Eine kurze Geschichte von Occupy Wall Street - Von Ethan Earle ROSA LUXEMBURG STIFTUNG
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Eine kurze Geschichte von ROSA Occupy Wall Street LUXEMBURG STIFTUNG NEW YORK OFFICE Von Ethan Earle
Inhaltsverzeichnis Spontaneität und Organisation. Von den Herausgebern..............................................................1 Eine kurze Geschichte von Occupy Wall Street Von Ethan Earle Die Anfänge der Bewegung.........................................................................................................3 Occupy Wall Street breitet sich aus wie ein Lauffeuer.............................................................5 Im Inneren der Bewegung...........................................................................................................8 Polizeiliche Räumungsaktionen und der Winter des Unbehagens......................................11 Wie man auch ohne Besetzungen besetzt..............................................................................12 Wie und warum es zu Occupy kam..........................................................................................15 Occupy und die Folgen..............................................................................................................18 Occupys Zukunft.........................................................................................................................20 Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, November 2012 Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016 E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040 Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen. Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten. ww w .r osal u x - n yc.or g
Spontaneität und Organisation In Lower Manhattan, auf einem kleinen Platz namens Zuccotti Park, wurde im September 2011 Occupy Wall Street geboren. Die ersten Besetzer waren ursprünglich gekommen, um gegen die Wall Street zu protestieren, aber als die Besetzung begann, war ihr Schlachtplan nicht ganz klar. Was waren ihre Ziele, und wie würden sie diese verfolgen? Trotz dieses Mangels an Klarheit – und paradoxerweise auch gerade deswegen – begann Occupy sich rasch auszubreiten, in den Vereinigten Staaten und auch im Ausland. Von den Metropolen bis in die Kleinstädte des ländlichen Amerikas schienen die Menschen von der Explosion der Empörung angezogen, die sich gegen alles richtete, was in der amer- ikanischen Gesellschaft schiefläuft. Innerhalb von zwei Wochen gab es Dutzende von Besetzungen nach dem Vorbild des Zuccotti Parks; nach einem Monat bereits mehrere hundert. Jeder Tag sah einen Wirbelwind neuer Besetzungen, Proteste, Diskussionen, Kritikansätze und Lösungsvorschläge. Obwohl die Bewegung keine eindeutigen Forderungen formulierte, wurde eine Sache rasch deut- lich: dass dies eine Bewegung der „99%“ war, der breiten Massen, die ihres Anteils am gesellschaft- lichen Reichtum und an den Chancen in der Gesellschaft von Millionären und Milliardären, also von den „1%“, beraubt worden waren. Die Bewegung zielte darauf ab, den Trend der vorangegangenen Jahrzehnte, in dem die neoliberale Agenda der Vereinigten Staaten und des globalen Kapitalismus die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten enorm vertieft hatte, umzukehren. Und indem sie die soziale Frage in der amerikanischen Öffentlichkeit wieder auf die Tagesordnung setzte, markiert die Occupy-Bewegung die Wiedergeburt der US-Linken. Dieser radikale Ansatz, verbunden mit der unglaublich rasanten Ausbreitung der Bewegung, verunsi- cherte und ärgerte die Mächtigen und eroberte die Vorstellungskraft weiter Teile der amerikanischen Öffentlichkeit. Nach Jahrzehnten der Entmutigung und geringen Sichtbarkeit der US-Linken – die Ethan Young in seiner Studie „Karthographie der Linken“ (www.rosalux-nyc.org) analysiert – beherrschte auf einmal eine progressive Bewegung die Schlagzeilen, die nicht ignoriert werden konnte. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte die Linke erheblichen Einfluss auf die breite Bevölkerung. Millionen und Aber- millionen von Menschen konnten sich mit ihrem Protest identifizieren, insbesondere mit ihrem Kern- thema: der sozialen Spaltung. In einer Zeit, in der viele Menschen an das neoliberale Credo „es gibt keine Alternative“ zu glauben gelernt hatten, tat sich plötzlich eine Öffnung auf, die an das erinnerte, was die globalisierungskritische Bewegung zuvor behauptet hatte: „Eine andere Welt ist möglich.“ In dieser Studie bietet Ethan Earle, Projektmanager des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg- Stiftung, die vermutlich erste ausführliche Darstellung der Geschichte von Occupy Wall Street, von den Anfängen bis zur Gegenwart. Seine Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zu der komplexen und sich rasch entwickelnden Debatte darüber, wie und warum Occupy entstand und was daraus geworden ist. Earle gibt dem Leser das Rüstzeug, um die Bewegung zu verstehen und eigene Ideen über dessen Vermächtnis und Zukunft zu entwickeln. Durch seine Bezugnahme auf Rosa Luxemburgs Gedanken der Dialektik von Spontaneität und Organisation entwickelt er zugleich Vorschläge, in welche Richtung Occupy Wall Street sich bewegen sollte. Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Leiter des Büros New York, November 2012 1
Eine kurze Geschichte von Occupy Wall Street Von Ethan Earle Die Geburtsstunde von Occupy Wall Street Doch ungeachtet dieser analytischen Schwie- (OWS) schlug am 17. September 2011 im Zuc- rigkeiten handelt es sich bei Occupy um ein cotti Park, einem kleinen Platz im Zentrum Phänomen, das wir – als Gesellschaft – besser New Yorks. Die neue Bewegung zeichnete sich verstehen lernen sollten. Welche Schlussfolge- von Anfang an durch ihren pluralistischen Cha- rungen ziehen wir aus diesem scheinbar spon- rakter aus. Die ersten Platzbesetzer schlugen tanen Ausbruch, der sich in einer Art und mit mit ihrer Aktion sozusagen ein großes Zelt auf einer Geschwindigkeit ausgeweitet hat, wie und hießen darin so ziemlich alle Welt will- sie in der Geschichte der Vereinigten Staaten kommen. Auf diese Weise verwandelten sie kaum je zuvor zu beobachten waren? In meinen ihren Protest rasch in ein Podium sowohl der Augen handelt es sich um eine einzigartige Er- Kritik als auch kreativer Alternativvorschlä- scheinung, die zu einer Neubelebung und Um- ge, auf dem sich ganz unterschiedliche Leu- gruppierung der amerikanischen Linken führt te versammelten und ganz unterschiedliche und neue Rahmenbedingungen für künftige Anliegen vorbrachten. Dies Charakteristikum fortschrittliche Bewegungen im ganzen Lande bedingte und bedingt weiterhin den Erfolg schafft. des Phänomens Occupy. Es erlaubte dessen rasche Ausbreitung im ganzen Lande, erober- In diesem Zusammenhang bedarf es dringend te die öffentliche Phantasie und verwirrte die einer kurzen und doch halbwegs vollständigen Herrschenden. Geschichte des ersten Occupy-Jahres, die sowohl den Kenntnisstand der Öffentlichkeit fördert als Ebendiese Besonderheit der Bewegung er- auch die Debatte voranbringt. Trotz der vielen schwert es aber zugleich, sie als ein kohärentes Äußerungen, die im Internet zirkulieren, gibt es oder einheitliches Phänomen zu beschreiben, nämlich bis heute keine angemessene Bestands- denn Occupy Wall Street hat sich nie auf eine aufnahme dessen, was genau im Einzelnen ge- einzige Stimme beschränkt und auch die eige- schah und warum. Die nachfolgende Geschichte ne Form oder Zielsetzung niemals abschlie- basiert hauptsächlich auf den Erzählungen von ßend bestimmt. Die Bewegung hat, ganz im Leuten, die mit Occupy verbunden sind, sowie Gegenteil, zahllose Stimmen zu Wort kommen anderen Berichten aus Presse und Sozialen lassen und ihre Form sowie ihre Ziele unendlich Medien, auf wissenschaftlichen Untersuchun- oft definiert und redefiniert. Das hat natürlich gen und den Beobachtungen, die ich selbst zu ungleichmäßigen und ungewissen Ergeb- machen konnte – als jemand, der in New York nissen geführt, deren gesamtgesellschaftliche lebt und Occupy als eine aus der Bevölkerung Auswirkungen nach wie vor heiß umstritten heraus entstandene progressive Protestform sind. unterstützt.
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY Die Anfänge der Bewegung Ganz am Anfang der Entwicklung, die in die 99 %“. Die stolze Selbstzuschreibung sollte spä- Besetzung der Wall Street mündete, steht ein ter zum Motto der Occupy-Bewegung werden. Aktionsaufruf des konsumkritischen kanadi- schen Magazins „Adbusters“ vom 13. Juli 2011. In den folgenden sechs Wochen kam diese Ein Blog-Eintrag der Zeitschrift rief dazu auf, Gruppe immer wieder zusammen, oft im Tomp- sich am 17. September in Lower Manhattan zu kins Square Park im East Village von Manhat- versammeln, um „Zelte aufzuschlagen, Küchen tan, um die Demonstration am 17. September einzurichten, friedlich Barrikaden zu bauen und vorzubereiten. Zu Graeber und den anderen Wall Street für einige Monate zu besetzen“. Eine Mitgliedern des ursprünglichen Kreises – von de- amerikanische Erhebung im Geiste des ägypti- nen einige an Protestbewegungen von Spanien schen Tahrir-Platzes war es, die „Adbusters“ da- und Griechenland bis Marokko teilgenommen bei vorschwebte. hatten – gesellten sich nach und nach sowohl kampferprobte New Yorker Aktivisten als auch Am 2. August veranstaltete ein Bündnis gegen junge Leute mit – Graeber zufolge – leicht anar- Haushaltskürzungen in der Nähe des berühm- chistischen Neigungen. Währenddessen fuhr ten Bullen-Standbilds im Finanzdistrikt Manhat- „Adbusters“ fort, für die bevorstehende Aktion tans eine Vollversammlung, um die für den 17. zu trommeln, und am 23. August 2011 schlossen September geplante Aktion vorzubereiten. Das die Aktivisten der Hackergruppe „Anonymous“ Bündnis selbst bestand größtenteils aus alten sich der Kampagne an, stellten ein Video vor und Protestgruppen und kleineren politischen Or- begannen via Twitter für die Sache zu werben. ganisationen, doch das Treffen zog auch eine Handvoll anderer Aktivisten an, die zumeist Es waren zwischen 800 und „mindestens 2000“ keiner hierarchisch organisierten Gruppe ange- Demonstranten,1 die am 17. September 2011 hörten und mit anarchistischen Prinzipien sym- zusammenkamen. Sie marschierten durch pathisierten. Zu diesen zählten der bekannte Downtown Manhattan und versammelten sich anarchistische Aktivist und Wissenschaftler Da- schließlich auf jenem Platz namens „Zuccotti vid Graeber sowie eine Reihe anderer Persön- Park“, der ziemlich genau in der Mitte zwischen lichkeiten, die sich schon an der sogenannten dem World Trade Center und dem oberen Ende Antiglobalisierungsbewegung beteiligt hatten. der Wall Street liegt. Der „Park“ ist ein öffentlich genutztes Privatgelände2 zwischen Broadway Weil sie der ihrem Eindruck nach undemokra- und Church Street. Nachmittags fand dort die tische Charakter der Veranstaltung störte, bil- erste OWS-Vollversammlung statt, und einige deten diese Leute einen eigenen Kreis, der sich hundert Teilnehmer beschlossen, den Platz die darauf verständigte, Entscheidungen nur im Konsens zu treffen. Man bildete drei Arbeits- 1 Solche Zahlenangaben sind immer umstritten, aber im Fall OWS wurde das Thema besonders stark politisiert, gruppen – outreach, action, and facilitation, also sodass die Schätzungen je nach Quelle weit auseinan- in etwa Aufklärungsarbeit, Aktionen und Grup- der gehen. In diesem Fall sprachen die Zeitungen zu- penqualifizierung – und kam anschließend meist von 800, während die Angabe „mindestens 2000“ von David Graeber stammt. wieder zusammen, um die jeweils gefassten 2 Eine Regelung der New York City von 1961 gestattet es Beschlüsse bekannt zu geben und weitere Zu- Investoren, höhere Gebäude zu errichten, wenn sie zu- sammenkünfte zu planen. Schon zwei Tage spä- gleich „öffentliche“ Flächen bereitstellen. Eine wichtige Besonderheit derartiger „privat-öffentlicher“ Räume ter traf man sich erneut und verfasste eine ers- besteht darin, dass sie theoretisch rund um die Uhr zu- te Flugschrift mit der Schlagzeile „Wir sind die gänglich bleiben müssen. 3
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY Nacht über besetzt zu halten. Es gab, von Sym- über die zu erhebenden Forderungen gefasst pathisanten gespendet, kostenloses Essen, man wurden. Die Beteiligten stimmten zunächst le- sang, tanzte und übte sich in anderen Perfor- diglich in der Entschlossenheit überein, dafür mance-Art-Formen. Die Polizeipräsenz war den zu sorgen, dass ihre Proteste nicht länger über- ganzen Tag und die Nacht hindurch massiv, aber hört werden könnten. es gab keinen ernsthaften Versuch, die Aktion zu unterbinden oder den Platz zu räumen. Bürger- Später am Tage drohte die Polizei die Fest- meister Michael Bloomberg hatte am 17. Sep- nahme einiger Aktivisten an, die im Park ein tember auf einer Pressekonferenz verkündet: Megafon benutzt hatten. Die Versammelten „Die Menschen haben das Recht zu protestieren, beschlossen daraufhin, „gemeinsam mit einer und wenn sie protestieren wollen, werden wir Stimme zu sprechen, lauter als jeder Verstärker“. gern dafür sorgen, dass sie Orte dafür haben, es Fortan bediente man sich gerne des „menschli- zu tun.“ chen Mikrofons“, wobei die um den Redner Ver- sammelten das wiederholen, was jener soeben Am nächsten Morgen beriet man im Zuccotti gesagt hat, und so seine Stimme verstärken. Park, welche Forderungen die Versammelten Zwar hatte es so etwas auch bei früheren De- stellen wollten. Da kam ein breites Spektrum un- monstrationen in den USA und anderswo schon terschiedlicher Nöte und Ärgernisse zur Sprache, gegeben, aber noch nie so massenhaft und wir- und es wurden unter anderem folgende Ziele kungsvoll wie bei Occupy. In den darauffolgen- genannt: eine gerechtere Vermögensverteilung, den Tagen kam es zur ständigen Verfeinerung weniger Einfluss der Wirtschaft und insbeson- eines Systems von Codes (Mikrofon- und Tem- dere des Finanzsektors auf die Politik, mehr und peraturchecks, gezieltes Augenzwinkern) zwecks bessere Jobs, ein Ende der Zwangsvollstreckun- Verbesserung der Kommunikation in den größer gen, eine Bankenreform und verschiedene Arten werdenden Versammlungen. Zu den Besetze- von Schuldenerleichterung oder -erlass. Alles rinnen und Besetzern gesellten sich nämlich im- in allem ging es darum, der zunehmenden Un- mer mehr Sympathisanten und Neugierige, die gleichheit und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, einfach selber sehen wollten, was vor sich ging. unter der das Land leidet, Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig bildete sich im Park allmählich eine eigene Kultur heraus. Einerseits versuchten da Es würde dem Wesen der Bewegung allerdings Leute, die plötzlich auf engstem Raum zusam- nicht gerecht, den Eindruck zu vermitteln, der menlebten, sich über die Details dieser Art Koha- Protest hätte sich schlicht und einfach gegen bitation klar zu werden. Andererseits begannen die Wirtschaftskrise und deren Konsequenzen Menschen, die ihre Einwände gegen die beste- gerichtet. Die Besetzung ermöglichte von An- henden Verhältnisse zusammengeführt hatten, fang an die Konvergenz eines unglaublich brei- auszuprobieren, wie eine bessere Welt zu schaf- ten Spektrums unterschiedlicher Kritikansätze fen wäre, sei es auch zunächst nur im beschränk- und Ansichten: ob groß oder klein, radikal oder ten Rahmen eines innerstädtischen Platzes. gemäßigt, revolutionär oder reformistisch – die Gemeinsamkeit bestand zumeist in einem tief Unterdes gab es draußen in den Straßen über- verletzten Gerechtigkeitsempfinden und da- all im Finanzdistrikt und in Battery Park City rin, dass sich hier ein (real und zugleich sym- während der folgenden Tage eine Vielzahl von bolhaft) öffentlicher Raum erschloss, der den Demonstrationen und Protestaktivitäten, wo- Teilnehmerinnen und Teilnehmern, wie sie so- bei die Sprechchöre „Wir sind die 99 %“ und „So gleich erkannten, die Chance bot, sich ungehin- sieht Demokratie aus“ sich als die eindeutigen dert auszusprechen. Es überrascht nicht, dass Favoriten durchsetzten. Mal beteiligten sich ein an diesem Tag keine endgültigen Beschlüsse paar Dutzend, mal mehrere hundert Menschen 4
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY an diesen Aktionen. Die meisten gehörten zum Am 23. September 2011, dem Tag nach der harten Kern der Platzbesetzer. Die Polizei war in Aktion bei Sotheby’s, berichteten die großen großer Zahl präsent und zeigte sich wachsam, Tageszeitungen, etwa die „New York Times“ aber nicht besonders feindselig. oder der „Guardian“, erstmals ausführlicher über Occupy. Man sollte jedoch nicht meinen, Am fünften Tag der Protestaktionen, dem 22. die bis dahin kümmerliche Berichterstattung September, sickerten OWS-Aktivisten in eine der Medien hätte verhindert, dass die Bewe- Versteigerung des Auktionshauses Sotheby’s in gung auch über New York hinaus ausstrahlte. der Upper East Side New Yorks ein und störten Ganz im Gegenteil war es schon vor diesem diese, um gegen die Aussperrungsmaßnahmen Zeitpunkt zu Solidaritätsaktionen in anderen der Firma und ihre gewerkschaftsfeindlichen nordamerikanischen Großstädten gekommen, Methoden zu protestieren. Mit dieser Aktion er- zu Besetzungen in Chicago, San Francisco und reichte der Protest eine Entwicklungsstufe, auf Los Angeles, auch in Toronto, und selbst aus der erstmals in einen spezifischen, schon vor- weit entfernten Orten wie London, Amster- her bestehenden sozialen Konflikt außerhalb dam, Madrid, Mailand, Algier, Tel Aviv, Tokio, von Downtown Manhattan eingegriffen wurde. Hongkong und Sydney kamen Berichte über Die anhaltende OWS-Unterstützung für die bei Besetzungsaktionen. In diesem frühen Sta- Sotheby’s angestellten Kunsthändler wurde mit dium war die Ausbreitung der Bewegung vor der Zeit zu einem Symbol des Kampfes gegen allem auf die Sozialen Medien zurückzuführen die Exzesse der „1 %“. Im Juni 2012 konnten die – im Wesentlichen auf die Aktivitäten zumeist gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten jüngerer Menschen bei Facebook, in Blog-Ein- schließlich ihren Sieg feiern. trägen und Tweets. Occupy Wall Street breitet sich aus wie ein Lauffeuer Bei einer OWS-Demonstration am 24. Septem- tens 80 weiteren Festnahmen, was nach einer ber wurden vier junge Aktivistinnen von Poli- klaren Eskalation polizeilicher Repression mit zisten mit Absperrnetzen eingefangen, und ein der Absicht aussah, die schnell wachsende Beamter in Zivil3 traktierte sie mit Pfefferspray, Bewegung jetzt energisch zu stoppen. Ironi- wobei er zwei der Frauen mitten ins Gesicht scherweise bestand das Ergebnis in einer stark traf. Dieser Angriff wurde beobachtet, gefilmt vermehrten Berichterstattung der Medien und via YouTube und andere Medien erfuhr über die Proteste und zugleich in einer drama- bald alle Welt davon. Zwar waren schon zuvor tischen Zunahme neuer Besetzungsaktionen eine Reihe von Aktivisten misshandelt oder überall in den Vereinigten Staaten und Kana- mit zweifelhaften Begründungen festgenom- da. men worden, doch dieser dreiste Gewaltakt markierte einen Wendepunkt im Verhältnis In den letzten Septembertagen und der ers- von Protestbewegung, Polizei und Staat. Am ten Oktoberwoche nahmen die koordinierten gleichen Tage kam es in New York zu mindes- Protestaktionen unter dem Occupy-Banner in New York weiter stetig zu. Am 1. Oktober wur- 3 Was darauf hinweist, dass es sich um einen höheren den über 700 Demonstranten bei dem Versuch Dienstgrad handelte. festgenommen, die Brooklyn Bridge zu beset- 5
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY zen. Vier Tage später zogen schätzungsweise Bewegung nicht auf die leichte Schulter nehmen. 15 000 Menschen vom Foley Square nahe der New Yorks Oberbürgermeister Bloomberg sei- City Hall zum Zuccotti Park. An dieser Demons- nerseits hatte zu Beginn der Proteste den Ein- tration beteiligten sich auch Gewerkschafter druck erweckt, seine Haltung sei noch nicht in größerer Zahl als zuvor. Zu erwähnen sind festgelegt, auch wenn das Vorgehen seiner besonders die Transit Workers Union als ak- Polizeibehörde auf wachsende Abwehr und tive Mitorganisatorin des Marsches sowie die Feindseligkeit hinzudeuten schien. Noch am 10. förmliche Unterstützung durch den gewerk- Oktober erklärte Bloomberg: „Entscheidend ist, schaftlichen Dachverband AFL-CIO.4 Diese dass die Leute zu Wort kommen wollen, und Großdemonstrationen fanden ein stärkeres solange sie die Gesetze einhalten, werden wir Medienecho als frühere Aktionen. Die öffent- ihnen das erlauben.“ Doch nur zwei Tage spä- liche Zustimmung zu der Bewegung wuchs un- ter verkündete er unter Hinweis auf „unhygie- terdes rapide an (manchen Umfragen zufolge nische Zustände“ im Zuccotti Park, die Besetzer auf über 50 Prozent), und das Tempo, in dem hätten den Platz binnen zwei Tagen zu räumen, es überall in Nordamerika zu neuen, einfalls- damit die Eigentümerfirma Brookfield Office reichen Besetzungsaktionen und Demonstrati- ihn säubern könne. Diese Anweisung wurde als onen kam, wurde noch hektischer. Vorwand betrachtet, die Besetzung zu been- den. Also gelobten die Besetzer einander, nicht Wie üblich fingen irgendwann auch Politiker an, zu weichen. Zugleich machten sie sich ihrerseits sich für die Sache zu interessieren. Der einfluss- daran, den Park zu säubern. Am 14. Oktober reiche Senator Russ Feingold und John Larson, nahm der Bürgermeister nach Beratung mit an- Mitglied des Repräsentantenhauses, gehörten deren politischen Größen der Stadt schließlich zu den ersten Unterstützern der Proteste, und sein Ultimatum zurück. am Tag nach den Märschen vom 5. Oktober kam Präsident Barack Obama bei einer Presse- Der nächste wichtige Schritt in der Entwicklung konferenz auf das Thema zu sprechen: von Occupy bestand darin, dass die junge Be- wegung ihr wachsendes politisches Gewicht Ich glaube, das ist ein Ausdruck der Frustration, in die Waagschale eines weltweiten Protest- unter der die Menschen in Amerika leiden; dass tages warf, zu dem das spanische Movimiento wir die schwerste Finanzkrise seit der Großen De- 15-M (auch bekannt als die „Indignados“) aus pression hatten, mit riesigen Kollateralschäden überall im Lande [...] und doch sehen wir immer Anlass seines fünfmonatigen Bestehens für noch, wie einige der Leute, die unverantwortlich den 15. Oktober 2011 aufgerufen hatte. Der handelten, alle Bemühungen bekämpfen, gegen Protest in Spanien richtete sich im weiteren die missbräuchlichen Praktiken anzugehen, die Sinne gegen das politische und wirtschaftliche uns überhaupt erst in diese Situation gebracht System des Landes, aktuell jedoch gegen eine haben. Reihe neoliberaler „Strukturanpassungs“-Maß- nahmen, mit denen mitten in einer verhee- Seine Worte legten – bei freundlicher Betrach- renden Rezession Sozialleistungen und -ein- tung – die Interpretation nahe, dass Obama Oc- richtungen eingeschränkt wurden. In Spanien cupy eine gewisse Sympathie entgegenbrachte waren (der spanischen Rundfunkgesellschaft oder – unfreundlicher bewertet – zu dem poli- RTVE zufolge) zwischen 6,5 und 8 Millionen tischen Schluss gekommen war, man dürfe die Menschen dem Protestaufruf gefolgt. Auf der 4 Die American Federation of Labor and Congress of In- Liste der Aktionsvorschläge, die bis zu dem dustrial Organizations (AFL-CIO) vertritt mehr als elf geplanten Weltprotesttag zusammenkamen, Millionen Beschäftigte. Sie ist damit der größte und finden sich Veranstaltungen in 951 Städten in einflussreichste Gewerkschaftsbund der Vereinigten Staaten. 82 Ländern, wobei die meisten dieser Aktio- 6
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY nen sich als Bestandteil der Occupy-Bewegung andere Verteidiger des Status quo erreichten verstanden. Am 15. Oktober gingen in Madrid, eine neue Phase verstärkter Aggressivität und Barcelona, Rom und Valencia Hunderttausen- Feindseligkeit gegen die Occupy-Bewegung. de auf die Straße und viele Tausende auch an- Zwar hatte das Establishment OWS nie sonder- dernorts rund um den Globus. In den Vereinig- lich freundlich behandelt – und in einer Reihe ten Staaten organisierte Occupy am gleichen von Fällen auch schon Gewalt eingesetzt –, Tage in Hunderten von Städten Demonstratio- doch hatte man sich bis dahin zumindest in nen, an deren größter in New York sich schät- Worten dazu bekannt, dass die Protestieren- zungsweise 50 000 Menschen beteiligten. den wohl irregeleitet sein mochten, aber ein Grundrecht darauf besaßen, ihre Beschwer- Inzwischen zeichnete sich immer deutlicher den vorzubringen. Ab Mitte Oktober 2011 ab, dass Occupy einen weit längeren Schatten nahm jedoch die Bereitschaft, mit allen Mitteln warf, als die bloße Teilnehmerzahl vermuten gegen die Proteste vorzugehen, erheblich zu. ließ. Tatsächlich war wohl die bemerkenswer- Beunruhigender noch wirkten die „starken teste Eigenschaft der Bewegung in diesem Sta- Indizien dafür, dass die OWS-Organisatoren dium, wie stark sie plötzlich weite Bereiche der von der Antiterroreinheit der ‘Intelligence Di- Öffentlichkeit beeinflusste. Seit Anfang Okto- vison’ des New York Police Departments infilt- ber waren tagtäglich, in großen wie in kleinen riert, ausgespäht und grob belästigt“ worden Städten, vielfältige neue Besetzungsaktionen waren.5 quasi aus dem Boden geschossen. Auch wenn sich bei vielen dieser Aktionen kaum mehr als Die Aktionen vom 15. Oktober führten zu 150 ein paar Dutzend Menschen unmittelbar enga- Festnahmen in Chicago, 100 in Boston, 90 in gierten, hatte sich doch offenbar eine kritische New York, 50 in Phoenix und Dutzenden wei- Masse herausgebildet: Inzwischen schien jede terer im ganzen Lande. Einige Tage später gab neue Demonstration oder Okkupation über die es in Chicago erneut 130 Festnahmen. Am vorige hinauszuwachsen und die Entwicklung 25. Oktober dann wurden in Oakland 75 Be- insgesamt zu beschleunigen. Sicherlich spiel- setzungsteilnehmer unter der Beschuldigung, te dabei auch der Überraschungseffekt eine vor der Stadthalle „illegal campiert“ zu haben, Rolle, dass so etwas in einem Lande geschah, festgenommen und des Platzes verwiesen. Es das in den letzten Dekaden nicht gerade durch handelte sich um den Auftakt zu einer neuen starke Protestaktivitäten aufgefallen war. Städ- Welle staatlicher Gegenmaßnahmen. Über- te, die jahrzehntelang, wenn überhaupt, nur all im Lande schickten Vertreter der Staats- höchst selten Proteste erlebt hatten – und für gewalt sich an, die Lager der Besetzer brutal eine Gesellschaft mit notorisch kurzem kultu- abzuräumen. In Oakland nahm die Polizei rellen Gedächtnis sind einige Jahrzehnte eine noch am Abend des 25. Oktobers weitere 97 Ewigkeit –, wurden auf einmal zu Schauplätzen Personen fest, weil sie versucht hatten, die eines politischen Aktivismus, der (zumeist jun- Besetzung auf einem benachbarten Gelände gen) Menschen die Möglichkeit eröffnete, tief fortzusetzen. Dabei wurde Tränengas einge- empfundene Ungerechtigkeitsgefühle zu arti- setzt und der Irakkriegsveteran Scott Olsen kulieren und sie mit anderen zu teilen, sowohl schwer verletzt. Das machte Olsen zu einer in ihrer Heimatstadt als auch – vermittels einer Symbolfigur und zum entschiedenen Kriti- Vielzahl sozialer Online-Medien – in der gan- ker der gewalttätigen Heuchelei der Staats- zen Welt. macht. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch ein ande- 5 Michael Greenberg, In Zuccotti Park, in: „New York Re- rer Trend unverkennbar: Polizei, Medien und view of Books“, 9.10.2012. 7
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY Die Reaktionen der Mainstream-Medien trieften Tag frei, legten Teile der Stadt lahm und betei- inzwischen – nach Phasen der Nichtbeachtung ligten sich – besonders erwähnenswert – an und der Irritation über die führerlose Bewegung, einem Marsch zum Hafen. Der fünftwichtigste die sich weigerte, konkrete Forderungen zu for- Containerhafen des Landes wurde zeitweilig mulieren – vor offener Missachtung. In den tra- stillgelegt. Am Abend eskalierten die Aktionen ditionellen Blättern des Landes stieß Occupy auf des „Schwarzen Blocks“7, aus dem heraus die eine Feindseligkeit, wie man sie seit einer Gene- Schaufenster einer Whole-Foods-Filiale und an- ration nicht mehr erlebt hatte. Sie äußerte sich derer Geschäfte eingeworfen wurden. Die Re- dermaßen nachhaltig und offen, dass sie quasi aktion der Polizei bestand wiederum im Einsatz zu einem Bestandteil des Occupy-Phänomens von Schlagstöcken, Gummigeschossen, Tränen- selbst wurde, besonders in großen Städten wie gas und sogar Blendgranaten. New York. Monatelang brachte die sattsam be- kannte „New York Post“ eine Story nach der an- Drei Tage später gab es im ganzen Land einen deren, um die Bewegung in jeder Hinsicht in den Bank Transfer Day, den OWS in den voraus- Schmutz zu ziehen. Angeblich handelte es sich gegangenen Wochen organisiert hatte. Her- um eine Ansammlung „von offenen Antisemiten, vorzuheben ist, dass diese Aktion mit einem Obdachlosen und Anarchisten, untermischt mit organisierten Verbraucherprotest verbunden Studenten, trust-fund babies und Leuten, die sich war, der sich konkret gegen die Bank of Ame- tödlich langweilten.“6 Diese Taktik zeigte zweifel- rica richtete. Diese hatte am 29. September los bei vielen Menschen Wirkung. Zugleich aber 2011 entschieden, ab 2012 für Kartentrans- bewirkte sie, dass die Unterstützung für Occupy aktionen eine Monatsgebühr von fünf Dollar zu Wall Street weiter wuchs. erheben. Zwischen dem 29. September und dem 5. November transferierten um die 600 000 Angesichts der zunehmenden Anfeindungen Bankkunden in den USA Milliarden von Dollars verlegte OWS sich in den Tagen bis Anfang No- zu Non-Profit-Kreditgenossenschaften, obwohl vember darauf, in anderer Weise Präsenz zu die Bank of America am 1. November die ge- zeigen. Für den 2. November rief Occupy Oak- plante Gebühr absagte. Allein am 5. Novem- land zum ersten Generalstreik in den USA seit ber sollen schätzungsweise 50 000 Bankkun- 1946 auf. Schätzungsweise fünf Prozent der den zu Kreditgenossenschaften übergewechselt regulär Beschäftigten in Oakland nahmen den sein. Im Inneren der Bewegung Was an Occupy unmittelbar ins Auge fiel, war perimentieren mit präfigurativer Politik – wobei in diesem Zeitraum zweifellos die rapide Aus- die Protestierenden Miniaturversionen jener Art breitung der Platzbesetzungen und anderer Gesellschaft kreierten, die sie sich wünschten – Aktionen in Groß- wie Kleinstädten überall in 7 Eine Taktik, bei der Protestierende schwarze Kleidung ganz Nordamerika. Doch was die Expansion vo- tragen sowie ihr Gesicht verbergen, um nicht erkannt zu werden, oftmals Vandalismus begehen und versuchen, rantrieb, war vor allem das gewaltige Ausmaß Polizeigewalt zu provozieren. Oaklands Black Bloc war an schöpferischer Energie, das in buchstäblich das militanteste Beispiel in den USA und löste bei vielen jedem dieser Occupy-Lager zutage trat. Das Ex- in der breiteren OWS-Bewegung kritische Reaktionen aus. Vgl. Barbara Epstein, Occupy Oakland: the question 6 „New York Post“, 16.10.2011. of violence, in: „Socialist Register 2013”. 8
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY wurde bald zu einer der wichtigsten Komponen- darüber, wie man ihre Sache unterstützen und ten der OWS-Praxis. fördern könne und wie sie sich in die breitere „Bewegung“ einfüge. Es gab bei diesen Treffen Diese Kreativität entfaltete sich großenteils keine förmlich beauftragten Leiter, auch wenn aus den Vollversammlungen heraus, die in bestimmte Teilnehmer sich oft als Modera- jedem der Lager als wichtigste Beschlussfas- toren betätigten oder die Agenda auf andere sungsgremien fungierten. Je nach Zeitpunkt Weise vorantrieben. Häufig waren es soge- und Ort unterschieden sich diese Vollver- nannte facilitators oder stack-keepers, die den sammlungen ganz erheblich. Mal kamen da Teilnehmern Zurückhaltung anrieten oder sie Hunderte von Menschen zusammen, mal nur im Gegenteil ermunterten, sich ausführlicher eine Handvoll. Alle aber stimmten in gewissen zu äußern, je nachdem, wie viel Redezeit sie Merkmalen überein. Zunächst einmal prakti- schon in Anspruch genommen hatten. Andere zierten alle konsensorientierte Entscheidungs- erklärten sich freiwillig dazu bereit, im Interesse modelle8, und überall wandte man Strategien der Abwesenden und auch, um die Vorgänge an, die auf die Ausschaltung, zumindest aber der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Proto- die Minimierung von Hierarchien und zentra- koll zu führen. Um das enorm breite Spektrum lisierter Kontrolle zielten. Diskussionsleitung der Aktivitäten wenigstens anzudeuten, seien und ähnliche Aufgaben wurden oft im Rota- hier einige ausdrücklich genannt: Bewegungs- tionsverfahren geregelt. Jede/r hatte die Ge- entwicklung, Politik- und Wahlreform, Occupy legenheit, Vorschläge zu machen oder offen Yoga, alternative Zahlungsmittel, Occupy the zur Sprache zu bringen, wie sie oder er über (Neighbor-)Hood, Direkte Aktion und Occupa- beliebige Themen dachte. Wie nicht anders looza, auch Occupicnic genannt. zu erwarten, gab es unglaublich vielfältige Meinungsäußerungen und Vorschläge – man- Ein Großteil dieser kreativen Aktivitäten drehte che frustrierend, manche brillant. Stets aber sich um die Förderung politischer und kultureller musste so gut wie alles, worum es bei Occu- Ideale. Daneben gab es aber auch die praktische py ging – von Aufklärungsarbeit über Aktionen Frage, wie bei den diversen Besetzungsaktionen gegen die Banken bis zu Aufrufen zum Thema erträgliche Lebensverhältnisse zu gewährleisten Einwandererrechte –, die Vollversammlungen seien. Zu diesem Zweck entstanden weitere Ar- durchlaufen. Dort wurde es diskutiert, ergänzt beitsgruppen, die sich um die Einteilung für die und entweder zur Überarbeitung an die Initi- Alltagsaufgaben kümmerten – vom Kochen und atoren zurückverwiesen oder einstimmig be- Putzen bis hin zur Abfallentsorgung sowie der schlossen. Ausgabe von Decken und anderen lebenswich- tigen Dingen. Wieder andere Gruppen befassten Vieles von dem, was in diese Vollversamm- sich beispielsweise mit Buchführung, Versamm- lungen eingebracht wurde und was von ihnen lungsvorbereitung, Öffentlichkeitsarbeit und der ausging, war das Werk jener Dutzende soge- Unterhaltung von schnell wachsenden OWS- nannter Arbeitsgruppen und Bezugsgruppen, Archiven und Volksbüchereien. die in Verbindung mit den Versammlungen am meisten zu dem OWS-Ethos des „offenen Zel- Trotz aller bemerkenswerten Erfolge bei dem tes“ beitrugen. Bei den vielen Zusammenkünf- Versuch, radikal inklusive Gesellschaftsformen ten dieser Gruppen diskutierten die Teilneh- im Kleinen zu erproben, litt auch Occupy natür- mer über ihre Vorstellungen und Bedürfnisse, lich immer noch an einigen der Mängel, die die Bewegung ihrer Umwelt vorwarf. Für Probleme 8 Ein Beschluss erforderte oftmals 90 Prozent Zustim- mung, obwohl diese Quote sich mitunter änderte und sorgte beispielsweise, kaum überraschend, das von Besetzung zu Besetzung unterschied. leidige Geld. Mitte Oktober besaß OWS unge- 9
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY fähr 500 000 Dollar, großenteils aus Spenden gen Fällen sogar physische Gewalt – von alledem stammend, die die Alliance for Global Justice war zu hören. Wenn es gut ging, führten solche gesammelt hatte, eine gemeinnützige Organi- Konflikte zu offenen und produktiven Diskussio- sation mit Sitz in Washington D.C. Es kam zu nen darüber, auf welch unglaublich vielfältige Art Streitigkeiten über die Frage, wie dieses Geld sie unsere Gesellschaft durchziehen. Es gab aller- abzurechnen sei, aber auch darüber, welche Art dings auch Augenblicke, in denen OWS-Aktionen Projekte damit gefördert wurden. Die Vorwürfe zu stark von der Kerngruppe der Aktivisten ge- reichten von Misswirtschaft und Leichtgläubig- prägt waren, in der Weiße, Gebildete und Leute keit bis zu offenem Diebstahl. mit sozialem Kapital überdurchschnittlich stark vertreten sind und in der die Stimmen der an Auch regelrechte Klassenkonflikte entstanden, den Rand der Gesellschaft Gedrängten manch- sowohl vor Ort in den Occupy-Lagern selbst als mal schlicht überhört werden, obwohl man doch auch hinsichtlich der Entwicklung der Bewe- gerade für diese Menschen zu kämpfen vorgibt. gung insgesamt. Da ging es beispielsweise um Solcherart Rassen-, Geschlechter- und Klassen- Leute, die wegen der kostenlosen Verpflegung gewalt trat in der Regel nicht offen zutage. Sie oder sicherer Schlafplätze kamen, aber den äußerte sich eher in Exklusionspraktiken und Protestcharakter von Occupy verkannten und der Reproduktion eines weißen Patriarchalis- sich entsprechend verhielten. Auch bei denen, mus in Versammlungen und Entscheidungspro- die tatsächlich des Protestes wegen da waren, zessen. Es gab ganz einfach zu viele Situationen, entstanden ähnliche Spaltungslinien zwischen in denen farbige Menschen den Eindruck hatten, Bedürftigeren und Bessergestellten, desglei- nicht recht willkommen zu sein, und in denen chen zwischen Menschen mit mehr oder mit man dem, was Frauen und andersgeschlechtli- weniger sozialem Kapital. In dem Maße, in dem che Menschen zu sagen hatten, nicht die gleiche Occupy wuchs – an Größe, Ausstrahlung und Aufmerksamkeit schenkte. Was die Sache noch Komplexität –, äußerten diese Spaltungsten- vertrackter macht, ist, dass die Reproduktion denzen sich auch in Versuchen, neue Entschei- gesellschaftlicher Unterdrückungsmuster in der dungsstrukturen zu schaffen. Die Einrichtung Regel von Leuten ausging, die sich in dieser Hin- eines „Sprecherrates“, der die Vollversamm- sicht für durchaus problembewusst halten (und lungen um ein Vertretungsorgan ergänzen soll- es gemessen an den Einstellungen der Bevölke- te, stieß auf besonders herbe Kritik. So etwas rungsmehrheit auch tatsächlich sind). diene der Bürokratisierung und verschärfe nur die bestehenden Ungleichheiten. Vor allem Natürlich gab es von Anfang an Auseinander- handele es sich um eine von weißen Männern, setzungen darüber, welche Richtung Occupy von Bildungsbürgern erfundene und diese be- einschlagen solle. Dem Wesen der Bewegung günstigende Institution. Doch auch dem Kon- entsprechend waren diese Konflikte zahlreich sensverfahren wurde inzwischen vorgeworfen, und, was ihre Größenordnung und Schärfe be- es funktioniere zum Vorteil derjenigen, die am trifft, sehr verschiedenartig. Ein Grundkonflikt besten, lautesten und längsten reden, und er- drehte sich um die Frage, ob man sich stärker mögliche zugleich einer relativen Minderheit, auf das Leben innerhalb des besetzten Rau- Entscheidungen zu blockieren, selbst wenn die- mes oder stärker auf das Wachstum der Be- se ansonsten weithin Zustimmung fanden. wegung außerhalb konzentrieren solle. Dies mündete in eine Theorie- und Strategiede- Rassen- und Geschlechterkonflikte spiegelten batte darüber, ob man seine Energien besser in gewissem Maße ebenfalls die gesamtgesell- für die Schaffung vorbildlicher Gesellschafts- schaftliche Problemlage wider. Unterdrückung, muster oder für die Aufklärungsarbeit einset- Exklusion, Vereinnahmungsversuche und in eini- zen solle, um in neuen Bevölkerungsgruppen 10
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY und neuen Regionen Problembewusstsein zu durch das Auftreten schwarzer Blocks im Rah- wecken. Aber auch unter den Anhängerinnen men von Occupy Oakland. Die Debatte erreg- und Anhängern der einen oder der anderen te aufgrund eines beißend kritischen Artikels Grundentscheidung gab es zahlreiche innere von Chris Hedges erhebliche Aufmerksamkeit Meinungsverschiedenheiten und Spaltungsli- in der Öffentlichkeit. Unter dem Titel „Occu- nien. Diejenigen, die die Bewegung aktiv aus- pys Krebsgeschwulst“ verurteilte Hedges diese weiten und vergrößern wollten, stritten bei- Taktik aufs Schärfste. David Graeber wies die spielsweise erbittert über die Rolle gewaltsa- Kritik in einem Offenen Brief an Hedges eben- mer Protestformen, angestoßen insbesondere so hitzig zurück.9 Polizeiliche Räumungsaktionen und der Winter des Unbehagens Die erste spektakuläre Räumung fand Ende Ok- dieses Aufmarsches seinen fast zwei Millionen tober 2011 statt und betraf Occupy Oakland. followers twitterte. Es gibt, abgesehen von den Massenhaft geräumt wurde allerdings erst ab Aussagen der Platzbesetzer, nur wenige Au- Mitte November. Bedauerlicherweise war es genzeugenberichte über den Einsatz, denn die vor den ersten dieser Räumungsaktionen zu To- New Yorker Polizei hinderte Medienvertreter desfällen gekommen. Am 10. November wurde handgreiflich daran, sich dem Gelände zu nä- in der Nähe eines kleineren Lagers von Occupy hern. Zahlreiche Besetzer hingegen berichten, Oakland, das anstelle des geräumten errichtet die Polizei sei bei der Räumung extrem brutal worden war, ein Mann getötet. Am gleichen vorgegangen. Im Nachhinein verbreitete Bür- Tage fand man bei Occupy Burlington in einem germeister Bloomberg folgende Erklärung: Zelt die Leiche eines Mannes, der anscheinend Selbstmord verübt hatte. Zwei Tage später wur- Kein Recht gilt uneingeschränkt, und jedes Recht de auf dem von Occupy Salt Lake City besetz- geht mit Pflichten einher. Der erste Verfassungs- zusatz gewährt jedem New Yorker das Recht, seine ten Gelände ein Toter entdeckt. Zwar gibt es in Stimme zu erheben – niemandem aber das Recht, keinem dieser Fälle irgendeinen Beweis, dass in einem Park zu schlafen oder sich diesen auf ir- die Toten Gewaltakten von OWS-Angehörigen gendeine Weise anzueignen, die andere ausschließt. zum Opfer gefallen waren, da aber Medien und Ebenso wenig gestattet er irgendjemandem in un- Polizei wochenlang behauptet hatten, die Be- serer Gesellschaft, sich außerhalb des Gesetzes zu stellen. Die Rechtslage ist hier ganz eindeutig: Das setzungsaktionen würden immer chaotischer First Amendment schützt die Redefreiheit – den Ge- und gefährlicher, lieferten die Todesfälle jetzt brauch von Zelten und Schlafsäcken zwecks Über- den ersehnten Vorwand für unverzügliche und nahme eines öffentlichen Raumes schützt es nicht. brutale Räumungsaktionen. Auf welche Pflichten Bloomberg sich bezog, Schon am 15. November wurde dann Zuccot- bleibt unklar. Seine Erklärung lief jedenfalls auf ti Park gegen 1 Uhr früh geräumt. Es handelte die plumpe und zynische Verteidigung einer Ak- sich um eine Art Überfall. Die wenigen, die Zeu- tion hinaus, die nicht nur klar gegen das verfas- gen der polizeilichen Vorbereitungen wurden, sungsmäßige Recht der Redefreiheit verstieß, zählten „1000 Cops in Kampfausrüstung“ die sich zum „Überraschungsangriff“ bereit mach- 9 Der Hedges-Artikel erschien zuerst am 6.2.2012 auf der Website truthdig.com, Graebers Replik am 9.2. bei ten, wie Questlove, der bekannte Trommler „n+1“. Einen interessanten Vermittlungsversuch unter- der Hiphop-Gruppe „The Roots“, beim Anblick nahm Bhaskar Sunkara am 10.2. in „Dissent“. 11
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY sondern auch Versammlungs- und Pressefrei- richten herauszuhalten. Und die Öffentlichkeit heit verletzte. mit ihrer kurzen Aufmerksamkeitsspanne wand- te sich mittlerweile anderen Themen zu. Zwei Tage später veranstaltete Occupy aus Protest gegen die Räumung und zur Feier des Anfang Januar 2012 wurde Zuccotti Park schließ- zweimonatigen Bestehens der Bewegung einen lich wieder geöffnet, und erneut strömten Hun- Demonstrationszug durch Downtown Man- derte von Protestierern hinein. Die Eigentümer hattan, an dem mindestens 30 000 Menschen des Geländes hatten in Absprache mit der Stadt teilnahmen. Dabei gab es verschiedene Anläu- die neue Benutzungsregel erlassen, dass es im fe zu „Flash“-Besetzungen, aber keiner davon Park nicht gestattet sei, sich hinzulegen oder gelang. Angesichts der Räumung des Zuccotti dort zu schlafen. Zur Durchsetzung dieser Ent- Parks und des heraufziehenden Winters ging scheidung blieb die Polizei weiterhin massiv den verbliebenen Besetzungsaktionen bald die präsent. Zwar kam es zu kleineren Rangeleien, Luft aus. Entweder die Besetzer gaben ihre La- als einige Aktivisten gegen die neuen Regeln ger freiwillig auf, oder die örtliche Polizei zwang verstoßen wollten. Einen organisierten Ver- sie dazu. Oaklands Bürgermeisterin Jean Quan, such, das Gelände erneut massenhaft zu beset- selbst eine frühere Aktivistin, räumte der BBC zen, gab es jedoch nicht. gegenüber später ein, dass sie an einer Tele- fonkonferenz mit den Bürgermeistern von 18 Auch wenn es im Winter nur wenige OWS-Groß- weiteren amerikanischen Städten zwecks Erör- aktionen gab, blieb die Bewegung durchaus terung und Koordinierung der Räumungsvor- nicht tatenlos. Überall im Lande trafen sich Ar- haben teilgenommen hatte.10 beits- und Bezugsgruppen und entwickelten mit geradezu fieberhaftem Eifer Pläne für eine neue Im Dezember 2011 und Anfang Januar 2012 gab Protestwelle im Frühjahr. Trotz der Brutalität der es immer wieder Versuche, Zuccotti Park und Räumungsaktionen blieb die Bewegung in die- andere Aktionsorte überall in New York und im ser Zeit überaus selbstbewusst. Viele der Orga- ganzen Lande erneut zu besetzen. An den meis- nisatoren hatten seit langem damit gerechnet, ten dieser Vorstöße nahmen jedoch nur relativ dass es schwerfallen werde, groß angelegte Be- wenige Menschen teil, und alle stießen auf so- setzungsaktionen über den Winter zu bringen. fortige Gegenmaßnahmen der Polizei. So wur- Insofern empfand man die Räumungen im No- den rund 50 Personen am 17. Dezember, dem vember weniger als Niederlage denn als eine Art Dreimonats-Jubiläum der ersten Besetzung, und Zwangspause zwischen zwei Entwicklungspha- 68 Personen am 1. Januar im Zuccotti Park fest- sen einer immer noch rasch wachsenden Bewe- genommen. Während Gewaltakte der Polizei in gung. Als es aber Frühling wurde und die media- der Vergangenheit öffentliche Empörung ausge- le Aushungerungstaktik gegenüber Occupy wei- löst und die Bewegung beflügelt hatten, gelang ter anhielt, ließen die Kräfte der Protestgewillten es mit der Taktik, jetzt auch gegen Journalisten nach, und es wuchsen die Zweifel darüber, wie vorzugehen, gewalttätige Einsätze aus den Nach- die nächste OWS-Phase aussehen solle. Wie man auch ohne Besetzungen besetzt Als Datum für das Frühlingserwachen der Oc- 17. März 2012 vorgemerkt, das Halbjahresju- cupy-Bewegung hatte man seit langem den biläum der Zuccotti-Besetzung. Viele Arbeits- 10 Vgl. etwa „Business Insider“, 15.11.2011. gruppen nahmen den Tag zum Ausgangspunkt 12
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY ihrer Protestplanungen für den Sommer. Es genau wie gegenüber anderen Protestbewegun- gab auch eine Reihe ganz beachtlicher Aktio- gen der vergangenen Jahrzehnte. Allgemein und nen, doch zeigte sich wiederum, dass ohne selbst im Urteil vieler Occupy-Anhänger galten das einigende Symbol des besetzten Zuccotti die Aktivitäten des 1. Mai als Enttäuschung. Die Parks die Kräfte der Bewegung zersplitterten. Veranstalter hätten, hieß es, große Erwartungen Keine der Frühjahrsaktionen reichte, was die auf landesweite Generalstreikaktionen geweckt, Größe oder die Anziehungskraft auf die brei- aber letztlich nicht eine einzige Stadt wirklich tere Öffentlichkeit betrifft, an die Proteste der lahmlegen können. Dem Maifeiertag folgte die Herbstmonate 2011 heran. Eher selten wurde Ernüchterung des nächsten Morgens, und die versucht, erneut öffentliche Räume zu beset- Protestierer sahen sich nagenden Zweifeln aus- zen, und zumeist geschah dies nur halbherzig, gesetzt: Was ist bloß los, wenn im Wald ein Baum während die Behörden jedem dieser Versuche umfällt, aber niemand es hört? sofort energisch entgegentraten. Diese polizei- liche Repression – mit Hunderten von Verhaf- Seit diesem 1. Mai ist so gut wie allen Occupy- tungen – ließ keinen Zweifel daran, dass der Aktivisten klar, dass die Bewegung sich wei- Staat eine Wiederholung der Herbstereignisse terentwickeln muss. Erwartungsgemäß führte nicht zulassen werde. Natürlich hatten viele diese Erkenntnis zu unterschiedlichen Schluss- der Organisatoren und Platzbesetzer vor einer folgerungen über die einzuschlagende Rich- solchen Entwicklung gewarnt, doch angesichts tung. Die meisten dieser Ideen spielten aller- der Kakophonie unterschiedlichster Ideen und dings schon seit den Occupy-Anfängen eine Taktiken fiel es allen Beteiligten schwer, sich Rolle und überschneiden einander häufig, was allmählich von der Vorstellung zu lösen, dass ihre Inhalte und ihre jeweilige Anhängerschaft Besetzungsaktionen den Dreh- und Angelpunkt betrifft. der Bewegung bildeten. Irgendwie waren doch alle überrascht und viele konsterniert, weil sie Örtlich besonders gut verwurzelt ist der Gedan- erwartet hatten, Occupy könne einfach wieder ke, sich auf bestimmte Gemeinden und Viertel dort anknüpfen, wo es im November aufgehört zu konzentrieren. In New York gibt es beispiels- hatte. Denn, Hand aufs Herz, was wäre OWS weise Occupy Harlem, Occupy the Bronx und ohne Besetzungen? sogar ein Occupy Sunset Park11, um nur eini- ge aufzuzählen. Jedes Mal sind es überzeugte Am 1. Mai gingen dann wieder in vielen Städ- Aktivisten – in der Regel Anwohner, aber auch ten überall in den Vereinigten Staaten Occu- Helfer aus dem harten Kern der Bewegung –, py-Anhänger auf die Straße. Man hatte an eine die kleinere Platzbesetzungen und pop-up occu- Art Generalstreik im Geiste des international pations dazu benutzen, andere Bewohner des begangenen Maifeiertages der Arbeiterbewe- Viertels aufzuklären und Nachbarschaftshilfe zu gung gedacht. Allein in New York marschierten leisten. So veranstalteten etwa in Sunset Park Zehntausende, Vertreter aller Farben des lin- kürzlich einige Dutzend Aktivisten ein ganztägi- ken Spektrums, stolz und friedlich den ganzen ges town square meeting, bei dem Gratisessen, Broadway hinab. Berichtet wurde allerdings we- Buchgeschenke, eine Malecke für Kinder und nig über die Ereignisse des Tages, nicht einmal eine Theateraufführung zum Thema Rentner- in der New Yorker Lokalpresse, geschweige denn rechte geboten wurden. Abschließend gab es landesweit. Die Mainstream-Medien, die in der eine Demonstration zur Unterstützung eines Vergangenheit Occupy zunächst ignoriert, dann Mietstreiks, mit dem Anwohner, überwiegend problematisiert und schließlich verteufelt hat- 11 Traditionell ein Latino-Viertel in South Brooklyn, das seit ten, hielten inzwischen offenbar Verschweigen einigen Jahren einen starken Zustrom von chinesischen für die geeignetste Taktik im Umgang mit OWS, und ostasiatischen Einwanderern erlebt. 13
ETHAN EARLE EINE KURZE GESCHICHTE VON OCCUPY Latinos, gegen missbräuchliche Praktiken eines die Perversionen des Systems als solchem, wie Vermieters protestierten. man meint, besonders krass sichtbar machen. Dafür zwei Beispiele. Es gab zum einen Versu- Auch eine Reihe problembezogener Kampag- che, zwangsgeräumte Häuser und Wohnungen nen, die über ein bestimmtes Viertel hinausgrei- zurückzufordern, und zum anderen Bemü- fen, aber doch noch regional begrenzt sind, fin- hungen darum, die Bewegung stärker auf Ver- det zunehmende OWS-Unterstützung. Dabei be- schuldungsprobleme zu fokussieren. Im erstge- steht ein Widerstreit zwischen eher reform- oder nannten Fall geht es zwar offenkundig um ganz wahlorientierten Bestrebungen und radikaler konkrete Probleme vor Ort, jedoch verbunden gestimmten Protesten. Die Verfechter der erste- mit der allgemeineren Kritik an einem mit der ren arbeiten oftmals enger mit bestehenden lin- Wirtschaftskrise von 2008 zutage getretenen ken Einrichtungen zusammen, während letztere, schlimmen Trend. Bekanntlich begannen da- die sich mehr gegen ein kaputtes System als mals massenhaft faule Immobilienkredite zu solches richten, die Arbeit innerhalb seiner Insti- platzen, und die Banken setzten seither Arbei- tutionen in der Regel verabscheuen. Ein Beispiel terfamilien in großer Zahl auf die Straße. Occu- dafür, wie die unterschiedlichen Strömungen zu- py Our Homes verknüpft das Thema mit einer sammenkommen können, ist, dass Occupy den umfassenderen Kritik an räuberischen Finanz- Protest gegen das „stop and frisk“ der Stadt New praktiken und der um sich greifenden Obdach- York unterstützte, eine Vorgehensweise, bei der losigkeit, verbunden mit dem Hinweis, dass es hunderttausende Männer, vorwiegend Afroame- in den USA gegenwärtig mehr leer stehende rikaner und Latinos, von der Polizei aufgrund Wohnungen als Obdachlose gibt. rassistischer Vorurteile und ohne triftigen Grund angehalten und durchsucht werden.12 Im zweiten Fall – der Fokussierung der Bewe- gungsenergien auf Verschuldungsprobleme – Wieder andere Bestrebungen sind auf noch handelt es sich um die in vieler Hinsicht aus- komplexere Weise mit bestehenden Commu- greifendste und am wenigsten ortsgebunde- nities und mit der Gesellschaft verflochten. ne unter den Occupy-Aktivitäten der letzten So gab es beispielsweise Bemühungen, Erzeu- Monate. Die Kampagne Strike Debt versucht ger-, Verbraucher- und Arbeiterkooperativen eine ganze Reihe von Verschuldungsproble- zu gründen, auch Zeitbanken, Gartengemein- men zu bündeln: Kreditkartenschulden (in den schaften und Fahrradkollektive, um hier nur ei- USA ungefähr 800 Mrd. Dollar), die Verschul- nige wenige zu nennen. Solche Gruppen sind in dung der Studierenden (in der schockierenden unterschiedlichem Maße gleichzeitig OWS-Aus- Höhe von einer Billion Dollar) und die Immo- gründungen, Teil der sie umgebenden Com- bilienüberschuldung sowie die Bedrohung munity, marktwirtschaftliche Akteure und alle- durch Kredithaie und andere Kräfte (Banken samt Verbündete in einem lockeren Netzwerk, inklusive), die besonderes die Armen ins Vi- welches die Zuccotti-Werte so aufrechterhalten sier nehmen; schließlich auch die kommunale und weiterverbreiten will, dass die Teilnehmer Verschuldung, die überall in Amerika den Ge- selbst weitermachen und zugleich etwas für ihr meindeverwaltungen zu schaffen macht. Mit breiteres soziales Umfeld tun können. dieser Kampagnenorientierung gehen Forde- rungen nach günstigen Umschuldungsformen Es gibt aber auch eine Tendenz zu landesweiten und vollständigem Schuldenerlass einher, Kampagnen gegen bestimmte Missstände, die desgleichen härtere Aktionen wie etwa Schul- denstreiks und andere Maßnahmen, die sich 12 Tatsächlich wurden in New York City 2011 mehr junge schwarze Männer polizeilich durchsucht als in der Stadt gegen die spezifische Rolle bestimmter Institu- überhaupt wohnen (vgl. „Huffington Post“, 15.5.2012). tionen in diesen unterschiedlichen Krisen rich- 14
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