22 Das Küchenfenster. Eine feministische Genealogie - Design HFBK

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22 Das Küchenfenster. Eine feministische Genealogie - Design HFBK
DENKEN ÜBER                                      22
DESIGN

Lisa Marie Zander    Das Küchenfenster.
                     Eine feministische Genealogie

Hamburger Papiere zur Designtheorie
und -forschung an der HFBK Hamburg
22 Das Küchenfenster. Eine feministische Genealogie - Design HFBK
DENKEN ÜBER
                                             DESIGN

                                             Lisa Marie Zander    Das Küchenfenster.
                                                                  Eine feministische Genealogie

Master-Arbeit im Studienschwerpunkt Design

Betreuende Professoren:
Dr. Astrid Mania, Jesko Fezer

Reihenherausgeber:
Jesko Fezer, Dr. Friedrich von Borries
Gestaltungskonzept: Friederike Wolf
Umsetzung: Lisa Marie Zander
Korrekturen: Aline Winchester, Anna Manlig
Druck: Scharlau

material 383-22                              Hamburger Papiere zur Designtheorie
Materialverlag –HFBK, Hamburg 2021           und -forschung an der HFBK Hamburg
Inhalt

„Because architecture belongs to a regime of luxury that exposes itself in order to im-    6                  12
pose an order on society (both visual-aesthetic and rational technical), buildings are
                                                                                           Forschungsskizze   Eins
defined through their exterior surfaces. One speaks of the facade, or even the ‚face‘ of
a building […].“
                                                                                                              Das Kastenfenster
                                                                                                              19. Jahrhundert
Georges Teyssot: A topology of everyday constellations, S.263.

                                                                                                              20
                                                                                                              Zwei
                                                                                                              Das Einfache Fenster
                                                                                                              1900-1945

                                                                                                              30
                                                                                                              Drei
                                                                                                              Das Panoramafenster
                                                                                                              1945-1973

                                                                                                              38
                                                                                                              Vier
                                                                                                              Das bodentiefe Fenster
                                                                                                              1973-2019
Das Küchenfenster.                                                               bung. Das Fenster zur Straße hat einen Adressaten. Es richtet sich in aber auch
                                                                                 an die Öffentlichkeit. Das Fenster dient dem Ausblick aber auch Einblick. […]
Eine feministische Genealogie.
                                                                                 Das private Fenster hingegen ermöglicht, vom Innenraum aus die Außenwelt
                                                                                 zu beobachten.7
                                                                                           In der Architektur wird durch das Gestalten von Schwellenräumen
                                                                                 das Verhältnis zwischen dem Innen und dem Außen definiert: „Schwellen-
                                                                                 räume sind baulichen Schwellen angelagert, d.h. sie können zusammen mit
                                                                                 weiteren raumbildenden Elementen einen wahrnehmbaren Raum aufbauen,
Das Küchenfenster – uns allen bekannt, von vielen bereits geöffnet – liegt       einen Schwellenraum.“8 Treppen vor Eingangstüren, Vordächer vor Fenstern,
zwischen dem Innen und dem Außen. Es bildet einen Schwellenraum zwischen         Terrassen oder besonders tiefe Fensterbänke können diese Schwellenräume zu
Privatem und Öffentlichem. „Während Intimitäten, Familie, Emotionales und        Orten des Verweilens werden lassen. „Der Begriff Schwelle bezieht die Am-
insbesondere die Sexualität dem privaten Bereich zugeordnet werden, fallen       bivalenz zwischen Öffnung und Schließung zusammen mit der Erwartung auf
dem öffentlichen Bereich Politik, (Erwerbs-)Arbeit und das Rationale zu.“1,      das Kommende mit ein.“10 Durch ein Fenster wird der sichtbare Ausschnitt des
so die Geograph*in Valentine Gill. Durch das Fenster hinter dem gekocht,         Inneren festgelegt. Faktoren wie die Nutzung und Ausrichtung des Gebäudes,
organisiert, gegessen, geputzt und sich gekümmert wird, treten die Tätigkeiten   das vorherrschende Klima oder die Lage der Nachbargebäude spielen eine
des Sorgens an das Außen des Gebäudes. Es sei, um in der Architektur die         entscheidende Rolle für die Planung der Fenster.
Geschlechterdifferenz zu dekonstruieren, so die Kunsthistoriker*in Irene                   Wenn architektonische Zeichnungen etwas beschreiben, ist es die
Nierhaus, nach Mechanismen zu fragen, „[…] die unsere zwischenmenschliche        Beziehung der Räume, die durch Elemente wie Wand, Tür, Fenster und Treppe
Realität strukturieren, die Differenz produzieren und damit auch Architektur     geteilt oder zusammengeführt werden.11 Irene Nierhaus nennt die geschlechts-
und Raum geschlechtlich ordnen.“2 Die geschlechtliche Struktur eines Objektes    spezifische Trennung zwischen gesellschaftlichem Außen (Öffentlichkeit) und
sei nicht am Objekt selbst, sondern nur in der jeweiligen Kontextualisierung     dem individuellen Innen (Privatheit) eine vernaturalisierte Konstante der Ge-
ablesbar.3 Um die Machtverhältnisse der bestehenden (Raum-)Ordnungen zu          schlechtergeschichte.12 Damit nimmt sie Bezug auf die gesellschaftliche Kons-
dekonstruieren, bedarf es einer feministischen Perspektive.                      truktion von Geschlecht.13 Es muss also neben der Autorenschaft architektoni-
            Historisch wurde in zwei Begriffe unterschieden: „specularia“ die    scher Zeichnungen in der feministischen Genealogie des Küchenfensters auch
Tätigkeit des Schauens, und „fenestra“ das Loch in der Wand.4 Heute sind         das Verhältnis der vermeintlich voneinander abhängigen Sphären – Innen und
Belüftung, Belichtung, Ausblick, Einblick, Rahmung und der Kontakt zum           Außen – betrachtet werden.
Außen die wesentlichen Funktionsweisen eines Fensters. Seit Ende des 20.                   Insbesondere im städtischen Raum, an den Straßenfassaden der Wohn-
Jahrhunderts, durch die Errungenschaft der Isolierverglasung, erreicht das       häuser, ist das Verhältnis von öffentlich und privat von Bedeutung, da diese perma-
Fenster neue thermische Eigenschaften und kann so auch die Fassade eines         nent der Öffentlichkeit ausgesetzt sind und sich in den oft minimierten Woh-
Hauses bilden.5 Anette Hochberg definiert in ihrer Arbeit Öffnen und Schlie-     nungen das konzentrierte, private Leben abspielt. Das Fenster der Wohnung ist
ßen – Gebäudeöffnungen gestalten und konstruieren: „[...] das Fenster als        das physische Äquivalent für das Verhältnis zwischen Subjekt und Welt. Einem
Auge, durch das wir die Außenwelt betrachten und sich das Innere nach außen      Machtverhältnis zwischen Sehendem und Gesehenem.14 Ausgehend davon ist
zeigt. [...] [Die Fenster] signalisieren Zugänglichkeit und verweisen so auf     es ebenso von Bedeutung sich damit auseinander zu setzten, was das Fenster
etwas Gemeinschaftliches und Öffentliches.“6 Weiter wird die außerordentliche    zeigt, auf was es den Blick lenkt oder von was es den Blick ablenkt.
Rolle des Fensters für das Gebäude wie folgt beschrieben:                                  Die politische Theoretiker*in Hannah Arendt analysiert 1958 den
            Öffnungen ermöglichen oder verhindern die Interaktion zwischen       Begriff der Arbeit in ihrem Werk Vita Activa. Sie unterscheidet, dabei
Innen und Außen. Das in den Außenraum gerichtete Fenster thematisiert die        zwischen Arbeit (unproduktiv/privat) und Herstellen (produktiv/öffentlich).15
Beziehung von privater zur öffentlichen Sphäre, vom Bewohner zur Umge-           Sie folgt dabei Aristoteles‘ Unterscheidung zwischen oikos (Haushalt) und

6                                                                                7
polis (Stadt oder Staat) und sieht in der Zweckbestimmung des Hauses die           der Architektur eingeschrieben sind. Dabei werden Ereignisse, gesellschaftliche
Reproduktion.16 Sie kritisiert die marxistische Theorie, die die Arbeitskraft      Normen, Begebenheiten, technische Errungenschaften und Neuerungen, ohne
als Produkt anerkennt, jedoch ähnlich wie auch Adam Smith die Herstellung          Anspruch auf Vollständigkeit, miteinander verschaltet. Über das Objekt des
der Arbeitskraft, die immaterielle Arbeit aus ihrer Betrachtung ausklammert        Fen­sters untersucht die Arbeit gestalterische Aspekte des Wohnens, Arbeitens
oder abwertet. Weiter bemerkt sie, dass Marx zwar die Natürlichkeit der            und der Dichotomie von öffentlich versus privat. Dabei bezieht sich die Arbeit
Arbeit eines Menschen anerkennt – indem er Arbeit nur im Zusammenhang              überwiegend auf die Entwicklungen im mitteleuropäischen Raum. Ästhetisch
mit Produktivität und der Akkumulation von Wert anerkennt –, jedoch fordert,       kulturelle Manifestationen der jeweiligen Zeitabschnitte werden durch Exkurse
die Menschen von der Arbeit zu befreien.17 Wobei die Reproduktion lediglich        beleuchtet. Einschübe in Form von Erzählungen geben persönliche Perspektiven
andere Produkte wie bspw. Lebensmittel nötig hat, um das Produkt der Ar-           zu einzelnen Aspekten und springen dadurch auch in andere Zeitabschnitte.
beitskraft wiederherzustellen.18 Arendt selbst schreibt zu der Reproduktion der              Die Arbeit beginnt mit dem Kapitel „Das Kastenfenster“ im 19.
Arbeitskraft:                                                                      Jahrhundert, wo im Zuge der Industrialisierung eine Vielzahl an industriellen
          „Denn es ist ja gerade das Kennzeichen der Arbeit, dass sie nichts       Waren und spezialisierten Dienstleistungen für einzelne Haushalte zugänglich
objektiv Greifbares hinterlässt, dass das Resultat ihrer Mühe gleich wieder        gemacht wurden und eine Trennung von Produktion (im Sinne von Erwerbs-
verzehrt wird und sie nur um ein sehr Geringes überdauert. Und dennoch ist         arbeit) und Reproduktion (im Sinne der Hausarbeit) vollzogen wurde. 22 Sie
dieses Mühsal, die so gar nichts Dauerndes zustande bringt, in ihrer Vergeblich-   endet im 21. Jahrhundert mit dem Kapitel „Das bodentiefe Fenster“, in dem
keit von einer unüberbietbaren Dringlichkeit, und ihre Aufgaben gehen allen        sich die Grenze zwischen privat und öffentlich längst nicht mehr durch den
anderen Aufgaben vor, weil von ihr die Erfüllung das Leben selbst abhängt.“19      Schwellenraum des Fensters oder der Tür definieren lässt und in HongKong
          Zum Ende des 20. Jahrhunderts untersuchen feministische                  die Hausmädchen an Sonn- und Feiertagen, aufgrund des Mangels an privaten
Theoretiker*innen wie u.a. Silvia Federici und Dolores Hayden Arbeit als eine      Räumen, ihr (Privat-)Leben auf die Straße verlagern müssen, wenn die „Fami-
weitere vernaturalisierte geschlechterspezifische Konstante, mit der Trennung      lie“ die Wohnung oder das Haus besetzt.23
zwischen entlohnter und reproduktiver Arbeit, sowie deren (Un-)Sichtbarkeit
zum einen auf gesellschaftlich struktureller, aber auch auf räumlicher Ebene. 20
          „Jede gesellschaftliche Epoche schafft sich ihre besondere Wohnweise
als wechselseitigen Zusammenhang von Lebensweise und Gehäuse. Um in
diesem breiten Strom des Wandels einen Halt zu finden, von dem aus oder
auf den hin die Veränderung beschrieben werden können, benötigt man einen
bestimmten Begriff des Gegenstands.“21
          Die Küche im häuslichen Inneren, der Wohnung oder dem Haus, ist
                                                                                   1                                       4                                      7
der Hauptarbeitsort der reproduktiven Arbeit. An der Gestaltung der Küche          Gill Valentine, (Re)negotiating the     Vgl. Rem Koolhaas: Elements: a         Ebd., S. 16.
                                                                                   heterosexual street: Lesbian produc-    series of 15 books accompanying the
im Innenraum der Wohnung und der Analyse selbiger arbeiten zahlreiche              tions of space, in: Nicholas R. Fyfe,   exhibition Elements of Architecture    8
Architekt*innen früh und maßgeblich mit. Jedoch gerade um die Konstruktion         Judith T. Kenny (Hg.): The Urban        at the 2014 Venice Architecture        Till Boettger: Privatsphäre aufbauen
                                                                                   Geography Reader, London 2005,          Biennale, Venedig, 2014.               – in Privatsphäre eintauchen, https://
von Innen und Außen zu analysieren, ist es elementar, nicht nur die Küche als      S. 146-155.                                                                    www.uni-weimar.de/architektur/raum-
                                                                                                                           5                                      gestaltung/archives/184, abgerufen
Ort innerhalb der Wohnung zu beleuchten, sondern die Schnittstelle zwischen        2                                       Vgl. ebd.                              24.01.2021.
Außen und Innen – den Schwellenraum des Küchenfensters. Das Küchenfens-            Irene Nierhaus: Arch6: Raum,
                                                                                   Geschlecht, Architektur, Wien, 1999,    6                                      9
ter ist ebenso relevant für die Fassade der Architektur wie für das Funktionie-    S. 12.                                  Anette Hochberg, Jan-Henrik Hafke,     Ebd.
                                                                                                                           Joachim Raab, Alexander Reichel:
ren der Küche.                                                                     3                                       Öffnen und Schliessen: Fenster,        10
          Durch die historische Betrachtung des Objektes Küchenfenster nähert      Vgl. ebd.                               Türen, Tore, Loggien, Filter, Basel,   A. Hochberg et al.: Öffnen und
                                                                                                                           2010, S. 10.                           Schliessen: Fenster, Türen, Tore,
sich die Arbeit genealogisch Beziehungen, Hierarchien und Ordnungen, die                                                                                          Loggien, Filter, S. 39-

8                                                                                  9
11                                      17                                     23
Vgl. Robin Evans: Translations          Vgl. H. Arendt: Vita activa oder Vom   Vgl. Nina Schuster, Stefan Höhne:
from Drawing to Building and Other      tätigen Leben.                         Stadt der Reproduktion. Einführung
Essays, London, 1997.                                                          in den Themenschwerpunkt, in:
                                        18                                     sub\urban, zeitschrift für kritische
12                                      Vgl. ebd.                              stadtforschung 5 (3), https://doi.
Vgl. I. Nierhaus: Arch6: Raum,                                                 org/10.36900/suburban.v5i3.311,
Geschlecht, Architektur.                19                                     2017, S. 9-22.
                                        Ebd., S. 104.
13
Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen       20
der Geschlechter, Frankfurt am Main,    Vgl. Silvia Federici: Aufstand aus
2018.                                   der Küche: Reproduktionsarbeit im
                                        globalen Kapitalismus und die un-
14                                      vollendete feministische Revolution,
Vgl. Michel Foucault, Walter Seitter:   Münster, 2015; Dolores Hayden:
Überwachen und Strafen: die Geburt      The Grand Domestic Revolution:
des Gefängnisses, Frankfurt am          A History of Feminist Designs for
Main, 2014.                             American Homes, Neighborhoods,
                                        Cambridge, 1983.
                                                                                                                           Forschungsskizze
15                                      21                                                                                 Stand Oktober 2019
Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder    Hartmut Häußermann, Walter Siebel:
Vom tätigen Leben, München Berlin       Soziologie des Wohnens: eine
Zürich, 2016.                           Einführung in Wandel und Ausdiffe-
                                        renzierung des Wohnens, Weinheim,
16                                      2000, S. 13.
Vgl. Dogma, Realism Working
Group: Produktion, Reproduktion,        22
Kooperation: Die Villa von der          Vgl. Michael Andritzky, Gert Selle
‚negativen Utopie‘ zum Gemein-          (Hg): Lernbereich Wohnen: didakt.
schaftshaus, in: Arch+ Nr. 231: The     Sachbuch zur Wohnumwelt vom
Property Issue – Von der Bodenfrage     Kinderzimmer bis zur Stadt: Grund-
und neuen Gemeingütern, Aachen,         lagen, Materialien, Lernbeispiele,
2018, S. 154-173.                       Hamburg, 1979.

10                                                                                                                    11
Eins                                                                                      Ein weiteres Beispiel: In Berliner Mietshäusern gibt es das sogenannte
                                                                                 Berliner Zimmer, das als räumliche Trennung zwischen dem bürgerlichen Teil
Das Kastenfenster
                                                                                 und dem Dienstbot*innen-Teil der Wohnung angeordnet wurde. Die Haus-
19. Jahrhundert                                                                  arbeit wurde so vom Wohnen und der Repräsentation (Empfang von Gästen)
                                                                                 räumlich getrennt. Dabei wurde dem Wohnen und der Repräsentation die öf-
                                                                                 fentliche Frontfassade zugesprochen.28 Diese Differenz von Innen und Außen,
                                                                                 von privat und öffentlich analysiert die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus als
                                                                                 die private Häuslichkeit, die als Gegenstück zum bedrohlichen Außenraum
Das Kastenfenster besteht aus zwei hintereinander liegenden Einfachfenstern 24   konstruiert wurde. Damit einher, so Nierhaus, ginge auch die Naturalisierung
mit einer wandstarken Luftschicht dazwischen. Beide Fenster lassen sich          der Frau im häuslichen Inneren.29 Beate Söntgen argumentiert weiter, es sei als
öffnen. Abhängig davon, wo es geographisch gesehen, eingebaut wurde, lässt       Rahmung die männliche Phantasie, die das Wechselspiel von Zimmer und der
sich das äußere Fenster nach außen öffnen, das innere ebenfalls nach außen,      Weiblichkeit im Inneren zusammenfügt und so konstruiert.30
oder das innere Fenster nach innen. Das „Berliner Kastenfenster“ ermöglicht               Im Zuge der Industrialisierung ziehen viele Menschen in die Stadt,
dadurch, dass sich das innere Fenster nach innen öffnen lässt und das äußere     um in Fabriken zu arbeiten – auch die Arbeiter*innen die sich vorher auf dem
nach außen, dass der Zwischenraum ähnlich einer innen liegenden Fensterbank      Land um die herrschaftliche Hauswirtschaft gekümmert haben. Friedrich
genutzt werden kann. Durch das „Schichten“ der Einfachfenster wurde eine         Engels schreibt in seinem Vorwort zur Lage der arbeitenden Klasse in Eng-
bessere Wärme- und Schalldämmung an den Stellen erreicht, wo sich vorher         land: „Die Zeit worin ein altes Kulturland einen solchen, obendrein durch so
nur ein Loch in der Wand befand. Noch keine Elektrizität in der Küche – d. h.    günstige Umstände beschleunigten Übergang von der Manufaktur und dem
auch keinen Kühlschrank –, nutzen die Menschen den Zwischenraum des              Kleinbetrieb zur großen Industrie macht, ist es auch vorwiegend die Zeit der
Kastenfensters auch zur Kühlung ihrer Speisen. Im 19. Jahrhundert wurde das      Wohnungsnot.“31 Die Struktur der Stadt hält den neuen Anforderungen nicht
Kastenfenster aufgrund dieser Eigenschaften häufig verbaut. Betrachten wir       stand und es müssen zahlreiche neue Straßen und Schienennetze für die Groß-
bspw. heute die Fassaden der oft in Berlin noch gut erhaltenen Kastenfenster,    industrie gebaut werden. So folgert Engels weiter: „In demselben Augenblick,
wirken sie durch die wandstarke Luftschicht zwischen den zwei hintereinander     wo Arbeiter haufenweise zuströmen, werden Arbeiterwohnungen massenweise
liegenden Fenstern distanziert. Durch den hohen Rahmenanteil und die Bre-        eingerissen.“32 Die Analyse von Engels traf auch auf weite Teile der Industrie-
chung des Lichtes zwischen den zwei Glasscheiben, ist kaum zu erahnen was        und Hafenstädte in Deutschland zu. Die menschenverachtenden Zustände der
im Inneren passiert.                                                             Arbeiterviertel, in denen in ‚backtoback‘ Häusern mehrere Familien in Räu-
         Die Anordnung und Gestaltung von Fenstern unterlag in der               men ohne Fenster lebten und zu mehr als 8 Menschen in einem Bett schliefen,33
Architektur des 19. Jahrhunderts vielmehr der Rolle der Unterteilung der         fanden sich auch bspw. in den sogenannten Berliner Mietskasernen oder ande-
Fassade – und somit der Repräsentation des Äußeren des Hauses – als der          ren Arbeitervierteln in Deutschland. Wobei die Stadt selbst „so eigentümlich
Rolle des ablesbaren Inneren. Sie stellten vielmehr ein bautechnisches           gebaut sei“, dass man jahrelang in ihr wohnen und täglich hinein- und heraus-
Problem dar, „welches es zu lösen galt um stilistische Anforderungen der         gehen kann, ohne je in ein Arbeiterviertel oder nur mit Arbeitern in Berührung
Fassade zu erfüllen.“ 25                                                         zu kommen.“34 Die Mietskaserne bestand nicht aus einzelnen Wohnungen,
         Der Architekt Andrea Palladio schrieb 1570 in den Vier Büchern der      sondern aus langen Fluren mit Zimmern auf der einen Seite und Zimmern und
Architektur eine Ordnung von Räumen vor, nach welcher die nützlichen Räu-        Küchen auf der anderen Seite.35 Die Mietskasernen sollten eigentlich in einer
me in die nicht sichtbaren Teile des Hauses gelegt werden sollten – ihnen wur-   sozialen Mischung belegt werden, jedoch wurden zumeist die Wohnungen
de die Eigenschaft zugeschrieben hässlich zu sein.26 So lag noch im 19. Jahr-    in speziellen Vierteln mehrfach durch Arbeiterfamilien belegt. Eine Familie
hundert die Küche in herrschaftlichen Anwesen oder bürgerlichen Wohnungen        bewohnte zumeist ein bis zwei Zimmer, das zweite Zimmer war oft die Küche,
zumeist im Souterrain, im Keller oder im hinteren Flügel des Mietshauses.27      die auch gleichzeitig die gesamte Wohnung mit Licht und Wärme versorgte36

12                                                                               13
Einschub Let´s Play House:                                             zu (re)produzieren. Eine Abhängigkeit, die die Architekt*in Dolores Hayden
Das Foto zeigt meinen fünften Geburtstag 1997, an dem ich passend zu Barbie      in der gebauten Architektur untersucht, wie beispielsweise dem American
und Ken das Barbie Dream House geschenkt bekommen habe. Das erste                Dream – dem Einfamilienhaus im Grünen. Sie beschreibt die strukturellen
Barbie Dream House kam 1962 auf den Markt, es ist ein Studio Appartement         Hierarchien im gebauten Raum und zeigt, mit beispielsweise den Materiellen
für die Barbie Puppe. Mit einem Kleiderschrank inklusive Schminktisch, im        Feminist*innen Gegenbewegungen auf. Diese waren davon überzeugt, dass
Wohnzimmer eine passende Anrichte für den Fernseher. Fünf Jahre später hat       Frauen feministische Haushalte mit sozialisierter Hausarbeit und Kinder-
das Barbie Dream House die Gestalt eines Einfamilienhauses im Grünen ange-       betreuung schaffen müssen, bevor sie wirklich gleichwertige Mitglieder der
nommen. Passend zu dem Barbie Glam Cabrio oder dem Barbie Glam Conver-           Gesellschaft werden können.40 Eine der Materiellen Feminist*innen, Melusina
tible hat das Barbie Dream House jetzt auch eine Küche, ein Badezimmer, ein      Fay Pierce, veröffentlichte 1868 das Buch Co-operative House Keeping - how
Schlafzimmer, zwei Kinderzimmer und ein großes Ankleidezimmer mit Fahr-          not to do it and how to do it.
stuhl. In einem Werbesong von 1982 tönt es: „Barbie Girls love to decorate“.37             Darin beschreibt sie eine Neuordnung des Häuslichen, eine Soziali-
Dieses Modell gibt es bis heute in gängigen Spielwarenläden zu kaufen.           sierung der Hausarbeit.41 Alternativen zu den Arbeiterwohnungen in der Stadt
                                                                                 oder der herrschaftlichen Hauswirtschaft sollte 1870 die sogenannte Housing
                                                      Mein fünfter Geburtstag
                                                      Oktober 1997
                                                                                 Cooperative bilden, die von Pierce in Boston gegründet wurde, um sich die
                                                                                 Produktion von Essen, das Kümmern um die Kinder sowie das Wäsche
                                                                                 waschen zu teilen. Da die Kooperative jedoch keine Größe erreichte mit der
                                                                                 dieses Modell wirtschaftlich werden konnte, scheiterte das Projekt.42 Trotz
                                                                                 alledem wurden mehrfach Häuserkomplexe und Wohnmodelle entworfen,
                                                                                 die auf die Zentralisierung der Hausarbeit setzten. Eines der bekanntesten
                                                                                 gebauten Beispiele für eine solche Sozialisierung der Hausarbeit ist die Fami-
                                                                                 listère 1859 von dem sozialistischen Utopist Jean-Baptiste André Godin. Die
                                                                                 Architektur baut auf den ideellen Vorstellungen von Charles Fourier43 auf und
                                                                                 wird zu einem Palast der arbeitenden Klasse. Er besteht aus 465 Wohnungen.
                                                                                 Neben der zu der Zeit hervorragenden technischen Versorgung der einzelnen
                                                                                 Wohnungen, fanden sich dort innovative gemeinschaftliche Einrichtungen für
         Dem Mann wird das Außen, das Politische, das Rationale, das             die Kindererziehung sowie Großküchen- und Wäschehäuser.44
Arbeiten zugeordnet; der Frau das Private, das Innere, das Kümmern um die                  Nicht nur sozialistische Utopisten kamen Ende des 19. Jahrhunderts
Reproduktion der Arbeitskraft.38 Feministische Theoretiker*innen analysieren     auf die Idee, eigene Siedlungen für Arbeiter*innen zu bauen. Einige Fabri-
im 20. Jahrhundert, wie sich das kapitalistische System auf dem Prinzip der      kanten erkannten, dass die Ware Arbeitskraft kein unerschöpfliches Gut war.
nicht entlohnten Hausarbeit und der damit einhergehenden Ausbeutung der          Sie zogen mit ihren Fabriken in ländlichere Regionen oder an die Ränder der
Frau aufbaut. Silvia Federici analysiert diesen Prozess im Zusammenhang          Städte und errichteten dort ganze Wohnsiedlungen bis hin zu kleinen Städten,
mit dem globalen kapitalistischen System. Laut Federici ist die reproduktive     um die Arbeiter*innen und ihre Familien an das Unternehmen zu binden.45
Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft nicht deshalb unsichtbar, weil sie   Diese Entwicklung machte die Arbeiter*innen auf eine paternalistische Art
nicht produktiv ist, sondern weil diese Arbeit nicht entlohnt wird. Denn in      und Weise abhängig von dem Unternehmen.
einer Gesellschaft, in der Arbeit und Lohn synonym geworden seien, würden
nicht entlohnte häusliche Tätigkeiten vom ökonomischen Standpunkt aus                     Exkurs Friedrich, Monet, Ancher:
unsichtbar.39 Weiter beschreibt sie die Abhängigkeit des Systems von dem         In der Malerei des 19. Jahrhunderts ist die Zuordnung der Frau im Innen
Modell der heteronormativen Kernfamilie, um die Arbeitskraft im häuslichen       deutlich abzulesen. In dem Bild Frau am Fenster zeigt Caspar David Friedrich

14                                                                               15
seine Frau an einem Fenster. Sie blickt, gerade groß genug, um über die hohe              Zu den Funktionsweisen des Fensters gehörten im 19. Jahrhundert
Fensterbrüstung zu schauen, hinaus. Sie lehnt sich nicht aus dem Fenster.        ebenso die Belüftung, wie auch die Belichtung.46 Daher wurde auch die Arbeit
Es macht den Eindruck, als würde sie aus gewahrter Distanz nach draußen          in der Küche im 19. Jahrhundert am Fenster verrichtet. Aus hygienischen
Blicken. Das Fenster hat im unteren Drittel und im Öffnungsflügel kein Glas,     Gründen brauchte die Herrichtung der Speisen Tageslicht, um Verdorbenes
sondern eine geschlossene Holzfläche. Erst die oberen zwei Drittel sind aus      von Gutem zu trennen. Gleichzeitig hielten die kühlen Temperaturen nahe des
Glas und lassen Licht in den Raum. Die Frau am Fenster muss den mittleren        Fensters die Lebensmittel frisch.47
Flügel der Holzfläche öffnen, um überhaupt in das Außen schauen zu können.
In dem Bild Das Frühstück von Claude Monet tritt das Außen auf eine andere
Art und Weise in das Innen. Das Bild zeigt drei Frauen und ein Kind am Früh-
stückstisch. Eine Frau arbeitet im Hintergrund, eine andere sorgt am Tisch für
das Kind, eine weitere lehnt mit dem Rücken zum zugehängten Fenster. Das
Außen taucht in Form einerzugeklappten Zeitung am Tischrand auf, welche          24                                       31                                     40
                                                                                 Einfachfenster besitzen Fensterflügel    Friedrich Engels, Reinhold Martin,     Vgl. D. Hayden: The Grand Domestic
neben dem gedeckten Teller des leeren Stuhls liegt. Mit dem Gegenstand Zei-      nur in einer Ebene und können mit        Neil Smith: Zur Wohnungsfrage,         Revolution: A History of Feminist
tung deutet Monet an, dass es nur dem Mann gestattet ist, das politische und     einer einfachen Verglasung oder,         Leipzig, 2015, S. 2.                   Designs for American Homes,
                                                                                 wie heute häufig anzutreffen, mit                                               Neighborhoods.
tagesaktuelle Geschehen mit an den Tisch zu bringen. Nur ihm ist es gestattet,   einer mehrfachen Isolierverglasung       32
                                                                                 ausgestattet sein. Bei dieser Fenster-   Ebd. S. 3.                             41
sich und andere darüber zu informieren. Das erste Bild, das eine Frau in der     konstruktion sind grundsätzlich alle                                            Vgl. ebd.
Küche zeigt, entstand um 1883 durch die Maler*in Anna Ancher und trägt den       Öffnungsarten uneingeschränkt mög-       33
                                                                                 lich. Vgl. https://www.baunetzwissen.    Vgl. J. Posener: Vorlesungen zur       42
Titel Das Mädchen in der Küche. Das Mädchen in der Küche arbeitet, dem*der       de/fenster-und-tueren/fachwissen/        Geschichte der Neuen Architektur.      Vgl. ebd.
                                                                                 fenster--tuerarten/einfachfens-          Bd. 2.
Betrachter*in den Rücken zugekehrt, an einem zu zwei Drittel zugehängten         ter-155135, abgerufen: 17.03.2020.
Fenster. Das Fenster ist gerade so hoch zugehängt, dass die Frau die dahinter                                             34                                     43
                                                                                 25                                       Engels,. Die Lage der Arbeitenden      Charles Fourier war ebenfalls ein
arbeitet von außen nicht sichtbar ist, aber noch Tageslicht ins Innere kommt.    Christina Leitner: Wohnbau am            Klasse in England. in:Marx, Engels,    sozialistischer Utopist und entwarf
                                                                                 Wienfluss. Die räumliche Wirkung         und Scheibler, Werke. Bd. 2. S.278.    zuvor die Phalanstére nach sozialisti-
Der steinerne Fußboden sowie der aufgesetzte Türrahmen deuten darauf hin,        des Fensters in Gründerzeitfassaden                                             schen Grundsätzen. Vgl. J. Posener:
dass es sich in dem Bild um ein Keller-, Erd-, oder Untergeschoss handelt.       im Vergleich zum Zeitgenössischen        35                                     Vorlesungen zur Geschichte der
                                                                                 Wohnungsbau in Wien, Wien, 2016,         Vgl. J. Posener: Vorlesungen zur       Neuen Architektur. Bd. 2.
                                                                                 S. 37.                                   Geschichte der Neuen Architektur.
                                                      Mädchen in der Küche:
                                                                                                                          Bd. 2.                                 44
                                                      Anna Ancher, 1883.
                                                                                 26                                                                              Vgl. D. Hayden: The Grand Domestic
                                                                                 Vgl. Andrea Palladio: Die vier Bücher    36                                     Revolution: A History of Feminist
                                                                                 zur Architektur, Berlin, 1993.           Vgl. ebd.                              Designs for American Homes,
                                                                                                                                                                 Neighborhoods.
                                                                                 27
                                                                                 Vgl. Julius Posener: Vorlesungen zur     37                                     45
                                                                                 Geschichte der Neuen Architektur.        Vgl. Barbie dream House Commer-        Vgl. Siedlung Alfredshof der Firma
                                                                                 Bd. 2, Aachen, 2013.                     cial, 1996.                            Krupp, 1891 in Essen.

                                                                                 28                                                                              46
                                                                                 Vgl. ebd.                                38                                     Vgl. Georges Teyssot: A topology
                                                                                                                          Vgl. I. Nierhaus: Arch6: Raum,         of everyday constellations. Writing
                                                                                 29                                       Geschlecht, Architektur.               architecture. Cambridge, 2013.
                                                                                 Vgl. I. Nierhaus: Arch6: Raum,
                                                                                 Geschlecht, Architektur.                 39                                     47
                                                                                                                          S. Federici: Aufstand aus der Küche:   Vgl. Elfie Miklautz, Herbert Lach-
                                                                                 30                                       Reproduktionsarbeit im globalen        mayer, Reinhard Eisendle (Hg.):
                                                                                 Vgl. Sabine Schulze, Christoph Asen-     Kapitalismus und die unvollendete      Die Küche: zur Geschichte eines
                                                                                 dorf, Städelsches Kunstinstitut (Hg.):   feministische Revolution, S. 40.       architektonischen, sozialen und
                                                                                 Innenleben: die Kunst des Interieurs ;                                          imaginativen Raums, Wien, 1999.
                                                                                 Vermeer bis Kabakov , Ostfildern-
                                                                                 Ruit, 1998.

16                                                                               17
Diagram of four block kitchen
                                             houses: Beth Ganister, based on
                                             description by Melusina Fay Peirce,
                                             1868 USA.

     Haus Behrens: Behrens, Darmstadt
     1901.

                                             Child care at Social Palace, Guise,as
                                             shown in Haoper´s Monthly, 1872.

18                                      19
Zwei                                                                               beschreibt den Richtungswechsel so: „Die Pioniere unter den modernen Ar-
                                                                                   chitekten haben mit der alten dekorativen Auffassung ihres Berufes gründlich
Das einfache Fenster
                                                                                   gebrochen und eingesehen, dass sie den Städten und Behausungen nur in enger
1900-1945                                                                          Fühlung mit den Fortschritten der Technik und der Wirtschaft die wahre, unse-
                                                                                   rer Zeit würdige, ökonomische Gestalt geben können.“53
                                                                                             Alternative Modelle, wie das von der Materiellen Feminist*in Lily
                                                                                   Braun entworfene Einküchenhaus, wurden durch das Neubauprogramm end-
                                                                                   gültig in den Hintergrund gedrängt. Das erste Modell eines Einküchenhauses
Die Wohnverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen vor allem im           entstand 1909 am Rand von Berlin durch die privatwirtschaftlich orientierte
Schatten der katastrophalen Zustände der zur Miete wohnenden, arbeitenden          Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte.54 Braun beschreibt ihr
Bevölkerung in den Großstädten Deutschlands. Der politische Umbruch des            Konzept folgendermaßen: Solch eine Einrichtung ist die Wirtschaftsgenossen-
20. Jahrhunderts und die damit einhergehende vermehrte Bildung von Gewerk-         schaft. Ich stelle mir ihr äußeres Bild folgendermaßen vor, in einem Häuser-
schaften, veranlasste die Mächtigen, sich um bessere Arbeitsbedingungen, aber      komplex, das einen großen hübsch bepflanzten Garten umschließt, befinden
auch einer Lösung der Wohnungsnot zu kümmern.                                      sich etwa 50 bis 60 Wohnungen, von denen keine eine Küche enthält.55 Zentrale
          Jedem Deutschen eine gesunde Wohnung48 wurde auch in der Weima-          Großküchen- und Wäschehäuser sollten es ermöglichen, gemeinsam unter der
rer Verfassung von 1919 festgehalten. So entstand eines der ersten, groß auf-      Anleitung einer*eines erfahrenen Hauswirtschafters*in die Hauswirtschaft zu
gelegten Neubauprogramme für Sozialwohnungen in Deutschland. Unter dem             erledigen.56 Ein zentraler Esssaal, „der zu gleicher Zeit Versammlungsraum
Titel Neues Bauen sollte, durch eine rationalisierte und typisierte Architektur,   und tagsüber Spielzimmer der Kinder sein kann“57, sollte nahe dieser zentralen
schnell preiswerter Wohnraum entstehen.49                                          Einrichtungen liegen. Dieses Modell sprach jedoch hauptsächlich die gehobene
Mit neuen Materialien entstanden die ersten Wohnungsbauten mit genorm-             Mittelklasse an, die eine komfortable Alternative zum städtischen Mietshaus
ten Fertigteilen. Räumliche Anforderungen wurden auf Grundbedürfnisse              suchte, und löste damit nicht die Wohnungsnot der breiten Bevölkerung.58
rationalisiert und auf kleinem Raum gestaltet.50 Jeder Arbeiterfamilie sollte                Eine parallele Entwicklung zu der Zeit war auch das Bauhaus unter
eine eigene Wohnung mit eigener Küche, eigenem Bad, Wohn-, Schlaf- und             der Leitung von Walter Gropius.59 Markant für die Gestaltung der Küche, oder
Kinderzimmer zu einer gesünderen Lebensweise verhelfen. Eines der Beispiele        besser eines Fensters der Küche, ist die Durchreiche von Walter Gropius von
dieses Neubauprogramms ist die Hufeisensiedlung in Berlin Britz von dem Ar-        1928. Mit dieser wurden zwar Wohn- und Essbereich nicht gänzlich funktional
chitekten Bruno Taut. Ein dreigeschossiger Wohnungsbau mit rotem Backstein         voneinander getrennt, jedoch ästhetisch-räumlich. Er entwarf eine Wand
und relativ kleinen Holzfenstern.51                                                zwischen Küche und Esszimmer, mit einer kleinen, 80 mal 30 Zentimeter
          Wobei durch die Anordnung um einen bestehenden Teich die Rücksei-        großen Öffnung mit Schiebeklappe, durch welche die fertigen Speisen in das
te beziehungsweise der Hof der Häuser eine besondere Qualität zugesprochen         Esszimmer gereicht werden konnten. Von der Seite des Esszimmers funktio-
bekommt. Die Küchen lagen zumeist neben dem Eingang. Der Architektur des           nierte diese Wand wie ein Schrank mit Geschirr und Besteck, um den Tisch zu
Neuen Bauens wird eine neue Sachlichkeit zugesprochen, durch die Reduk-            decken; die Schiebeklappe, die die Öffnung zur Küche darstellte, verschwand
tion auf klare Linien und den Verzicht auf Dekoratives. Die rationalisierten       gestalterisch gänzlich im Gesamtbild des Schranks.
Wohngrundrisse hatten außerdem zur Folge, dass das Wäschewaschen nicht                       1904 entwickelt der belgische Industrielle Émile Fourcault das nach
mehr im eigenen Haus verrichtet werden konnte. Die Siedlungsbauten richteten       ihm benannte Fourcault-Verfahren. Ein Ziehglas-Verfahren, das es ermöglich-
daher zentrale Waschhäuser ein. Die technischen Vorzüge wurden durchaus            te, Glasscheiben wesentlich wirtschaftlicher und schneller zu produzieren als
geschätzt, jedoch durften in diese zentrale Anlagen weder Männer noch kleine       zuvor. Bis zu dieser Erfindung wurde Flachglas entweder gegossen, gewalzt
Kinder eintreten, was die Frauen vor neue Herausforderungen stellte.52 Ernst       oder durch das Zylinderblasverfahren hergestellt. Dafür wurden Sand, Soda
May bezeichnet sich selbst als einen der Pioniere des Neuen Bauens und             und Kalk bei 1400 Grad zu einer Glasmasse geschmolzen, die entweder

20                                                                                 21
gewalzt, gegossen oder mundgeblasen zu einem Flachglas verarbeitet wurde.        und in Serie gefertigt. Es entstanden die ersten Einbauküchen, deren Maße
Alle Verfahren zuvor erforderten einen hohen körperlichen Einsatz und,           und Anordnung auf idealen, rationalisierten Arbeitsabläufen basierten.64 Die
um die gewünschten Dicken zu erreichen, viel Zeit um das Glas zu polieren        amerikanische Sozialarbeiter*in Catherine Beecher entwarf 1869 eine Ideal-
beziehungsweise zu schleifen. Erst das Fourcault-Verfahren ermöglichte es,       küche, die, da für sie unvereinbar mit dem demokratischen Gleichheitsprinzip,
durch ein maschinelles Zieh-Verfahren, schnell und effizient Glasscheiben        auf Dienstbot*innen verzichtete und dafür auf eine „Kooperation aller
zu produzieren. Über ein Rollband wurde die Glasmasse längs aus dem Ofen         Familienmitglieder und eine bessere Organisation der Arbeits- und Raumver-
gezogen und Stück für Stück abgekühlt. So entstand direkt eine flache Glas-      hältnisse“65 setzte. Christine Frederick hielt in ihrem Buch The New House-
scheibe, die anschließend – ähnlich den Verfahren zuvor, aber mit deutlich       keeping Efficiency Studies in Home Management 1913 zum ersten Mal solche
weniger Aufwand – poliert und geschliffen wurde. Durch die Regulierung           rationalisierten Arbeitsabläufe in der Küche fest, 1921 wurde ihre Arbeit ins
der Geschwindigkeit beim Ziehen aus dem heißen Ofen konnte die Dicke des         Deutsche übersetzt.66
Flachglases reguliert werden. Nicht zu vermeiden waren aber Wellen in den                  Es wurden Frauen zu Rate gezogen, wenn es um die Detailplanung
Glasscheiben.60 Bis in die 50er Jahre wurde Flachglas für Fensterscheiben mit    der (Einbau-)Küchen ging. Die Architekt*in Margarete Schütte-Lihotzky
diesem Verfahren hergestellt.                                                    entwickelte den ersten rationalisierten Entwurf einer Küche 1926 – sie ist
Durch die industrielle Herstellung von Glas und die Entwicklung des neuen        später als Frankfurter Küche bekannt. Die technische Zeichnung dieser besteht
Baumaterials Stahlbeton wurden größere Wandöffnungen auch im Wohnungs-           aus drei Projektionen des Grundrisses: Der Schrankwand, der Herdwand und
bau möglich. Es entwickelten sich die ersten Erker.61                            der Fensterwand. Die einzelnen Zeichnungen dienten der Vermittlung des
                                                                                 Grundrisses, da dieser nicht ausreichte um alle Bauteile der Frankfurter Küche
          Exkurs La strada entra nella Cassa:                                    zu beschreiben. Da die rationalisierte Küche wie eine Art Werkstatt gestaltet
Der futuristische Maler Umberto Boccioni zeichnet in seinem Bild „Die Straße     ist und demnach auch mit einer Raumorganisation an der Wand arbeitet, nutzte
dringt ins Haus“ eine Szene, die sich auf dem Balkon eines Hauses in Mailand     Schütte-Lihotzky, anders als in regulären architektonischen Grundrissen, also
abspielt, inspiriert von der rasanten Industrialisierung seines Wohnortes. Die   auch die Wandansichten, um die Küche darzustellen.
Person, eine Frau, steht auf einem Balkon mit dem Rücken zur Betrachter*in                 Die 1,90 Meter breite Fensterwand besteht zu etwa drei Vierteln aus
und führt sie in die Tiefe des Bildes. Die Frau verfolgt das Geschehen auf der   dem auf zirka einem Meter Höhe angeordneten Fenster, welches zweiflügelig
Straße vor dem Haus, ganz anders als noch die Frau am Fenster von Caspar         als Sprossenfenster ausgebildet ist. Auf Fotos der fertiggestellten Küche ist ein
David Friedrich, scheint sie sich über die Balkonbrüstung förmlich in den        transluzenter Vorhang vor dem Fenster zu erkennen, durch den hochstehendes
öffentlichen Raum zu beugen. Die anderen Häuser rund um die Straßen beugen       Tageslicht flutet. Die Wand ist bis an den Fensterrahmen gefliest. Unterhalb
sich ebenfalls in die Mitte des Bildes. Sie scheinen fast umzustürzen. Auf       des Fensters befindet sich eine Arbeitsplatte (bezeichnet als Arbeitstisch), die,
weiteren Balkonen stehen Frauen und ein etwas älterer Mann und beobachten        im Gegensatz zu den anderen Arbeitsplatten der Küche, keinen Unterschrank
ebenfalls das Geschehen. Auf der Straße finden sich zahlreiche Arbeiter*innen,   hat. Unter der Arbeitsplatte steht ein runder Hocker. Am rechten Rand des
die auf einem Baugerüst arbeiten, Backsteine umherkarren und Gruben mit          Arbeitstisches befindet sich der Abfalleinwurf – eine Schublade aus Formstein,
Schaufeln ausheben. „Die Stadt, so der Eindruck des Betrachters, bricht mit      die durch eine Aussparung in der Arbeitsplatte befüllt und zum Entsorgen
ihren vielfältigen Sinneseindrücken und ihrem Lärm über die Frau herein und      der Abfälle herausgezogen werden kann. Die Küche ist mit Elektrizität und
droht die Privatheit der eigenen vier Wände niederzureißen.“62                   Deckenlampen ausgestattet. Links neben dem Arbeitstisch befindet sich ein
                                                                                 schmaler Speiseschrank. Auf der Zeichnung der Herdwand ist zu erkennen,
         Wohnungen liegt (noch heute) das Ideal des „gesunden“ Wohnens           dass ein ausklappbares Bügelbrett so installiert wurde, dass es sich vor den
zugrunde, welches auf dem Prinzip ‚ein Raum gleich eine Funktion‘ basiert.63     Arbeitstisch und das Fenster klappen lässt. Es wurden Formstein, Buchenholz,
Für die Architektur des Neuen Bauens wurden aufgrund der minimierten             Stahl und Keramik-Fliesen für den Bau der Küche verwendet. Der Fußboden
Raumgrößen auch Inneninstallationen wie beispielsweise Küchen genormt            ist gefliest.67

22                                                                               23
Exkurs Scheibengardine:                                                     ten. Die Frau am Fenster war dagegen kein unübliches Bild.75 Der Fakt, dass
Die Scheibengardine, umgangssprachlich auch Küchen- oder Omagardine,                 Sexarbeiter*innen ihre Kunden durch ein Klopfen an ein Fenster hineinbaten,
wird an den Flügelrahmen (den zu öffnenden Teil) des Fensters angebracht, oft        endete schnell in einer „gendered borderline“76. Diese gendered borderline,
mit Hilfe von eigens dafür hergestellten Plastik- oder Holzprofilen. Sie ist meist   war nun das Wohnungsfenster zur öffentlichen Straße. Frauen hatten sch im
aus transluzentem Stoff und bedeckt das Fenster nur zur Hälfte. Ihr Vorteil:         Inneren aufzuhalten und Männer bewegten sich im Außen. Der Theoretiker*in
der Gardinenstoff benötigt keinen Platz links und rechts neben dem Fenster           Irene Cierdaad folgend, hatte es für eine Frau etwas mit dem Stand in der
und die Gardine bleibt auch im geöffneten Zustand am Fenster. Diese Gardinen         Gesellschaft zu tun, ob sie am Fenster ihres Hauses zu sehen war oder nicht.
wurden zum Einen zum Schutz der Privatsphäre, zum Anderen als Schutz vor             Teilweise wurden sogar Hausmädchen geschickt, um durch ein Fenster auf
direkter Sonneneinstrahlung an die Fenster angebracht.                               die Straße zu schauen, anstatt dies Frauen aus der bürgerlichen Klasse tun zu
                                                                                     lassen.77 Durch diese Politisierung der Frau am Fenster und der „Sittenwidrig-
         Mit der Frankfurter Küche hielt auch die Teilung zwischen Wohn-             keit“ der Prostitution im 20. Jahrhundert entstand auch der Wunsch nach dem
raum und Küche Einzug und machte die Küche zur „Werkstatt der Frau“68.               Verschließen dieser größer gewordenen Fensterflächen. Es entstand ein neues
„Die Verkürzung der Arbeitswege durch ein neues funktionales Design löst die         Berufsfeld: Das Interiordesign. Gardinen beispielsweise waren nicht mehr nur
Hausfrau noch lange nicht von der traditionellen Pflicht, diese Arbeit weiterhin     Teil des alltäglichen Tagesablaufs, sondern konnten auch Teil des Fassaden-
alleine verrichten zu müssen, selbst wenn sie berufstätig ist“69, so Kurator*in      bilds werden.78
Marion von Osten in einer späteren Analyse der Entwicklung der Küche. Be-
sonders die minimalisierte Küche auf fünf bis acht Quadratmetern erschwerte                   Einschub Neufert:
es, dass mehr als eine Person in ihr arbeiten konnte.70 Ein weiterer Grund der       In den ersten Semestern meines Architekturstudiums 2014 wurde jede Woche
räumlichen Trennung war die mangelnde Hygiene, in den bis zu diesem Zeit-            eine Vorlesung von je unterschiedlichen Professor*innen zum Thema Bau-
punkt standardmäßigen Wohnküchen.71                                                  konstruktion gehalten. Sie galten als Grundlage für einen zu entwerfenden
         Die Architektur des Neuen Bauens setzte auf geradliniges sachliches         Holzpavillon, in dem gewohnt werden sollte. Oft wurden dabei Inhalte des
Design. So entstanden oft einfach zu öffnende Fenster in genormten Maßen,            sogenannten Neuferts an die Wand geworfen. „Eine Art Bibel der Bauent-
deren Rahmen überwiegend aus Holz (teilweise bereits aus Kunststoff)                 wurfslehre“, so einer der Professoren. Mit dem Bestreben, wie es im Untertitel
ausgebildet wurden. Durch die, über das Bauen mit Stahlbeton genau einzuhal-         heißt, „Grundlagen, Normen, Vorschriften über Anlage, Bau, Gestaltung,
tenden Öffnungsmaße konnten die Fenster industriell vorgefertigt werden. Sie         Raumbedarf. Raumbeziehungen, Maße für Gebäude, Räume, Einrichtungen,
wurden einfach verglast oder, um eine bessere Wärmedämmung zu erreichen,             Geräte mit Menschen als Maßstab als Maß und Ziel“ zu vermitteln. Ernst
wurden Verbundfenster eingesetzt. Verbundfenster sind zwei sehr dicht anein-         Neufert studierte im Bauhaus und im Jahr 1936 verfasste er die erste Auflage
ander liegende Fensterrahmen mit je einer Einfachverglasung.72                       des Neuferts.81 Darin normierte er Abstände, Höhen, Größen und Dimensionen
         Das Aufkommen innerstädtischer Wohnbebauung mit Läden im                    von Räumen, Bauteilen und Freiräumen. In einer der Vorlesungen erklärte
Erdgeschoss und die industrielle Fertigung großer Glasflächen fördern die Ent-       ein*e Professor*in den Neufert für ungeeignet. Dieser würde an Hand der
wicklung einer großflächig verglasten Erdgeschossfassade. Das Schaufenster           Rockbreite der Hausfrau Abstände von der Badewanne und dem Unterschrank
verbreitete sich.73                                                                  des Waschbeckens messen. Generell würden lediglich Frauen in Küchen oder
         Das Schauen und Ausstellen hinter der Glasscheibe blieb allerdings          im Haushalt bei der Arbeit dargestellt. Dies wäre sexistisch und nicht mehr
nicht lange den Lebens- und Haushaltswaren vorbehalten. Der Schwellenraum            zeitgemäß. Tatsächlich zeigt noch heute die aktuelle Ausgabe des Buches nur
zwischen öffentlich und privat wurde auch zum Ort der Prostitution74, wobei          Menschen mit Kleidern und Röcken, die Sorgetätigkeiten ausführen. Die Höhe
das Fenster als Kontaktfläche genutzt wurde. Durch die gesellschaftliche             der Brüstung des Küchenfensters ist ebenfalls beschrieben: „es ist sinnvoll
Trennung von öffentlich und privat, von Mann und Frau, war es, wie bereits           Fensterbrüstungen in ausreichendem Abstand zur Arbeitsfläche festzulegen,
beschrieben, für eine Frau nicht üblich, sich im öffentlichen Raum aufzuhal-         um ein Abräumen der Flächen zum Öffnen der Fenster zu vermeiden.“79 Die

24                                                                                   25
Zeichnung zeigt ein Fenster auf eineinhalb Meter Höhe, so hoch, dass die
dahinter gezeichnete Frau gerade noch herausschauen kann. Bis heute wurde
der Neufert in 16 Sprachen übersetzt und veröffentlicht.80

Neufert Bauentwurfslehre: Neufert,                                          Hufeisensiedlung, Foto: Unbekannt
Berlin 2014, S.310.                                                         ,Berlin 1930.

26                                                                          27
48                                     61                                     73
                                    Vgl. Reinhard Sturm: Die Weimarer      Paul, https://www.bpb.de/geschichte/   „Im Jahr 1901 entwickelte das
                                    Verfassung, bpb.de, https://www.bpb.   zeitgeschichte/sound-des-jahrhun-      Reichsgericht eine Definition für
                                    de/geschichte/deutsche-geschichte/     derts/209610/sound-der-moderne-        das ‚Anstandsgefühl aller billig und
                                    grundgesetz-und-parlamentarischer-     im-futurismus                          gerecht Denkenden‘, Prostitution
                                    rat/39193/weimarer-verfassung,                                                war fortan sittenwidrig, das Bordell
                                    2020.                                  62                                     war Ort der Unzucht. Prostituierte,
                                                                           Vgl. E. Miklautz, H. Lachmayer,        das waren Gestalten der ‚Halbwelt‘,
                                    49                                     R. Eisendle (Hg.): Die Küche: zur      die im Untergrund ihren Geschäften
                                    Vgl. Ernst May: Das Neue Frankfurt     Geschichte eines architektonischen,    nachgingen. Prostitution passte nicht
                                    Heft 4, Frankfurt, 1928.               sozialen und imaginativen Raums,       in eine tugendhafte, aufgeklärte
                                                                           Wien.                                  Gesellschaft.“ […] „Heute etabliert
                                    50                                                                            sich mehr und mehr der Begriff der
                                    Vgl. Barbara Orland: HaushaltsTräu-    63                                     Sexarbeit. Wir wünschen uns, dass
                                    me - Ein Jahrhundert Technisierung     Vgl. B. Orland: HaushaltsTräume -      unsere Arbeit in der Gesellschaft
                                    und Rationalisierung im Haushalt,      Ein Jahrhundert Technisierung und      als ein wertvoller und wichtiger
                                    Königstein im Taunus, 1990.            Rationalisierung im Haushalt.          Teil der Care-Arbeit anerkannt
                                                                                                                  wird, dass zukünftig mehr Frauen
                                    51                                     64                                     unsere Dienstleistungen in Anspruch
                                    Vgl. J. Posener, W. Schäche: Vorle-    Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky, Die   nehmen, dass wir mit Stolz sagen
                                    sungen zur Geschichte der Neuen        Frankfurter Küche.                     können, ‚ich bin Sexarbeiter*in‘,
                                    Architektur. Bd. 2.                                                           wenn wir im Smalltalk nach unserem
                                                                           65                                     Beruf gefragt werden.“ Berufsbild –
                                    52                                     Vgl. B. Orland: HaushaltsTräume -      BesD e.V. Berufsverband Sexarbei“:
                                    Vgl. B. Orland: HaushaltsTräume        Ein Jahrhundert Technisierung und      Sexualität: Prostitution, https://www.
                                    - Ein Jahrhundert Technisierung        Rationalisierung im Haushalt, S.68.    planet-wissen.de/gesellschaft/se-
                                    und Rationalisierung im Haushalt,                                             xualitaet/prostitution_die_geschich-
                                    Königstein im Taunus, 1990.            66                                     te_der_kaeuflichen_liebe/index.html.,
                                                                           Vgl. M. Schütte-Lihotzky, Die Frank-   abgerufen 27. November 2018.
                                    53                                     furter Küche.
                                    E. May: Das Neue Frankfurt Heft
                                    4, S.25.                               67                                     74
                                                                           B. Orland: HaushaltsTräume - Ein       Siehe hierzu „Exkurs Friedrich, Mo-
                                    54                                     Jahrhundert Technisierung und Rati-    net, Ancher“ in vorliegender Arbeit.
                                    B. Orland: HaushaltsTräume - Ein       onalisierung im Haushalt, S.68.
                                    Jahrhundert Technisierung und Rati-                                           75
                                    onalisierung im Haushalt, S.65.        68                                     Vgl. I. Cieraad (Hg.): At home: an
                                                                           Klaus Spechtenhauser (Hg.): Die        anthropology of domestic space,
                                    55                                     Küche: Lebenswelt, Nutzung, Pers-      Syracuse.
                                    Ebd. S.65.                             pektiven, Basel, 2006.
                                                                                                                  76
                                    56                                     69                                     Vgl. ebd.
                                    Vgl. ebd.                              Vgl. ebd.
                                                                                                                  77
                                    57                                     70                                     Vgl. R. Koolhaas: Elements: a series
                                    Ebd. S.65.                             Vgl. E. May: Das Neue Frankfurt        of 15 books accompanying the exhi-
                                                                           Heft 4.                                bition Elements of Architecture at the
                                    58                                                                            2014 Venice Architecture Biennale.
Frankfurter Küche, Foto: Stadt
                                    Vgl. ebd.                              71                                     78
Frankfurt am Main, 1926 Frankfurt
                                                                           Vgl. ebd.                              Vgl. Weresch, Male and female
am Main.
                                    59                                                                            perception of environment and diffe-
                                    Vgl. C. Leitner: Wohnbau am            72                                     rences of design due to the process
                                    Wienfluss. Die räumliche Wirkung       Vgl. Irene Cieraad (Hg.): At home:     of socialisation
                                    des Fensters in Gründerzeitfassaden    an anthropology of domestic space,
                                    im Vergleich zum Zeitgenössischen      Syracuse, 1999.                        79
                                    Wohnungsbau in Wien.                                                          Ernst Neufert, Johannes Kister:
                                                                                                                  Bauentwurfslehre, 40., überarb. und
                                    60                                                                            aktualisierte Aufl., Wiesbaden, 2012,
                                    Vgl. ebd.                                                                     S. 108.

                                                                                                                  80
                                                                                                                  Vgl. Ebd., S. 81.

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Drei                                                                              auch Einfamilienhäuser mit dezentralisierten Einkaufs- und Geschäftsmöglich-
                                                                                  keiten außerhalb der Stadt. Die Planung der autogerechten Stadt dominiert den
Das Panoramafenster
                                                                                  Wiederaufbau.84
1945-1973
                                                                                            Exkurs: Dr. Oetker:
                                                                                  Ein Mann in einem Anzug mit breiten Schulterpolstern und einer eng gebun-
                                                                                  denen Krawatte tanzt mit einer Frau, die einen schwarzen hochsitzenden Rock
                                                                                  trägt und eine weiße Bluse mit weiten Ärmeln und einem hohen Kragen. Sie
Charlotte Perriand, eine französische Architektin und Möbeldesignerin,            lächeln sich gegenseitig an und tanzen eine Standardformation. Weitere Hete-
entwarf die Küche der Unité d´habitation in Marseille.81 Ein Stahlbetonbau,       ropaare tanzen miteinander auf der im Bild zu sehenden Terasse. Eine blonde
der mit seinen 18 Geschossen und 337 Apartments (als Maisonettewohnungen)         Frau mit perfekt sitzender Frisur und einem weiten, hochsitzenden Rock stürmt
eine Antwort auf die Wohnraumknappheit nach dem zweiten Weltkrieg suchte.         ins Bild und drängt die Frau aus den Armen des Mannes. Dabei schimpft sie
1952 entsteht die aus Sperrholz und Aluminium gebaute, minimalisierte Ein-        mit ihr und mit ihm und zieht ihn auf kurzem Weg von der Tanzfläche. Aus
bauküche mit einer Neuinterpretation der Durchreiche. Perriands Einbauküche       dem ‚Off‘ ertönt eine helle freundliche Männerstimme „Dieses Jahr gibt es
steht wie ein halb geschlossener Kubus in der Wohnung. Anstatt Küche und          wieder zwei Möglichkeiten, entweder ist er frei oder vergeben.“ Kurz danach
Wohnbereich durch solide Wände voneinander abzugrenzen, installiert sie ein       wieder aus dem ‚Off‘: „Wenn er wieder frei ist, wird er endlich gebunden.“ Die
Möbel an dessen Schnittstelle. Die Einbauküche besitzt eine Schrankwand und       Szene zeigt das Anstecken des Eherings an eine Männerhand. Der Spot springt
eine Herdwand sowie das trennende Möbel mit einer Durchreiche. Die Durch-         in den Innenraum eines Hauses, besser: in eine Küche, und zeigt dieselben
reiche scheint aber fast überflüssig, da das Möbel gerade einmal den halben       Frauenhände, wie sie sich über einer Arbeitsplatte die Ärmel hochschieben.
Raum breit und nur zirka 1,5 Meter hoch ist. Rückblickend sieht sie einer heute   Verschiedene Szenen zeigen nun diese Frauenhände, wie sie Teig anrühren:
gängigen Kochinsel sehr ähnlich. Auf der Seite des Wohn- und Essbereichs          „Wer sich nun auf den Lorbeeren ausruht, der irrt sich. Ein Mann will täglich
gibt es Schranktüren und eine zirka 80 mal 30 Zentimeter große Öffnung zum        auf‘s Neue gewonnen werden.“ Im nächsten Schnitt ist die Frau zu sehen, wie
„Inneren“ der Küche. Die Arbeitsplatte der Küche ist zirka 60cm tief, und auf     sie ein Blech vor einem Küchenfenster bestreicht. Das Fenster aus Kunststoff
Höhe der Durchreiche gefliest. Die Öffnung der Perriandschen Durchreiche          ist im unteren Viertel opak. Zwei Öffnungsflügel befinden sich über der opaken
lässt sich, ähnlich etablierter Durchreichen, schließen. Wenn die Öffnung         Fläche, diese sind jedoch zur Hälfte mit Gardinen behangen, die in der Mitte
geschlossen wird, öffnet sich der Schrank in der benachbarten Fläche, auf der     der jeweiligen Flügel zusammengerafft sind. Neben den zwei Fenstern in der
Seite des Esstisches, wo beispielsweise Teller, Gläser oder ähnliches ihren       Küche befinden sich ebenfalls zwei weitere Gardinenschals je Fenster. Der Spot
Platz gefunden haben. Der Wandel der Wohnung und des architektonischen            zeigt die Frau, wie sie nach Hause kommt aus dem ‚Off‘ tönt die männliche
Gehäuses verweisen auf gesellschaftliche Veränderungen, auf den Wandel von        Stimme: „Jetzt aber schnell. Peter kommt gleich nach Hause und hat einen
Ehe und Familie, von gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Herrschaftsorgani-     Bärenhunger.“ Sie zieht eine weiße Schürze über und stellt ein Blech mit Ku-
sation, von Geschlechterverhältnis und Charakterstrukturen […].82                 chen in den Ofen. „Eigentlich hat sie es ja viel besser als er, sie darf backen.“
          In der Nachkriegszeit gab es aufgrund der hohen Kriegsschäden           Die Frau mit rotem Lippenstift und perfekt sitzendem Haar beschäftigt sich
eine hohe Nachfrage an bezahlbarem Wohnraum.83 Die offene demokratische           mit einem Pudding am Herd, aus dem ‚Off‘: „Wir wissen ja, eine Frau hat zwei
Gesellschaft setzt auf sozialen Wohnungsbau, wie die großen Programme in          Lebensfragen: Was soll ich anziehen und was soll ich kochen?“ Renate, wie sie
Frankreich. In Westdeutschland müssen die Städte wiederaufgebaut werden           aus dem ‚Off‘ genannt wird, serviert in neuem Outfit ohne Schürze dem Mann
und, um aus den Feuerstürmen des zweiten Weltkriegs zu lernen, werden             im Ess- oder Wohnzimmer eine Torte, einen Kuchen „Guter Kuchen macht uns
offene Stadtviertel geplant und Wohnen und Arbeiten räumlich voneinander          Männer sanft und erträglich.“
getrennt. Außerdem entstehen viele Neubauviertel am Rande der Stadt oder

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In Westdeutschland, der BRD, setzten sich allmählich Alternativen       Wohnzimmers belichtet und belüftet.92
zu der rationalisierten Werkstatt- oder Laborküche durch. Dennoch sieht die                In der Wohnbauserie 70 der DDR, die erst 1970 realisiert wurde, ver-
DIN Norm 18011 von 1958 mind. acht Quadratmeter Küchen vor. „So wurden            schwindet das Küchenfenster gänzlich. Da die DDR schon seit Anbeginn ihrer
Einbauküchen bei den stark reduzierten Küchenflächen zur unabdingbaren            Verfassung auf eine Gleichberechtigung von Mann und Frau setzt, sollen beide
Notwendigkeit.“85 Als in den 60er Jahren der Kühlschrank für jede Wohnung         gleichberechtigt arbeiten. Ostdeutsche Frauen haben für dieselbe Arbeit im
erschwinglich wurde, ersetzte das Kühlen das damalige Einmachen. Au-              Schnitt aber 20 Prozent weniger verdient als Männer. Um trotzdem die Repro-
ßerdem mussten die Frauen nicht mehr täglich einkaufen, sondern konnten           duktion der Arbeitskraft zu gewährleisten, gab es sehr früh Sonderregelungen,
Vorräte anlegen. Größere Supermärkte etablierten sich durch die Kühltechnik       wie ein Babyjahr, einen Haushaltstag die Woche, eine 40-Stunden-Woche und
und so konnten portionierte, bereits teilweise vorbereitete oder gekochte         genügend Krippen- und Kita-Plätze in der DDR. Trotz alledem führte es nicht
Produkte im Supermarkt erworben werden.86 Vermehrt wurden Erwartungen             zu einer Sozialisierung der Hausarbeit und die Frauen waren immer noch dop-
an die Frau gestellt, was die emotionale Ebene der Sorgearbeit betraf. Da die     pelt belastet.93
Versprechungen des technischen Fortschritts eine enorme Arbeitsentlastung                  Unter der Parole Das Private ist politisch94 formierte sich die Frau-
verhießen. Maschinen machten die menschliche Tätigkeit unsichtbar und man         enbewegung der 1970er Jahre. Die Frauen setzten auf die Sichtbarmachung
versprach sich einen steigenden technischen Fortschritt, bis zu dem Punkt, an     der (Sorge-)Arbeit, die im privaten Raum stattfand und forderten Gleichbe-
dem die Frau lediglich Schalthebel in der Küche zu bedienen hätte.87 „Mitte der   rechtigung. Durch den Fokus auf das Private wollten sie der Vereinzelung
fünfziger Jahre wurde in Deutschland errechnet, dass eine Hausfrau je nach        der Probleme der Frauen im häuslichen Raum entgegenwirken und sie als
Grad des Beschäftigungsverhältnisses 63 bis 86 Wochenstunden für Beruf und        kollektive Probleme offenlegen.95 Außerdem spielte die Auseinandersetzung
Haushalt aufwendet“88, was heute fast das Doppelte einer Vollzeitbeschäfti-       mit der eigenen Sexualität und Lust eine große Rolle sowie die Legalisierung
gung wäre. Bis 1977 beruhte das rechtliche Prinzip der Ehe auf dem Prinzip        und Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe. Fest verankerten geschlechtlichen
der Einverdienerehe oder auch der Versorgerehe, was bedeutete, dass eine          Rollenbilder sollte durch kollektive Lernprozesse dekonstruiert werden.96
klare Rollenteilung gesetzlich festgeschrieben wurde. Der Mann war erwerbs-
tätig und die Frau hatte sich um den Haushalt zu kümmern und die Kinder zu                  Exkurs Womanhouse:
erziehen. „Auf Initiative von CDU/CSU trug das 2. Wohnungsbaugesetz vom           Judy Chicago und Miriam Shapiro haben 1972 für die Ausstellung Woman-
1. Juli 1956 den Untertitel „Wohnungsbau- und Familienheimgesetz“ und sah         house in Los Angeles, Kalifornien mit einer Gruppe weiblicher Künstler*innen
stärkere Maßnahmen zur Bildung von Eigentum an Haus und Wohnung vor.“89           ein leerstehendes viktorianischen Haus zu einem Ausstellungsraum in Eigenar-
Es entstehen vermehrt Einfamilienhäuser oder Reihenhäuser im Grünen für           beit renoviert und ihre Arbeiten in den Räumen des Hauses ausgestellt. Dabei
das Modell das „insbesondere im westlichen Nachkriegsdeutschland als bür-         wurde das Haus selbst zum Teil der künstlerischen Arbeit. In der Ausstellung
gerliche Kleinfamilie zur gesellschaftlichen Norm“90 geworden war.                entstand unter anderem die Arbeit Semiotics of the Kitchen der Künstler*in
          Das Modell der Münchener Küche, das es auch schon als Gegenüber         Martha Rosler. Die Videoarbeit zeigt Martha Rosler in der Küche. Zu Beginn
zur Frankfurter Küche in den zwanziger Jahren gab, sieht eine trennende           des Videos zieht sie eine Schürze an, die den gesamten Oberkörper bedeckt
Glaswand zwischen der acht Quadratmeter großen Küche und dem 19 Qua-              und auf dem Rücken zugebunden werden muss. Sie steht in der Mitte des
dratmeter großen Wohnzimmer vor. So konnte die Person in der Küche die            Bildes zwischen einem Tisch und einem Herd und einem Kühlschrank. In der
Kinder im Wohnzimmer während der Arbeit beobachten.91 Diese Küchen lagen          rechten Bildhälfte hinter ihr ist ein Regal zu erkennen, auf einem der Buch-
oft an einem Balkon mit direkter Tür oder lediglich einem Oberlicht, um die       rücken ist die Aufschrift „MOTHER“ zu lesen. Auf dem Tisch vor ihr liegen
Küche zu belichten. Die Küche ist eine Vorstufe der besonders in den Einfami-     verschiedene Küchengeräte vom Nudelholz bis zur Auflaufform. Alphabetisch
lienhäusern beliebten Wohnküche. Bei der Wohnküche des 20. Jahrhunderts           stellt Rosler nun die einzelnen Utensilien der Küche vor, benutzt sie dabei aber
verschmilzt die Küche gänzlich mit dem Wohnzimmer und es gibt keine               ähnlich wie Werkzeuge. Die Buchstaben U, V, W, X, Y, Z, performt sie mit
trennende Wand zwischen beiden Räumen. Sie wurde durch die Fenster des            einem Messer und einer Bratengabel. Am Ende steht Rosler vor der Kamera,

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