euroasiatischen Märkten p Verhinderung einer militärischen Einkrei- unter Berücksichtigung derer entwick- sung durch die NATO und Verschiebung lungspolitischen Bedürfnissen des Systems der gegenseitigen Abschre- p Abbau gegenseitigen Bedrohungssysteme ckung zu Ungunsten Russlands p Verbesserung der Kooperation mit Russ- p Sicherung des Handels mit der Ukraine zu land, um Konflikte in Mittel- und Nahost angemessenen Bedingungen besser befrieden zu können. 17 l
Vorschläge oder Road Map und Anforderungen an die involvierten Akteure für eine zivile Lösung des Konflikts mit weit reichender Perspektive für Vertrauensbildung und Kooperation. Was kann also getan werden, » Russland erklärt sich mit den Neutralität um Deeskalation und eine friedliche der Ukraine einverstanden und will sie Überwindung des Konflikts dauerhaft respektieren. voranzutreiben? Hier Vorschläge » Russland beendet daraufhin stillschwei- für eine Road Map: gend seine Unterstützung für die Separa- tisten in der Ost-Ukraine. » Es besteht die Gefahr einer nicht ge- » USA und EU akzeptieren die Neutrali- wollten militärischen Eskalation zwischen tätserklärung der Ukraine und bringen den Großmächten. Die NATO und Rus- zum Ausdruck, sie dauerhaft respektieren sland erklären deshalb, sie wollen auf zu wollen. Sie kündigen einen Plan an zur keinen Fall den Konflikt militärisch aus- stufenweise Beendigung ihrer Sanktionen tragen. Deshalb solle zwischen NATO gegen Russland und fordern dieses auf, es und Russland ein rotes Telefon und ein ihnen gleich zu tun. entsprechender Krisenstab eingerichtet » Kiew erlässt eine Amnestie für die Separa- werden. tisten und gestattet ihren unbehinderten » Die EU begrüßt diese Erklärungen und Abzug nach Russland. bietet Hilfe zur Deeskalation an. » Kiew erarbeitet eine neue föderale Ver- » Russland stimmt diesem Vorschlag zu fassung mit angemessenen Autonomie- und beteiligt sich an dessen Verwirkli- rechten, die auch Minderheiten schützen. chung. In ihr ist eine Wirtschaftsordnung festge- » Die NATO erklärt, sie beabsichtige nicht, legt mit gleichberechtigten Beziehungen die Ukraine als Mitglied aufzunehmen nach West und Ost unter Berücksichti- und auch nicht in anderer Form mit ihr gung der entwicklungspolitischen Bedürf- militärisch zu kooperieren. nisse der Ukraine. » Die EU erklärt, sie betrachte alle Teile des Die NATO zieht die Streitkräfte wieder ab, mit Kiew abgeschlossenen Assoziierungs- die sie während des Konflikts in Mit- abkommens, die sich auf eine militärische gliedsstaaten mit einer Grenze zu Russ- Kooperation beziehen, als ungültig. land stationiert hatte. » Kiew erklärt sich als neutral, wie es bereits » Kiew fordert eine neue Volksabstimmung in der Verfassung von 1996 festgelegt ist. auf der Krim über deren Sezession. Dabei Es werde keinem Militärpakt beitreten. wird Russland vorab vertraglich zugesi- » Die USA erinnern Russland an den tri- chert, dass das Areal um den russischen lateralen Vertrag zwischen der Ukraine, Kriegshafen Sewastopol unabhängig vom den USA und Russland vom 13.1.1994 in Ausgang der Volksabstimmung exterrito- Moskau. Dabei wurden der Ukraine unter riales Gebiet Russlands bleiben würde. Die anderem Grenzgarantien zugesichert. Volksabstimmung solle unter strikter Kon- l 18 Der Ukraine-Konflikt
trolle der OSZE erfolgen und die Ergeb- Eine friedliche Lösung wäre möglich, nisse wären verbindlich für alle. Russland wenn die alten Verhaltensweisen der müsse sich verpflichten, die kulturellen Konfrontation zugunsten einer Politik Rechte der Krimtataren zu respektieren, der Kooperation und der zivilen Kon- falls die Abstimmung die Angliederung der fliktbearbeitung in Europa aufgegeben Krim an Russland bestätigt. werden. Abbau von Misstrauen und » Russland erklärt sich bereit, über die Mo- Aufbau von Vertrauen sind erforder- dalitäten dieses Vorschlags zu verhandeln. lich. Die Zivilgesellschaften aller betei- » USA, EU und NATO heben ihre Sankti- ligten Länder können dazu beitragen, onen gegen Russland auf. indem sie sich gegen Feindbilder und » Russland erklärt sich bereit, mit Kiew Verhetzungen wenden. über die Lieferung von Öl und Gas und die Verrechnung bestehender Schulden erneut zu verhandeln. » Deutschland schlägt in Übereinstimmung mit der EU eine dauerhafte Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) vor – eventuell im Rahmen der OSZE. Auf ihr sollen in mehreren „Körben“ die verschiedenen Themen behandelt und zur Schlichtung von Kontroversen beigetra- gen werden. Anhänge » Kiew fordert Armenien, Aserbaidschan, Anhang 1 : Angaben Georgien und Moldawien auf, sich eben- zur Vorgeschichte des Konflikts falls für einen neutralen Status zu ent- scheiden und in regionaler Kooperation Die Ukraine ist zwar Gründungsmitglied bestehende Differenzen – etwa bezogen der Vereinten Nationen (die Westalliierten auf Bergkarabach und Transnistrien – akzeptierten die Ukraine und Belarus, um beizulegen und gemeinsame Interessen zu der UdSSR entsprechendes Gewicht in der vertreten. Weltorganisation zu geben, obwohl beide » Die NATO verzichtet darauf, sich um Unionsrepubliken Untergliederungen der einen Beitritt dieser Länder zu bemühen, Sowjetunion waren), doch bis 1990 trat sie falls diese sich für neutral erklären sollten. international nicht als Staat eigenen Rechts in Erscheinung. Die Auflösung der UdSSR beschlossen die Präsidenten der Ukraine, von Belarus und der Russischen Föderation ge- Würde nach dieser Road Map verfah- meinsam. Daraus leitete die russische Staats- ren, könnte die Ukraine eine wichtige führung ein besonderes Verhältnis zur Ukra- Rolle als Brücke zwischen West und ine ab. Bei der Präsidentenwahl im Novem- Ost und zur Befriedung vieler Länder ber 2004 unterstützte Russlands damaliger in der Region spielen. Premierminister Putin den Kandidaten Ja- 19 l
nukowytsch, dessen vermeintlicher Wahlsieg Anhang 2 : Die Krimtataren durch einen Massenprotest wegen deutlicher Um 1403 vernichtete der türkische Welte- Wahlfälschungen annulliert wurde. In dem roberer Timur-i lenk (Tamerlan) das als folgenden Monaten der „Orangefarbenen Goldene Horde bekannte Nomadenreich in Revolution“ vertiefte sich eine Spaltung der der osteuropäischen Steppe. Es blieben Teil- Ukraine entlang diffuser historischer, religi- staaten übrig:das Khanat Kasan an der mittle- öser, sprachlicher und kultureller Grenzen. ren Wolga, das Khanat der Nogaischen Hor- An diese Unterschiede knüpfen die an de um Astrachan an der Wolgamündung, fer- Spaltung des Landes, Eskalation der Kon- ner das Krim-Khanat. Unter Hadschi Giray flikte und möglicherweise partieller Annexi- baute es in Bahčesaray (russisch: Bachtschis- on interessierten Kräfte an. saraj) – „Gartenpalast“ – einen neuen glän Der Süden und Osten (Donbass, Küs- zenden Mittelpunkt auf. Bahčesaraj ist seit tenregion, Krim) sind erst seit Ende des 18. 1425 als Zentrum der Krimtataren bekannt. Jahrhunderts Teil des damaligen Russischen Für die Entstehung des Russischen Reichs. Seitdem waren sie Einwanderungs- Reichs hatten die Khanate erhebliche Be gebiet, freier als das übrige Russland, stark deutung. Das Großfürstentum Moskau stieg russischsprachig (aber nur in den Gebieten durch den Prozeß der „Sammlung der rus- Luhansk und Donezk gibt es russischspra- sischen Erde“ zur territorialen Großmacht chige Mehrheiten), russisch-orthodox (aber auf. Als unter Iwan IV. (dem „Schreck- nicht strikt religiös), von Industrie und Berg- lichen“) die Khanate Kasan (1552) und As- bau beeinflusst. trachan (1556) erobert und eingegliedert Der Norden, bis Ende des 18. Jahrhun- wurden, überschritt Russland die Grenzen derts Teil des polnisch-litauischen Groß- vom Nationalstaat zum Nationalitätenstaat, staates, war sozial gespalten zwischen ei- in dem unter russischer Herrschaft zahlreiche ner katholischen, meist polnischsprachigen andere Völker zusammengefasst wurden. Oberschicht und einer bäuerlichen, russisch- Seit dem 17. Jahrhundert drängte Rußland orthodoxen oder griechisch-katholischen zum Schwarzen Meer. Die ent scheidenden Mehrheit. Die Zuwanderung aus der Leibei- Siege errang Rußland unter Kaiserin Katha- genschaft geflohener Bauern und der Einfluss rina II. Nach mehreren Siegen auf dem Land der angrenzenden Kosakengebiete erzeugten zwang Rußland dem Osmanischen Reich den eine ukrainischsprachige Volkskultur. Frieden von Kücük Kaynarca (Juli 1774) auf. Der Westen (Ost-Galizien, Wolhynien, Das Krim-Khanat – seit dem 16. Jahrhundert Podolien, Nord-Bukowina) war über ein osmanisch – wurde durch diesen Frieden zum Jahrhundert österreichisches Kronland. Hier selbständigen Staat. bildete sich ein radikaler ukrainischer („ru- Schon ein Jahrzehnt darauf annektier thenischer“) Nationalismus heraus. Daran te Rußland das Krim-Khanat (1783). Nach knüpfte im Zweiten Weltkrieg die chauvini- einer Inspektionsreise Katharinas II. auf die stische, antijüdische und antipolnische Un- Krim entwickelte sich ein weiterer russisch- abhängigkeitsorganisation Stepan Banderas türkischer Krieg, der 1791 (Friede von Jassy) und deren Guerillakrieg gegen die UdSSR mit der formellen Eingliederung der Krim in bis 1954 an. Rußland endete. l 20 Der Ukraine-Konflikt
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