"THEY FORGOT THE STADIUM"

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„THEY FORGOT THE STADIUM“
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Zur Rolle von Fussballfans im Zuge von

Mobilisierungsprozessen sozialer Bewegungen

    Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des
    akademischen Grades „Bachelor of Arts“
    an der Universität der Künste Berlin
    Fakultät 02 – Gestaltung
    Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation

    David Borochov
    E-Mail: david.borochov@gmx.at

    Vorgelegt am 13.07.2020
    Erstgutachter: Prof. Dr. Franz Liebl
    Zweitgutachter: Wenzel Mehnert

1   Auszug aus einem ägyptischen Fangesang (übers. v. Dorsey 2016)

Der Text dieser Publikation wird unter der Lizenz „Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen
Bedingungen 4.0 International“ (CC BY-SA) veröffentlicht. Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter:
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Fotos und Abbildungen mit anderen Nachweisen sind ausgenommen.
Abstract
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit den möglichen Rollen von Fußball-Ultra-Fangruppen in
Mobilisierungsprozessen von sozialen Bewegungen. Anhand einer Analyse der Protestbewegungen in
Ägypten 2011, der Türkei 2013 und Algerien 2019 im Kontext der Bewegungsforschung, werden u.a. die
Faktoren Gewaltbereitschaft in repressiven politischen Systemen und kulturelle Produktionsleistungen (als
Ausdrücke der Fankultur) im Allgemeinen als potentiell mobilisierungsfördernd identifiziert. Durch ihre
Spontaneität auf der einen und ihre effiziente Organisation auf der anderen Seite können Ultras die
kognitive Produktion eines Issues und die Konsens- und Handlungsmobilisierung maßgeblich beeinflussen.
Inhaltsverzeichnis

Spielvorbereitung                             6

1. Das Spielfeld: Soziale Bewegungen          7
   1.1 Theoretische Ansätze                   8

     1.1.1 Der sozialpsychologische Ansatz    8

     1.1.2 Der rationalistische Ansatz        8

     1.1.3 Der ökonomische Ansatz             9

     1.1.4 Der kulturtheoretische Ansatz     11

     1.1.5 Weitere Aspekte                   11

2. Das Spiel: Mobilisierung                  14

3. Die Spieler: Ultras                       17
   3.1 Geschichte und Taxonomie              17

   3.2 Gewalt                                18

4. Die Spiele: Cases                         20
   4.1 Kairo 2011                            21

     4.1.1 Kontext                           21

     4.1.2 Die Bewegung                      22

     4.2.2 Auswirkungen                      23

   4.2 Istanbul 2013                         24

     4.2.1 Kontext                           24

     4.2.2 Die Bewegung                      25

     4.2.3 Auswirkungen                      25
   4.3 Algier 2019                           27

     4.3.1 Kontext                           27

     4.3.2 Die Bewegung                      28

     4.3.3 Auswirkungen                      28

   4.4 Rest der Welt 2010-2020               29
5. Die Spielanalyse: Anwendung der Theorie   30
   5.1 Lernen von Kairo                      31

   5.2 Lernen von Istanbul                   33

   5.3 Lernen von Algier                     34

   5.4 Lernen vom Rest der Welt              35

Conclusio und Ausblick                       36

Literatur                                    38
„He quickly realised that football fandom was becoming a gateway drug to political activism.“
        Irak (2019, S. 253): Football fandom, protest and democracy.
Spielvorbereitung
Die vorliegende Arbeit hat eine gewissermaßen aufklärerische Absicht in Bezug auf das gesellschaftspolitische
Potential von Fußballfans.2 Sie wurde von der Mitarbeit in der Kommunikationsprojektgruppe „Neue
Försterei“ für den 1. FC Union Berlin inspiriert, in welcher die Erarbeitung eines Fandiskursformats erfolgte
und die gesellschaftskonstituierende und -verhandelnde Qualität von Fußballfankultur sichtbar gemacht und
kultiviert werden sollte. Es war überraschend, wie produktiv Unioner im Raum des Fußballs die großen
Fragen der Gesellschaft nach Integration, Wachstum und Kulturvermittlung in Zeiten der vielzitierten
gesellschaftlichen Spaltung im Rahmen ihres Vereins diskutieren konnten. Eine Erfahrung, die auch im
Widerspruch zur häufig kolportierten, angeblich unpolitischen Haltung der Fanszenen steht.

Mit den Medienberichten zu der Beteiligung von Ultra-Gruppen an der algerischen Revolutionsbewegung
war ein weiterer Aspekt des politischen Potentials von Fußballfans gefunden: soziale Bewegungen. Zwar gibt
es durchaus bereits detaillierte Auseinandersetzungen einzelner Bewegungsaktivitäten von Fußballfans, eine
breitere, bewegungstheoretisch fundierte Analyse potentieller und real ausgefüllter Rollen fehlt allerdings
noch. Die vorliegende Arbeit soll einen Schritt in diese Richtung darstellen.

In den folgenden Kapiteln wird erst das Spielfeld der Bewegungstheorie und ihrer Denkschulen abgesteckt.
In weiterer Folge wird die zentrale Rolle des Mobilisierungsprozesses thematisiert und die Ultras als
eigentlicher Untersuchungsgegenstand historisch kontextualisiert. Anhand dreier Fallstudien der Bewegungen
in Kairo 2011, Istanbul 2013 und Algier 2019 werden jene Elemente der Fankultur identifiziert, die im
Mobilisierungsprozess der jeweiligen Bewegung relevant wurden. Zum Schluss werden diese Erkenntnisse
kombiniert und in ihrer Relevanz für zukünftige Bewegungen, Fankultur sowie die Bewegungsforschung
abgeleitet.

2 Dieter Rucht zufolge ist daran nichts Ehrenrühriges, solange die Bewegungswissenschaft „sich nicht als Problemlösungswissenschaft
[versteht]“ (vgl. Rucht 2011, S. 37).
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1. Das Spielfeld: Soziale Bewegungen
Die theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet die sogenannte Bewegungsforschung, die sich
hauptsächlich aus Arbeiten der Soziologie und Politologie speist. Eine genaue Definition der „sozialen
Bewegung“ gibt es nicht, unter anderem, weil das zu beschreibende Phänomen zu vielseitig ist – „as with any
sociological phenomenon“, wie Nick Crossley (2002, S. 1) schreibt. Mit jedem Versuch einer Definition laufe man
Gefahr, entweder mehr Gegenstände miteinzubeziehen, als einem lieb ist, oder durch ein zu enges
Verständnis relevante Aspekte der Thematik auszublenden (ebd., S. 2).

Eine einigermaßen befriedigende Definition bieten die Koryphäen der Bewegungsforschung, Della Porta und
Diani (1999, S. 14). Ihnen zufolge sind soziale Bewegungen „informal networks based on shared beliefs and
solidarity, which mobilize about conflictual issues, through the frequent use of various forms of protest”. In
dieser Definition sind die zentralen Aspekte sozialer Bewegungen enthalten:

— Sie sind informelle Netzwerke, die auf gemeinsamen Überzeugungen basieren – seien sie auch noch so
klein. Ohne einen gemeinsamen Nenner, auf den sich unterschiedliche Gruppen berufen können, ist eine
erfolgreiche Mobilisierung unmöglich, oder anders formuliert: „They must at least agree over what they are
in disagreement about“ (Crossley 2002, S. 6). Diese sog. informellen Netzwerke können als „Netzwerke aus
Netzwerken“ verstanden werden, deren Mitglieder fluktuieren und dynamische Koalitionen um bestimmte
Konfliktlinien, d.h. Issues, bilden (vgl. Voigt 2006, S. 17).

— Ebenso maßgebend für die Entstehung einer sozialen Bewegung wie die intrinsische Überzeugung ist ein
extrinsisches Issue, d.h. eine gesellschaftliche Streitfrage, die erst den Anlass zur Mobilisierung schafft. Dies
kann sowohl die Ablehnung einer gesellschaftlichen Veränderung wie ihre Einforderung sein. Im Grunde
können soziale Bewegungen allgemein als Protestbewegungen verstanden werden. Andere Formen von
Bewegungen (z.B. religiöse, reformpädagogische, oder die Szene der Fußballfans) weisen zwar strukturell und
organisational große Ähnlichkeiten mit sozialen Bewegungen auf, fallen aber nicht unter den Begriff im
engeren Sinn (vgl. Kühl 2014, S. 71). Nur in sozialen Bewegungen dient der Protest „als Katalysator einer
eigenen Systembildung“ (vgl. Luhmann 1991, S. 135f., zitiert nach Kühl 2014, S. 70).

— Ihr Mittel der Wahl zur Generierung von Aufmerksamkeit und der Erzeugung öffentlichen Drucks ist der
Protest in all seinen Variationen. Historisch drückt sich dieser in der Regel in nicht-institutionalisierten
Formen wie Demonstrationen, Sit-ins und im Internet aus, kann aber bei etablierten Bewegungen auch
klassische Methoden der Interessenvertretung wie beispielsweise Lobbying beinhalten (vgl. Snow et al. 2019,
S. 6).

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1.1 Theoretische Ansätze
Wie bereits angemerkt, ist die Frage nach einer allgemeingültigen Erklärung sozialer Bewegungen ungeklärt.
Im Zuge der Theoriegenese entstanden zahlreiche, sich voneinander teils stark unterscheidende
Erklärungsansätze. Vor allem in den Anfängen der Bewegungsforschung vertraten die einzelnen Lager
geradezu paradigmatisch ihre Thesen mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit, was einerseits recht bald
die Grenzen des jeweiligen Ansatzes aufzeigte, andererseits aber auch die ihm innewohnenden Möglichkeiten
zur Gänze ausschöpfen konnte (vgl. Hellmann & Koopmans 1998, S. 229). Die aufgeführten Faktoren
können keineswegs unabhängig voneinander verstanden werden, sondern bauen teils aufeinander auf und
ermöglichen erst in ihrer Interaktion ein ganzheitliches Verständnis sozialer Bewegungen (vgl. McAdam et al.
1996, S. 8). Das liegt auch daran, dass manche Ansätze sich mit den Voraussetzungen für das Auftreten
sozialer Bewegungen befassen, während andere versuchen, ihre Erfolge zu erklären.

1.1.1 Der sozialpsychologische Ansatz
In ihren Ursprüngen war die Bewegungsforschung stark durch die massenpsychologischen Thesen Gustave
Le Bons geprägt. Dieser attestierte Massen Eigenschaften wie „Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum
logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle und andere, die bei
Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe […] zu beobachten sind“ (Le Bon 1982 [1895], S. 21). Seinem
Verständnis nach handele es sich bei Massenbewegungen um irrationale, geradezu pathologische
Phänomene, die, meist angeführt durch einen suggestiven, charismatischen Anführer, ihre Individualität
vergessen und in einer Art unkontrollierbaren Masse aufgehen.

1.1.2 Der rationalistische Ansatz
Bis in die frühen 1960er hielt sich dieses Bild von Massenansammlungen und damit auch von sozialen
Bewegungen – naturgemäß nicht gerade kontrastiert durch den Aufstieg und die Herrschaft der
Nationalsozialisten. Eine der ersten Arbeiten, die sich – immer noch in Bezugnahme auf die
Sozialpsychologie – mit den strukturellen Voraussetzungen kollektiven Verhaltens auseinandersetzte, war der
Text Theory of Collective Behavior von Neil Smelser (1962). Darin formuliert er das sogenannte „value-added“-
Modell, das eine zentrale Perspektive in die Bewegungsforschung einbrachte: Deprivation. Demnach
entstehen Bewegungen aus einer objektiven, tatsächlichen oder potentiellen Deprivation, also einer
strukturellen Benachteiligung, weshalb der Ansatz auch als „structural strains“-Theorie bekannt wurde
(Pinard 2011, S. 8). Ziel von Bewegungen sei also, die eigene Lebensrealität zu verbessern.3

Recht bald kam allerdings die Frage auf, wieso nur manche gesellschaftliche Gruppen sich aufgrund von
Deprivation mobilisieren lassen und andere nicht. Basierend auf dem Konzept von James Davies (1962)
entwickelte Gurr (1970) den im Folgenden Deprivationstheorie genannten Ansatz, in dem allerdings ein

3   Diese Idee lässt sich schon viel früher bei Marx/Engels finden, so etwa im Manifest der Kommunistischen Partei (1848).
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anderer Faktor die zentrale Rolle spielte: relative Deprivation. Im Unterschied zu ihrem Vorgänger
interessiert sich diese vor allen Dingen für subjektiv empfundene Deprivation, die einerseits im Vergleich mit
anderen Bevölkerungsgruppen und der Wahrnehmung derer Bevorzugung entsteht, andererseits und vor
allem dann, wenn eine tatsächliche Bedürfnisbefriedigung nicht in gleichem Maße ansteigt, wie die erwartete
Bedürfnisbefriedigung. Davies veranschaulicht diesen Prozess mithilfe der sogenannten J-Kurve, bei welcher
die erwartete Bedürfnisbefriedigung ab einem gewissen Zeitpunkt nach unten ausschlägt (vgl. Gurr 1970, S.
53).

1.1.3 Der ökonomische Ansatz
Nun gab es allerdings immer noch keine Erklärung dafür, wieso manche Bewegungen sich länger erhalten,
während andere nicht einmal richtig losgehen. Mobilisierung war schon länger ein Begriff in bisherigen
Arbeiten, nun geschah allerdings gewissermaßen ein Paradigmenwechsel in der Bewegungsforschung: Die
Mobilisierung von Ressourcen wurde zum entscheidenden Kriterium für die Entstehung und nachhaltige
Existenz sozialer Bewegung erklärt. Der sogenannte Ressourcenmobilisierungsansatz erklärt weniger das
„Wieso?“ von sozialen Bewegungen, sondern das „Wie?“ (vgl. Melucci 1980, zitiert nach Klandermans 1991,
S. 29). Er ist die Weiterführung des sogenannten „economic turn“ (vgl. Goodwin & Jasper 2015, S. 6)
innerhalb der Bewegungsforschung, in dessen Anfängen erst die Interessen des rational agierenden Homo
Oeconomicus als Individuum betrachtet wurden, bevor sogenannte (soziale) Bewegungsorganisationen
(„social movement organizations“) durch die theoretische Grundlagenarbeit von McCarthy und Zald (1973)
ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurden. Bewegungsorganisationen werden darin als wirtschaftliche
Organisationen verstanden, die nach einem ökonomischen Prinzip auf eine nachhaltige Akquise und
Verwertung von (hauptsächlich externen) Ressourcen aus sind. Der im Ansatz von Gurr noch zentrale Faktor
Deprivation wird bei McCarthy und Zald fast vollends entwertet: Sie wird als allgegenwärtig und also für die
Entstehung einer Bewegung als unzureichend betrachtet; für diese benötige es vor allem Ressourcen in Form
von Arbeitsleistung, Finanz- und Sachmittel. Bestehende Bewegungsorganisationen seien dafür die Basis (vgl.
Zald & McCarthy 1987). Die Gesamtheit aller Bewegungsorganisationen, die zu einer bestimmten sozialen
Bewegung gehören, werden bei ihnen als „soziale Bewegungsindustrie“ („social movement industry“)
bezeichnet, wobei in einer Gesellschaft jederzeit mehrere Bewegungsindustrien nebeneinander existieren
können. Die Gesamtheit aller sozialen Bewegungen und Bewegungsindustrien nennen sie den „sozialen
Bewegungssektor“ („social movement sector“; vgl. McCarthy & Zald 2001, S. 535).

Die zentrale Aufgabe bei der Mobilisierung sozialer Bewegungen ist demnach die erfolgreiche Vernetzung
bestehender sozialer Bewegungsorganisationen und damit einhergehend das Generieren ausreichender
Mittel, ohne die keine nachhaltige Bewegung aufgebaut werden kann. Abgesehen von materiellen und
humanen Ressourcen kamen im Lauf der Theoriegenese moralische, kulturelle und sozio-
organisationale Ressourcen hinzu, auch um den Fehler zu vermeiden, alles Mögliche als Ressource
anzusehen (vgl. Edwards et al. 2019, S. 80ff.).

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Unter materiellen werden vor allem finanzielles und physisches Kapital (z.B. Büroräume, Ausstattung etc.)
genannt, wobei dem finanziellen in der Bewegungsforschung aufgrund der Greif- und Austauschbarkeit (in
andere Ressourcenarten) am meisten Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ähnlich greifbar, wenngleich durch
die Individualität der Beteiligten etwas unklarer in ihrer Bedeutung, sind humane Ressourcen. Dabei spielt
eher die schiere Anzahl der Teilnehmer*innen einer Bewegung eine Rolle, als ihre organisationale Struktur.
Diese ist für die Analyse sozio-organisationaler Ressourcen zentral, die gewissermaßen die Kernthese des
RMA beinhaltet: Die entscheidende Rolle von Bewegungsorganisationen. Es wird zwischen nutz- bzw.
kultivierbaren („appropriable“) und beabsichtigten („intentional“) sozialen Organisationen unterschieden (vgl.
Coleman 1988, zitiert nach Edwards et al. 2019, S. 81). Als Bewegungsorganisationen zählen nur letztere;
erstere unterscheiden sich von ihnen dadurch, dass sie nicht für einen Bewegungszweck gegründet wurden,
aber durch bestimmte ihnen eigene Ressourcen die Gesamtbewegung ergänzen können, sofern sie sich dieser
anschließen (vgl. ebd.).

Als weichen, aber nicht zu unterschätzenden Faktor des RMA gelten kulturelle Ressourcen, die auf Pierre
Bourdieus Theorie des kulturellen Kapitals basieren, genauer den Aspekt des „Habitus“: Mit dem taktischen
Know-How vergangener Bewegungen und einem bestehenden kollektiven Erfahrungspool, aus dem man
Schöpfen kann, dauert es für aufkeimende Bewegungen deutlich kürzer sich zu mobilisieren, als für
vergleichbare Bewegungen ohne Zugriff auf derartige Ressourcen (vgl. ebd./Bourdieu 1986). Zu dieser Art
von Ressourcen zählen auch bewegungsrelevante kulturelle Erzeugnisse wie Musik, Literatur, Filme und
Videos etc., deren Verkauf einerseits die Ideen der Bewegung mobilisierungsfördernd verbreitet, andererseits
wiederum finanzielle Ressourcen generiert (vgl. Edwards et al. 2019, S. 83). Moralische Ressourcen
bezeichnen zuletzt vor allen Dingen den Faktor Legitimität, der von externen Institutionen oder prominenten
Unterstützer*innen eingebracht wird und welcher sozialen Bewegungen einen Vorteil bietet (vgl. ebd.).

Der Ressourcenmobilisierungsansatz ist bis heute der mit Abstand prägendste in der Bewegungsforschung,
und obwohl er mittlerweile in diversen Kontexten angewandt wurde, definieren seine Urheber McCarthy
und Zald seine Rahmenbedingungen wie folgt:

             (1) Societies have voluntary association traditions. Individuals can choose to affiliate and participate in voluntary associations and
             knowledge of how to organize them is fairly widespread. (2) Freedom of speech and freedom of assembly are normatively accepted, even if
             not universally applied. (3) There is a mass media and it is fairly open to reporting grievances and protest. (4) The electoral system is so
             structured that small groups have little chance of gaining legislative office. Thus, mobilization and action outside of the electoral system is
             encouraged.

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Die beschriebenen Gesellschaften entsprechen also durch die vorgegebenen Freiheiten (der Versammlung,
des Redens, der Meinung und der Presse) und den repräsentativen Charakter des demokratischen Systems

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am ehesten Vorbildern wie den USA. Trotzdem bleibt der RMA auch für die vorliegende Arbeit die zentrale
Denkfigur.

1.1.4 Der kulturtheoretische Ansatz
Schon bei der Ikone der „community organization“, Saul Alinsky, hieß es: „if people feel they don’t have the
power to change a bad situation, then they do not think about it.“ (Alinsky 1971, S. 105; Hervorh. im Orig.). Er
folgert daraus: „In the beginning the organizer’s first job is to create the issues or problems.“ (vgl. ebd., S. 119;
Hervorh. durch D.B.). Basierend auf Erving Goffmans Framing-Theorie (1986 [1974]) rückten Snow et al.
(1986) den Aspekt der (relativen) Deprivation wieder in den Fokus, indem sie sich fragten, durch welchen
Prozess die laut McCarthy und Zald bekanntlich ubiquitäre relative Deprivation erst zu kollektiver Handlung
führt. Die Antwort fanden sie in Goffmans Ausführungen zum sozialpsychologischen Konzept der „frames“,
die als „Interpretationsschemata“ dafür verantwortlich sind, ein bestimmtes Verständnis eines Ereignisses mit
der individuellen Lebensrealität und damit einer bestimmten Einordnung zu verknüpfen (vgl. Goffman 1986,
S. 21/Snow et al. 1986, S. 464). Für sie steckt der Kern der Mobilisierungstätigkeit von sozialen Bewegungen
in der kulturellen Interpretations- und also Übersetzungsleistung, einen bestimmten Missstand für die
Betroffenen erst so zu formulieren, dass er zu einem bearbeitbaren Issue wird, oder wie Alinsky vorgreifend
schrieb:

           (…) In any community (…) people may have serious problems – but they do not have issues, they have a bad scene. An issue is something you
           can do something about, but as long as you feel powerless and unable to do anything about it, all you have is a bad scene. (…) The organization
           is born out of the issues and the issues are born out of the organization.

                                                                                                                  Alinsky 1971, S. 119f.

Der Effekt auf die Bewegungsmobilisierung ist dabei genauso zentral wie auf die Mobilisierung der
öffentlichen Meinung (vgl. Hellmann 1998, S. 20), immerhin ist die politische Öffentlichkeit „der zentrale
Schauplatz, auf dem über die Relevanz einer Bewegung und ihres Anliegens vorentschieden wird“ (Rucht
2011, S. 21.). Rucht bezeichnet diesen Prozess als „image management“ (vgl. ebd.).

Es wird zwischen vier unterschiedlichen Arten des Framings unterschieden: „Frame Bridging“ bezeichnet die
Verbindung zweier ideologisch kohärenter, aber strukturell noch nicht verbundener Frames bzw. Issues.
„Frame Amplification“ meint die Pointierung bzw. die Verdeutlichung bestehender Frames, während „Frame
Extension“ ihre inhaltliche Erweiterung zum Ziel hat, um mehrheitstauglicher zu werden. Zu guter Letzt
beschreibt „Frame Transformation“ die klassische, jedoch am schwierigsten zu erreichende Umdeutung eines
bestehenden Frames, die zu einer Meinungsänderung führen soll (vgl. Klandermans 1991, S. 33).

1.1.5 Weitere Aspekte
Im weiteren Verlauf kamen aus immer mehr Fachrichtungen Ergänzungen und Erweiterungen der
bisherigen Bewegungsforschung, die zwar keinen größeren Paradigmenwechsel mehr verursachten, wohl
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aber mobilisierungstreibende oder -hemmende Faktoren beleuchten. Dazu gehört etwa der „Collective
Identity“-Ansatz, der im Zuge der Erforschung sogenannter „Neuer sozialer Bewegungen“ breiter diskutiert
wurde, deren Fokus aber nicht mehr auf sozialpolitischen, sondern – in der Tradition der ’68er-Bewegung –
auf identitätspolitischen Issues liegt.4 Der Ansatz ist der Framing-Theorie nah verwandt, da es sich auch hier
um eine Konstruktionsleistung handelt, in deren Zentrum die Definition eines (handlungsfähigen) „Wir“
gegenüber einem oppositionellen „Die“ steht (vgl. Gamson 1995, S. 99; Hellmann 1998, S. 19). Dafür kann
auch Zeitgeschichte, bzw. der historische Kontext eines Issues als argumentative Basis dienen (vgl. Flesher
Fominaya 2019, S. 441). Damit wäre ein letzter theoretischer Ansatz genannt, der zum Verständnis des
vorliegenden Forschungsgegenstands behilflich ist: der „political-opportunity“-Ansatz. Angestoßen durch die
Politologen Lipsky (1970), Eisinger (1973) und später aufgenommen durch Charles Tilly (1978) wurde der
Ansatz in einem eigenen theoretischen Gerüst festgehalten: Naturgemäß funktioniert nicht jede Bewegung in
jedem politischen Kontext gleich, sondern kann durch realpolitische Prämissen begünstigt oder beschränkt
werden (vgl. McAdam & Tarrow 2019, S. 20).

Interessant hierbei ist, dass soziale Bewegungen mitnichten bspw. kaum in repressiven und zuhauf in
liberalen politischen Systemen vorzufinden sind, die Realität ist deutlich nuancierter: So können äußerliche
Bedrohungen beispielsweise existente, gefühlte Missstände signifikant verstärken, oder sogar neue auf den
Plan bringen und dadurch mobilisierungsfördernd wirken (sh. Kapitel 1.1.4 und Almeida 2019, S. 44). Des
Weiteren erhöhen repressive politische Systeme naturgemäß die Wahrscheinlichkeit, dass Bewegungsgruppen
in ihrem Protest zu disruptiveren Mitteln greifen, welche wiederum einen größeren Effekt erzielen (vgl.
Polletta 2006, S. 53f.). McAdam et al. (1996) weisen allerdings darauf hin, dass selbst die bloße Existenz
vermeintlicher politischer Gelegenheiten nicht mehr als eine kulturelle Deutungsleistung im Sinne des
Framing ist: Sie werden erst tatsächlich zu Gelegenheiten, wenn sie als solche von einer Gruppe definiert und
strategisch kultiviert, d.h. als Issues ihrem Anliegen entsprechend geframed werden. (McAdam et al. 1996, S.
8).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Bewegungsforschung durch eine ausgeprägte
disziplinarische Multiperspektivität gekennzeichnet ist, die je nach fachlicher Verwurzelung einen anderen
(relevanten) Aspekt zum Verständnis des komplexen Phänomens „soziale Bewegung“ beleuchtet. Das
vorherrschende Paradigma bleibt unangefochten der ökonomisch geprägte Ressourcenmobilisierungsansatz,
bei dem ein strategischer Blick auf die Bewegung, ihren Umgang mit unterschiedlichen Ressourcen und ihre
interne Organisation vorherrscht. Dem voraus gehen die Aspekte der relativen Deprivation und ihr Framing,
d.h. die kulturell bedeutsame Produktion des eigentlichen Issues, auf Basis welcher erst mobilisiert werden
kann. Um gewissermaßen „Ebbe und Flut“ von Bewegungen besser nachvollziehen zu können (vgl. McAdam

4   Kollektive Identität spielte schon bei Marx im Kontext des „Klassenbewusstseins“ eine zentrale Rolle (Taylor & Whittier 1995, S.
172).
                                                                                                                                       !12
& Tarrow 2019, S. 20), lohnt ein Blick ins Innere der Bewegung auf den kollektiven Identitätsfaktor, sowie
ein Blick in die Umwelt auf die politische Gelegenheitsstruktur.

                                                                                                             !13
2. Das Spiel: Mobilisierung
Mobilisierung ist die Kernaktivität für die Entstehung und den Fortbestand sozialer Bewegungen. Ihr Ziel ist
die Umwandlung des gesellschaftlich vorhandenen Mobilisierungspotentials in koordiniertes, kollektives
Handeln (vgl. Voigt 2006, S. 52). Das Mobilisierungspotential speist sich wie oben beschrieben aus einem
Quell ubiquitärer Unzufriedenheit, d.h. relativer Deprivation, die allen Gesellschaften gleich ist und – richtig
interpretiert und kultiviert – in Protestaktivität umschlagen kann. In Abbildung 1 ist ein solcher Prozess
schematisch dargestellt. Darin ist ein beliebiger Wandel auf gesellschaftlicher Makro-Ebene im Kontext der
politischen Gelegenheitsstruktur Ausgangspunkt für diffuse strukturelle Spannungen in der
Gesamtgesellschaft. Diese liegen dem allgemeinen Mobilisierungspotential zugrunde, das im Zuge des
eigentlichen Mobilisierungsprozesses auf organisationaler sowie kognitiver Ebene in kollektives Handeln
umgewandelt wird.

                                                                           Makrosozialer Wandel

                                          Relative Deprivation/
                                         strukturelle Spannungen

                                                                                                                                Politische

                                        Mobilisierungspotential                                                            Gelegenheitsstruktur

                                Ressourcen-                    Konsens-
                                akquise und                    mobilisierung
                                Organisations-                 durch Issue
                                                                                      Kognitive Dimension
    Organisationale Dimension

                                aufbau                         Framing

                                                                                                            Begünstigung
                                        Soziale Bewegung/SBO
                                                                                                            Beschränkung

                                Koordinierung                  Handlungs-
                                der Ressourcen-                mobilisierung
                                verwertung                     durch Issue
                                                               Framing

                                         Kollektives Handeln

                                    Abb.1: Schematische Darstellung des Mobilisierungsprozesses (nach Voigt 2006, S. 53; sh.
                                    auch Neidhardt & Rucht 1991, S. 447)

                                                                                                                                                  !14
In dieser Darstellung findet sich gewissermaßen eine Zusammenfassung der bereits angeführten, wichtigsten
theoretischen Konzepte und ihre Wechselwirkungen. Als „makrosozialer Wandel“ zählt etwa jede Form
„objektiver“ Verschlechterungen, staatlicher Repression und disruptiver Ereignisse, aber auch Veränderungen
eines gesellschaftlichen Wertesystems, die Einfluss auf Anspruchsgruppen haben können (vgl. Voigt 2006, S.
52). Dieser Wandel führt noch nicht zu Mobilisierung per se, er erhöht bloß das Mobilisierungspotential.
Zentral ist die damit sichtbar gemachte Erkenntnis, dass die erste Stufe der Mobilisierung jene eines
gemeinsamen Konsens ist, ohne den keine Bewegung entstehen kann. Erst wenn klar ist, was überhaupt das
Issue ist und dass es eines ist, können dagegen Koalitionen gebildet und Außenstehende mit einbezogen
werden; McCarthy und Zald sprechen in dem Zusammenhang von sozialen Bewegungen als „issue
entrepreneurs“ (1987, S. 18). Sie müssen beantworten, wieso, was, wie und von wem etwas getan werden muss
(vgl. Voigt 2006, S. 21).

Die organisationalen auf der linken und die kognitiven Prozesse auf der rechten Seite der Grafik ergänzen
sich; sie können zur Gründung von Bewegungsorganisationen führen (bei diesem Prozess spricht man von
Mikromobilisierung). Koalieren soziale Bewegungsorganisationen mit anderen (Bewegungs-)Organisationen,
spricht man von Mobilisierung auf der Meso-Ebene (auch: „bloc recruitment“, synonym zu „coalition
building“); auf dieser finden Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen primär statt, hier sind sie auch am
effizientesten (vgl. ebd., S. 57 und 78).5 Die hohe Kunst liegt naturgemäß darin, Issues derart umdeuten zu
können, dass sich selbst ansonsten rivalisierende Gruppen einigen können – dabei kann ihre eigentliche
Uneinigkeit durch ihr symbolisches Gewicht sogar eine Stärke sein, wenn sie sich trotz aller Gegnerschaft auf
ein Issue einigen können, oder nach Nick Crossley, „if the actors at least agree on what they are in
disagreement about“ (2002, S. 6; vgl. auch Voigt 2006, S. 17). Ziel der Mesomobilisierung ist eine derartige
Verknüpfung individueller Ressourcenpools, dass sie zu Kollektivressourcen werden.

Die bidirektionalen Pfeile im Mobilisierungs- und Handlungskreislauf deuten darauf hin, dass Mobilisierung
ein fortdauernder, permanenter Prozess ist, was auch am Mangel an Institutionalisierung und an Ressourcen
der Bewegung liegt (vgl. Voigt, S. 56). Ergebnisse von Mobilisierungen wie Demonstrationen haben immer
auch selber einen (ressourcen-)mobilisierenden Effekt (vgl ebd., S. 54). Doch wer mobilisiert überhaupt? Im
Gegensatz zur weit verbreiteten Weber’schen Vorstellung des „charismatischen Führers“ (Weber 1995 [1921],
S. 320f.) haben Anführer von sozialen Bewegungen nur in geringem Ausmaß die Rolle, medial im
Vordergrund zu stehen und von dort aus sprichwörtlich „zu den Waffen zu rufen“, sie verrichten ihre Arbeit
großteils im Hintergrund. Saul Alinsky unterscheidet in leader und organizer, wonach Erstere die Funktion der
öffentlichen Repräsentation einer Bewegung innehaben und Letztere für ihren Aufbau und ihre Organisation
zuständig sind; Überschneidungen der Funktionen sind möglich (Alinsky 1971, S. 65). Binäre Modelle lassen
sich in unzähligen Leadership-Typologien in der Bewegungsforschung wiederfinden, sie tragen bloß nicht viel

5   Die Macro-Ebene bezeichnet die Wechselwirkungen zwischen sozialer Bewegung und Gesamtgesellschaft, Massenmedien und
Politik.
                                                                                                                          !15
zu einem Erkenntnisgewinn darüber bei, welchen Effekt ihre Aktivitäten auf den Erfolg der Bewegung haben
(vgl. Ganz & McKenna, S. 187f.). Neuere Modelle konzentrieren sich auf die Dynamiken der Aktivitäten von
Anführern, allen voran auf die Dimensionen Beziehungspflege, Narration (im Sinne von Framing) und den
Strategieentwurf (im Sinn von „resourcefulness“, s.u.).

Naturgemäß findet dieser Vorgang nicht bei jeder Formierung einer Bewegung von Grund an statt. Zu
Beginn spielen vor allen Dingen bestehende Bewegungsorganisationen mit ihrer Infrastruktur für den
Organisationsaufbau eine zentrale Rolle, diese sogenannten „Bewegungsentrepreneurs“ gehören in der Regel
bereits einer SBO an (vgl. Voigt 2006, S. 90). Sie sind es, die auf der Ebene der Meso-Mobilisierung
mögliche andere SBO und ihre Ressourcen ausmachen, ihre Issue-Interpretation an deren Anliegen
anpassen, um mit ihnen Koalitionen zu bilden und diese anschließend organisational in der Bewegung
vernetzen (Schritt 1, d.h. „Organisationsaufbau“ und „Konsensmobilisierung“ in Abb. 1). Im Anschluss an
die kognitive und organisationale Errichtung dieses Bewegungsfundaments geht es daran, die kultivierten
Ressourcen zielgerichtet zu verwerten, um etwa ein Thema (und sein Framing) überhaupt auf die politische,
mediale und gesellschaftliche Agenda zu setzen, Druck auf Machteliten auszuüben etc. (vgl. Voigt 2006, S.
56). Dieser Vorgang, der von Alinsky als „doing what you can with what you have“ (1971, S. 126) und von
Ganz und McKenna als „resourcefulness“ (2019, S. 191, vgl. auch Ganz 2000, S. 1003) bezeichnet wird, ist
der nächste Schritt. Aufgabe von Leadern ist hier, Issues eine derartige Dringlichkeit zuzusprechen, dass
kollektives Handeln unumgänglich erscheint (Schritt 2, d.h. „Ressourcenverwertung“ und
„Handlungsmobilisierung“ in Abb. 1). Die Wahl angemessener Protestformen ist dabei die Kernfrage. Sie
hängt auch davon ab, inwiefern die politische Gelegenheitsstruktur zum Einen das Anliegen der sozialen
Bewegung begünstigt oder ablehnt, und zum Andern, inwiefern sie die bloße Existenz der Bewegung
toleriert, die durchaus durch staatliche Repressionen oder Gegenbewegungen zum Erliegen kommen kann
(vgl. Chen & Moss 2019, S. 676).

Durch die Präzisierung des Begriffs des Mobilisierungsprozesses in Konsensmobilisierung als permanentem,
langfristig angelegtem Unterfangen und Handlungsmobilisierung als situativem, kurzfristigem, wird
erkenntlich, dass beide Vorgänge in unterschiedlichen Zeitrahmen beheimatet sind (vgl. Klandermans 1991,
S. 32). Ersterer zielt auf die Schaffung von Commitment ab, während Letzterer auf die Aktivierung dieses
Commitments aus ist (vgl. ebd.).

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3. Die Spieler: Ultras
Stolze Gesänge voll Emotion
für einen Club voll Tradition
und unsere Fahnen weh’n,
ihr werdet’s nie versteh’n…
Fangesang des 1. FC Union Berlin

3.1 Geschichte und Taxonomie
Vergemeinschaftung um verschiedene Formen des Konsums ist kein neues Phänomen, man denke etwa an
Harley-Davidson-Fanclubs oder Tupperpartys. Und doch entwickelte sich keine ansatzweise vergleichbare
Konsumsubkultur zu jener der Fußballfans. Sie werden in der Fanforschung je nach Prägung klassischerweise
in konsumorientierte, fußballzentrierte und erlebnisorientierte Fans unterteilt (vgl. Heitmeyer & Peter, 1988).
Bis in die späten 1990er Jahre hielt diese Typologie zumindest in Deutschland stand, konnten Hooligans
recht klar als erlebnisorientiert bezeichnet werden, klassische Kuttenfans als fußballzentriert und die immer
größer werdende Gemeinschaft an Gelegenheitsbesucher*innen als konsumorientiert (vgl. ebd., sh. auch Pilz
2005).

Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Ultras. Diese (ebenso männlich dominierte) Jugendsubkultur
entstand im Italien der 1950er und ’60er Jahre und verbreitete sich erst langsam, bis sie spätestens Ende der
1990er die allermeisten deutschen und internationalen Stadien dominierten und vielerorts die Hooligans
ablösten (vgl. Dal Lago & De Biasi 1994, S. 77). In Nordafrika und dem nahen Osten traten sie ab Mitte der
2000er in Erscheinung (vgl. Christoph Biermann 2017, S. 26). Ultras sind die nach außen hin mit Abstand
auffälligste Fangruppe, deren Ziel die Aufwertung der Stadionatmosphäre durch „Choreographien,
Kurvenshows, Spruchbänder, Schwenkfahnen, Doppelhalter, Gesänge und andere Stimmungsrituale“ ist (vgl.
Pilz 2005, S. 7). Sie werden in der Regel durch einen oder mehrere „Capos“, d.h. Vorsänger, angeführt, die
mit Mikro- oder Megaphonen ausgestattet Gesänge anstimmen und – unterstützt durch Trommler – als
„Dirigenten“ der Kurve agieren (vgl. Winands 2015, S. 109ff.). Wohlgemerkt sind nicht alle Fans in der
Kurve einer Ultra-Gruppierung zugehörig, das im Stadion sichtbare „Ultras-Ensemble“ ist einem steten
Wandel unterworfen; abgesehen vom eigentlichen Kern der Gruppe existiert eine „Peripherie“ andersartiger
Fans, die sich situativ an Ultra-Gesängen und -Aktionen beteiligen (vgl. ebd., S. 82). Diese Beteiligung gilt
aber auch als zentrales Leitmotiv von Ultras, in einem Interview gibt einer zu Protokoll: „Die Vereinigung
der Kurve ist das Überziel, das Metaziel“ (vgl. ebd., S. 84). Somit ist ihr Handeln durch eine strategische
Komponente geprägt (vgl. ebd., S. 85). Ultras sind gewissermaßen per definitionem performativ, weil sie sich
der Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit verschrieben haben, indem sie einen Eindruck erzeugen und
aufrechterhalten. Winands bezeichnet ihre Mittel (nach Goffman) als „dramaturgische Kooperation“, die sie
von anderen Gruppen unterscheidet, betont aber andererseits die Spontaneität ihrer Handlungen, die sie
ebenso auszeichnet (vgl. ebd., S. 82).

                                                                                                                !17
Sie zeichnen sich allerdings auch und vor allem durch Kritik an eben dem Kontext aus, der erst zu ihrer
Verbreitung beitrug: Die zunehmende Kommerzialisierung (auch „Helene-Fischerisierung“, vgl. Spiller 2017)
im Fußballgeschäft und die damit einhergehende Konzentration auf sogenannte konsumorientierte Fans.
Dieser kritische Geist der Ultras führte zu einer Erweiterung der ursprünglichen Fan-Typologie um
sogenannte „kritische Fans“ (vgl. König 2002, S. 51f.).6 Abgesehen von der antikommerziellen Haltung
zeichnen sie sich durch eine Umdeutung des Fan-Verständnisses aus, weil sie sich nicht mehr nur als
„teilnahmslose Konsumenten“ sehen, sondern auch auf klassischem Wege in Entscheidungsprozesse ihrer
Vereine eingebunden werden möchten (vgl. ebd.).

Dieses Selbstverständnis als „einzige wahrhaft altruistische Fans“ führt in weiterer Folge zu einer
Beanspruchung ihres Blocks im Stadion und des Vereins im Ganzen.7 Das führt auch dazu, dass sie
Ligaverantwortlichen gern den Krieg erklären und „versuchen, deren Systemzwänge und Sinnsetzungen
durch eigenwillige Praktika und Formen der Protestkommunikation zu unterlaufen“ (Spiller 2017/Schwier
2005, S. 36). Sie versuchen „die Entwicklung des Fußballsports und der dazugehörigen Fankultur über
Prozesse der demokratischen Willensbildung von den Rängen aus zu beeinflussen“ (vgl. ebd., S. 22), manche
gehen gar so weit, die Ultra-Bewegung an sich als Protestbewegung zu bezeichnen (vgl. Duttler & Haigis
2016, S. 8). Fest steht, dass Ultras eine Jugendbewegung sind, die im Gegensatz zu klassischen Hooligans, die
neben ihrem „Hobby“ ein bürgerliches Leben führen, keine andere Identität kennen – Ultra ist man 24
Stunden an sieben Tagen die Woche (vgl. Pilz 2005, S. 9f.). Dementsprechend beachtlich ist ihre logistische
Effizienz, wenn es etwa darum geht, Auswärtsfahrten zu organisieren oder gigantische, bunte
Choreographien zu gestalten, was sie zu der organisiertesten Fangruppe überhaupt macht (vgl. Winands
2015, S. 75).

3.2 Gewalt
Es gibt allerdings eine weitere Kategorisierung von Fußballfans, die in Deutschland weitreichende
Konsequenzen hat: Jene der Polizei, genauer der Datei „Gewalttäter Sport“ der „Zentralen
Informationsstelle Sporteinsätze“, die Fußballfans in die Kategorien A (friedlich), B (gewaltbereit/-geneigt)
und C (gewaltsuchend) unterteilt (vgl. ZIS-Jahresbericht 2018/19, S. 11). War die Datei ursprünglich für die
Repression gewaltsuchender Hooligans eingeführt worden, wurden mit zunehmender Verbreitung auch
Ultras darin aufgeführt. Zwar definiert sich Ultra-Fantum nicht durch die „sportliche Betätigung auf der
Straße“, eine klare Distanzierung von Gewalt findet sich bei ihnen allerdings nicht, sie wird als notwendige

6   Bei der Betrachtung der Taxonomie von Fan-Identitäten von Giulianotti (2002) fällt eine bemerkenswerte Parallele zu sozialen
Bewegungen auf: Seine Unterteilung der Fanszene in „supporters, followers, fans und „flâneurs“ folgt der gleichen Struktur wie jene
von sozialen Bewegungen „in Aktivisten, Teilnehmer und Sympathisanten (…) wobei die Aktivisten und Teilnehmer der Bewegung,
die Sympathisanten aber der Umwelt der Bewegung zugerechnet werden“ (vgl. Kühl 2014, S. 71).

7   Vgl. die häufig variierten „Wir sind der Verein!“-Rufe und -Gesänge.
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Begleiterscheinung aller anderer „abweichender Handlungen“ im Stadion und im Zuge der Rivalitäten zu
verfeindeten Ultra-Gruppen toleriert; Ultras selbst verweisen in der Regel auf „unterschiedliche Strömungen
innerhalb unserer Gruppe und motivierte Leute in allen Bereichen“ (vgl. Pilz 2005, S. 8f. und 12). Dies hat
allerdings zur Folge, dass – auch durch ihr einheitliches Auftreten – die Polizei die gesamte Szene behandelt
wie Hooligans, was wiederum zu einer teilweisen Radikalisierung von Ultras und etwa dem Auftreten des
Phänomens „Hooltras“ führte (vlg. ebd.). Dieser Aspekt einer latenten Gewaltbereitschaft und der polizeiliche,
repressive Umgang damit, der hier beispielhaft in Deutschland dargestellt wurde, betrifft Ultras in aller Welt
– in Ländern ohne Versammlungsrecht ist die Lage für sie deutlich brutaler (vgl. Duttler & Haigis 2016, S.
296). Dal Lago und De Biasi (1994, S. 81) resümieren die zwiespältige Rezeption der Ultras mit den Worten:
„Journalisten und Vereinsoffizielle aller Clubs nennen die Ultras wunderbare Zuschauer, wenn alles gut läuft,
etwa bei guter Stimmung, aber nennen sie Hooligans, sobald es Ärger gibt. In beiden Fällen reden sie jedoch
über dieselben Leute.“

Vor allen Dingen ihre Organisation macht Ultras für eine Einbindung in soziale Bewegungen so interessant.
Wie in Kapitel 1.1.3 bereits angeschnitten, ist die Benennung von Ultra-Gruppen im Bewegungsduktus
zumindest als „social organization“ durchaus möglich (vgl. Edwards et al. 2019, S. 81), was sie zu
bewegungsrelevanten, kultivierbaren, potentiellen Koalitionspartnern macht. Des Weiteren ist eine
ausgeprägte Protesthaltung bereits in ihrer DNA verankert, und tatsächlich traten Ultras in vergangenen
sozialen Bewegungen bereits in Erscheinung. Diese werden im folgenden Kapitel angeführt, bevor eine
tiefergehende theoretische Analyse von Ultras als Bewegungsorganisationen durchgeführt wird.

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4. Die Spiele: Cases
Die folglich angeführten sozialen Bewegungen fanden in Ägypten (2011ff.), der Türkei (2013) und Algerien
(2019) statt. Bis auf den mehrwöchigen Protest in der Türkei gelten die Beispiele als Revolutionen. Tatsächlich
wurden soziale Bewegungen und Revolutionen noch bis in die frühen 1990er Jahre separat behandelt und
mit unterschiedlichem theoretischem Instrumentarium analysiert (vgl. Goldstone/Ritter 2019, S. 683).
Mittlerweile führte die Übernahme vermehrt friedlicher Protestmittel sozialer Bewegungen v.a. in den
„Farbrevolutionen“ auch zu einer theoretischen Annäherung beider Phänomene (vgl. ebd.), zwischen denen
nur noch wenige definitorische Unterschiede gemacht werden. Zu den Wichtigsten zählen die
unterschiedlichen Voraussetzungen in Bezug auf den Anspruch der Bewegung und daraus folgend auf den
Mobilisierungsumfang: Issue-bezogene soziale Bewegungen benötigen für den Erfolg ihres Anliegens in der
Regel nicht viel mehr als jene Anspruchsgruppen, die das Issue auch betrifft. Revolutionen hingegen, die
einen makropolitischen Machtwechsel zum Ziel haben, benötigen für seine Erreichung unweigerlich eine
breitere Basis an Koalitionen (vgl. ebd., S. 686; vgl. Auseinandersetzung mit „revolutionary situations“ und
„outcomes“ in Kapitel 7 bei Tilly 1978).

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4.1 Kairo 2011

4.1.1 Kontext
Ägypten ist mit fast 100 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste arabische Land, bis 2011 wurde es
30 Jahre lang autoritär per Notverordnung vom Langzeitherrscher Hosni Mubarak regiert. Schon seit
Anfang der 2000er Jahre waren Streiks und Demonstrationen gegen das Regime unter anderem wegen der
desaströsen sozio-ökonomische Lage keine Seltenheit, wurden jedoch durch brutales Vorgehen der
Sicherheitskräfte und Scheinreformen schnell wieder im Keim erstickt (vgl. Roll 2011). Der Erfolg der
tunesischen Proteste Ende 2010, im Zuge derer der ebenso despotische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali
gestürzt wurde, wirkte als maßgebliche Inspiration für die ägyptische Bevölkerung, dass ein solcher Umsturz
auch bei ihnen möglich sein könnte (vgl. Shenker 2011). Der zweite Auslöser war die Wut über die brutale
Tötung des jungen Khaled Said durch Polizisten im Juni 2010, nachdem dieser ein Video eines Drogendeals
unter Polizisten veröffentlichte (vgl. Eltantawy & Wiest 2011, S. 1212). Und tatsächlich fand nur elf Tage
nach der Flucht Ben Alis aus Tunesien am 25. Januar 2011 der erste der 18 Tage andauernden Proteste am
zentralen Kairoer Tahrir-Platz statt, der als „Tag des Zorns“ in die Geschichte einging und an deren Ende
über 800 Tote und Hosni Mubaraks Rücktritt standen (vgl. Eltantawy & Wiest 2011, S. 1210).

An dieser Protestbewegung und ihrem Erfolg hatte die Kairoer Ultra-Gruppe „Ultras Ahlawy“ vom Al-Ahly
SC maßgeblich Anteil. Al Ahly ist, gemessen an der Zahl gewonnener nationaler wie kontinentaler
Meisterschaften sowie der Fans, der größte und erfolgreichste Fußballverein des afrikanischen Kontinents. Er
ist schon allein historisch von hoher Signifikanz, war er doch der erste Verein, der 1907 noch unter britischer
Kolonialherrschaft einen rein ägyptischen Kader aufstellte („Al-Ahly SC“ ist mit „der nationale Sportclub“8
zu übersetzen; vgl. Dorsey 2016, S. XI). Mit den Ultras Ahlawy wurde hier 2007 auch die erste ägyptische
Ultra-Gruppe gegründet, die an ihrem Höhepunkt 40.000 Mitglieder zählte, die in vielen regionalen
Untergruppen unterteilt waren (vgl. Biermann 2017, S. 26). Entsprechend der demographischen Lage
Ägyptens (zwei Drittel der Bevölkerung ist unter 35) sind die Ultras strukturiert: 90 Prozent sollen zwischen
13 und 20 Jahre alt gewesen sein; Ultras waren in Ägypten laut einem Ahlawy-Mitglied „die
Jugendbewegung schlechthin“ (vgl. ebd.). Als solche waren sie dem Regime von Anfang an ein Dorn im
Auge, galt doch jede organisierte Kraft als potentielle Gefahr für den Machterhalt – absurderweise führte just
diese Verdächtigung politischer Aktivität dazu, dass Ultras sich durch die daraus folgenden Repressionen
politisierten (vgl. Dorsey 2016, S. 54). Initiatoren der Repressionen waren oftmals die Vereinspräsidenten
selbst, die als regimetreue Elitäre Übergriffe auf Ultras mehr als goutierten (vgl. Anonym in 11 Freunde 2015).
Der zweitgrößte Verein Ägyptens (und des afrikanischen Kontinents), der Kairoer Zamalek SC, war einst die
reaktionäre, pro-britische Antwort auf Al-Ahly (vgl. Dorsey 2016, S. XI). Die Derbys gelten als Höhepunkte
arabischen Vereinssports, an ihnen scheidet sich nicht nur die Stadt, sondern das gesamte Land (vgl. ebd., S.
55f.). Die Kämpfe zwischen den Ultras White Knight von Zamalek und den Ultras Ahlawy galten als die

8   Berüchtigt ist auch eine Choreographie der Ultras Ahlawy, die sie mit einem Banner mit der Aufschrift „WE ARE EGYPT“
krönten – womit sie selbst wohl genauso gemeint waren wie ihr Verein (vgl. Biermann 2017, S. 26).
                                                                                                                           !21
brutalsten im ägyptischen Fußball. In diesen Auseinandersetzungen, vor allem aber in jenen mit
Polizeikräften, erlernten sie die Fähigkeiten, die sich bei den Protesten als wertvoll erwiesen: „Steinewerfen
und Autoanzünden“, wie es Krauss (2011) ausdrückt. Auch in Ägypten sahen sich Ultras massiver
Polizeiwillkür in Form von Verhaftungen und Prügel ausgesetzt, auf die sie jedoch mit Freude ebenso
gewaltsam antworteten, der Effekt: „Im Stadion erlebten diese jungen Männer zum ersten Mal ein Gefühl
von Macht“ (vgl. Biermann 2017, S. 27). Dort verteidigten sie mit Erfolg jahrelang ihr „Territorium“ und
konnten es für sich beanspruchen – Stadien waren damit der erste Ort organisierten zivilen Widerstands (vgl.
Dorsey 2016, S. 53). Vor der Polizei hatten die Ultras dank ihrer Kampferprobung keine Angst mehr,
politisiert waren sie bereits durch ihre Historie und die Repressionen, außerdem aber durch ihre
Fanfreundschaft mit den Ultras von Espérance Tunis, die sich ihrerseits an den tunesischen Protesten
beteiligten. Tatsächlich schmuggelten Mitglieder der Ahlawy damals tunesische Flaggen ins Stadion, um sich
solidarisch mit den Tunesiern zu zeigen; wenige Tage später taten sie es ihnen gleich und gingen auf die
Straße (vgl. ebd.).

4.1.2 Die Bewegung
In Erscheinung traten sie am „Tag des Zorns“, der durch erstmalige, massive Mobilisierungsbemühen auf
Facebook und YouTube zu einem Demonstrationsmarsch bisher unbekannten Ausmaßes wurde (zur Rolle
von sozialen Medien während der ägyptischen Revolution sh. Eltantawy & Wiest 2011). Mutmaßlich
aufgrund der gefürchteten Repression gaben sie im Voraus offiziell bekannt, sich nicht als Gruppe am Protest
zu beteiligen; was Mitglieder privat vorhätten, könne man allerdings nicht beeinflussen (vgl. Woltering 2013,
S. 295). An diesem Tag marschierten etliche Demonstrationszüge aus allen Richtungen der Stadt zum
symbolträchtigen, zentral gelegenen Tahrir- (d.h. Freiheits-) Platz, wo traditionell u.a. große fußballerische
Erfolge gefeiert wurden. Als die Polizei beschloss, die Brücke zu sperren, über die man direkt auf den Platz
kommt, hatten die Ultras ihren ersten großen Auftritt: Im Stil von Stoßtrupps kämpften sie den Weg zum
Platz frei. Die Älteren waren mit dem (Um-)Werfen von Steinen und Polizeiautos beschäftigt und wurden von
Jüngeren mit Wurfgeschossen versorgt, während andere Gruppenmitglieder die Verletzten auf Mopeds
abtransportierten (vgl. Biermann 2017, S. 27). Dank ihrer Stadionerfahrung war ihnen die Wichtigkeit
zeitlicher Koordinierung sowie physischer Behauptung gut bekannt – ein Faktor, den die Sicherheitskräfte
unterschätzten (vgl. Dorsey 2016, S. 51/Heck 2016). Für viele Anwesenden war dies die erste Erfahrung
polizeilicher Ohnmacht, die sie vorher nicht für möglich hielten. Dem daraus entsprungenen Bewusstsein
über die eigene Stärke war es zu verdanken, dass die Proteste nicht nachließen, sondern sich im Gegenteil
immer mehr Menschen der Bewegung anschlossen (vgl. Noujaim 2013; Stanton 2012). Nachdem die
Demonstrant*innen den Tahrir-Platz am ersten Tag der Proteste räumen mussten, konnten sie ihn nur drei
Tage später am „Freitag des Zorns“ wieder für sich behaupten – diesmal nahmen die Ultras Ahlawy und die
Ultras White Knight offiziell teil und kooperierten zum ersten Mal in ihrer Geschichte, was eine hohe
symbolische Strahlkraft hatte (vgl. Dorsey 2016, S. 55/El-Sherif 2012). Die Ultras spielten die entscheidende
Rolle in der Verteidigung des Platzes. Sie beanspruchten ihn mit dem Selbstverständnis, mit dem sie es in

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ihrer jeweiligen Kurve taten (vgl. Dorsey 2016, S. 53). Diesmal gelang ihnen die nachhaltige Besetzung des
Platzes, den sie bis zum Rücktritt Mubaraks behaupten konnten. Ein weiterer Höhepunkt der Ultra-
Beteiligung war die Verteidigung vor der versuchten Erstürmung des Tahrir-Platzes durch bewaffnete
Kamelreiter am 2. Februar 2011, die sich als Mubarak-Vertraute herausstellten (vgl. Dorsey 2016, S. 70f.).
Der Tag ging als „Schlacht der Kamele“ in die Geschichte ein.

4.2.2 Auswirkungen
Die Relevanz der Ultras in der revolutionären Bewegung wurde zum Einen durch die mehrmonatige
Unterbrechung der ägyptischen Liga Anfang 2011 verdeutlicht und quasi anerkannt, zum Anderen durch
zwei nie vollständig aufgeklärte Massaker: Fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Schlacht der Kamele
hatte der Al-Ahly SC ein Auswärtsspiel in der nordägyptischen Stadt Port Said beim Al-Masry SC. Nachdem
das Spiel abgepfiffen wurde, stürmten bewaffnete Schläger die Gästetribüne, deren einziges Ausgangstor
vorher verriegelt wurde. Das Flutlicht erlosch und die sich vor Ort befindliche Polizei schritt nicht ein, als die
Ultras Ahlawy mit Knüppeln und Macheten regelrecht massakriert wurden. 74 Menschen starben (vgl.
Biermann 2017, S. 27f.). In weiterer Folge war nicht einmal klar, ob die 21 später zum Tode Verurteilten
überhaupt alle an dem Überfall teilnahmen (vgl. Dorsey 2016, S. 74). Die Ultras Ahlawy demonstrierten
zwar noch für eine Verurteilung der beteiligten Sicherheitskräfte, befanden sich zu diesem Zeitpunkt jedoch
bereits in der Auflösung (vgl. Kleber 2012/Dorsey 2016, S. 74f.). Der Vorfall war die Begründung dafür, dass
folglich ausschließlich Geisterspiele ausgetragen wurden, was erst 2015 für eine kurze Zeit gelockert wurde.
Ausgerechnet beim Zamalek SC kamen bei mutmaßlich geplanten Ausschreitungen vor den Stadiontoren
zwischen Sicherheitskräften und Fans zwanzig Menschen ums Leben (vgl. Anonym in 11Freunde 2015).
Beobachter*innen wie beispielsweise James Dorsey vermuten auch hier eine staatlich beauftragte
Racheaktion für deren Beteiligung an der Revolutionsbewegung.

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4.2 Istanbul 2013

4.2.1 Kontext
Im Sommer 2013 sollten im zentral gelegenen Gezi-Park Bäume abgeholzt werden. Was als Protest von
Naturliebhaber*innen begann, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu mehrmonatigen Massenprotesten
gegen die Politik Recep Tayyip Erdoğans, die u.a. in den Besetzungen des Parks sowie des historischen
Taksim-Platzes mündeten. Hintergrund waren u.a. ein zunehmend autoritärer Führungsstil,
Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit sowie eine fortschreitende Islamisierung in Bezug auf
Familienpolitik und Restriktionen des Alkoholkonsums (vgl. Seibert 2013/Aver 2013). Die Protestbewegung
gilt mit rund fünf Millionen Teilnehmer*innen im ganzen Land als die größte regierungsfeindliche
Bewegung der türkischen Geschichte (vgl. Irak 2019, S. 36).

Die Beteiligung der Fans der – aufgrund ihrer unvergleichlichen Beliebtheit9 sogenannten – „großen Drei“,
Fenerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş, ist vor allen Dingen durch den historischen Kontext des Fußballsports
in der Türkei zu erklären: Als Produkt britischer Kolonialisten blieb der Sport anfangs nur der Elite
vorbehalten. Bis heute gelten Fußball und vor allem Fankultur in der Türkei als Symbol und Ausdruck einer
dezidiert westlichen, urbanen und säkularen Lebensart (vgl. Irak 2019, S. 25). Das wird durch die Lage der
drei Großen noch deutlicher: Beyoğlu (Galatasaray), Kadıköy (Fenerbahçe) und Beşiktaş (gleichnamiger
Verein) bilden das kulturelle und soziale Zentrum Istanbuls und die Verbindung der Türkei in die westliche
(Geistes-)Welt (vgl. ebd., S. 231). Somit fühlten sich die Fangruppierungen laut Irak explizit attackiert, als
Erdoğans Reformen durchgeführt wurden; sie sahen sich als direkte Leidtragende der
gesamtgesellschaftlichen Restriktionen (vgl. ebd., S. 252). Die 1982 gegründete Ultra-Gruppe von Beşiktaş,
Çarşı, war 1982 die erste derartige Organisation, wobei auch das schon zu viel gesagt ist: Fußballfantum in
der Türkei ist zwar im Fall der Çarşı an europäischen Vorbildern orientiert, es handelt sich hierbei allerdings
vielmehr um „lose verbundene Individuen, die sich um eine bestimmte Identität sammeln“, als um Ultra-
Organisationen im klassischen Sinn (vgl. ebd., S. 175). Während die Kerngruppe nur aus ein paar Dutzend
Menschen besteht, identifizieren sich tausende Fans von Beşiktaş mit den Ultras (vgl. ebd.). Ihre Strahlkraft
ist durch die landesweite Beliebtheit dermaßen groß, dass sie durch ihren Einfluss auf Fankultur als
millionenstarke Mikronationen gelten. Das gilt auch für Fenerbahçe und Galatasaray, wenngleich Fantum bei
ihnen zwar einen ähnlichen kulturellen Ausdruck besitzt wie bei Beşiktaş, die Fanszene jedoch deutlich
unpolitischer war als bei Letzteren (vgl. ebd., S. 161). Çarşı beteiligten sich schon vor den Gezi-Protesten an
politischen Aktionen, worauf das sichelförmige Ç und das als Anarchie-A gestaltete „A“ im Namen
hinweisen (vgl. Gündoğdu & Pitschak 2017).

9   Über 80% aller türkischen Fußballfans unterstützen einen der „großen Drei“ (vgl. Irak 2019, S. 17).
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