Der Ukraine-Konflikt Dossier VII

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M o n i t or i ng- Pr oj ekt
Zivile Konfliktbearbeitung ·
      Gewalt- und Kriegsprävention

                Dossier VII
                Der Ukraine-Konflikt
                Kooperation statt Konfrontation
                Vorgelegt von Andreas Buro und Karl Grobe
                mit Zuarbeit von Clemens Ronnefeldt

                Herausgegeben von der Kooperation für den Frieden
Impressum                                                           Kooperation für den Frieden
                                                                    (www.koop-frieden.de)
Herausgeberin:
Kooperation für den Frieden                                         ist ein Zusammenschluss friedenspolitisch
Römerstraße 88 · 53111 Bonn                                         aktiver Organisationen und Initiativen in der
Tel. 02 28/69 29 04 · Fax 02 28/69 29 06                            Bundesrepublik Deutschland.
info@koop-frieden.de                                                Die Kooperation für den Frieden
www.koop-frieden.de                                                 n organisiert Diskussions- und Beratungsprozesse
in Zusammenarbeit mit                                                  innerhalb der Friedensbewegung
dem Förderverein Frieden e.V.
                                                                    n fördert den Aus­tausch von Informa­tionen
Spendenkonto: Förderverein Frieden e.V.                                und Ein­schätzungen zwischen Organisationen
Kto.-Nr. 4041 860 401                                                  und Gruppen
GLS Bank, BLZ 430 609 67                                            n unterstützt oder initiiert Veranstaltungen
Stichwort: Monitoring-Projekt                                          und Kampagnen
Monitoring-Projekt: Zivile Konfliktbea­r­bei­tung,                  n veröffentlicht die aus diesen Prozessen
Gewalt- und Kriegsprävention                                           hervorgegangenen Positionen
Dossier VII: Der Ukraine-Konflikt                                   n verbreitet Aktionsvor­schläge für
Grafik & Satz: kippconcept gmbh, Bonn                                  die Frie­dens­arbeit
Fotos: Maksymenko Olsekandr                                         n er­möglicht persönliche Kontakte zwischen
1. Auflage September 2014; 5.000 Exemplare                             Aktiven, z.B. bei der Mitarbeit im Koopera­
Bestellung und Preise siehe Rückseite                                  tionsrat oder bei den jährlichen Konferenzen.

Text und v.i.S.d.P.:
Andreas Buro, Karl Grobe
c/o Kooperation für den Frieden
Die Dossiers der Monitoring-Reihe
als PDF finden sich unter
www.koop-frieden.de/das-monitoring-projekt/
                                                                                Mitwirkende der Kooperation für den Frieden
Aachener Friedensmagazin aixpaix; Aachener Friedenspreis e.V.; Aktionsbündnis Freiheit statt Angst e.V.; Aktionsgemeinschaft
Dienst für den Frieden (AGDF); Aktionsgemeinschaft Friedenswoche Minden; Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (asfrab); Bil-
dungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion KURVE Wustrow; BI OFFENe HEIDe; Bremer Aktion für Kinder (BAKI);
Bremer Friedens-forum; Bund demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi); Bund für soziale Verteidigung (BSV); Bundesverband
Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU); Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW); Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK); EUCOMmunity; Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden
(EAK); Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland – Friedensausschüsse; Forum Friedensethik in der Evangelischen Landes-
kirche in Baden; Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e.V.; Frauen in Schwarz Hamburg;
Frauen in Schwarz Köln; Frauennetzwerk für den Frieden e.V.; Friedensbündnis Braunschweig; Friedensfestival Berlin; Friedensforum
Münster; Friedensgruppe Altenholz; Friedensinitiative Kyritz-Ruppiner Heide; Friedensinitiative Nottuln e.V.; Friedensrat Müll-
heim; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Hauptvorstand; Heidelberger Friedensratschlag; IALANA (International
Association of Lawyers against Nuclear Arms); IFIAS (Institute for International Assistance and Solidarity); Impuls-Afghanistan
e.V., Ravensburg; Infostelle für Friedensarbeit, Meckenheim; Initiative Musiker/innen gegen Militärmusikkorps; IPPNW, Deutsche
Sektion der internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung; Internationale Frauenliga für
Frieden und Freiheit; Internationaler Versöhnungsbund – deutscher Zweig (VB); Keine Waffen vom Bodensee; Komitee für Grund-
rechte und Demokratie; Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung in der Region Ingolstadt; Lebenshaus Schwäbische Alb;
Leserinitiative Publik e.V.; Menschen für den Frieden/Anti-Kriegsbündnis Düsseldorf; Mönchengladbacher Friedensforum; Natur-
wissenschaftlerInnen-Initiative „Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit“; Netzwerk Friedenskooperative; Netzwerk Friedens-
steuer; Ökumenische Initiative zur Abschaffung der Militärseelsorge; Ökumenisches Friedensnetz Düsseldorfer Christinnen und Christen;
Ökumenisches Netz Württemberg; Ökumenisches Zentrum für Umwelt-, Friedens- und Eine-Welt-Arbeit, Berlin; Pädagoginnen und
Pädagogen für den Frieden (PPF); pax christi/Deutsche Sektion; RIB e.V. – Rüstungsinformations Büro Baden-Württemberg e.V.; Rhöner
Friedenswerkstatt im UNESCO Biosphärenreservat, Künzell; Sichelschmiede, Werkstatt für Friedensarbeit in der Kyritz-Ruppiner Heide;
Ulmer Ärzteinitiative; Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der AntifaschistInnen (VVN-BdA); Werkstatt für Gewaltfreie
Aktion, Baden; Würselener Initiative für den Frieden                                                                  (Stand 8/2014)

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Editorial

Der Ukraine-Konflikt, der noch vor drei Jahren kaum vorstellbar war, birgt gefährliches Eskalati-
onspotential in sich. Er spielt sich auf drei Ebenen ab, der Konfrontation zwischen den West- und
Ost-Großmächten, auf der Ebene der innergesellschaftlichen Gegensätze der Ukraine und im bislang
wenig beachteten Bereich zwischen den USA und der EU. Militärstrategische wie wirtschaftliche
Komponenten sind von großer Bedeutung. Ohne einen Blick auf die Geschichte, sind die vielen
Fäden des Konfliktes nicht zu entwirren. Die Gefahr der Eskalation des Konflikts ist beträchtlich. Sie
darf nicht zum Selbstläufer werden, den möglicherweise keiner der Konfliktakteure unter Kontrolle
bekommt, sei es aus außen- oder innenpolitischen Gründen. Unser Dossier hat zum Ziel, die Mög-
lichkeiten einer Deeskalation darzustellen und damit einen Weg vorzuzeichnen, der Konfrontation
zu Kooperation werden lässt.
     Auf ihrer Strategiekonferenz im Januar 2005 hat die „Kooperation für den Frieden“ – eine
Dachorganisation von etwa 60 Friedensorganisationen in Deutschland – beschlossen, ein ‚Moni-
toring Projekt für Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention’ aufzubauen, um
gewaltsamen, militärischen Konfliktaustrag überwinden zu helfen. In diesem Sinne soll an Hand
konkreter krisenhafter eskalationsträchtiger Situationen im Einflussbereich von BRD und EU
gemahnt werden, rechtzeitig mit zivilen Mitteln zur Deeskalation und – wo möglich – zur Lösung
von Konflikten beizutragen. Neben der Situationsanalyse sollen deshalb Vorschläge für zivile Kon-
fliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention unterbreitet und auf gelungene Bemühungen dieser
Art hingewiesen werden.
     Unser Monitoring soll auch dazu dienen, in Politik, Medien und Öffentlichkeit zivile Kon-
fliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention als Leitkonzepte zu verankern. Damit wollen wir
die Möglichkeiten verbessern, über Druck aus der Gesellschaft die Schaffung und Stärkung der für
unsere Alternativen erforderlichen Voraussetzungen (Institutionen, Strukturen, Ausbildungen und
finanziellen Mittel) in der Politik durchzusetzen.
     Möge es gelingen oder doch wenigstens dazu beitragen!
     Dieses Dossier ist das erste, das ohne die Mitwirkung von Mani Stenner herausgegeben wird. Es
wird nicht das letzte Mal sein, dass wir sein Fehlen schmerzlich spüren.
     Susanne Grabenhorst

                                                                                                03 l
Die Grundkonstellation des aktuellen Konflikts
Was lässt sich über das scheinbare Chaos halbwegs sicher sagen?

Die Krim ist Russland einverleibt – das          teidigungsministeriums der USA gestellt, um
scheint nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt   humanitäre und andere Missionen auszufüh-
zu werden, obwohl diese Usurpation aus           ren. Das ist eine sehr wichtige Aussage, um
rechtlichen und pazifistischen Gründen nicht     die Spannungen zu verringern“, Saakaschwi-
gebilligt werden kann. Sie ist aus machtpoli-    lis Worte und Georgiens Eingreifen in Süd-
tischen, militärischen Gründen zu erklären.      Ossetien waren der Versuch, die USA in den
    Sicher ist auch, dass am Ende des West-      Konflikt einzubeziehen und mussten in Mos-
Ost-Konflikts US-Präsident Bush sen.,            kau sehr bedrohlich wirken. So ist kaum zu
US-Außenminister Baker und nicht zuletzt         bezweifeln, dass Moskau mit dem Eingreifen
NATO-Generalsekretär Wörner Michael              in Georgien 2008 eine erste deutliche War-
Gorbatschow versicherten, die Staaten des        nung an den Westen gab, diese Politik der
ehemaligen Warschauer Pakts würden nicht         militärischen Einkreisung nicht fortzusetzen.
Mitglieder der NATO werden. Die NATO             Doch der Westen blieb schwerhörig, wie er
würde also nicht an die Grenzen der Sowjet-      bereits ein Jahr zuvor warnende Äußerungen
union rücken.                                    Putins auf der Münchener Sicherheitskonfe-
    Nichts dergleichen geschah. Die EU und       renz ignoriert hatte. Vor diesem historischen
im Gefolge die NATO expandierten gen             Hintergrund ist der Konflikt um die Ukra-
Osten. Nach 1999 traten Polen, Tschechien,       ine vorrangig als ein strategischer Konflikt
Ungarn, nach 2004 Bulgarien, Estland, Lett-      zwischen zwei nuklearen Großmächten und
land, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowe-        ihren Bündnispartner zu verstehen.
nien und nach 2009 Albanien und Kroatien             Diese Annahme ist angesichts der vehe-
der NATO bei. Fast alle sind Länder, die         menten Unterstützung der aufständischen
einst zur Sowjetunion oder zum sogenannten       Kräfte in der Westukraine durch den Westen
Ostblock gehörten.                               keineswegs abwegig, die angesichts der von
    Sicher ist ebenso: Die Bemühungen um         Russland geförderten separatistischen Bewe-
weitere NATO-Beitritte sind damit nicht          gungen in der Osturkraine übersehen wird.
beendet. Georgien, Moldawien und die Uk-         Die für Europa und Eurasien zuständige Ab-
raine waren und sind die nächsten Kandi-         teilungsleiterin des US-Außenministeriums
daten. EU-Assoziierungsabkommen dienen           Victoria Nuland berichtete am 13. Dezember
als Vehikel zu diesem Ziel.                      2013 in Washington vor der U.S.-Ukraine
    Es ist ferner kaum zu bezweifeln, dass der   Foundation, die US-Regierung habe seit
Kreml diese NATO-Einkreisung als Bedro-          1991 mehr als fünf Milliarden US-Dollar für
hung empfindet.                                  eine „wohlhabende und demokratische Uk-
    Am 13. 8. 2008 verkündete Georgiens          raine“ investiert. Mit dieser Summe sollten
Präsident Michail Saakaschwili in einer Fern-    die Voraussetzungen geschaffen werden, die
sehansprache. „Die georgischen Häfen und         Ukraine der EU zuzuwenden. Die westliche
Flughäfen werden unter Kontrolle des Ver-        Strategie beruht auf dem ausgehandelten aber

l   04                                                                   Der Ukraine-Konflikt
dann vom damaligen ukrainischen Präsi-                  Die Bürgerinnen und Bürger, die vor
denten Janukowytsch nicht unterzeichneten          allem in Kiew und den westlichen Landes-
Partnerschaftsvertrag mit der EU. Der Ver-         teilen der Ukraine den Protest gegen die Ja-
trag hätte eine Westorientierung der Uk-           nukowytsch-Präsidentschaft getragen haben,
raine bewirkt. Die bisherige Bindung an            fürchteten zu Recht, ihre demokratischen
Russland wäre deutlich verringert worden.          Freiheiten würden zunehmend erstickt wer-
Das Vordringen des Westens in den ehe-             den. Sie hoffen wohl auch auf eine bessere
maligen Herrschafts- und nun zumindest             wirtschaftliche Entwicklung durch den As-
Einflussbereich Russlands ist die dominante        soziierungsvertrag. Ihr Aufstand wurde je-
strategische Komponente der aktuellen Aus-         doch von sehr unterschiedlichen politischen
einandersetzung über die Ukraine. Die große        Kräften getragen, darunter auch marginalen,
Heterogenität von Bevölkerung, Land und            aber höchst aktiven nationalistischen bis fa-
Wirtschaft sind vor allem als die taktischen       schistischen. Während die westliche Ukraine
Elemente in der Auseinandersetzung zu se-          schon seit langer Zeit trotz einer furchtbaren
hen.                                               Vergangenheit auf Mittel- und Westeuro-
     Der Kreml will offensichtlich den Marsch      pa kulturell und sprachlich ausgerichtet ist,
des Westens nach Osten nicht länger hinneh-        orientiert sich der Osten in Teilen nach Rus-
men. Nach dem Aufstand gegen die korrupte          sland und spricht auch Russisch. Die großen
Janukowytsch-Regierung und der zweifel-            Bodenschätze liegen im östlichen Teil des
haften Legitimität und demokratischen Bo-          Landes. Die dortige verarbeitende Industrie
nität der neuen provisorischen Regierung in        ist ein wichtiger Zulieferer für die russische
Kiew spielte Russland die alte Regierung ge-       Rüstungsindustrie.
gen die neue aus und ging zur Unterstützung             Zu der Grundkonstellation des Konflikts
separatistischer Bewegungen über. Es lässt Ja-     gehören auch die Differenzen zwischen den
nukowytsch aus dem Exil im russischen Ro-          USA und der EU. Die USA sind im Handel
stow die neue Regierung in Kiew als faschi-        und mit Investitionen in Russland weit we-
stisch und anti-semitisch, sowie sich selbst       niger involviert als die EU-Staaten. Sie sind
weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten der         außerdem nicht von Gas- und Öllieferungen
Ukraine bezeichnen.                                aus Russland abhängig, die für die EU-Staa-
     Der Konflikt löste Befürchtungen in den       ten von großer Bedeutung sind.
ehemaligen Mitgliedsländern des Warschau-
er Pakts wie Polen und den ehemaligen So-
                                                   Die Fortdauer der west-östlichen
wjetrepubliken mit starken russischen Min-
                                                   militärischen Abschreckungspolitik in
derheiten ( Estland, Lettland ) aus. Könnten
                                                   ihrer Bedeutung für den Konflikt
russische Übergriffe auch sie treffen? Sie
fordern eine militärische Verstärkung. Doch        Nach dem Ende des West-Ost-Konflikts hat-
haben sie wirklich als NATO-Mitglieder ei-         ten viele damit gerechnet, das System der ge-
nen Angriff zu erwarten? Das wäre nur vor-         genseitigen militärischen Abschreckung wür-
stellbar, falls es zu einer großen kriegerischen   de bald der Vergangenheit angehören. Die
Auseinandersetzung zwischen Russland und           USA und Russland würden gemäß ihren Ver-
der NATO käme.                                     pflichtungen aus dem Atomwaffen-Sperrver-

                                                                                           05 l
von Raketenabwehrsystemen in Europa. An-
                                               geblich seien sie gegen iranische Atomrake-
                                               ten gerichtet, die es jedoch noch gar nicht
                                               gab. Russlands Strategen dürften dies anders
                                               wahrnehmen. Die Raketenabwehr soll das
                                               Abschreckungspotential Russlands tenden-
                                               ziell ausschalten, indem sie russische strate-
                                               gische Raketen bereits nach dem Start ab-
                                               schießen könnte. Die US-Strategie zielt also
                                               mit den genannten Entwicklungen auf eine
                                               potentielle militärische Überlegenheit. Diese
                                               würde es den USA erlauben, einseitige mi-
                                               litärische Aktionen vorzunehmen, ohne auf
                                               Russlands Einwände oder militärischen Po-
                                               tentiale Rücksicht nehmen zu müssen. Nach
                                               1999 traten drei ehemalige Sowjetrepubliken
                                               der NATO bei, ebenso wie sechs frühere
                                               Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts und
                                               zwei Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die Es-
                                               kalation der ukrainischen Krise veranlassten
                                               die USA in den drei baltischen Staaten sowie
                                               in Polen längerfristig kleine Kontingente von
                                               US-Truppen zu stationieren.
trag ihre strategischen Waffen entsorgen.           Verbindet man diese US-Militär-Bemü-
Das trat jedoch nicht ein. Es wurde zwar die   hungen mit der systematischen Ausweitung
Anzahl vermindert, aber insbesondere die       der NATO-Mitgliedschaften gen Osten und
USA arbeiteten konsequent auch während         der Perspektive, die Ukraine würde Bünd-
der Präsidentschaft Obamas an der Moder-       nispartner der NATO, so lässt sich aus mi-
nisierung ihrer Waffensysteme. Zuvor hatte     litärischer Logik der Griff Russlands auf die
Präsident Reagan den ABM-Vertrag einseitig     Krim begreifen, wenn auch nicht billigen.
gekündigt. Er sollte die Verwundbarkeit von    Man stelle sich vor, die NATO würde un-
Städten in beiden Ländern garantieren und      mittelbar neben dem wichtigsten russischen
damit einen totalen Schutz durch Rake-         Marinestützpunkt Sewastopol ihren eigenen
tenabwehrsysteme verhindern. So sollte die     Stützpunkt bauen. Zudem werden in der Os-
gegenseitige Zweitschlagsfähigkeit und damit   tukraine wichtige Komponenten für die rus-
die Sicherheit des Abschreckungssystems ge-    sische Rüstungsindustrie gefertigt. Russische
festigt werden. Die Kündigung erlaubte den     Kommentatoren haben die Osterweiterung
USA jedoch, alle wichtigen Ziele in den USA    der NATO des längeren mit den roll-back-
mit Abwehrraketen abzusichern.                 Strategien der USA am Anfang des Kalten
     Parallel dazu bemühten sich die USA und   Krieges verglichen.
die NATO hartnäckig um die Stationierung

l   06                                                                  Der Ukraine-Konflikt
Die Eskalationsentwicklung des Konflikts
   ( Zur Vorgeschichte s. Anhang 1)

Seit der Unabhängigkeit der Ukaine setzten      „Orangen“ Bewegung desillusioniert waren.
sich Aufsteiger aus der sowjetischen Ma-        Eine unpopuläre Kultur- und Sprachpolitik
nagement-Schicht sowie den Geheimdiens-         der Partei der Regionen (Janukowytsch)
ten in den Besitz der entscheidenden Pro-       vertiefte die bestehenden Gegensätze zwi-
duktions- und Dienstleistungsunternehmen,       schen der Westukraine einerseits und der
verhinderten Entflechtungen und Reformen        Ostukraine sowie der Zentralregierung an-
und kontrollieren seither die Volkswirtschaft   dererseits.
der Ukraine. Die zwischen verschiedenen              Nach 2008 wurde die rechtsradikale Par-
Oligarchen-Gruppen widerstreitenden Inte-       tei Swoboda, die sich explizit auf Stepan
ressengegensätze – Russland-Beziehungen,        Bandera beruft, zur stärksten Partei in zwei
West-Interessen – ermöglichten eine landes-     Regionen Galiziens, in denen allerdings ad-
spezifische Parteien- und Medienvielfalt.       ministrative Maßnahmen die Wahlkandida-
     Diese Strukturen spiegelten sich deut-     tur der größeren „orangen“ Parteien verhin-
lich zuerst in der Präsidentenwahl von          dert hatten. Bandera (1909–1959) war als
2004/2005 und der „Orangen Revolution“.         Führer des faschistischen Bataillons Nach-
Diese vermochte es nicht, den verschiedenen     tigall aus Exilukrainern verantwortlich für
Oligarchen-Clans die politische Macht strei-    den Massenmord an 7.000 Juden in Lemberg
tig zu machen. Sie bewirkte aber eine tief-     1941, darunter sämtlicher jüdischer Profes-
ere Spaltung zwischen Oligarchengruppen         soren. Kurzzeitig im KZ, wurde er 1944 für
„pro-westlicher“ (Timoschenko, Juscht-          den Partisanenkrieg gegen die Sowjetunion,
schenko) und „pro-russischer“ (Janukowy-        der bis 1954 anhielt, reaktiviert. Präsident
tsch u.a.) Orientierung. Danach förderten       Juschtschenko wertete ihn 2009 zum Natio-
westeuropäische Nichtregierungsorganisati-      nalhelden auf. In der Westukraine wird Ban-
onen, aber auch staatliche und überstaatli-     dera ebenso verehrt wie seine ‚Aufständische
che Institutionen einseitig die im Norden       Armee‘ (UPA). In der Ostukraine gelten sie
und Westen überwiegenden Parteien und           eher als Helfershelfer der NS-Diktatur.
Politiker. Die Wiedererringung der Mehr-             Seit September 2008 hatten der damalige
heit durch Janukowytschs Regierung – nach       Präsident Viktor Juschtschenko und die EU
vielen Frontwechseln von Parteien und Po-       über ein Wirtschaftsabkommen verhandelt.
litikern – und ökonomische Druckmittel          Über dessen militärpolitische Klauseln wur-
(Erdgaslieferungen, Absatzmarkt Russlands       de die Öffentlichkeit kaum informiert. Ein
für Rüstungsgüter u.a.) sorgten für größeren    halbes Jahr später trat die Ukraine der „Öst-
russischen Einfluss, der allerdings propagan-   lichen Partnerschaft“ der EU bei, einer Grup-
distisch stark überzeichnet wurde.              pe von Staaten, denen die EU wirtschaftliche
     Unterdessen zogen rechtsradikale Be-       Vergünstigungen und engere Zusammen-
wegungen besonders in der Westukraine           arbeit oder sogar Mitgliedschaft in Aussicht
größere Schichten an, die vom Versagen der      stellte. Es handelte sich um die ehemaligen

                                                                                       07 l
Sowjetrepubliken Belarus, Moldawien, Ge-        einen Beitritt haben Meinungsumfragen zu
orgien, Aserbaidschan, Armenien, das aller-     keiner Zeit zeigen können.
dings enge Beziehungen zu Russland unter-           Neuer Massenprotest folgte in Kiew
hält, und nun auch um die Ukraine. Deren        (Euromaidan; Maidan = Platz; nämlich der
wirtschaftliche und politische Beziehungen      Unabhängigkeit) und Lemberg. Anfang De-
zu Russland, mit dem die EU eine Reihe          zember stieg die Zahl der Demonstranten
eigener Abkommen geschlossen hatte, sollten     bis 800.000 an. Der Unabhängigkeitsplatz
durch die „Östliche Partnerschaft“ nicht tan-   (kurz: Maidan), das Kiewer Rathaus und
giert werden, jedoch warb Juschtschenko für     einzelne Ministerien wurden besetzt. Dabei
den Beitritt.                                   traten rechtsextreme Gruppen – Swoboda,
     Die Präsidentenwahl im Januar und Fe-      Prawy Sektor – besonders aktiv auf. Gegen
bruar 2010 gewann Viktor Janukowytsch in        die Kundgebungen schritt die Sonderpolizei
der Stichwahl knapp gegen Julia Timoschen-      Berkut ein und nahm (bis Januar) insgesamt
ko. Gegen diese wurden alsbald – politisch      234 Demonstranten fest. Mehrere Demons-
motivierte – Strafverfahren wegen Machtmi-      tranten wurden erheblich verletzt.
ssbrauch während ihrer Amtszeit als Regie-          Die auf dem Maidan, zunehmend auch
rungschefin eingeleitet. Timoschenko durfte     in anderen Städten, Demonstrierenden for-
die Ukraine nicht mehr verlassen und wurde      derten allgemein den Rücktritt der Regie-
inhaftiert. Die politische Spaltung zwischen    rung und des Präsidenten. Abgesehen von
dem Lager Janukowytschs und dem Timo-           Forderungen nach Verringerung des Oligar-
schenkos (und Juschtschenkos, der allerdings    chen-Einflusses wurden soziale Fragen kaum
kaum mehr eine Rolle spielte) war tiefer        laut. Der „Maidan“ stellte sich als Protest-
geworden. Sie stellte sich auch als geogra-     bewegung des städtischen, intellektuellen
phische Spaltung dar. Timoschenko wurde         Mittelstandes dar, was der Wählerschaft der
in der westlichen Öffentlichkeit zum Sinn-      Oppositionsparteien und dem Bild des ersten
bild der Demokratie stilisiert; ihre frühere    Maidan von 2004/2005 gut entspricht. Stim-
Tätigkeit im Gasgeschäft, durch die sie vor     men gegen die Übermacht der Oligarchen
1996 zur reichsten ukrainischen Oligarchin      traten mehr in der westlichen und der nicht
geworden war, und damit zusammenhän-            großstädtisch geprägten nördlichen Ukraine
gende justiziable Maßnahmen wurden aus-         auf, in der Westukraine trat die Swoboda als
geblendet.                                      Organisator der Proteste hervor.
     Das EU-Abkommen unterzeichnete Ja-             Unter den Oligarchen hielten sich die
nukowytsch nicht. Am 21. November 2013          wichtigsten Donbass-Wirtschaftsführer zu-
fällte seine Regierung einen entsprechenden     rück. Ihre Geschäftsinteressen richteten sich
Beschluss. Gleichzeitig wurde Timoschenko       sowohl auf Russland – dessen Präsident sich
ein weiteres Mal die Ausreise verweigert.       deutlicher hinter Janukowytsch stellte – als
Für ihre Freilassung und vor allem gegen die    auch auf Westeuropa und Nordamerika. Le-
Korruption Janukowytschs und seiner Um-         diglich der Oligarch Petro Poroschenko, der
gebung hatte es seit Mitte November Kund-       das Süßwarengeschäft monopolisiert hatte
gebungen gegeben. Eine eindeutige Mehrheit      und dem ein landesweites Fernsehnetz ge-
für eine Annäherung an die EU oder gar für      hörte, unterstützte die Protestbewegung of-

l   08                                                                  Der Ukraine-Konflikt
fen. Sein Netz des Schokoladenhandels in        Stockwerken. Doch gelang es nicht, sie nach
Russland wurde dort boykottiert.                den Hintergründen und Motiven zu befra-
    Russlands Präsident Putin kam am 17.        gen. Oft wurde die Spezialpolizei Berkut
Dezember 2013 der Regierung Janukowy-           als Tätergruppe genannt. Indizien scheinen
tsch durch den Aufkauf einer Staatsschuld       die Verantwortung regierungsnahen Kräften
von $ 15 Mrd. und erhebliche Senkung des        teilweise zuzumessen. Doch ist eine Täter-
Gaspreises entgegen. Den erwünschten Ef-        schaft, wenigstens Mittäterschaft, des rechten
fekt auf die Demonstranten hatte dies nicht.    Flügels der Maidan-Besetzer nicht widerlegt
    Als dynamische Kraft zeigte sich seit       worden. Die folgende Debatte nützte haupt-
November 2013 eine unstrukturierte Volks-       sächlich der bürgerlichen Opposition, weil
bewegung. Sie bestimmte, unter zeitweilig       die Opfer durchweg zu ihr gehörten; außer-
starkem Druck weit rechtsstehender Ele-         dem wurden Berichte in den regierungstreu-
mente, den Fortgang der Entwicklung bis         en Medien als noch weniger glaubwürdig
wenigstens zum Februar 2014, dem Sturz          wahrgenommen als deren Konkurrenten.
Janukowytschs und noch nach der Über-                In den Bezirkshauptstädten der Westu-
gangs-Vereinbarung, die von den drei West-      kraine besetzten in derselben Zeit Demons-
Außenministern erwirkt, vom „Maidan“ aber       tranten die Sitze der regionalen Regierungen.
verworfen wurde                                 Dabei waren Angehörige der rechtsgerich-
    Maßnahmen der Übergangsregierung            teten Swoboda-Partei aktiv. In Lwiw (Lem-
verursachten die Rebellion in ostukrainischen   berg) und Ternopil hatte Swoboda als einzige
Bezirken, besonders die Rücknahme des           dezidierte Opposition zuvor Regionalwahlen
Sprachgesetzes der Janukowytsch-Regierung.      gewonnen – in Abwesenheit der dort admi-
Die Rücknahme wurde wahrheitswidrig von         nistrativ nicht zugelassenen Koalition der
russischsprachigen Gruppen als Verbot der       Parteien Timoschenkos und Juschtschenkos.
russischen Sprache dargestellt. Die so akzen-        Regierungschef Mykola Asarow trat am
tuierte Regionalisierung zog Sezessionismus     29. Januar zurück. Das Parlament zog die
nach sich, der in weiterer Eskalation zur       scharfen Demonstrationsgesetze zurück und
Konfrontation der NATO, der USA und der         versprach, alle Anklagen gegen Demons-
EU mit Russland führte. Im einzelnen ist zu     tranten fallen zu lassen, wenn diese die be-
nennen:                                         setzten Gebäude freigäben, was nicht ge-
    Am 16. Januar 2014 eskalierte die Lage,     schah.
als das Parlament (Verchowna Rada) re-               Bis zum 20. Februar nahmen die Kämpfe
striktive Demonstrationsgesetze erließ, und     weiter zu. An diesem Tage wurden nach
erstmals töteten Scharfschützen zwei Pro-       offiziellen Angaben 88 Menschen getötet,
testler durch gezielte Schüsse. In diesem wie   meist von Schützen in Tarnuniform und mit
in späteren Fällen blieben der Hintergrund      Masken versehenn.
und die politische Orientierung der Täter            In Kiew bemühten sich die Außenmini-
ungeklärt. Auch in dem den Maidan über-         ster Laurent Fabius (Frankreich), Frank-Wal-
blickenden Hotel, in dem viele Fernseh-         ter Steinmeier (Deutschland) und Radosław
teams untergebracht waren, bewegten sich        Tomasz Sikorski (Polen) um Konfliktlö-
vermummte Scharfschützen in mehreren            sung. Die Einmischung der drei Außenmi-

                                                                                        09 l
nister bewirkte, dass Präsident Janukowytsch      dem Euromaidan, ein politischer Umsturz
am 21. Februar die Bereitschaft zum Amts-         geworden.
verzicht erklärte bei gleichzeitig für Ende            Die im Mai folgende Wahl des Oligarchen
2014 geplanten Parlamentswahlen, jedoch           Petro Poroschenko zum Staatspräsidenten
wurde diese Einigung bereits am selben Tag        legalisierte den Umsturz nur teilweise. Bei
von der Protestbewegung abgelehnt, worauf         den Wahlen entfielen auf die rechtsxtremen
Janukowytsch das Land verließ. Die Öffnung        Gruppierungen zusammen nur zwei Prozent
seiner sehr ausgedehnten Liegenschaft Mez-        der Stimmen, eine Stichwahl war nicht erfor-
hyhirja diente öffentlichkeitswirksam seiner      derlich, da Poroschenko im ersten Wahlgang
Diskreditierung.                                  über 50 Prozent der Stimmen erhielt.
    Als neue Machthaber präsentierten sich             In der Zeit vor der Wahl am 25. Mai
Arsenij Jazenjuk (stellvertretend für Julia Ti-   2014 spielten sich außerhalb der Hauptstadt
moschenko und ihre Partei), Vitalij Klitschko     folgenschwere Ereignisse ab. Am 1. März
(für die von der Konrad-Adenauer-Stiftung         billigte die russische Staatsduma den Antrag
finanzierte Partei Udar) und Oleh Tjahnibok       Putins, russische Streitkräfte in der Ukraine
(Chef der rechtsradikalen Swoboda). Die als       zum Schutz russischer Interessen einzusetzen.
faschistisch eingestufte paramilitärische Or-     Der ukrainische Interims-Premier Jazenjuk
ganisation Prawy Sektor (Dmytro Jarosch)          bezeichnete das als eine „effektive Kriegser-
wurde an der Macht beteiligt. Der informelle      klärung“.
Maidan-Rat delegierte u.a. Andrij Parubij              Auf der Krim wurden pro-russische
in die Übergangsregierung. Dieser gehörte         Bewaffnete aktiv. Putin bezeichnete sie als
der Partei Batkywtschina (Vaterlandspartei)       „nicht russische Soldaten, sondern Selbst-
Timoschenkos an. Vorher war er Mitgründer         verteidigungskräfte“. Am 16. März sollen
einer radikalen Vorläuferpartei der Swoboda.      nach amtlichen Angaben 96,6 Prozent aller
Als „Kommandeur des Maidan“ kollaborierte         Wähler auf der Halbinsel bei einer Betei-
er mit dem Prawy Sektor des Faschisten            ligung von mehr als 80  Prozent für den
Dmytro Jarosch. Vom 27. Februar bis 7.            Beitritt der Krim zur Russischen Föderation
August 2014 war er Sekretär des Nationalen        gestimmt haben. Die Zahlen sind nicht plau-
Sicherheits- und Verteidigungsrats der Uk-        sibel. Rund 24 Prozent der Einwohner waren
raine.                                            zu diesem Zeitpunkt Ukrainer, 12,1 Prozent
    Die Funktionen des Präsidenten über-          Krimtataren (zur Geschichte der Krimtartaren
nahm interimistisch Parlamentschef Olek-          s. Anhang 2). Beide Gruppen waren erklärter-
sandr Turtschynow, der ebenso wie Jazenjuk        maßen Gegner des Anschlusses an Russland.
der Batkytschina (Vaterlandspartei) ange-         Indessen hätte auch ohne Zahlenmanipu-
hört. In der Rada erklärten unterdessen die       lation die russische Bevölkerungsmehrheit
meisten Abgeordneten der Partei der Regi-         (58,5 Prozent) eine Majorität ergeben. Die
onen (Janukowytsch), dass sie ihre Mandate        Sezession der Halbinsel, die den Status einer
weiter wahrnehmen; meist stimmten sie nun         Autonomen Republik innerhalb der Ukraine
mit der bisherigen Opposition.                    hatte, widersprach der Verfassung der Uk-
    Damit war im Februar 2014 aus einem           raine ebenso wie jener der Krim. Die ukrai-
vom Mittelstand initiierten Volksprotest,         nischen Truppen verließen auf Anordnung

l   10                                                                    Der Ukraine-Konflikt
Maidan-Platz in Kiew

des Interimspräsidenten der Krim Turtschy-        In den ostukrainischen Bezirken Donezk
now in der letzten Märzwoche die Krim und     und Luhansk, dem eigentlichen Donbass-
übergaben ihre Einrichtungen an Russland.     Industriebezirk, übernahmen Anfang April
Überwiegendes Interesse am Anschluss der      2014 in mehreren Orten bewaffnete Grup-
Krim hatte Russland einerseits wegen des      pen die Macht, die teils einen neuen Staat
hohen Bevölkerungsanteils der Krim-Russen,    (Volksrepublik Donezk) ausriefen –­ auch
andererseits wegen des Flottenstützpunkts     unter dem Namen Neurussland –, teils den
Sewastopol, bisher schon Heimathafen der      direkten Anschluss an Russland forderten.
Schwarzmeerflotte (zur Geschichte von Sewa-   In Donezk und Luhansk erwies sich diese
stopol s. Anhang 3).                          Besetzung als dauerhaft. In Charkiw dauerte
    Im Zusammenhang mit der Sezession der     sie nur wenige Tage. Den „Milizen“ der so-
Krim beschloss das ukrainische Parlament      genannten Separatisten strömten Hilfskräfte
den Aufbau einer 60.000 Mann starken Na-      aus Russland zu, darunter aus Tschetsche-
tionalgarde. Die EU und die USA beschlos-     nien und Dagestan, und übernahmen schritt-
sen Sanktionen: Reisebeschränkungen gegen     weise das Kommando. Darüber wurde die
Amtsträger in Russland und in der Ukraine     westliche Öffentlichkeit ausführlich und in
sowie Einfrieren ihrer Auslandsguthaben.      der Regel zutreffend informiert. Die Anwe-
    Wegen der Sezession der Krim und we-      senheit zahlreicher – bis zu 400 – Söldner
gen russischer Truppenkonzentrationen nahe    amerikanischer „Sicherheitsfirmen“ in der
der ukrainischen Grenze im Zusammenhang       Nachfolge von Blackwater, Academi usw.,
mit Manövern brach die NATO die gesamte       wurde nur kursorisch erwähnt, ihre Tätigkeit
zivile und militärische Zusammenarbeit mit    ist nicht näher beobachtet oder untersucht
Russland ab.                                  worden.

                                                                                    11 l
In der Hafenstadt Mariupol schlugen uk-    nicht in ihrem Auftrag, in der unmittelbaren
rainische Kämpfer, verstärkt durch Angehö-     Nähe der besetzten Stadt tätig waren. Eine
rige des rechten Prawy Sektor, die Besetzung   weitere Gruppe wurde wenig später festge-
öffentlicher Gebäude durch Separatisten am     nommen. Beide wurden nach einigen Tagen
17. April zurück Die aus diesen Milizen her-   wieder freigelassen. Während eines Angriffs
vorgegangene, vom Prawy Sektor dominierte      der ukrainischen Armee auf Slawjansk schos-
Einheit war bei den folgenden Kämpfen in       sen Rebellen erstmals Armeehubschrauber
und um Donezk als Streitmacht der Kiewer       ab. Slawjansk, Standort eines großen Arsenals
Regierung entscheidend beteiligt               (über 10.000 Kalaschnikow-Sturmgewehre),
    Es war die erste größere bewaffnete Kon-   blieb neben den wesentlich größeren Indus-
frontation mit Rebellen-Milizen. Endgülig      triestädten Donezk und Luhansk zunächst
war Mariupol Mitte Juni wieder in der Hand     unter der Kontrolle von Rebellen.
der Regierung.                                     In Odessa kam es am 1. und 2. Mai
    Wenige Tage später nahmen Rebellen in      2014 zu Zusammenstößen zwischen De-
der Stadt Slawjansk (ukr.: Slowjansk) acht     monstranten für die nationale Einheit der
ausländische Militärbeobachter in Haft, die    Ukraine und – wie Interimspremier Jazenjuk
in Zusammenarbeit mit der OSZE, aber           sagte – pro-russischen Elementen. Viele seien

l   12                                                                 Der Ukraine-Konflikt
aus dem nahegelegenen Gebiet Transnistrien       material der jeweiligen Gegner sein sollten, ist
gekommen, einem abtrünnigen Teil der Re-         eine professionelle und unabhängige Unter-
publik Moldau, das den Anschluss an Russ-        suchung nicht möglich gewesen. Die aus den
land anstrebt. Sie hätten den Demonstrati-       Milizen hervorgegangene, vom Prawy Sektor
onszug, mehrheitlich organisierte Fans des       dominierte Einheit war bei den folgenden
örtlichen Fußballclubs Tschernomorez, at-        Kämpfen in und um Donezk als Streitmacht
tackiert. Die Polizei verhielt sich abwartend.   der Kiewer Regierung entscheidend beteili-
Die pro-russischen Demonstranten flohen          gtDrei Wochen nach dem Abschuss waren
in das Gewerkschaftshaus. Dieses geriet in       die Absturzorte gründlich verändert, unter
Brand, offenbar durch Benzinbomben (Mo-          anderem durch Gruppen bewaffneter Re-
lotow-Cocktails). 40 Personen verbrannten.       bellen und die späte Bergung der Todesopfer.
Örtliche Blogger lassen unabhängig von ihrer     Qualifizierte Untersuchungsgruppen wurden
politischen Einstellung keinen Zweifel daran,    nur zögerlich von den Ort beherrschenden
dass die Benzinbomben von „staatstreuen“         Rebellen zugelassen, die Forderung nach be-
Demonstranten geworfen wurden. Versuche          waffnetem Begleitschutz enthielt die Gefahr
ukrainischer Nationalisten, das Leben Ein-       weiter eskalierender Zusammenstöße Ferner
geschlossener zu retten, wurden aber ebenso      fehlt noch die vollständige Veröffentlichung
dokumentiert.                                    der Daten, die von US-Spionagediensten
    Russland zog unterdessen Miltärverbän-       ermittelt worden sind.
de, die im Verlauf der Krise nahe an die ukra-       Hatten Massenmedien schon zu Beginn
inische Grenze gebracht worden war, wieder       des Euromaidan Russland und besonders
zurück. Die Zusammenarbeit im Rahmen             Putin zum „Brandstifter“ (Spiegel) erklärt,
der OSZE ging weiter, und Russlands Re-          so folgten nun Schuldzuweisungen an die-
gierung erklärte ihren Willen zu weiterer        selbe Adresse, ohne dass eine Beteiligung
wirtschaftlicher Kooperation, garantierte die    Russlands an dem Flugzeug-Abschuss oder
Belieferung Westeuropas mit Erdgas und die       gar die Verantwortung Putins dafür nach-
Erfüllung weiterer wirtschaftlicher Verträge.    gewiesen wäre (Spiegel: Schlagzeile „Stoppt
                                                 Putin jetzt“ auf der Titelseite, die mit teils
     Der Abschuss eines malaysischen Pas-        widerrechtlich beschafften Porträtfotos der
sagierflugzeugs ­am 17. Juli 2014 hatte neue     Todesopfer unterlegt war).
Eskalation zur Folge, nunmehr endgültig              Die These, das Flugzeug sei durch eine
in Form einer Konfrontation zwischen den         Flugabwehrrakete vom Typ SA-11 (Buk) ab-
NATO-Staaten und Russland. Während               geschossen worden, ist keineswegs bewiesen.
die den US-Geheimdiensten vorliegenden           Falls sie zutrifft, muss geklärt werden, welche
Fakten aus der Satellitenfotografie, Funk-       Mannschaft die Abschussrampe bedient hat.
überwachung und anderen Quellen bisher           Dafür kommen Spezialisten mit einschlä-
weitgehend zurückgehalten werden, jene aus       giger Ausbildung in Frage, Angehörige oder
entsprechenden russischen und ukrainischen       ehemaliger Angehörige sowjetischer bzw.
Quellen (Regierung und Separatisten) eben-       russischer oder ukrainischer Truppen, au-
falls in zusammenhanglosen Bruchstücken          ßer regulären auch ehemalige Soldaten, etwa
vorliegen und augenscheinlich Belastungs-        Überläufer aus der ukrainischen Armee zu

                                                                                           13 l
den Separatisten usw. Letztere Annahme hat        Überflugsrechte zu entziehen. Die Eskalation
höhere Plausibilität als jene, die eine funkti-   erreichte eine neue Schärfe. Demgegenüber
onierende Kommandostruktur einer Armee            dienen Unterstellungen russischer Verant-
voraussetzt. Denn dies würde die staatlich        wortung der Verstärkung eines Feindbilds
beschlossene Tötungsabsicht voraussetzen.         – von diversen Verschwörungstheorien bis
    Falls Rebellen mit Spezialkenntnis den Ab-    zu Kommentaren sonst seriöser Medien, die
schuss vorgenommen haben, ist zu klären, ob       nach schärferer Konfrontation verlangen. In
sie das Zivilflugzeug versehentlich abgeschos-    diesen Zusammenhang gehört die Verhän-
sen haben, aus Verwechslung mit einer großen      gung immer neuer Sanktionen, die Gegen-
Militärmaschine oder infolge einer Fehlbedie-     Sanktionen nach sich ziehen und so eine
nung der Abschussrampe. Ein Abschuss „aus         gefährliche Eskalation einleiten würden.
Versehen“ (so wegen der Verwechslung mit
einer Militärmaschine) scheint plausibel, ist
aber ebenfalls nicht bewiesen.
    Sollte aber die Luftabwehr eines Staates
die Tat mit Vorsatz vollbracht haben, so
könnte dies zum casus belli werden. An
einem Krieg über den Rahmen der Kämpfe in
der Ostukraine hinaus dürfte Russland wenig
interessiert sein. Schon deshalb sind Schuld-
zuweisungen der betreffenden Medien und
Institutionen (NATO) unverantwortlich.
Andererseits kann die Ukraine wegen der
eigenen militärischen Schwäche einen Krieg
mit Russland nicht wollen. Schließlich ist
ein Interesse anderer Mächte, die über die
nötigen Verbindungen zur Szene – oder ganz
andere technische Mittel zum Abschuss –
verfügen, nicht nachweisbar. Die Annahme,
der Abschuss sei versehentlich erfolgt, ist
immer noch wahrscheinlicher.
    Die Folge war aber eine substanzielle
Verschärfung der Sanktionen gegen Russland
und Drohungen mit einer noch verstärk-
ten NATO-Präsenz u.a. durch deren Gene-
ralsekretär Anders Fogh Rasmussen. Nun
konterte Russland mit Gegenmaßnahmen
wirtschaftlicher Art – die Sanktionen der
NATO-Staaten, der USA und der EU be-
trafen ebenfalls die Wirtschaft – bis zur Er-
wägung, bestimmten Fluggesellschaften die

l   14                                                                    Der Ukraine-Konflikt
Zusammenhänge mit dem globalen Wandel
von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt

Nach dem Ende des West-Ost-Konfliktes             USA stellt diese Entwicklungen einseitig dar.
hatten die USA eine einzigartige dominie-         Eine kritische Untersuchung unterbleibt
rende Position inne. Man sprach von einer         meist.
unipolaren Welt. Sie nutzten sie für viele
militärische Interventionen (z.B. Kosovo,
Afghanistan, Irak, Libyen). Die damit ver-
                                                  Differenzen zwischen
bundenen Misserfolge, das Aufkommen so-
                                                  den USA und der EU in Bezug
genannter Mittelmächte auf dem Wege zum
                                                  auf den Ukraine-Konflikt
Status von Großmächten (BRICS : Brasilien,
Russland, Indien, China, Südafrika) und der       USA und EU reagieren unterschiedlich auf
relative Abstieg ihrer wirtschaftlichen und fi-   die von Russland unterstützten separatis-
nanziellen Potenzen haben die Situation hin       tischen Bestrebungen in der Ost-Ukraine.
zu einer multipolaren Welt verändert. Die         Beide machen Russland dafür verantwort-
USA kämpfen in ihr nun um ihre Position in        lich, doch die USA drängen stärker auf
der globalisierten Welt.                          wirtschaftliche und politische Sanktionen als
    Russland, das nach dem Zusammen-              die EU. Für die USA steht die Ausweitung
bruch der Sowjetunion als Großmacht sehr          der NATO nach Osten unter militärstrate-
zurückgefallen war, versucht dagegen seine        gischen und wirtschaftlichen Aspekten der
Weltbedeutung wieder aufzubauen und in            Globalisierung im Vordergrund. Dies führt
diesem Zusammenhang – neben einem wirt-           zu einer harten Gangart der USA gegenüber
schaftlichen Zusammenschluss mit benach-          Moskau. Sanktionen sollen den Kreml in die
barten Staaten – seine Stellung als ernst zu      Knie zwingen, während die EU weit mehr
nehmender Partner der USA in dem System           auf Verhandlungen drängt, um Kooperation
gegenseitiger atomarer Abschreckung zu si-        mit Russland weiter zu ermöglichen und in
chern. Dabei wendet Moskau auch militä-           der Perspektive zu erweitern. Eine Politik der
risch unorthodoxe und subversive Methoden         eurasischen Kooperation, die den Spielraum
wie auf der Krim und in der Ost-Ukraine an.       der EU gegenüber den USA vergrößern wür-
Gleichzeitig verstärkt es den Ausbau seiner       de, ist zudem für die USA auch unter dem
Militärpotenziale.                                Gesichtspunkt, die Bedeutung des Dollars
    Beide Mächte setzen in ihrer Konkurrenz       als Leitwährung gegenüber dem Euro zu
also vorwiegend auf militärische Gewalt. Bei      sichern, negativ besetzt. Die EU ist stärker
der Angliederung der Krim an Russland trifft      bemüht, Dialoge zu organisieren. Besonders
Moskau allerdings auf Ablehnung aus vielen        engagiert sind der deutsche, der französische
Teilen der Welt – vor allem der Vielvölker-       und der polnische Außenminister. Dabei
Staaten – die bei sich selbst separatistische     spielen wirtschaftliche Interessen – Investi-
Bewegungen bekämpfen oder fürchten. Die           tionen in Russland, Technologie-Exporte
veröffentlichte Meinung in Europa und den         und vor allem Gas- und Ölimporte in die

                                                                                          15 l
EU – eine entscheidende Rolle. Für die EU         Deutschlands Bezug
betragen die Exporte nach Russland 2,6 Pro-       zum Ukraine-Konflikt
zent der Gesamtexporte (taz 2.8.2014,S.7).
                                                  Die Ukraine ist im 20. Jahrhundert zweimal
Dies ist kein sehr hoher Anteil, doch wird der
                                                  von deutschem Militär besetzt worden. Im
russische Markt für die Zukunft als Wachs-
                                                  Zweiten Weltkrieg vernichteten die Wehr-
tumsmarkt eingeschätzt.
                                                  macht, die SS und andere militärische Kräfte
    Für die USA, die in Russland weni-
                                                  die Industrieanlagen und große Teile der In-
ger wirtschaftlich involviert sind, besteht ein
                                                  frastruktur der Ukraine, spätestens bei ihrem
Interesse, EU-Einkäufe verstärkt auf US-
                                                  Rückzug. Unter der deutschen Besetzung
Angebote und Angebote aus dem Dollar-
                                                  und infolge der Kriegshandlungen kamen
Raum zu lenken. Sie fürchten, die EU würde
                                                  rund 20 Prozent der ukrainischen Bevöl-
durch eine engere Kooperation mit Russland
                                                  kerung und faktisch ihre gesamte jüdische
eine größere Eigenständigkeit gewinnen und
                                                  Bevölkerung ums Leben. Dabei halfen uk-
sich ihrem Einfluss tendenziell entziehen.
                                                  rainische Hilfstruppen, die – obwohl am
Die Folge dieser Konstellation besteht darin,
                                                  Aufbau eigener Verwaltungen nachhaltig ge-
dass die USA eine besonders enge Beziehung
                                                  hindert – für das Hitler-Reich in der letzten
zu Kiew aufbaut, so dass die EU nur noch
                                                  Kriegsphase und darüber hinaus Partisanen-
geringen Einfluss auf dessen Verhalten hat.
                                                  krieg gegen die Sowjetunion führten.
Dabei machen sich die USA die Aversionen
gegen Russland zu nutze, die in ostmitteleu-
                                                       Deutschland ist ein führendes Mitglied
ropäischen Staaten, besonders in Polen, aus
                                                  in der NATO wie auch in der EU. Es
historischen Gründen verbreitet sind.
                                                  hat eine bedeutende diplomatische Rolle
    Stimmen gewichtiger US-Politiker lassen
                                                  bei der Überwindung des West-Ost-Kon-
erahnen, ein Zusammenprall zwischen EU
                                                  flikts gespielt, wobei die Nichtausweitung
und Russland, der beide Seiten schwächt,
                                                  der NATO nach Osten versprochen wurde.
könne durch aus im Interesse von US-Strate-
                                                  Trotzdem hat es seit den 1990er Jahren, die
gien liegen. Die EU würde sich dann stärker
                                                  Ausweitung der NATO stets unterstützt und
unter die Obhut der USA begeben müssen.
                                                  mit exekutiert. Der EU-Assoziierungsvertrag
Die betont provozierende Haltung der USA
                                                  mit der Ukraine, der auch gewichtige mili-
könnte einer solchen Orientierung entspre-
                                                  tärische Komponenten enthält, wurde von
chen. Ob die drei Außenminister das erkannt
                                                  Deutschland ebenso mitgetragen, wie die
haben?
                                                  massive Unterstützung der Maidan-Revolte.
                                                  Eine Einmischung sondergleichen! Eine Rol-
                                                  le Deutschlands als Vermittler dürfte deshalb
                                                  von russischer Seite mit großer Skepsis gese-
                                                  hen werden.

l   16                                                                    Der Ukraine-Konflikt
Erläuterung des Begriffs „Legitime Interessen“ (allgemein)
Unter legitimen Interessen werden hier solche verstanden, die mit der Charta der Vereinten Natio-
nen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte übereinstimmen. Entscheidungen des UN-
Sicherheitsrates konstituieren nicht unbedingt legitime Interessen, da sie auch von den partikularen
Interessen mächtiger Staaten bestimmt sein können. Trotz dieses zunächst klaren Bezugs des Begriffs
werden immer wieder Probleme auftauchen, besonders, wenn wie im Falle der Ukraine, macht-
politische und militärpolitische Konstellationen eine große Rolle spielen, die nicht im Rahmen der
Bearbeitung des engeren Konflikts auflösbar seien werden.

Benennung von legitimen Interessen in diesem Konflikt
Ukraine                                            p Entfaltung eurasischer Kooperation und
                                                     Stärkung der OSZE
p Einen Bürgerkrieg im Lande zu vermeiden.
                                                   p Abbau gegenseitiger Bedrohungspotentiale
p Abbau von Feindbildern in der eigenen
                                                   p Entfaltung von Vertrauen bildender Maß-
  Gesellschaft und nach außen.
                                                     nahmen und Abbau von Feindbildern
p Minderheiten im Lande angemessen in
  ihren Interessen zu berücksichtigen, auch
                                                   EU
  wenn sie keine Mehrheiten in den zentra-
  len politischen Institutionen haben.             p Ausbau von wirtschaftlicher und poli-
p Zulassung und Förderung regionaler,                tischer Kooperation nach Osten
  sprachlicher und religiöser Besonder-            p Abbau gegenseitiger Bedrohungspotentiale
  heiten in den Regionen der Ukraine               p Stärkung der OSZE und Ausbau von
p Demokratische Verhältnisse, so weit vor-           Methoden und Institutionen ziviler Kon-
  handen, zu sichern und auszubauen.                 fliktbearbeitung
p Sicherung des Handels und guter politischer      p Abbau von Feindbildern und Entfaltung
  Beziehungen zu allen umliegenden Staaten           von Vertrauen bildender Maßnahmen
  unter Berücksichtigung der ukrainischen
  entwicklungspolitischen Bedürfnisse.
                                                   USA
p Überwindung der Korruption und des ille-
  gitimen großen Einflusses der Oligarchen.        Stabilisierung der eurasischen Beziehungen,
                                                      um Konflikteskalationen in dieser Region
                                                      vorzubeugen.
Russland
                                                   p Zugang zu den euroasiatischen Märkten
p Verhinderung einer militärischen Einkrei-           unter Berücksichtigung derer entwick-
  sung durch die NATO und Verschiebung                lungspolitischen Bedürfnissen
  des Systems der gegenseitigen Abschre-           p Abbau gegenseitigen Bedrohungssysteme
  ckung zu Ungunsten Russlands                     p Verbesserung der Kooperation mit Russ-
p Sicherung des Handels mit der Ukraine zu            land, um Konflikte in Mittel- und Nahost
  angemessenen Bedingungen                            besser befrieden zu können.

                                                                                             17 l
Vorschläge oder Road Map und Anforderungen an
die involvierten Akteure für eine zivile Lösung des Konflikts mit weit
reichender Perspektive für Vertrauensbildung und Kooperation.

Was kann also getan werden,                       » Russland erklärt sich mit den Neutralität
um Deeskalation und eine friedliche                 der Ukraine einverstanden und will sie
Überwindung des Konflikts                           dauerhaft respektieren.
voranzutreiben? Hier Vorschläge                   » Russland beendet daraufhin stillschwei-
für eine Road Map:                                  gend seine Unterstützung für die Separa-
                                                    tisten in der Ost-Ukraine.
» Es besteht die Gefahr einer nicht ge-           » USA und EU akzeptieren die Neutrali-
  wollten militärischen Eskalation zwischen         tätserklärung der Ukraine und bringen
  den Großmächten. Die NATO und Rus-                zum Ausdruck, sie dauerhaft respektieren
  sland erklären deshalb, sie wollen auf            zu wollen. Sie kündigen einen Plan an zur
  keinen Fall den Konflikt militärisch aus-         stufenweise Beendigung ihrer Sanktionen
  tragen. Deshalb solle zwischen NATO               gegen Russland und fordern dieses auf, es
  und Russland ein rotes Telefon und ein            ihnen gleich zu tun.
  entsprechender Krisenstab eingerichtet          » Kiew erlässt eine Amnestie für die Separa-
  werden.                                           tisten und gestattet ihren unbehinderten
» Die EU begrüßt diese Erklärungen und              Abzug nach Russland.
  bietet Hilfe zur Deeskalation an.               » Kiew erarbeitet eine neue föderale Ver-
» Russland stimmt diesem Vorschlag zu               fassung mit angemessenen Autonomie-
  und beteiligt sich an dessen Verwirkli-           rechten, die auch Minderheiten schützen.
  chung.                                            In ihr ist eine Wirtschaftsordnung festge-
» Die NATO erklärt, sie beabsichtige nicht,         legt mit gleichberechtigten Beziehungen
  die Ukraine als Mitglied aufzunehmen              nach West und Ost unter Berücksichti-
  und auch nicht in anderer Form mit ihr            gung der entwicklungspolitischen Bedürf-
  militärisch zu kooperieren.                       nisse der Ukraine.
» Die EU erklärt, sie betrachte alle Teile des    Die NATO zieht die Streitkräfte wieder ab,
  mit Kiew abgeschlossenen Assoziierungs-           die sie während des Konflikts in Mit-
  abkommens, die sich auf eine militärische         gliedsstaaten mit einer Grenze zu Russ-
  Kooperation beziehen, als ungültig.               land stationiert hatte.
» Kiew erklärt sich als neutral, wie es bereits   » Kiew fordert eine neue Volksabstimmung
  in der Verfassung von 1996 festgelegt ist.        auf der Krim über deren Sezession. Dabei
  Es werde keinem Militärpakt beitreten.            wird Russland vorab vertraglich zugesi-
» Die USA erinnern Russland an den tri-             chert, dass das Areal um den russischen
  lateralen Vertrag zwischen der Ukraine,           Kriegshafen Sewastopol unabhängig vom
  den USA und Russland vom 13.1.1994 in             Ausgang der Volksabstimmung exterrito-
  Moskau. Dabei wurden der Ukraine unter            riales Gebiet Russlands bleiben würde. Die
  anderem Grenzgarantien zugesichert.               Volksabstimmung solle unter strikter Kon-

l   18                                                                    Der Ukraine-Konflikt
trolle der OSZE erfolgen und die Ergeb-          Eine friedliche Lösung wäre möglich,
    nisse wären verbindlich für alle. Russland       wenn die alten Verhaltensweisen der
    müsse sich verpflichten, die kulturellen         Konfrontation zugunsten einer Politik
    Rechte der Krimtataren zu respektieren,          der Kooperation und der zivilen Kon-
    falls die Abstimmung die Angliederung der        fliktbearbeitung in Europa aufgegeben
    Krim an Russland bestätigt.                      werden. Abbau von Misstrauen und
»   Russland erklärt sich bereit, über die Mo-       Aufbau von Vertrauen sind erforder-
    dalitäten dieses Vorschlags zu verhandeln.       lich. Die Zivilgesellschaften aller betei-
»   USA, EU und NATO heben ihre Sankti-              ligten Länder können dazu beitragen,
    onen gegen Russland auf.                         indem sie sich gegen Feindbilder und
»   Russland erklärt sich bereit, mit Kiew           Verhetzungen wenden.
    über die Lieferung von Öl und Gas und
    die Verrechnung bestehender Schulden
    erneut zu verhandeln.
»   Deutschland schlägt in Übereinstimmung
    mit der EU eine dauerhafte Konferenz für
    Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE)
    vor – eventuell im Rahmen der OSZE.
    Auf ihr sollen in mehreren „Körben“ die
    verschiedenen Themen behandelt und zur
    Schlichtung von Kontroversen beigetra-
    gen werden.                                      Anhänge
»   Kiew fordert Armenien, Aserbaidschan,
                                                     Anhang 1 : Angaben
    Georgien und Moldawien auf, sich eben-
                                                     zur Vorgeschichte des Konflikts
    falls für einen neutralen Status zu ent-
    scheiden und in regionaler Kooperation           Die Ukraine ist zwar Gründungsmitglied
    bestehende Differenzen – etwa bezogen            der Vereinten Nationen (die Westalliierten
    auf Bergkarabach und Transnistrien –             akzeptierten die Ukraine und Belarus, um
    beizulegen und gemeinsame Interessen zu          der UdSSR entsprechendes Gewicht in der
    vertreten.                                       Weltorganisation zu geben, obwohl beide
»   Die NATO verzichtet darauf, sich um              Unionsrepubliken Untergliederungen der
    einen Beitritt dieser Länder zu bemühen,         Sowjetunion waren), doch bis 1990 trat sie
    falls diese sich für neutral erklären sollten.   international nicht als Staat eigenen Rechts
                                                     in Erscheinung. Die Auflösung der UdSSR
                                                     beschlossen die Präsidenten der Ukraine, von
                                                     Belarus und der Russischen Föderation ge-
Würde nach dieser Road Map verfah-                   meinsam. Daraus leitete die russische Staats-
ren, könnte die Ukraine eine wichtige                führung ein besonderes Verhältnis zur Ukra-
Rolle als Brücke zwischen West und                   ine ab. Bei der Präsidentenwahl im Novem-
Ost und zur Befriedung vieler Länder                 ber 2004 unterstützte Russlands damaliger
in der Region spielen.                               Premierminister Putin den Kandidaten Ja-

                                                                                            19 l
nukowytsch, dessen vermeintlicher Wahlsieg        Anhang 2 : Die Krimtataren
durch einen Massenprotest wegen deutlicher        Um 1403 vernichtete der türkische Welte-
Wahlfälschungen annulliert wurde. In dem          roberer Timur-i lenk (Tamerlan) das als
folgenden Monaten der „Orangefarbenen             Goldene Horde bekannte Nomadenreich in
Revolution“ vertiefte sich eine Spaltung der      der osteuropäischen Steppe. Es blieben Teil-
Ukraine entlang diffuser historischer, religi-    staaten übrig:das Khanat Kasan an der mittle-
öser, sprachlicher und kultureller Grenzen.       ren Wolga, das Kha­nat der Nogaischen Hor-
      An diese Unterschiede knüpfen die an        de um Astrachan an der Wolgamündung, fer-
Spaltung des Landes, Eskalation der Kon-          ner das Krim-Khanat. Unter Hadschi Giray
flikte und möglicherweise partieller Annexi-      baute es in Bahčesaray (russisch: Bachtschis-
on interessierten Kräfte an.                      saraj) – „Gartenpalast“ – einen neuen glän­
     Der Süden und Osten (Donbass, Küs-           zenden Mittelpunkt auf. Bahčesaraj ist seit
tenregion, Krim) sind erst seit Ende des 18.      1425 als Zentrum der Krimtataren bekannt.
Jahrhunderts Teil des damaligen Russischen                Für die Entstehung des Russischen
Reichs. Seitdem waren sie Einwanderungs-          Reichs hatten die Khanate erhebliche Be­
gebiet, freier als das übrige Russland, stark     deutung. Das Großfürstentum Moskau stieg
russischsprachig (aber nur in den Gebieten        durch den Prozeß der „Sammlung der rus-
Luhansk und Donezk gibt es russischspra-          sischen Erde“ zur territorialen Großmacht
chige Mehrheiten), russisch-orthodox (aber        auf. Als unter Iwan IV. (dem „Schreck-
nicht strikt religiös), von Industrie und Berg-   lichen“) die Khanate Kasan (1552) und As-
bau beeinflusst.                                  trachan (1556) erobert und eingegliedert
     Der Norden, bis Ende des 18. Jahrhun-        wurden, überschritt Russland die Grenzen
derts Teil des polnisch-litauischen Groß-         vom Nationalstaat zum Nationalitätenstaat,
staates, war sozial gespalten zwischen ei-        in dem unter russi­scher Herrschaft zahlreiche
ner katholischen, meist polnischsprachigen        andere Völ­ker zusammengefasst wurden.
Oberschicht und einer bäuerlichen, russisch-          Seit dem 17. Jahrhundert drängte Rußland
orthodoxen oder griechisch-katholischen           zum Schwarzen Meer. Die ent­      scheidenden
Mehrheit. Die Zuwanderung aus der Leibei-         Siege errang Rußland unter Kaiserin Katha-
genschaft geflohener Bauern und der Einfluss      rina II. Nach mehreren Siegen auf dem Land
der angrenzenden Kosakengebiete erzeugten         zwang Rußland dem Osmanischen Reich den
eine ukrainischsprachige Volkskultur.             Frieden von Kücük Kaynarca (Juli 1774) auf.
     Der Westen (Ost-Galizien, Wolhynien,         Das Krim-Khanat – seit dem 16. Jahrhundert
Podolien, Nord-Bukowina) war über ein             osmanisch – wurde durch diesen Frie­den zum
Jahrhundert österreichisches Kronland. Hier       selbständigen Staat.
bildete sich ein radikaler ukrainischer („ru-           Schon ein Jahrzehnt darauf annektier­
thenischer“) Nationalismus heraus. Daran          te Rußland das Krim-Khanat (1783). Nach
knüpfte im Zweiten Weltkrieg die chauvini-        einer Inspektionsreise Katharinas II. auf die
stische, antijüdische und antipolnische Un-       Krim entwickelte sich ein weiterer russisch-
abhängigkeitsorganisation Stepan Banderas         türkischer Krieg, der 1791 (Frie­de von Jassy)
und deren Guerillakrieg gegen die UdSSR           mit der formellen Einglie­derung der Krim in
bis 1954 an.                                      Rußland endete.

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