"THEY FORGOT THE STADIUM"
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„THEY FORGOT THE STADIUM“ 1 Zur Rolle von Fussballfans im Zuge von Mobilisierungsprozessen sozialer Bewegungen Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades „Bachelor of Arts“ an der Universität der Künste Berlin Fakultät 02 – Gestaltung Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation David Borochov E-Mail: david.borochov@gmx.at Vorgelegt am 13.07.2020 Erstgutachter: Prof. Dr. Franz Liebl Zweitgutachter: Wenzel Mehnert 1 Auszug aus einem ägyptischen Fangesang (übers. v. Dorsey 2016) Der Text dieser Publikation wird unter der Lizenz „Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International“ (CC BY-SA) veröffentlicht. Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de Fotos und Abbildungen mit anderen Nachweisen sind ausgenommen.
Abstract Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit den möglichen Rollen von Fußball-Ultra-Fangruppen in Mobilisierungsprozessen von sozialen Bewegungen. Anhand einer Analyse der Protestbewegungen in Ägypten 2011, der Türkei 2013 und Algerien 2019 im Kontext der Bewegungsforschung, werden u.a. die Faktoren Gewaltbereitschaft in repressiven politischen Systemen und kulturelle Produktionsleistungen (als Ausdrücke der Fankultur) im Allgemeinen als potentiell mobilisierungsfördernd identifiziert. Durch ihre Spontaneität auf der einen und ihre effiziente Organisation auf der anderen Seite können Ultras die kognitive Produktion eines Issues und die Konsens- und Handlungsmobilisierung maßgeblich beeinflussen.
Inhaltsverzeichnis Spielvorbereitung 6 1. Das Spielfeld: Soziale Bewegungen 7 1.1 Theoretische Ansätze 8 1.1.1 Der sozialpsychologische Ansatz 8 1.1.2 Der rationalistische Ansatz 8 1.1.3 Der ökonomische Ansatz 9 1.1.4 Der kulturtheoretische Ansatz 11 1.1.5 Weitere Aspekte 11 2. Das Spiel: Mobilisierung 14 3. Die Spieler: Ultras 17 3.1 Geschichte und Taxonomie 17 3.2 Gewalt 18 4. Die Spiele: Cases 20 4.1 Kairo 2011 21 4.1.1 Kontext 21 4.1.2 Die Bewegung 22 4.2.2 Auswirkungen 23 4.2 Istanbul 2013 24 4.2.1 Kontext 24 4.2.2 Die Bewegung 25 4.2.3 Auswirkungen 25 4.3 Algier 2019 27 4.3.1 Kontext 27 4.3.2 Die Bewegung 28 4.3.3 Auswirkungen 28 4.4 Rest der Welt 2010-2020 29
5. Die Spielanalyse: Anwendung der Theorie 30 5.1 Lernen von Kairo 31 5.2 Lernen von Istanbul 33 5.3 Lernen von Algier 34 5.4 Lernen vom Rest der Welt 35 Conclusio und Ausblick 36 Literatur 38
„He quickly realised that football fandom was becoming a gateway drug to political activism.“ Irak (2019, S. 253): Football fandom, protest and democracy.
Spielvorbereitung Die vorliegende Arbeit hat eine gewissermaßen aufklärerische Absicht in Bezug auf das gesellschaftspolitische Potential von Fußballfans.2 Sie wurde von der Mitarbeit in der Kommunikationsprojektgruppe „Neue Försterei“ für den 1. FC Union Berlin inspiriert, in welcher die Erarbeitung eines Fandiskursformats erfolgte und die gesellschaftskonstituierende und -verhandelnde Qualität von Fußballfankultur sichtbar gemacht und kultiviert werden sollte. Es war überraschend, wie produktiv Unioner im Raum des Fußballs die großen Fragen der Gesellschaft nach Integration, Wachstum und Kulturvermittlung in Zeiten der vielzitierten gesellschaftlichen Spaltung im Rahmen ihres Vereins diskutieren konnten. Eine Erfahrung, die auch im Widerspruch zur häufig kolportierten, angeblich unpolitischen Haltung der Fanszenen steht. Mit den Medienberichten zu der Beteiligung von Ultra-Gruppen an der algerischen Revolutionsbewegung war ein weiterer Aspekt des politischen Potentials von Fußballfans gefunden: soziale Bewegungen. Zwar gibt es durchaus bereits detaillierte Auseinandersetzungen einzelner Bewegungsaktivitäten von Fußballfans, eine breitere, bewegungstheoretisch fundierte Analyse potentieller und real ausgefüllter Rollen fehlt allerdings noch. Die vorliegende Arbeit soll einen Schritt in diese Richtung darstellen. In den folgenden Kapiteln wird erst das Spielfeld der Bewegungstheorie und ihrer Denkschulen abgesteckt. In weiterer Folge wird die zentrale Rolle des Mobilisierungsprozesses thematisiert und die Ultras als eigentlicher Untersuchungsgegenstand historisch kontextualisiert. Anhand dreier Fallstudien der Bewegungen in Kairo 2011, Istanbul 2013 und Algier 2019 werden jene Elemente der Fankultur identifiziert, die im Mobilisierungsprozess der jeweiligen Bewegung relevant wurden. Zum Schluss werden diese Erkenntnisse kombiniert und in ihrer Relevanz für zukünftige Bewegungen, Fankultur sowie die Bewegungsforschung abgeleitet. 2 Dieter Rucht zufolge ist daran nichts Ehrenrühriges, solange die Bewegungswissenschaft „sich nicht als Problemlösungswissenschaft [versteht]“ (vgl. Rucht 2011, S. 37). !6
1. Das Spielfeld: Soziale Bewegungen Die theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet die sogenannte Bewegungsforschung, die sich hauptsächlich aus Arbeiten der Soziologie und Politologie speist. Eine genaue Definition der „sozialen Bewegung“ gibt es nicht, unter anderem, weil das zu beschreibende Phänomen zu vielseitig ist – „as with any sociological phenomenon“, wie Nick Crossley (2002, S. 1) schreibt. Mit jedem Versuch einer Definition laufe man Gefahr, entweder mehr Gegenstände miteinzubeziehen, als einem lieb ist, oder durch ein zu enges Verständnis relevante Aspekte der Thematik auszublenden (ebd., S. 2). Eine einigermaßen befriedigende Definition bieten die Koryphäen der Bewegungsforschung, Della Porta und Diani (1999, S. 14). Ihnen zufolge sind soziale Bewegungen „informal networks based on shared beliefs and solidarity, which mobilize about conflictual issues, through the frequent use of various forms of protest”. In dieser Definition sind die zentralen Aspekte sozialer Bewegungen enthalten: — Sie sind informelle Netzwerke, die auf gemeinsamen Überzeugungen basieren – seien sie auch noch so klein. Ohne einen gemeinsamen Nenner, auf den sich unterschiedliche Gruppen berufen können, ist eine erfolgreiche Mobilisierung unmöglich, oder anders formuliert: „They must at least agree over what they are in disagreement about“ (Crossley 2002, S. 6). Diese sog. informellen Netzwerke können als „Netzwerke aus Netzwerken“ verstanden werden, deren Mitglieder fluktuieren und dynamische Koalitionen um bestimmte Konfliktlinien, d.h. Issues, bilden (vgl. Voigt 2006, S. 17). — Ebenso maßgebend für die Entstehung einer sozialen Bewegung wie die intrinsische Überzeugung ist ein extrinsisches Issue, d.h. eine gesellschaftliche Streitfrage, die erst den Anlass zur Mobilisierung schafft. Dies kann sowohl die Ablehnung einer gesellschaftlichen Veränderung wie ihre Einforderung sein. Im Grunde können soziale Bewegungen allgemein als Protestbewegungen verstanden werden. Andere Formen von Bewegungen (z.B. religiöse, reformpädagogische, oder die Szene der Fußballfans) weisen zwar strukturell und organisational große Ähnlichkeiten mit sozialen Bewegungen auf, fallen aber nicht unter den Begriff im engeren Sinn (vgl. Kühl 2014, S. 71). Nur in sozialen Bewegungen dient der Protest „als Katalysator einer eigenen Systembildung“ (vgl. Luhmann 1991, S. 135f., zitiert nach Kühl 2014, S. 70). — Ihr Mittel der Wahl zur Generierung von Aufmerksamkeit und der Erzeugung öffentlichen Drucks ist der Protest in all seinen Variationen. Historisch drückt sich dieser in der Regel in nicht-institutionalisierten Formen wie Demonstrationen, Sit-ins und im Internet aus, kann aber bei etablierten Bewegungen auch klassische Methoden der Interessenvertretung wie beispielsweise Lobbying beinhalten (vgl. Snow et al. 2019, S. 6). !7
1.1 Theoretische Ansätze Wie bereits angemerkt, ist die Frage nach einer allgemeingültigen Erklärung sozialer Bewegungen ungeklärt. Im Zuge der Theoriegenese entstanden zahlreiche, sich voneinander teils stark unterscheidende Erklärungsansätze. Vor allem in den Anfängen der Bewegungsforschung vertraten die einzelnen Lager geradezu paradigmatisch ihre Thesen mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit, was einerseits recht bald die Grenzen des jeweiligen Ansatzes aufzeigte, andererseits aber auch die ihm innewohnenden Möglichkeiten zur Gänze ausschöpfen konnte (vgl. Hellmann & Koopmans 1998, S. 229). Die aufgeführten Faktoren können keineswegs unabhängig voneinander verstanden werden, sondern bauen teils aufeinander auf und ermöglichen erst in ihrer Interaktion ein ganzheitliches Verständnis sozialer Bewegungen (vgl. McAdam et al. 1996, S. 8). Das liegt auch daran, dass manche Ansätze sich mit den Voraussetzungen für das Auftreten sozialer Bewegungen befassen, während andere versuchen, ihre Erfolge zu erklären. 1.1.1 Der sozialpsychologische Ansatz In ihren Ursprüngen war die Bewegungsforschung stark durch die massenpsychologischen Thesen Gustave Le Bons geprägt. Dieser attestierte Massen Eigenschaften wie „Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle und andere, die bei Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe […] zu beobachten sind“ (Le Bon 1982 [1895], S. 21). Seinem Verständnis nach handele es sich bei Massenbewegungen um irrationale, geradezu pathologische Phänomene, die, meist angeführt durch einen suggestiven, charismatischen Anführer, ihre Individualität vergessen und in einer Art unkontrollierbaren Masse aufgehen. 1.1.2 Der rationalistische Ansatz Bis in die frühen 1960er hielt sich dieses Bild von Massenansammlungen und damit auch von sozialen Bewegungen – naturgemäß nicht gerade kontrastiert durch den Aufstieg und die Herrschaft der Nationalsozialisten. Eine der ersten Arbeiten, die sich – immer noch in Bezugnahme auf die Sozialpsychologie – mit den strukturellen Voraussetzungen kollektiven Verhaltens auseinandersetzte, war der Text Theory of Collective Behavior von Neil Smelser (1962). Darin formuliert er das sogenannte „value-added“- Modell, das eine zentrale Perspektive in die Bewegungsforschung einbrachte: Deprivation. Demnach entstehen Bewegungen aus einer objektiven, tatsächlichen oder potentiellen Deprivation, also einer strukturellen Benachteiligung, weshalb der Ansatz auch als „structural strains“-Theorie bekannt wurde (Pinard 2011, S. 8). Ziel von Bewegungen sei also, die eigene Lebensrealität zu verbessern.3 Recht bald kam allerdings die Frage auf, wieso nur manche gesellschaftliche Gruppen sich aufgrund von Deprivation mobilisieren lassen und andere nicht. Basierend auf dem Konzept von James Davies (1962) entwickelte Gurr (1970) den im Folgenden Deprivationstheorie genannten Ansatz, in dem allerdings ein 3 Diese Idee lässt sich schon viel früher bei Marx/Engels finden, so etwa im Manifest der Kommunistischen Partei (1848). !8
anderer Faktor die zentrale Rolle spielte: relative Deprivation. Im Unterschied zu ihrem Vorgänger interessiert sich diese vor allen Dingen für subjektiv empfundene Deprivation, die einerseits im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen und der Wahrnehmung derer Bevorzugung entsteht, andererseits und vor allem dann, wenn eine tatsächliche Bedürfnisbefriedigung nicht in gleichem Maße ansteigt, wie die erwartete Bedürfnisbefriedigung. Davies veranschaulicht diesen Prozess mithilfe der sogenannten J-Kurve, bei welcher die erwartete Bedürfnisbefriedigung ab einem gewissen Zeitpunkt nach unten ausschlägt (vgl. Gurr 1970, S. 53). 1.1.3 Der ökonomische Ansatz Nun gab es allerdings immer noch keine Erklärung dafür, wieso manche Bewegungen sich länger erhalten, während andere nicht einmal richtig losgehen. Mobilisierung war schon länger ein Begriff in bisherigen Arbeiten, nun geschah allerdings gewissermaßen ein Paradigmenwechsel in der Bewegungsforschung: Die Mobilisierung von Ressourcen wurde zum entscheidenden Kriterium für die Entstehung und nachhaltige Existenz sozialer Bewegung erklärt. Der sogenannte Ressourcenmobilisierungsansatz erklärt weniger das „Wieso?“ von sozialen Bewegungen, sondern das „Wie?“ (vgl. Melucci 1980, zitiert nach Klandermans 1991, S. 29). Er ist die Weiterführung des sogenannten „economic turn“ (vgl. Goodwin & Jasper 2015, S. 6) innerhalb der Bewegungsforschung, in dessen Anfängen erst die Interessen des rational agierenden Homo Oeconomicus als Individuum betrachtet wurden, bevor sogenannte (soziale) Bewegungsorganisationen („social movement organizations“) durch die theoretische Grundlagenarbeit von McCarthy und Zald (1973) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurden. Bewegungsorganisationen werden darin als wirtschaftliche Organisationen verstanden, die nach einem ökonomischen Prinzip auf eine nachhaltige Akquise und Verwertung von (hauptsächlich externen) Ressourcen aus sind. Der im Ansatz von Gurr noch zentrale Faktor Deprivation wird bei McCarthy und Zald fast vollends entwertet: Sie wird als allgegenwärtig und also für die Entstehung einer Bewegung als unzureichend betrachtet; für diese benötige es vor allem Ressourcen in Form von Arbeitsleistung, Finanz- und Sachmittel. Bestehende Bewegungsorganisationen seien dafür die Basis (vgl. Zald & McCarthy 1987). Die Gesamtheit aller Bewegungsorganisationen, die zu einer bestimmten sozialen Bewegung gehören, werden bei ihnen als „soziale Bewegungsindustrie“ („social movement industry“) bezeichnet, wobei in einer Gesellschaft jederzeit mehrere Bewegungsindustrien nebeneinander existieren können. Die Gesamtheit aller sozialen Bewegungen und Bewegungsindustrien nennen sie den „sozialen Bewegungssektor“ („social movement sector“; vgl. McCarthy & Zald 2001, S. 535). Die zentrale Aufgabe bei der Mobilisierung sozialer Bewegungen ist demnach die erfolgreiche Vernetzung bestehender sozialer Bewegungsorganisationen und damit einhergehend das Generieren ausreichender Mittel, ohne die keine nachhaltige Bewegung aufgebaut werden kann. Abgesehen von materiellen und humanen Ressourcen kamen im Lauf der Theoriegenese moralische, kulturelle und sozio- organisationale Ressourcen hinzu, auch um den Fehler zu vermeiden, alles Mögliche als Ressource anzusehen (vgl. Edwards et al. 2019, S. 80ff.). !9
Unter materiellen werden vor allem finanzielles und physisches Kapital (z.B. Büroräume, Ausstattung etc.) genannt, wobei dem finanziellen in der Bewegungsforschung aufgrund der Greif- und Austauschbarkeit (in andere Ressourcenarten) am meisten Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ähnlich greifbar, wenngleich durch die Individualität der Beteiligten etwas unklarer in ihrer Bedeutung, sind humane Ressourcen. Dabei spielt eher die schiere Anzahl der Teilnehmer*innen einer Bewegung eine Rolle, als ihre organisationale Struktur. Diese ist für die Analyse sozio-organisationaler Ressourcen zentral, die gewissermaßen die Kernthese des RMA beinhaltet: Die entscheidende Rolle von Bewegungsorganisationen. Es wird zwischen nutz- bzw. kultivierbaren („appropriable“) und beabsichtigten („intentional“) sozialen Organisationen unterschieden (vgl. Coleman 1988, zitiert nach Edwards et al. 2019, S. 81). Als Bewegungsorganisationen zählen nur letztere; erstere unterscheiden sich von ihnen dadurch, dass sie nicht für einen Bewegungszweck gegründet wurden, aber durch bestimmte ihnen eigene Ressourcen die Gesamtbewegung ergänzen können, sofern sie sich dieser anschließen (vgl. ebd.). Als weichen, aber nicht zu unterschätzenden Faktor des RMA gelten kulturelle Ressourcen, die auf Pierre Bourdieus Theorie des kulturellen Kapitals basieren, genauer den Aspekt des „Habitus“: Mit dem taktischen Know-How vergangener Bewegungen und einem bestehenden kollektiven Erfahrungspool, aus dem man Schöpfen kann, dauert es für aufkeimende Bewegungen deutlich kürzer sich zu mobilisieren, als für vergleichbare Bewegungen ohne Zugriff auf derartige Ressourcen (vgl. ebd./Bourdieu 1986). Zu dieser Art von Ressourcen zählen auch bewegungsrelevante kulturelle Erzeugnisse wie Musik, Literatur, Filme und Videos etc., deren Verkauf einerseits die Ideen der Bewegung mobilisierungsfördernd verbreitet, andererseits wiederum finanzielle Ressourcen generiert (vgl. Edwards et al. 2019, S. 83). Moralische Ressourcen bezeichnen zuletzt vor allen Dingen den Faktor Legitimität, der von externen Institutionen oder prominenten Unterstützer*innen eingebracht wird und welcher sozialen Bewegungen einen Vorteil bietet (vgl. ebd.). Der Ressourcenmobilisierungsansatz ist bis heute der mit Abstand prägendste in der Bewegungsforschung, und obwohl er mittlerweile in diversen Kontexten angewandt wurde, definieren seine Urheber McCarthy und Zald seine Rahmenbedingungen wie folgt: (1) Societies have voluntary association traditions. Individuals can choose to affiliate and participate in voluntary associations and knowledge of how to organize them is fairly widespread. (2) Freedom of speech and freedom of assembly are normatively accepted, even if not universally applied. (3) There is a mass media and it is fairly open to reporting grievances and protest. (4) The electoral system is so structured that small groups have little chance of gaining legislative office. Thus, mobilization and action outside of the electoral system is encouraged. McCarthy & Zald 2001, S. 535 Die beschriebenen Gesellschaften entsprechen also durch die vorgegebenen Freiheiten (der Versammlung, des Redens, der Meinung und der Presse) und den repräsentativen Charakter des demokratischen Systems !10
am ehesten Vorbildern wie den USA. Trotzdem bleibt der RMA auch für die vorliegende Arbeit die zentrale Denkfigur. 1.1.4 Der kulturtheoretische Ansatz Schon bei der Ikone der „community organization“, Saul Alinsky, hieß es: „if people feel they don’t have the power to change a bad situation, then they do not think about it.“ (Alinsky 1971, S. 105; Hervorh. im Orig.). Er folgert daraus: „In the beginning the organizer’s first job is to create the issues or problems.“ (vgl. ebd., S. 119; Hervorh. durch D.B.). Basierend auf Erving Goffmans Framing-Theorie (1986 [1974]) rückten Snow et al. (1986) den Aspekt der (relativen) Deprivation wieder in den Fokus, indem sie sich fragten, durch welchen Prozess die laut McCarthy und Zald bekanntlich ubiquitäre relative Deprivation erst zu kollektiver Handlung führt. Die Antwort fanden sie in Goffmans Ausführungen zum sozialpsychologischen Konzept der „frames“, die als „Interpretationsschemata“ dafür verantwortlich sind, ein bestimmtes Verständnis eines Ereignisses mit der individuellen Lebensrealität und damit einer bestimmten Einordnung zu verknüpfen (vgl. Goffman 1986, S. 21/Snow et al. 1986, S. 464). Für sie steckt der Kern der Mobilisierungstätigkeit von sozialen Bewegungen in der kulturellen Interpretations- und also Übersetzungsleistung, einen bestimmten Missstand für die Betroffenen erst so zu formulieren, dass er zu einem bearbeitbaren Issue wird, oder wie Alinsky vorgreifend schrieb: (…) In any community (…) people may have serious problems – but they do not have issues, they have a bad scene. An issue is something you can do something about, but as long as you feel powerless and unable to do anything about it, all you have is a bad scene. (…) The organization is born out of the issues and the issues are born out of the organization. Alinsky 1971, S. 119f. Der Effekt auf die Bewegungsmobilisierung ist dabei genauso zentral wie auf die Mobilisierung der öffentlichen Meinung (vgl. Hellmann 1998, S. 20), immerhin ist die politische Öffentlichkeit „der zentrale Schauplatz, auf dem über die Relevanz einer Bewegung und ihres Anliegens vorentschieden wird“ (Rucht 2011, S. 21.). Rucht bezeichnet diesen Prozess als „image management“ (vgl. ebd.). Es wird zwischen vier unterschiedlichen Arten des Framings unterschieden: „Frame Bridging“ bezeichnet die Verbindung zweier ideologisch kohärenter, aber strukturell noch nicht verbundener Frames bzw. Issues. „Frame Amplification“ meint die Pointierung bzw. die Verdeutlichung bestehender Frames, während „Frame Extension“ ihre inhaltliche Erweiterung zum Ziel hat, um mehrheitstauglicher zu werden. Zu guter Letzt beschreibt „Frame Transformation“ die klassische, jedoch am schwierigsten zu erreichende Umdeutung eines bestehenden Frames, die zu einer Meinungsänderung führen soll (vgl. Klandermans 1991, S. 33). 1.1.5 Weitere Aspekte Im weiteren Verlauf kamen aus immer mehr Fachrichtungen Ergänzungen und Erweiterungen der bisherigen Bewegungsforschung, die zwar keinen größeren Paradigmenwechsel mehr verursachten, wohl !11
aber mobilisierungstreibende oder -hemmende Faktoren beleuchten. Dazu gehört etwa der „Collective Identity“-Ansatz, der im Zuge der Erforschung sogenannter „Neuer sozialer Bewegungen“ breiter diskutiert wurde, deren Fokus aber nicht mehr auf sozialpolitischen, sondern – in der Tradition der ’68er-Bewegung – auf identitätspolitischen Issues liegt.4 Der Ansatz ist der Framing-Theorie nah verwandt, da es sich auch hier um eine Konstruktionsleistung handelt, in deren Zentrum die Definition eines (handlungsfähigen) „Wir“ gegenüber einem oppositionellen „Die“ steht (vgl. Gamson 1995, S. 99; Hellmann 1998, S. 19). Dafür kann auch Zeitgeschichte, bzw. der historische Kontext eines Issues als argumentative Basis dienen (vgl. Flesher Fominaya 2019, S. 441). Damit wäre ein letzter theoretischer Ansatz genannt, der zum Verständnis des vorliegenden Forschungsgegenstands behilflich ist: der „political-opportunity“-Ansatz. Angestoßen durch die Politologen Lipsky (1970), Eisinger (1973) und später aufgenommen durch Charles Tilly (1978) wurde der Ansatz in einem eigenen theoretischen Gerüst festgehalten: Naturgemäß funktioniert nicht jede Bewegung in jedem politischen Kontext gleich, sondern kann durch realpolitische Prämissen begünstigt oder beschränkt werden (vgl. McAdam & Tarrow 2019, S. 20). Interessant hierbei ist, dass soziale Bewegungen mitnichten bspw. kaum in repressiven und zuhauf in liberalen politischen Systemen vorzufinden sind, die Realität ist deutlich nuancierter: So können äußerliche Bedrohungen beispielsweise existente, gefühlte Missstände signifikant verstärken, oder sogar neue auf den Plan bringen und dadurch mobilisierungsfördernd wirken (sh. Kapitel 1.1.4 und Almeida 2019, S. 44). Des Weiteren erhöhen repressive politische Systeme naturgemäß die Wahrscheinlichkeit, dass Bewegungsgruppen in ihrem Protest zu disruptiveren Mitteln greifen, welche wiederum einen größeren Effekt erzielen (vgl. Polletta 2006, S. 53f.). McAdam et al. (1996) weisen allerdings darauf hin, dass selbst die bloße Existenz vermeintlicher politischer Gelegenheiten nicht mehr als eine kulturelle Deutungsleistung im Sinne des Framing ist: Sie werden erst tatsächlich zu Gelegenheiten, wenn sie als solche von einer Gruppe definiert und strategisch kultiviert, d.h. als Issues ihrem Anliegen entsprechend geframed werden. (McAdam et al. 1996, S. 8). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Bewegungsforschung durch eine ausgeprägte disziplinarische Multiperspektivität gekennzeichnet ist, die je nach fachlicher Verwurzelung einen anderen (relevanten) Aspekt zum Verständnis des komplexen Phänomens „soziale Bewegung“ beleuchtet. Das vorherrschende Paradigma bleibt unangefochten der ökonomisch geprägte Ressourcenmobilisierungsansatz, bei dem ein strategischer Blick auf die Bewegung, ihren Umgang mit unterschiedlichen Ressourcen und ihre interne Organisation vorherrscht. Dem voraus gehen die Aspekte der relativen Deprivation und ihr Framing, d.h. die kulturell bedeutsame Produktion des eigentlichen Issues, auf Basis welcher erst mobilisiert werden kann. Um gewissermaßen „Ebbe und Flut“ von Bewegungen besser nachvollziehen zu können (vgl. McAdam 4 Kollektive Identität spielte schon bei Marx im Kontext des „Klassenbewusstseins“ eine zentrale Rolle (Taylor & Whittier 1995, S. 172). !12
& Tarrow 2019, S. 20), lohnt ein Blick ins Innere der Bewegung auf den kollektiven Identitätsfaktor, sowie ein Blick in die Umwelt auf die politische Gelegenheitsstruktur. !13
2. Das Spiel: Mobilisierung Mobilisierung ist die Kernaktivität für die Entstehung und den Fortbestand sozialer Bewegungen. Ihr Ziel ist die Umwandlung des gesellschaftlich vorhandenen Mobilisierungspotentials in koordiniertes, kollektives Handeln (vgl. Voigt 2006, S. 52). Das Mobilisierungspotential speist sich wie oben beschrieben aus einem Quell ubiquitärer Unzufriedenheit, d.h. relativer Deprivation, die allen Gesellschaften gleich ist und – richtig interpretiert und kultiviert – in Protestaktivität umschlagen kann. In Abbildung 1 ist ein solcher Prozess schematisch dargestellt. Darin ist ein beliebiger Wandel auf gesellschaftlicher Makro-Ebene im Kontext der politischen Gelegenheitsstruktur Ausgangspunkt für diffuse strukturelle Spannungen in der Gesamtgesellschaft. Diese liegen dem allgemeinen Mobilisierungspotential zugrunde, das im Zuge des eigentlichen Mobilisierungsprozesses auf organisationaler sowie kognitiver Ebene in kollektives Handeln umgewandelt wird. Makrosozialer Wandel Relative Deprivation/ strukturelle Spannungen Politische Mobilisierungspotential Gelegenheitsstruktur Ressourcen- Konsens- akquise und mobilisierung Organisations- durch Issue Kognitive Dimension Organisationale Dimension aufbau Framing Begünstigung Soziale Bewegung/SBO Beschränkung Koordinierung Handlungs- der Ressourcen- mobilisierung verwertung durch Issue Framing Kollektives Handeln Abb.1: Schematische Darstellung des Mobilisierungsprozesses (nach Voigt 2006, S. 53; sh. auch Neidhardt & Rucht 1991, S. 447) !14
In dieser Darstellung findet sich gewissermaßen eine Zusammenfassung der bereits angeführten, wichtigsten theoretischen Konzepte und ihre Wechselwirkungen. Als „makrosozialer Wandel“ zählt etwa jede Form „objektiver“ Verschlechterungen, staatlicher Repression und disruptiver Ereignisse, aber auch Veränderungen eines gesellschaftlichen Wertesystems, die Einfluss auf Anspruchsgruppen haben können (vgl. Voigt 2006, S. 52). Dieser Wandel führt noch nicht zu Mobilisierung per se, er erhöht bloß das Mobilisierungspotential. Zentral ist die damit sichtbar gemachte Erkenntnis, dass die erste Stufe der Mobilisierung jene eines gemeinsamen Konsens ist, ohne den keine Bewegung entstehen kann. Erst wenn klar ist, was überhaupt das Issue ist und dass es eines ist, können dagegen Koalitionen gebildet und Außenstehende mit einbezogen werden; McCarthy und Zald sprechen in dem Zusammenhang von sozialen Bewegungen als „issue entrepreneurs“ (1987, S. 18). Sie müssen beantworten, wieso, was, wie und von wem etwas getan werden muss (vgl. Voigt 2006, S. 21). Die organisationalen auf der linken und die kognitiven Prozesse auf der rechten Seite der Grafik ergänzen sich; sie können zur Gründung von Bewegungsorganisationen führen (bei diesem Prozess spricht man von Mikromobilisierung). Koalieren soziale Bewegungsorganisationen mit anderen (Bewegungs-)Organisationen, spricht man von Mobilisierung auf der Meso-Ebene (auch: „bloc recruitment“, synonym zu „coalition building“); auf dieser finden Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen primär statt, hier sind sie auch am effizientesten (vgl. ebd., S. 57 und 78).5 Die hohe Kunst liegt naturgemäß darin, Issues derart umdeuten zu können, dass sich selbst ansonsten rivalisierende Gruppen einigen können – dabei kann ihre eigentliche Uneinigkeit durch ihr symbolisches Gewicht sogar eine Stärke sein, wenn sie sich trotz aller Gegnerschaft auf ein Issue einigen können, oder nach Nick Crossley, „if the actors at least agree on what they are in disagreement about“ (2002, S. 6; vgl. auch Voigt 2006, S. 17). Ziel der Mesomobilisierung ist eine derartige Verknüpfung individueller Ressourcenpools, dass sie zu Kollektivressourcen werden. Die bidirektionalen Pfeile im Mobilisierungs- und Handlungskreislauf deuten darauf hin, dass Mobilisierung ein fortdauernder, permanenter Prozess ist, was auch am Mangel an Institutionalisierung und an Ressourcen der Bewegung liegt (vgl. Voigt, S. 56). Ergebnisse von Mobilisierungen wie Demonstrationen haben immer auch selber einen (ressourcen-)mobilisierenden Effekt (vgl ebd., S. 54). Doch wer mobilisiert überhaupt? Im Gegensatz zur weit verbreiteten Weber’schen Vorstellung des „charismatischen Führers“ (Weber 1995 [1921], S. 320f.) haben Anführer von sozialen Bewegungen nur in geringem Ausmaß die Rolle, medial im Vordergrund zu stehen und von dort aus sprichwörtlich „zu den Waffen zu rufen“, sie verrichten ihre Arbeit großteils im Hintergrund. Saul Alinsky unterscheidet in leader und organizer, wonach Erstere die Funktion der öffentlichen Repräsentation einer Bewegung innehaben und Letztere für ihren Aufbau und ihre Organisation zuständig sind; Überschneidungen der Funktionen sind möglich (Alinsky 1971, S. 65). Binäre Modelle lassen sich in unzähligen Leadership-Typologien in der Bewegungsforschung wiederfinden, sie tragen bloß nicht viel 5 Die Macro-Ebene bezeichnet die Wechselwirkungen zwischen sozialer Bewegung und Gesamtgesellschaft, Massenmedien und Politik. !15
zu einem Erkenntnisgewinn darüber bei, welchen Effekt ihre Aktivitäten auf den Erfolg der Bewegung haben (vgl. Ganz & McKenna, S. 187f.). Neuere Modelle konzentrieren sich auf die Dynamiken der Aktivitäten von Anführern, allen voran auf die Dimensionen Beziehungspflege, Narration (im Sinne von Framing) und den Strategieentwurf (im Sinn von „resourcefulness“, s.u.). Naturgemäß findet dieser Vorgang nicht bei jeder Formierung einer Bewegung von Grund an statt. Zu Beginn spielen vor allen Dingen bestehende Bewegungsorganisationen mit ihrer Infrastruktur für den Organisationsaufbau eine zentrale Rolle, diese sogenannten „Bewegungsentrepreneurs“ gehören in der Regel bereits einer SBO an (vgl. Voigt 2006, S. 90). Sie sind es, die auf der Ebene der Meso-Mobilisierung mögliche andere SBO und ihre Ressourcen ausmachen, ihre Issue-Interpretation an deren Anliegen anpassen, um mit ihnen Koalitionen zu bilden und diese anschließend organisational in der Bewegung vernetzen (Schritt 1, d.h. „Organisationsaufbau“ und „Konsensmobilisierung“ in Abb. 1). Im Anschluss an die kognitive und organisationale Errichtung dieses Bewegungsfundaments geht es daran, die kultivierten Ressourcen zielgerichtet zu verwerten, um etwa ein Thema (und sein Framing) überhaupt auf die politische, mediale und gesellschaftliche Agenda zu setzen, Druck auf Machteliten auszuüben etc. (vgl. Voigt 2006, S. 56). Dieser Vorgang, der von Alinsky als „doing what you can with what you have“ (1971, S. 126) und von Ganz und McKenna als „resourcefulness“ (2019, S. 191, vgl. auch Ganz 2000, S. 1003) bezeichnet wird, ist der nächste Schritt. Aufgabe von Leadern ist hier, Issues eine derartige Dringlichkeit zuzusprechen, dass kollektives Handeln unumgänglich erscheint (Schritt 2, d.h. „Ressourcenverwertung“ und „Handlungsmobilisierung“ in Abb. 1). Die Wahl angemessener Protestformen ist dabei die Kernfrage. Sie hängt auch davon ab, inwiefern die politische Gelegenheitsstruktur zum Einen das Anliegen der sozialen Bewegung begünstigt oder ablehnt, und zum Andern, inwiefern sie die bloße Existenz der Bewegung toleriert, die durchaus durch staatliche Repressionen oder Gegenbewegungen zum Erliegen kommen kann (vgl. Chen & Moss 2019, S. 676). Durch die Präzisierung des Begriffs des Mobilisierungsprozesses in Konsensmobilisierung als permanentem, langfristig angelegtem Unterfangen und Handlungsmobilisierung als situativem, kurzfristigem, wird erkenntlich, dass beide Vorgänge in unterschiedlichen Zeitrahmen beheimatet sind (vgl. Klandermans 1991, S. 32). Ersterer zielt auf die Schaffung von Commitment ab, während Letzterer auf die Aktivierung dieses Commitments aus ist (vgl. ebd.). !16
3. Die Spieler: Ultras Stolze Gesänge voll Emotion für einen Club voll Tradition und unsere Fahnen weh’n, ihr werdet’s nie versteh’n… Fangesang des 1. FC Union Berlin 3.1 Geschichte und Taxonomie Vergemeinschaftung um verschiedene Formen des Konsums ist kein neues Phänomen, man denke etwa an Harley-Davidson-Fanclubs oder Tupperpartys. Und doch entwickelte sich keine ansatzweise vergleichbare Konsumsubkultur zu jener der Fußballfans. Sie werden in der Fanforschung je nach Prägung klassischerweise in konsumorientierte, fußballzentrierte und erlebnisorientierte Fans unterteilt (vgl. Heitmeyer & Peter, 1988). Bis in die späten 1990er Jahre hielt diese Typologie zumindest in Deutschland stand, konnten Hooligans recht klar als erlebnisorientiert bezeichnet werden, klassische Kuttenfans als fußballzentriert und die immer größer werdende Gemeinschaft an Gelegenheitsbesucher*innen als konsumorientiert (vgl. ebd., sh. auch Pilz 2005). Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Ultras. Diese (ebenso männlich dominierte) Jugendsubkultur entstand im Italien der 1950er und ’60er Jahre und verbreitete sich erst langsam, bis sie spätestens Ende der 1990er die allermeisten deutschen und internationalen Stadien dominierten und vielerorts die Hooligans ablösten (vgl. Dal Lago & De Biasi 1994, S. 77). In Nordafrika und dem nahen Osten traten sie ab Mitte der 2000er in Erscheinung (vgl. Christoph Biermann 2017, S. 26). Ultras sind die nach außen hin mit Abstand auffälligste Fangruppe, deren Ziel die Aufwertung der Stadionatmosphäre durch „Choreographien, Kurvenshows, Spruchbänder, Schwenkfahnen, Doppelhalter, Gesänge und andere Stimmungsrituale“ ist (vgl. Pilz 2005, S. 7). Sie werden in der Regel durch einen oder mehrere „Capos“, d.h. Vorsänger, angeführt, die mit Mikro- oder Megaphonen ausgestattet Gesänge anstimmen und – unterstützt durch Trommler – als „Dirigenten“ der Kurve agieren (vgl. Winands 2015, S. 109ff.). Wohlgemerkt sind nicht alle Fans in der Kurve einer Ultra-Gruppierung zugehörig, das im Stadion sichtbare „Ultras-Ensemble“ ist einem steten Wandel unterworfen; abgesehen vom eigentlichen Kern der Gruppe existiert eine „Peripherie“ andersartiger Fans, die sich situativ an Ultra-Gesängen und -Aktionen beteiligen (vgl. ebd., S. 82). Diese Beteiligung gilt aber auch als zentrales Leitmotiv von Ultras, in einem Interview gibt einer zu Protokoll: „Die Vereinigung der Kurve ist das Überziel, das Metaziel“ (vgl. ebd., S. 84). Somit ist ihr Handeln durch eine strategische Komponente geprägt (vgl. ebd., S. 85). Ultras sind gewissermaßen per definitionem performativ, weil sie sich der Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit verschrieben haben, indem sie einen Eindruck erzeugen und aufrechterhalten. Winands bezeichnet ihre Mittel (nach Goffman) als „dramaturgische Kooperation“, die sie von anderen Gruppen unterscheidet, betont aber andererseits die Spontaneität ihrer Handlungen, die sie ebenso auszeichnet (vgl. ebd., S. 82). !17
Sie zeichnen sich allerdings auch und vor allem durch Kritik an eben dem Kontext aus, der erst zu ihrer Verbreitung beitrug: Die zunehmende Kommerzialisierung (auch „Helene-Fischerisierung“, vgl. Spiller 2017) im Fußballgeschäft und die damit einhergehende Konzentration auf sogenannte konsumorientierte Fans. Dieser kritische Geist der Ultras führte zu einer Erweiterung der ursprünglichen Fan-Typologie um sogenannte „kritische Fans“ (vgl. König 2002, S. 51f.).6 Abgesehen von der antikommerziellen Haltung zeichnen sie sich durch eine Umdeutung des Fan-Verständnisses aus, weil sie sich nicht mehr nur als „teilnahmslose Konsumenten“ sehen, sondern auch auf klassischem Wege in Entscheidungsprozesse ihrer Vereine eingebunden werden möchten (vgl. ebd.). Dieses Selbstverständnis als „einzige wahrhaft altruistische Fans“ führt in weiterer Folge zu einer Beanspruchung ihres Blocks im Stadion und des Vereins im Ganzen.7 Das führt auch dazu, dass sie Ligaverantwortlichen gern den Krieg erklären und „versuchen, deren Systemzwänge und Sinnsetzungen durch eigenwillige Praktika und Formen der Protestkommunikation zu unterlaufen“ (Spiller 2017/Schwier 2005, S. 36). Sie versuchen „die Entwicklung des Fußballsports und der dazugehörigen Fankultur über Prozesse der demokratischen Willensbildung von den Rängen aus zu beeinflussen“ (vgl. ebd., S. 22), manche gehen gar so weit, die Ultra-Bewegung an sich als Protestbewegung zu bezeichnen (vgl. Duttler & Haigis 2016, S. 8). Fest steht, dass Ultras eine Jugendbewegung sind, die im Gegensatz zu klassischen Hooligans, die neben ihrem „Hobby“ ein bürgerliches Leben führen, keine andere Identität kennen – Ultra ist man 24 Stunden an sieben Tagen die Woche (vgl. Pilz 2005, S. 9f.). Dementsprechend beachtlich ist ihre logistische Effizienz, wenn es etwa darum geht, Auswärtsfahrten zu organisieren oder gigantische, bunte Choreographien zu gestalten, was sie zu der organisiertesten Fangruppe überhaupt macht (vgl. Winands 2015, S. 75). 3.2 Gewalt Es gibt allerdings eine weitere Kategorisierung von Fußballfans, die in Deutschland weitreichende Konsequenzen hat: Jene der Polizei, genauer der Datei „Gewalttäter Sport“ der „Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze“, die Fußballfans in die Kategorien A (friedlich), B (gewaltbereit/-geneigt) und C (gewaltsuchend) unterteilt (vgl. ZIS-Jahresbericht 2018/19, S. 11). War die Datei ursprünglich für die Repression gewaltsuchender Hooligans eingeführt worden, wurden mit zunehmender Verbreitung auch Ultras darin aufgeführt. Zwar definiert sich Ultra-Fantum nicht durch die „sportliche Betätigung auf der Straße“, eine klare Distanzierung von Gewalt findet sich bei ihnen allerdings nicht, sie wird als notwendige 6 Bei der Betrachtung der Taxonomie von Fan-Identitäten von Giulianotti (2002) fällt eine bemerkenswerte Parallele zu sozialen Bewegungen auf: Seine Unterteilung der Fanszene in „supporters, followers, fans und „flâneurs“ folgt der gleichen Struktur wie jene von sozialen Bewegungen „in Aktivisten, Teilnehmer und Sympathisanten (…) wobei die Aktivisten und Teilnehmer der Bewegung, die Sympathisanten aber der Umwelt der Bewegung zugerechnet werden“ (vgl. Kühl 2014, S. 71). 7 Vgl. die häufig variierten „Wir sind der Verein!“-Rufe und -Gesänge. !18
Begleiterscheinung aller anderer „abweichender Handlungen“ im Stadion und im Zuge der Rivalitäten zu verfeindeten Ultra-Gruppen toleriert; Ultras selbst verweisen in der Regel auf „unterschiedliche Strömungen innerhalb unserer Gruppe und motivierte Leute in allen Bereichen“ (vgl. Pilz 2005, S. 8f. und 12). Dies hat allerdings zur Folge, dass – auch durch ihr einheitliches Auftreten – die Polizei die gesamte Szene behandelt wie Hooligans, was wiederum zu einer teilweisen Radikalisierung von Ultras und etwa dem Auftreten des Phänomens „Hooltras“ führte (vlg. ebd.). Dieser Aspekt einer latenten Gewaltbereitschaft und der polizeiliche, repressive Umgang damit, der hier beispielhaft in Deutschland dargestellt wurde, betrifft Ultras in aller Welt – in Ländern ohne Versammlungsrecht ist die Lage für sie deutlich brutaler (vgl. Duttler & Haigis 2016, S. 296). Dal Lago und De Biasi (1994, S. 81) resümieren die zwiespältige Rezeption der Ultras mit den Worten: „Journalisten und Vereinsoffizielle aller Clubs nennen die Ultras wunderbare Zuschauer, wenn alles gut läuft, etwa bei guter Stimmung, aber nennen sie Hooligans, sobald es Ärger gibt. In beiden Fällen reden sie jedoch über dieselben Leute.“ Vor allen Dingen ihre Organisation macht Ultras für eine Einbindung in soziale Bewegungen so interessant. Wie in Kapitel 1.1.3 bereits angeschnitten, ist die Benennung von Ultra-Gruppen im Bewegungsduktus zumindest als „social organization“ durchaus möglich (vgl. Edwards et al. 2019, S. 81), was sie zu bewegungsrelevanten, kultivierbaren, potentiellen Koalitionspartnern macht. Des Weiteren ist eine ausgeprägte Protesthaltung bereits in ihrer DNA verankert, und tatsächlich traten Ultras in vergangenen sozialen Bewegungen bereits in Erscheinung. Diese werden im folgenden Kapitel angeführt, bevor eine tiefergehende theoretische Analyse von Ultras als Bewegungsorganisationen durchgeführt wird. !19
4. Die Spiele: Cases Die folglich angeführten sozialen Bewegungen fanden in Ägypten (2011ff.), der Türkei (2013) und Algerien (2019) statt. Bis auf den mehrwöchigen Protest in der Türkei gelten die Beispiele als Revolutionen. Tatsächlich wurden soziale Bewegungen und Revolutionen noch bis in die frühen 1990er Jahre separat behandelt und mit unterschiedlichem theoretischem Instrumentarium analysiert (vgl. Goldstone/Ritter 2019, S. 683). Mittlerweile führte die Übernahme vermehrt friedlicher Protestmittel sozialer Bewegungen v.a. in den „Farbrevolutionen“ auch zu einer theoretischen Annäherung beider Phänomene (vgl. ebd.), zwischen denen nur noch wenige definitorische Unterschiede gemacht werden. Zu den Wichtigsten zählen die unterschiedlichen Voraussetzungen in Bezug auf den Anspruch der Bewegung und daraus folgend auf den Mobilisierungsumfang: Issue-bezogene soziale Bewegungen benötigen für den Erfolg ihres Anliegens in der Regel nicht viel mehr als jene Anspruchsgruppen, die das Issue auch betrifft. Revolutionen hingegen, die einen makropolitischen Machtwechsel zum Ziel haben, benötigen für seine Erreichung unweigerlich eine breitere Basis an Koalitionen (vgl. ebd., S. 686; vgl. Auseinandersetzung mit „revolutionary situations“ und „outcomes“ in Kapitel 7 bei Tilly 1978). !20
4.1 Kairo 2011 4.1.1 Kontext Ägypten ist mit fast 100 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste arabische Land, bis 2011 wurde es 30 Jahre lang autoritär per Notverordnung vom Langzeitherrscher Hosni Mubarak regiert. Schon seit Anfang der 2000er Jahre waren Streiks und Demonstrationen gegen das Regime unter anderem wegen der desaströsen sozio-ökonomische Lage keine Seltenheit, wurden jedoch durch brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte und Scheinreformen schnell wieder im Keim erstickt (vgl. Roll 2011). Der Erfolg der tunesischen Proteste Ende 2010, im Zuge derer der ebenso despotische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali gestürzt wurde, wirkte als maßgebliche Inspiration für die ägyptische Bevölkerung, dass ein solcher Umsturz auch bei ihnen möglich sein könnte (vgl. Shenker 2011). Der zweite Auslöser war die Wut über die brutale Tötung des jungen Khaled Said durch Polizisten im Juni 2010, nachdem dieser ein Video eines Drogendeals unter Polizisten veröffentlichte (vgl. Eltantawy & Wiest 2011, S. 1212). Und tatsächlich fand nur elf Tage nach der Flucht Ben Alis aus Tunesien am 25. Januar 2011 der erste der 18 Tage andauernden Proteste am zentralen Kairoer Tahrir-Platz statt, der als „Tag des Zorns“ in die Geschichte einging und an deren Ende über 800 Tote und Hosni Mubaraks Rücktritt standen (vgl. Eltantawy & Wiest 2011, S. 1210). An dieser Protestbewegung und ihrem Erfolg hatte die Kairoer Ultra-Gruppe „Ultras Ahlawy“ vom Al-Ahly SC maßgeblich Anteil. Al Ahly ist, gemessen an der Zahl gewonnener nationaler wie kontinentaler Meisterschaften sowie der Fans, der größte und erfolgreichste Fußballverein des afrikanischen Kontinents. Er ist schon allein historisch von hoher Signifikanz, war er doch der erste Verein, der 1907 noch unter britischer Kolonialherrschaft einen rein ägyptischen Kader aufstellte („Al-Ahly SC“ ist mit „der nationale Sportclub“8 zu übersetzen; vgl. Dorsey 2016, S. XI). Mit den Ultras Ahlawy wurde hier 2007 auch die erste ägyptische Ultra-Gruppe gegründet, die an ihrem Höhepunkt 40.000 Mitglieder zählte, die in vielen regionalen Untergruppen unterteilt waren (vgl. Biermann 2017, S. 26). Entsprechend der demographischen Lage Ägyptens (zwei Drittel der Bevölkerung ist unter 35) sind die Ultras strukturiert: 90 Prozent sollen zwischen 13 und 20 Jahre alt gewesen sein; Ultras waren in Ägypten laut einem Ahlawy-Mitglied „die Jugendbewegung schlechthin“ (vgl. ebd.). Als solche waren sie dem Regime von Anfang an ein Dorn im Auge, galt doch jede organisierte Kraft als potentielle Gefahr für den Machterhalt – absurderweise führte just diese Verdächtigung politischer Aktivität dazu, dass Ultras sich durch die daraus folgenden Repressionen politisierten (vgl. Dorsey 2016, S. 54). Initiatoren der Repressionen waren oftmals die Vereinspräsidenten selbst, die als regimetreue Elitäre Übergriffe auf Ultras mehr als goutierten (vgl. Anonym in 11 Freunde 2015). Der zweitgrößte Verein Ägyptens (und des afrikanischen Kontinents), der Kairoer Zamalek SC, war einst die reaktionäre, pro-britische Antwort auf Al-Ahly (vgl. Dorsey 2016, S. XI). Die Derbys gelten als Höhepunkte arabischen Vereinssports, an ihnen scheidet sich nicht nur die Stadt, sondern das gesamte Land (vgl. ebd., S. 55f.). Die Kämpfe zwischen den Ultras White Knight von Zamalek und den Ultras Ahlawy galten als die 8 Berüchtigt ist auch eine Choreographie der Ultras Ahlawy, die sie mit einem Banner mit der Aufschrift „WE ARE EGYPT“ krönten – womit sie selbst wohl genauso gemeint waren wie ihr Verein (vgl. Biermann 2017, S. 26). !21
brutalsten im ägyptischen Fußball. In diesen Auseinandersetzungen, vor allem aber in jenen mit Polizeikräften, erlernten sie die Fähigkeiten, die sich bei den Protesten als wertvoll erwiesen: „Steinewerfen und Autoanzünden“, wie es Krauss (2011) ausdrückt. Auch in Ägypten sahen sich Ultras massiver Polizeiwillkür in Form von Verhaftungen und Prügel ausgesetzt, auf die sie jedoch mit Freude ebenso gewaltsam antworteten, der Effekt: „Im Stadion erlebten diese jungen Männer zum ersten Mal ein Gefühl von Macht“ (vgl. Biermann 2017, S. 27). Dort verteidigten sie mit Erfolg jahrelang ihr „Territorium“ und konnten es für sich beanspruchen – Stadien waren damit der erste Ort organisierten zivilen Widerstands (vgl. Dorsey 2016, S. 53). Vor der Polizei hatten die Ultras dank ihrer Kampferprobung keine Angst mehr, politisiert waren sie bereits durch ihre Historie und die Repressionen, außerdem aber durch ihre Fanfreundschaft mit den Ultras von Espérance Tunis, die sich ihrerseits an den tunesischen Protesten beteiligten. Tatsächlich schmuggelten Mitglieder der Ahlawy damals tunesische Flaggen ins Stadion, um sich solidarisch mit den Tunesiern zu zeigen; wenige Tage später taten sie es ihnen gleich und gingen auf die Straße (vgl. ebd.). 4.1.2 Die Bewegung In Erscheinung traten sie am „Tag des Zorns“, der durch erstmalige, massive Mobilisierungsbemühen auf Facebook und YouTube zu einem Demonstrationsmarsch bisher unbekannten Ausmaßes wurde (zur Rolle von sozialen Medien während der ägyptischen Revolution sh. Eltantawy & Wiest 2011). Mutmaßlich aufgrund der gefürchteten Repression gaben sie im Voraus offiziell bekannt, sich nicht als Gruppe am Protest zu beteiligen; was Mitglieder privat vorhätten, könne man allerdings nicht beeinflussen (vgl. Woltering 2013, S. 295). An diesem Tag marschierten etliche Demonstrationszüge aus allen Richtungen der Stadt zum symbolträchtigen, zentral gelegenen Tahrir- (d.h. Freiheits-) Platz, wo traditionell u.a. große fußballerische Erfolge gefeiert wurden. Als die Polizei beschloss, die Brücke zu sperren, über die man direkt auf den Platz kommt, hatten die Ultras ihren ersten großen Auftritt: Im Stil von Stoßtrupps kämpften sie den Weg zum Platz frei. Die Älteren waren mit dem (Um-)Werfen von Steinen und Polizeiautos beschäftigt und wurden von Jüngeren mit Wurfgeschossen versorgt, während andere Gruppenmitglieder die Verletzten auf Mopeds abtransportierten (vgl. Biermann 2017, S. 27). Dank ihrer Stadionerfahrung war ihnen die Wichtigkeit zeitlicher Koordinierung sowie physischer Behauptung gut bekannt – ein Faktor, den die Sicherheitskräfte unterschätzten (vgl. Dorsey 2016, S. 51/Heck 2016). Für viele Anwesenden war dies die erste Erfahrung polizeilicher Ohnmacht, die sie vorher nicht für möglich hielten. Dem daraus entsprungenen Bewusstsein über die eigene Stärke war es zu verdanken, dass die Proteste nicht nachließen, sondern sich im Gegenteil immer mehr Menschen der Bewegung anschlossen (vgl. Noujaim 2013; Stanton 2012). Nachdem die Demonstrant*innen den Tahrir-Platz am ersten Tag der Proteste räumen mussten, konnten sie ihn nur drei Tage später am „Freitag des Zorns“ wieder für sich behaupten – diesmal nahmen die Ultras Ahlawy und die Ultras White Knight offiziell teil und kooperierten zum ersten Mal in ihrer Geschichte, was eine hohe symbolische Strahlkraft hatte (vgl. Dorsey 2016, S. 55/El-Sherif 2012). Die Ultras spielten die entscheidende Rolle in der Verteidigung des Platzes. Sie beanspruchten ihn mit dem Selbstverständnis, mit dem sie es in !22
ihrer jeweiligen Kurve taten (vgl. Dorsey 2016, S. 53). Diesmal gelang ihnen die nachhaltige Besetzung des Platzes, den sie bis zum Rücktritt Mubaraks behaupten konnten. Ein weiterer Höhepunkt der Ultra- Beteiligung war die Verteidigung vor der versuchten Erstürmung des Tahrir-Platzes durch bewaffnete Kamelreiter am 2. Februar 2011, die sich als Mubarak-Vertraute herausstellten (vgl. Dorsey 2016, S. 70f.). Der Tag ging als „Schlacht der Kamele“ in die Geschichte ein. 4.2.2 Auswirkungen Die Relevanz der Ultras in der revolutionären Bewegung wurde zum Einen durch die mehrmonatige Unterbrechung der ägyptischen Liga Anfang 2011 verdeutlicht und quasi anerkannt, zum Anderen durch zwei nie vollständig aufgeklärte Massaker: Fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Schlacht der Kamele hatte der Al-Ahly SC ein Auswärtsspiel in der nordägyptischen Stadt Port Said beim Al-Masry SC. Nachdem das Spiel abgepfiffen wurde, stürmten bewaffnete Schläger die Gästetribüne, deren einziges Ausgangstor vorher verriegelt wurde. Das Flutlicht erlosch und die sich vor Ort befindliche Polizei schritt nicht ein, als die Ultras Ahlawy mit Knüppeln und Macheten regelrecht massakriert wurden. 74 Menschen starben (vgl. Biermann 2017, S. 27f.). In weiterer Folge war nicht einmal klar, ob die 21 später zum Tode Verurteilten überhaupt alle an dem Überfall teilnahmen (vgl. Dorsey 2016, S. 74). Die Ultras Ahlawy demonstrierten zwar noch für eine Verurteilung der beteiligten Sicherheitskräfte, befanden sich zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits in der Auflösung (vgl. Kleber 2012/Dorsey 2016, S. 74f.). Der Vorfall war die Begründung dafür, dass folglich ausschließlich Geisterspiele ausgetragen wurden, was erst 2015 für eine kurze Zeit gelockert wurde. Ausgerechnet beim Zamalek SC kamen bei mutmaßlich geplanten Ausschreitungen vor den Stadiontoren zwischen Sicherheitskräften und Fans zwanzig Menschen ums Leben (vgl. Anonym in 11Freunde 2015). Beobachter*innen wie beispielsweise James Dorsey vermuten auch hier eine staatlich beauftragte Racheaktion für deren Beteiligung an der Revolutionsbewegung. !23
4.2 Istanbul 2013 4.2.1 Kontext Im Sommer 2013 sollten im zentral gelegenen Gezi-Park Bäume abgeholzt werden. Was als Protest von Naturliebhaber*innen begann, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu mehrmonatigen Massenprotesten gegen die Politik Recep Tayyip Erdoğans, die u.a. in den Besetzungen des Parks sowie des historischen Taksim-Platzes mündeten. Hintergrund waren u.a. ein zunehmend autoritärer Führungsstil, Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit sowie eine fortschreitende Islamisierung in Bezug auf Familienpolitik und Restriktionen des Alkoholkonsums (vgl. Seibert 2013/Aver 2013). Die Protestbewegung gilt mit rund fünf Millionen Teilnehmer*innen im ganzen Land als die größte regierungsfeindliche Bewegung der türkischen Geschichte (vgl. Irak 2019, S. 36). Die Beteiligung der Fans der – aufgrund ihrer unvergleichlichen Beliebtheit9 sogenannten – „großen Drei“, Fenerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş, ist vor allen Dingen durch den historischen Kontext des Fußballsports in der Türkei zu erklären: Als Produkt britischer Kolonialisten blieb der Sport anfangs nur der Elite vorbehalten. Bis heute gelten Fußball und vor allem Fankultur in der Türkei als Symbol und Ausdruck einer dezidiert westlichen, urbanen und säkularen Lebensart (vgl. Irak 2019, S. 25). Das wird durch die Lage der drei Großen noch deutlicher: Beyoğlu (Galatasaray), Kadıköy (Fenerbahçe) und Beşiktaş (gleichnamiger Verein) bilden das kulturelle und soziale Zentrum Istanbuls und die Verbindung der Türkei in die westliche (Geistes-)Welt (vgl. ebd., S. 231). Somit fühlten sich die Fangruppierungen laut Irak explizit attackiert, als Erdoğans Reformen durchgeführt wurden; sie sahen sich als direkte Leidtragende der gesamtgesellschaftlichen Restriktionen (vgl. ebd., S. 252). Die 1982 gegründete Ultra-Gruppe von Beşiktaş, Çarşı, war 1982 die erste derartige Organisation, wobei auch das schon zu viel gesagt ist: Fußballfantum in der Türkei ist zwar im Fall der Çarşı an europäischen Vorbildern orientiert, es handelt sich hierbei allerdings vielmehr um „lose verbundene Individuen, die sich um eine bestimmte Identität sammeln“, als um Ultra- Organisationen im klassischen Sinn (vgl. ebd., S. 175). Während die Kerngruppe nur aus ein paar Dutzend Menschen besteht, identifizieren sich tausende Fans von Beşiktaş mit den Ultras (vgl. ebd.). Ihre Strahlkraft ist durch die landesweite Beliebtheit dermaßen groß, dass sie durch ihren Einfluss auf Fankultur als millionenstarke Mikronationen gelten. Das gilt auch für Fenerbahçe und Galatasaray, wenngleich Fantum bei ihnen zwar einen ähnlichen kulturellen Ausdruck besitzt wie bei Beşiktaş, die Fanszene jedoch deutlich unpolitischer war als bei Letzteren (vgl. ebd., S. 161). Çarşı beteiligten sich schon vor den Gezi-Protesten an politischen Aktionen, worauf das sichelförmige Ç und das als Anarchie-A gestaltete „A“ im Namen hinweisen (vgl. Gündoğdu & Pitschak 2017). 9 Über 80% aller türkischen Fußballfans unterstützen einen der „großen Drei“ (vgl. Irak 2019, S. 17). !24
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