22 Das Küchenfenster. Eine feministische Genealogie - Design HFBK
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DENKEN ÜBER 22 DESIGN Lisa Marie Zander Das Küchenfenster. Eine feministische Genealogie Hamburger Papiere zur Designtheorie und -forschung an der HFBK Hamburg
DENKEN ÜBER DESIGN Lisa Marie Zander Das Küchenfenster. Eine feministische Genealogie Master-Arbeit im Studienschwerpunkt Design Betreuende Professoren: Dr. Astrid Mania, Jesko Fezer Reihenherausgeber: Jesko Fezer, Dr. Friedrich von Borries Gestaltungskonzept: Friederike Wolf Umsetzung: Lisa Marie Zander Korrekturen: Aline Winchester, Anna Manlig Druck: Scharlau material 383-22 Hamburger Papiere zur Designtheorie Materialverlag –HFBK, Hamburg 2021 und -forschung an der HFBK Hamburg
Inhalt „Because architecture belongs to a regime of luxury that exposes itself in order to im- 6 12 pose an order on society (both visual-aesthetic and rational technical), buildings are Forschungsskizze Eins defined through their exterior surfaces. One speaks of the facade, or even the ‚face‘ of a building […].“ Das Kastenfenster 19. Jahrhundert Georges Teyssot: A topology of everyday constellations, S.263. 20 Zwei Das Einfache Fenster 1900-1945 30 Drei Das Panoramafenster 1945-1973 38 Vier Das bodentiefe Fenster 1973-2019
Das Küchenfenster. bung. Das Fenster zur Straße hat einen Adressaten. Es richtet sich in aber auch an die Öffentlichkeit. Das Fenster dient dem Ausblick aber auch Einblick. […] Eine feministische Genealogie. Das private Fenster hingegen ermöglicht, vom Innenraum aus die Außenwelt zu beobachten.7 In der Architektur wird durch das Gestalten von Schwellenräumen das Verhältnis zwischen dem Innen und dem Außen definiert: „Schwellen- räume sind baulichen Schwellen angelagert, d.h. sie können zusammen mit weiteren raumbildenden Elementen einen wahrnehmbaren Raum aufbauen, Das Küchenfenster – uns allen bekannt, von vielen bereits geöffnet – liegt einen Schwellenraum.“8 Treppen vor Eingangstüren, Vordächer vor Fenstern, zwischen dem Innen und dem Außen. Es bildet einen Schwellenraum zwischen Terrassen oder besonders tiefe Fensterbänke können diese Schwellenräume zu Privatem und Öffentlichem. „Während Intimitäten, Familie, Emotionales und Orten des Verweilens werden lassen. „Der Begriff Schwelle bezieht die Am- insbesondere die Sexualität dem privaten Bereich zugeordnet werden, fallen bivalenz zwischen Öffnung und Schließung zusammen mit der Erwartung auf dem öffentlichen Bereich Politik, (Erwerbs-)Arbeit und das Rationale zu.“1, das Kommende mit ein.“10 Durch ein Fenster wird der sichtbare Ausschnitt des so die Geograph*in Valentine Gill. Durch das Fenster hinter dem gekocht, Inneren festgelegt. Faktoren wie die Nutzung und Ausrichtung des Gebäudes, organisiert, gegessen, geputzt und sich gekümmert wird, treten die Tätigkeiten das vorherrschende Klima oder die Lage der Nachbargebäude spielen eine des Sorgens an das Außen des Gebäudes. Es sei, um in der Architektur die entscheidende Rolle für die Planung der Fenster. Geschlechterdifferenz zu dekonstruieren, so die Kunsthistoriker*in Irene Wenn architektonische Zeichnungen etwas beschreiben, ist es die Nierhaus, nach Mechanismen zu fragen, „[…] die unsere zwischenmenschliche Beziehung der Räume, die durch Elemente wie Wand, Tür, Fenster und Treppe Realität strukturieren, die Differenz produzieren und damit auch Architektur geteilt oder zusammengeführt werden.11 Irene Nierhaus nennt die geschlechts- und Raum geschlechtlich ordnen.“2 Die geschlechtliche Struktur eines Objektes spezifische Trennung zwischen gesellschaftlichem Außen (Öffentlichkeit) und sei nicht am Objekt selbst, sondern nur in der jeweiligen Kontextualisierung dem individuellen Innen (Privatheit) eine vernaturalisierte Konstante der Ge- ablesbar.3 Um die Machtverhältnisse der bestehenden (Raum-)Ordnungen zu schlechtergeschichte.12 Damit nimmt sie Bezug auf die gesellschaftliche Kons- dekonstruieren, bedarf es einer feministischen Perspektive. truktion von Geschlecht.13 Es muss also neben der Autorenschaft architektoni- Historisch wurde in zwei Begriffe unterschieden: „specularia“ die scher Zeichnungen in der feministischen Genealogie des Küchenfensters auch Tätigkeit des Schauens, und „fenestra“ das Loch in der Wand.4 Heute sind das Verhältnis der vermeintlich voneinander abhängigen Sphären – Innen und Belüftung, Belichtung, Ausblick, Einblick, Rahmung und der Kontakt zum Außen – betrachtet werden. Außen die wesentlichen Funktionsweisen eines Fensters. Seit Ende des 20. Insbesondere im städtischen Raum, an den Straßenfassaden der Wohn- Jahrhunderts, durch die Errungenschaft der Isolierverglasung, erreicht das häuser, ist das Verhältnis von öffentlich und privat von Bedeutung, da diese perma- Fenster neue thermische Eigenschaften und kann so auch die Fassade eines nent der Öffentlichkeit ausgesetzt sind und sich in den oft minimierten Woh- Hauses bilden.5 Anette Hochberg definiert in ihrer Arbeit Öffnen und Schlie- nungen das konzentrierte, private Leben abspielt. Das Fenster der Wohnung ist ßen – Gebäudeöffnungen gestalten und konstruieren: „[...] das Fenster als das physische Äquivalent für das Verhältnis zwischen Subjekt und Welt. Einem Auge, durch das wir die Außenwelt betrachten und sich das Innere nach außen Machtverhältnis zwischen Sehendem und Gesehenem.14 Ausgehend davon ist zeigt. [...] [Die Fenster] signalisieren Zugänglichkeit und verweisen so auf es ebenso von Bedeutung sich damit auseinander zu setzten, was das Fenster etwas Gemeinschaftliches und Öffentliches.“6 Weiter wird die außerordentliche zeigt, auf was es den Blick lenkt oder von was es den Blick ablenkt. Rolle des Fensters für das Gebäude wie folgt beschrieben: Die politische Theoretiker*in Hannah Arendt analysiert 1958 den Öffnungen ermöglichen oder verhindern die Interaktion zwischen Begriff der Arbeit in ihrem Werk Vita Activa. Sie unterscheidet, dabei Innen und Außen. Das in den Außenraum gerichtete Fenster thematisiert die zwischen Arbeit (unproduktiv/privat) und Herstellen (produktiv/öffentlich).15 Beziehung von privater zur öffentlichen Sphäre, vom Bewohner zur Umge- Sie folgt dabei Aristoteles‘ Unterscheidung zwischen oikos (Haushalt) und 6 7
polis (Stadt oder Staat) und sieht in der Zweckbestimmung des Hauses die der Architektur eingeschrieben sind. Dabei werden Ereignisse, gesellschaftliche Reproduktion.16 Sie kritisiert die marxistische Theorie, die die Arbeitskraft Normen, Begebenheiten, technische Errungenschaften und Neuerungen, ohne als Produkt anerkennt, jedoch ähnlich wie auch Adam Smith die Herstellung Anspruch auf Vollständigkeit, miteinander verschaltet. Über das Objekt des der Arbeitskraft, die immaterielle Arbeit aus ihrer Betrachtung ausklammert Fensters untersucht die Arbeit gestalterische Aspekte des Wohnens, Arbeitens oder abwertet. Weiter bemerkt sie, dass Marx zwar die Natürlichkeit der und der Dichotomie von öffentlich versus privat. Dabei bezieht sich die Arbeit Arbeit eines Menschen anerkennt – indem er Arbeit nur im Zusammenhang überwiegend auf die Entwicklungen im mitteleuropäischen Raum. Ästhetisch mit Produktivität und der Akkumulation von Wert anerkennt –, jedoch fordert, kulturelle Manifestationen der jeweiligen Zeitabschnitte werden durch Exkurse die Menschen von der Arbeit zu befreien.17 Wobei die Reproduktion lediglich beleuchtet. Einschübe in Form von Erzählungen geben persönliche Perspektiven andere Produkte wie bspw. Lebensmittel nötig hat, um das Produkt der Ar- zu einzelnen Aspekten und springen dadurch auch in andere Zeitabschnitte. beitskraft wiederherzustellen.18 Arendt selbst schreibt zu der Reproduktion der Die Arbeit beginnt mit dem Kapitel „Das Kastenfenster“ im 19. Arbeitskraft: Jahrhundert, wo im Zuge der Industrialisierung eine Vielzahl an industriellen „Denn es ist ja gerade das Kennzeichen der Arbeit, dass sie nichts Waren und spezialisierten Dienstleistungen für einzelne Haushalte zugänglich objektiv Greifbares hinterlässt, dass das Resultat ihrer Mühe gleich wieder gemacht wurden und eine Trennung von Produktion (im Sinne von Erwerbs- verzehrt wird und sie nur um ein sehr Geringes überdauert. Und dennoch ist arbeit) und Reproduktion (im Sinne der Hausarbeit) vollzogen wurde. 22 Sie dieses Mühsal, die so gar nichts Dauerndes zustande bringt, in ihrer Vergeblich- endet im 21. Jahrhundert mit dem Kapitel „Das bodentiefe Fenster“, in dem keit von einer unüberbietbaren Dringlichkeit, und ihre Aufgaben gehen allen sich die Grenze zwischen privat und öffentlich längst nicht mehr durch den anderen Aufgaben vor, weil von ihr die Erfüllung das Leben selbst abhängt.“19 Schwellenraum des Fensters oder der Tür definieren lässt und in HongKong Zum Ende des 20. Jahrhunderts untersuchen feministische die Hausmädchen an Sonn- und Feiertagen, aufgrund des Mangels an privaten Theoretiker*innen wie u.a. Silvia Federici und Dolores Hayden Arbeit als eine Räumen, ihr (Privat-)Leben auf die Straße verlagern müssen, wenn die „Fami- weitere vernaturalisierte geschlechterspezifische Konstante, mit der Trennung lie“ die Wohnung oder das Haus besetzt.23 zwischen entlohnter und reproduktiver Arbeit, sowie deren (Un-)Sichtbarkeit zum einen auf gesellschaftlich struktureller, aber auch auf räumlicher Ebene. 20 „Jede gesellschaftliche Epoche schafft sich ihre besondere Wohnweise als wechselseitigen Zusammenhang von Lebensweise und Gehäuse. Um in diesem breiten Strom des Wandels einen Halt zu finden, von dem aus oder auf den hin die Veränderung beschrieben werden können, benötigt man einen bestimmten Begriff des Gegenstands.“21 Die Küche im häuslichen Inneren, der Wohnung oder dem Haus, ist 1 4 7 der Hauptarbeitsort der reproduktiven Arbeit. An der Gestaltung der Küche Gill Valentine, (Re)negotiating the Vgl. Rem Koolhaas: Elements: a Ebd., S. 16. heterosexual street: Lesbian produc- series of 15 books accompanying the im Innenraum der Wohnung und der Analyse selbiger arbeiten zahlreiche tions of space, in: Nicholas R. Fyfe, exhibition Elements of Architecture 8 Architekt*innen früh und maßgeblich mit. Jedoch gerade um die Konstruktion Judith T. Kenny (Hg.): The Urban at the 2014 Venice Architecture Till Boettger: Privatsphäre aufbauen Geography Reader, London 2005, Biennale, Venedig, 2014. – in Privatsphäre eintauchen, https:// von Innen und Außen zu analysieren, ist es elementar, nicht nur die Küche als S. 146-155. www.uni-weimar.de/architektur/raum- 5 gestaltung/archives/184, abgerufen Ort innerhalb der Wohnung zu beleuchten, sondern die Schnittstelle zwischen 2 Vgl. ebd. 24.01.2021. Außen und Innen – den Schwellenraum des Küchenfensters. Das Küchenfens- Irene Nierhaus: Arch6: Raum, Geschlecht, Architektur, Wien, 1999, 6 9 ter ist ebenso relevant für die Fassade der Architektur wie für das Funktionie- S. 12. Anette Hochberg, Jan-Henrik Hafke, Ebd. Joachim Raab, Alexander Reichel: ren der Küche. 3 Öffnen und Schliessen: Fenster, 10 Durch die historische Betrachtung des Objektes Küchenfenster nähert Vgl. ebd. Türen, Tore, Loggien, Filter, Basel, A. Hochberg et al.: Öffnen und 2010, S. 10. Schliessen: Fenster, Türen, Tore, sich die Arbeit genealogisch Beziehungen, Hierarchien und Ordnungen, die Loggien, Filter, S. 39- 8 9
11 17 23 Vgl. Robin Evans: Translations Vgl. H. Arendt: Vita activa oder Vom Vgl. Nina Schuster, Stefan Höhne: from Drawing to Building and Other tätigen Leben. Stadt der Reproduktion. Einführung Essays, London, 1997. in den Themenschwerpunkt, in: 18 sub\urban, zeitschrift für kritische 12 Vgl. ebd. stadtforschung 5 (3), https://doi. Vgl. I. Nierhaus: Arch6: Raum, org/10.36900/suburban.v5i3.311, Geschlecht, Architektur. 19 2017, S. 9-22. Ebd., S. 104. 13 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen 20 der Geschlechter, Frankfurt am Main, Vgl. Silvia Federici: Aufstand aus 2018. der Küche: Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die un- 14 vollendete feministische Revolution, Vgl. Michel Foucault, Walter Seitter: Münster, 2015; Dolores Hayden: Überwachen und Strafen: die Geburt The Grand Domestic Revolution: des Gefängnisses, Frankfurt am A History of Feminist Designs for Main, 2014. American Homes, Neighborhoods, Cambridge, 1983. Forschungsskizze 15 21 Stand Oktober 2019 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Hartmut Häußermann, Walter Siebel: Vom tätigen Leben, München Berlin Soziologie des Wohnens: eine Zürich, 2016. Einführung in Wandel und Ausdiffe- renzierung des Wohnens, Weinheim, 16 2000, S. 13. Vgl. Dogma, Realism Working Group: Produktion, Reproduktion, 22 Kooperation: Die Villa von der Vgl. Michael Andritzky, Gert Selle ‚negativen Utopie‘ zum Gemein- (Hg): Lernbereich Wohnen: didakt. schaftshaus, in: Arch+ Nr. 231: The Sachbuch zur Wohnumwelt vom Property Issue – Von der Bodenfrage Kinderzimmer bis zur Stadt: Grund- und neuen Gemeingütern, Aachen, lagen, Materialien, Lernbeispiele, 2018, S. 154-173. Hamburg, 1979. 10 11
Eins Ein weiteres Beispiel: In Berliner Mietshäusern gibt es das sogenannte Berliner Zimmer, das als räumliche Trennung zwischen dem bürgerlichen Teil Das Kastenfenster und dem Dienstbot*innen-Teil der Wohnung angeordnet wurde. Die Haus- 19. Jahrhundert arbeit wurde so vom Wohnen und der Repräsentation (Empfang von Gästen) räumlich getrennt. Dabei wurde dem Wohnen und der Repräsentation die öf- fentliche Frontfassade zugesprochen.28 Diese Differenz von Innen und Außen, von privat und öffentlich analysiert die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus als die private Häuslichkeit, die als Gegenstück zum bedrohlichen Außenraum Das Kastenfenster besteht aus zwei hintereinander liegenden Einfachfenstern 24 konstruiert wurde. Damit einher, so Nierhaus, ginge auch die Naturalisierung mit einer wandstarken Luftschicht dazwischen. Beide Fenster lassen sich der Frau im häuslichen Inneren.29 Beate Söntgen argumentiert weiter, es sei als öffnen. Abhängig davon, wo es geographisch gesehen, eingebaut wurde, lässt Rahmung die männliche Phantasie, die das Wechselspiel von Zimmer und der sich das äußere Fenster nach außen öffnen, das innere ebenfalls nach außen, Weiblichkeit im Inneren zusammenfügt und so konstruiert.30 oder das innere Fenster nach innen. Das „Berliner Kastenfenster“ ermöglicht Im Zuge der Industrialisierung ziehen viele Menschen in die Stadt, dadurch, dass sich das innere Fenster nach innen öffnen lässt und das äußere um in Fabriken zu arbeiten – auch die Arbeiter*innen die sich vorher auf dem nach außen, dass der Zwischenraum ähnlich einer innen liegenden Fensterbank Land um die herrschaftliche Hauswirtschaft gekümmert haben. Friedrich genutzt werden kann. Durch das „Schichten“ der Einfachfenster wurde eine Engels schreibt in seinem Vorwort zur Lage der arbeitenden Klasse in Eng- bessere Wärme- und Schalldämmung an den Stellen erreicht, wo sich vorher land: „Die Zeit worin ein altes Kulturland einen solchen, obendrein durch so nur ein Loch in der Wand befand. Noch keine Elektrizität in der Küche – d. h. günstige Umstände beschleunigten Übergang von der Manufaktur und dem auch keinen Kühlschrank –, nutzen die Menschen den Zwischenraum des Kleinbetrieb zur großen Industrie macht, ist es auch vorwiegend die Zeit der Kastenfensters auch zur Kühlung ihrer Speisen. Im 19. Jahrhundert wurde das Wohnungsnot.“31 Die Struktur der Stadt hält den neuen Anforderungen nicht Kastenfenster aufgrund dieser Eigenschaften häufig verbaut. Betrachten wir stand und es müssen zahlreiche neue Straßen und Schienennetze für die Groß- bspw. heute die Fassaden der oft in Berlin noch gut erhaltenen Kastenfenster, industrie gebaut werden. So folgert Engels weiter: „In demselben Augenblick, wirken sie durch die wandstarke Luftschicht zwischen den zwei hintereinander wo Arbeiter haufenweise zuströmen, werden Arbeiterwohnungen massenweise liegenden Fenstern distanziert. Durch den hohen Rahmenanteil und die Bre- eingerissen.“32 Die Analyse von Engels traf auch auf weite Teile der Industrie- chung des Lichtes zwischen den zwei Glasscheiben, ist kaum zu erahnen was und Hafenstädte in Deutschland zu. Die menschenverachtenden Zustände der im Inneren passiert. Arbeiterviertel, in denen in ‚backtoback‘ Häusern mehrere Familien in Räu- Die Anordnung und Gestaltung von Fenstern unterlag in der men ohne Fenster lebten und zu mehr als 8 Menschen in einem Bett schliefen,33 Architektur des 19. Jahrhunderts vielmehr der Rolle der Unterteilung der fanden sich auch bspw. in den sogenannten Berliner Mietskasernen oder ande- Fassade – und somit der Repräsentation des Äußeren des Hauses – als der ren Arbeitervierteln in Deutschland. Wobei die Stadt selbst „so eigentümlich Rolle des ablesbaren Inneren. Sie stellten vielmehr ein bautechnisches gebaut sei“, dass man jahrelang in ihr wohnen und täglich hinein- und heraus- Problem dar, „welches es zu lösen galt um stilistische Anforderungen der gehen kann, ohne je in ein Arbeiterviertel oder nur mit Arbeitern in Berührung Fassade zu erfüllen.“ 25 zu kommen.“34 Die Mietskaserne bestand nicht aus einzelnen Wohnungen, Der Architekt Andrea Palladio schrieb 1570 in den Vier Büchern der sondern aus langen Fluren mit Zimmern auf der einen Seite und Zimmern und Architektur eine Ordnung von Räumen vor, nach welcher die nützlichen Räu- Küchen auf der anderen Seite.35 Die Mietskasernen sollten eigentlich in einer me in die nicht sichtbaren Teile des Hauses gelegt werden sollten – ihnen wur- sozialen Mischung belegt werden, jedoch wurden zumeist die Wohnungen de die Eigenschaft zugeschrieben hässlich zu sein.26 So lag noch im 19. Jahr- in speziellen Vierteln mehrfach durch Arbeiterfamilien belegt. Eine Familie hundert die Küche in herrschaftlichen Anwesen oder bürgerlichen Wohnungen bewohnte zumeist ein bis zwei Zimmer, das zweite Zimmer war oft die Küche, zumeist im Souterrain, im Keller oder im hinteren Flügel des Mietshauses.27 die auch gleichzeitig die gesamte Wohnung mit Licht und Wärme versorgte36 12 13
Einschub Let´s Play House: zu (re)produzieren. Eine Abhängigkeit, die die Architekt*in Dolores Hayden Das Foto zeigt meinen fünften Geburtstag 1997, an dem ich passend zu Barbie in der gebauten Architektur untersucht, wie beispielsweise dem American und Ken das Barbie Dream House geschenkt bekommen habe. Das erste Dream – dem Einfamilienhaus im Grünen. Sie beschreibt die strukturellen Barbie Dream House kam 1962 auf den Markt, es ist ein Studio Appartement Hierarchien im gebauten Raum und zeigt, mit beispielsweise den Materiellen für die Barbie Puppe. Mit einem Kleiderschrank inklusive Schminktisch, im Feminist*innen Gegenbewegungen auf. Diese waren davon überzeugt, dass Wohnzimmer eine passende Anrichte für den Fernseher. Fünf Jahre später hat Frauen feministische Haushalte mit sozialisierter Hausarbeit und Kinder- das Barbie Dream House die Gestalt eines Einfamilienhauses im Grünen ange- betreuung schaffen müssen, bevor sie wirklich gleichwertige Mitglieder der nommen. Passend zu dem Barbie Glam Cabrio oder dem Barbie Glam Conver- Gesellschaft werden können.40 Eine der Materiellen Feminist*innen, Melusina tible hat das Barbie Dream House jetzt auch eine Küche, ein Badezimmer, ein Fay Pierce, veröffentlichte 1868 das Buch Co-operative House Keeping - how Schlafzimmer, zwei Kinderzimmer und ein großes Ankleidezimmer mit Fahr- not to do it and how to do it. stuhl. In einem Werbesong von 1982 tönt es: „Barbie Girls love to decorate“.37 Darin beschreibt sie eine Neuordnung des Häuslichen, eine Soziali- Dieses Modell gibt es bis heute in gängigen Spielwarenläden zu kaufen. sierung der Hausarbeit.41 Alternativen zu den Arbeiterwohnungen in der Stadt oder der herrschaftlichen Hauswirtschaft sollte 1870 die sogenannte Housing Mein fünfter Geburtstag Oktober 1997 Cooperative bilden, die von Pierce in Boston gegründet wurde, um sich die Produktion von Essen, das Kümmern um die Kinder sowie das Wäsche waschen zu teilen. Da die Kooperative jedoch keine Größe erreichte mit der dieses Modell wirtschaftlich werden konnte, scheiterte das Projekt.42 Trotz alledem wurden mehrfach Häuserkomplexe und Wohnmodelle entworfen, die auf die Zentralisierung der Hausarbeit setzten. Eines der bekanntesten gebauten Beispiele für eine solche Sozialisierung der Hausarbeit ist die Fami- listère 1859 von dem sozialistischen Utopist Jean-Baptiste André Godin. Die Architektur baut auf den ideellen Vorstellungen von Charles Fourier43 auf und wird zu einem Palast der arbeitenden Klasse. Er besteht aus 465 Wohnungen. Neben der zu der Zeit hervorragenden technischen Versorgung der einzelnen Wohnungen, fanden sich dort innovative gemeinschaftliche Einrichtungen für Dem Mann wird das Außen, das Politische, das Rationale, das die Kindererziehung sowie Großküchen- und Wäschehäuser.44 Arbeiten zugeordnet; der Frau das Private, das Innere, das Kümmern um die Nicht nur sozialistische Utopisten kamen Ende des 19. Jahrhunderts Reproduktion der Arbeitskraft.38 Feministische Theoretiker*innen analysieren auf die Idee, eigene Siedlungen für Arbeiter*innen zu bauen. Einige Fabri- im 20. Jahrhundert, wie sich das kapitalistische System auf dem Prinzip der kanten erkannten, dass die Ware Arbeitskraft kein unerschöpfliches Gut war. nicht entlohnten Hausarbeit und der damit einhergehenden Ausbeutung der Sie zogen mit ihren Fabriken in ländlichere Regionen oder an die Ränder der Frau aufbaut. Silvia Federici analysiert diesen Prozess im Zusammenhang Städte und errichteten dort ganze Wohnsiedlungen bis hin zu kleinen Städten, mit dem globalen kapitalistischen System. Laut Federici ist die reproduktive um die Arbeiter*innen und ihre Familien an das Unternehmen zu binden.45 Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft nicht deshalb unsichtbar, weil sie Diese Entwicklung machte die Arbeiter*innen auf eine paternalistische Art nicht produktiv ist, sondern weil diese Arbeit nicht entlohnt wird. Denn in und Weise abhängig von dem Unternehmen. einer Gesellschaft, in der Arbeit und Lohn synonym geworden seien, würden nicht entlohnte häusliche Tätigkeiten vom ökonomischen Standpunkt aus Exkurs Friedrich, Monet, Ancher: unsichtbar.39 Weiter beschreibt sie die Abhängigkeit des Systems von dem In der Malerei des 19. Jahrhunderts ist die Zuordnung der Frau im Innen Modell der heteronormativen Kernfamilie, um die Arbeitskraft im häuslichen deutlich abzulesen. In dem Bild Frau am Fenster zeigt Caspar David Friedrich 14 15
seine Frau an einem Fenster. Sie blickt, gerade groß genug, um über die hohe Zu den Funktionsweisen des Fensters gehörten im 19. Jahrhundert Fensterbrüstung zu schauen, hinaus. Sie lehnt sich nicht aus dem Fenster. ebenso die Belüftung, wie auch die Belichtung.46 Daher wurde auch die Arbeit Es macht den Eindruck, als würde sie aus gewahrter Distanz nach draußen in der Küche im 19. Jahrhundert am Fenster verrichtet. Aus hygienischen Blicken. Das Fenster hat im unteren Drittel und im Öffnungsflügel kein Glas, Gründen brauchte die Herrichtung der Speisen Tageslicht, um Verdorbenes sondern eine geschlossene Holzfläche. Erst die oberen zwei Drittel sind aus von Gutem zu trennen. Gleichzeitig hielten die kühlen Temperaturen nahe des Glas und lassen Licht in den Raum. Die Frau am Fenster muss den mittleren Fensters die Lebensmittel frisch.47 Flügel der Holzfläche öffnen, um überhaupt in das Außen schauen zu können. In dem Bild Das Frühstück von Claude Monet tritt das Außen auf eine andere Art und Weise in das Innen. Das Bild zeigt drei Frauen und ein Kind am Früh- stückstisch. Eine Frau arbeitet im Hintergrund, eine andere sorgt am Tisch für das Kind, eine weitere lehnt mit dem Rücken zum zugehängten Fenster. Das Außen taucht in Form einerzugeklappten Zeitung am Tischrand auf, welche 24 31 40 Einfachfenster besitzen Fensterflügel Friedrich Engels, Reinhold Martin, Vgl. D. Hayden: The Grand Domestic neben dem gedeckten Teller des leeren Stuhls liegt. Mit dem Gegenstand Zei- nur in einer Ebene und können mit Neil Smith: Zur Wohnungsfrage, Revolution: A History of Feminist tung deutet Monet an, dass es nur dem Mann gestattet ist, das politische und einer einfachen Verglasung oder, Leipzig, 2015, S. 2. Designs for American Homes, wie heute häufig anzutreffen, mit Neighborhoods. tagesaktuelle Geschehen mit an den Tisch zu bringen. Nur ihm ist es gestattet, einer mehrfachen Isolierverglasung 32 ausgestattet sein. Bei dieser Fenster- Ebd. S. 3. 41 sich und andere darüber zu informieren. Das erste Bild, das eine Frau in der konstruktion sind grundsätzlich alle Vgl. ebd. Küche zeigt, entstand um 1883 durch die Maler*in Anna Ancher und trägt den Öffnungsarten uneingeschränkt mög- 33 lich. Vgl. https://www.baunetzwissen. Vgl. J. Posener: Vorlesungen zur 42 Titel Das Mädchen in der Küche. Das Mädchen in der Küche arbeitet, dem*der de/fenster-und-tueren/fachwissen/ Geschichte der Neuen Architektur. Vgl. ebd. fenster--tuerarten/einfachfens- Bd. 2. Betrachter*in den Rücken zugekehrt, an einem zu zwei Drittel zugehängten ter-155135, abgerufen: 17.03.2020. Fenster. Das Fenster ist gerade so hoch zugehängt, dass die Frau die dahinter 34 43 25 Engels,. Die Lage der Arbeitenden Charles Fourier war ebenfalls ein arbeitet von außen nicht sichtbar ist, aber noch Tageslicht ins Innere kommt. Christina Leitner: Wohnbau am Klasse in England. in:Marx, Engels, sozialistischer Utopist und entwarf Wienfluss. Die räumliche Wirkung und Scheibler, Werke. Bd. 2. S.278. zuvor die Phalanstére nach sozialisti- Der steinerne Fußboden sowie der aufgesetzte Türrahmen deuten darauf hin, des Fensters in Gründerzeitfassaden schen Grundsätzen. Vgl. J. Posener: dass es sich in dem Bild um ein Keller-, Erd-, oder Untergeschoss handelt. im Vergleich zum Zeitgenössischen 35 Vorlesungen zur Geschichte der Wohnungsbau in Wien, Wien, 2016, Vgl. J. Posener: Vorlesungen zur Neuen Architektur. Bd. 2. S. 37. Geschichte der Neuen Architektur. Mädchen in der Küche: Bd. 2. 44 Anna Ancher, 1883. 26 Vgl. D. Hayden: The Grand Domestic Vgl. Andrea Palladio: Die vier Bücher 36 Revolution: A History of Feminist zur Architektur, Berlin, 1993. Vgl. ebd. Designs for American Homes, Neighborhoods. 27 Vgl. Julius Posener: Vorlesungen zur 37 45 Geschichte der Neuen Architektur. Vgl. Barbie dream House Commer- Vgl. Siedlung Alfredshof der Firma Bd. 2, Aachen, 2013. cial, 1996. Krupp, 1891 in Essen. 28 46 Vgl. ebd. 38 Vgl. Georges Teyssot: A topology Vgl. I. Nierhaus: Arch6: Raum, of everyday constellations. Writing 29 Geschlecht, Architektur. architecture. Cambridge, 2013. Vgl. I. Nierhaus: Arch6: Raum, Geschlecht, Architektur. 39 47 S. Federici: Aufstand aus der Küche: Vgl. Elfie Miklautz, Herbert Lach- 30 Reproduktionsarbeit im globalen mayer, Reinhard Eisendle (Hg.): Vgl. Sabine Schulze, Christoph Asen- Kapitalismus und die unvollendete Die Küche: zur Geschichte eines dorf, Städelsches Kunstinstitut (Hg.): feministische Revolution, S. 40. architektonischen, sozialen und Innenleben: die Kunst des Interieurs ; imaginativen Raums, Wien, 1999. Vermeer bis Kabakov , Ostfildern- Ruit, 1998. 16 17
Diagram of four block kitchen houses: Beth Ganister, based on description by Melusina Fay Peirce, 1868 USA. Haus Behrens: Behrens, Darmstadt 1901. Child care at Social Palace, Guise,as shown in Haoper´s Monthly, 1872. 18 19
Zwei beschreibt den Richtungswechsel so: „Die Pioniere unter den modernen Ar- chitekten haben mit der alten dekorativen Auffassung ihres Berufes gründlich Das einfache Fenster gebrochen und eingesehen, dass sie den Städten und Behausungen nur in enger 1900-1945 Fühlung mit den Fortschritten der Technik und der Wirtschaft die wahre, unse- rer Zeit würdige, ökonomische Gestalt geben können.“53 Alternative Modelle, wie das von der Materiellen Feminist*in Lily Braun entworfene Einküchenhaus, wurden durch das Neubauprogramm end- gültig in den Hintergrund gedrängt. Das erste Modell eines Einküchenhauses Die Wohnverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen vor allem im entstand 1909 am Rand von Berlin durch die privatwirtschaftlich orientierte Schatten der katastrophalen Zustände der zur Miete wohnenden, arbeitenden Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte.54 Braun beschreibt ihr Bevölkerung in den Großstädten Deutschlands. Der politische Umbruch des Konzept folgendermaßen: Solch eine Einrichtung ist die Wirtschaftsgenossen- 20. Jahrhunderts und die damit einhergehende vermehrte Bildung von Gewerk- schaft. Ich stelle mir ihr äußeres Bild folgendermaßen vor, in einem Häuser- schaften, veranlasste die Mächtigen, sich um bessere Arbeitsbedingungen, aber komplex, das einen großen hübsch bepflanzten Garten umschließt, befinden auch einer Lösung der Wohnungsnot zu kümmern. sich etwa 50 bis 60 Wohnungen, von denen keine eine Küche enthält.55 Zentrale Jedem Deutschen eine gesunde Wohnung48 wurde auch in der Weima- Großküchen- und Wäschehäuser sollten es ermöglichen, gemeinsam unter der rer Verfassung von 1919 festgehalten. So entstand eines der ersten, groß auf- Anleitung einer*eines erfahrenen Hauswirtschafters*in die Hauswirtschaft zu gelegten Neubauprogramme für Sozialwohnungen in Deutschland. Unter dem erledigen.56 Ein zentraler Esssaal, „der zu gleicher Zeit Versammlungsraum Titel Neues Bauen sollte, durch eine rationalisierte und typisierte Architektur, und tagsüber Spielzimmer der Kinder sein kann“57, sollte nahe dieser zentralen schnell preiswerter Wohnraum entstehen.49 Einrichtungen liegen. Dieses Modell sprach jedoch hauptsächlich die gehobene Mit neuen Materialien entstanden die ersten Wohnungsbauten mit genorm- Mittelklasse an, die eine komfortable Alternative zum städtischen Mietshaus ten Fertigteilen. Räumliche Anforderungen wurden auf Grundbedürfnisse suchte, und löste damit nicht die Wohnungsnot der breiten Bevölkerung.58 rationalisiert und auf kleinem Raum gestaltet.50 Jeder Arbeiterfamilie sollte Eine parallele Entwicklung zu der Zeit war auch das Bauhaus unter eine eigene Wohnung mit eigener Küche, eigenem Bad, Wohn-, Schlaf- und der Leitung von Walter Gropius.59 Markant für die Gestaltung der Küche, oder Kinderzimmer zu einer gesünderen Lebensweise verhelfen. Eines der Beispiele besser eines Fensters der Küche, ist die Durchreiche von Walter Gropius von dieses Neubauprogramms ist die Hufeisensiedlung in Berlin Britz von dem Ar- 1928. Mit dieser wurden zwar Wohn- und Essbereich nicht gänzlich funktional chitekten Bruno Taut. Ein dreigeschossiger Wohnungsbau mit rotem Backstein voneinander getrennt, jedoch ästhetisch-räumlich. Er entwarf eine Wand und relativ kleinen Holzfenstern.51 zwischen Küche und Esszimmer, mit einer kleinen, 80 mal 30 Zentimeter Wobei durch die Anordnung um einen bestehenden Teich die Rücksei- großen Öffnung mit Schiebeklappe, durch welche die fertigen Speisen in das te beziehungsweise der Hof der Häuser eine besondere Qualität zugesprochen Esszimmer gereicht werden konnten. Von der Seite des Esszimmers funktio- bekommt. Die Küchen lagen zumeist neben dem Eingang. Der Architektur des nierte diese Wand wie ein Schrank mit Geschirr und Besteck, um den Tisch zu Neuen Bauens wird eine neue Sachlichkeit zugesprochen, durch die Reduk- decken; die Schiebeklappe, die die Öffnung zur Küche darstellte, verschwand tion auf klare Linien und den Verzicht auf Dekoratives. Die rationalisierten gestalterisch gänzlich im Gesamtbild des Schranks. Wohngrundrisse hatten außerdem zur Folge, dass das Wäschewaschen nicht 1904 entwickelt der belgische Industrielle Émile Fourcault das nach mehr im eigenen Haus verrichtet werden konnte. Die Siedlungsbauten richteten ihm benannte Fourcault-Verfahren. Ein Ziehglas-Verfahren, das es ermöglich- daher zentrale Waschhäuser ein. Die technischen Vorzüge wurden durchaus te, Glasscheiben wesentlich wirtschaftlicher und schneller zu produzieren als geschätzt, jedoch durften in diese zentrale Anlagen weder Männer noch kleine zuvor. Bis zu dieser Erfindung wurde Flachglas entweder gegossen, gewalzt Kinder eintreten, was die Frauen vor neue Herausforderungen stellte.52 Ernst oder durch das Zylinderblasverfahren hergestellt. Dafür wurden Sand, Soda May bezeichnet sich selbst als einen der Pioniere des Neuen Bauens und und Kalk bei 1400 Grad zu einer Glasmasse geschmolzen, die entweder 20 21
gewalzt, gegossen oder mundgeblasen zu einem Flachglas verarbeitet wurde. und in Serie gefertigt. Es entstanden die ersten Einbauküchen, deren Maße Alle Verfahren zuvor erforderten einen hohen körperlichen Einsatz und, und Anordnung auf idealen, rationalisierten Arbeitsabläufen basierten.64 Die um die gewünschten Dicken zu erreichen, viel Zeit um das Glas zu polieren amerikanische Sozialarbeiter*in Catherine Beecher entwarf 1869 eine Ideal- beziehungsweise zu schleifen. Erst das Fourcault-Verfahren ermöglichte es, küche, die, da für sie unvereinbar mit dem demokratischen Gleichheitsprinzip, durch ein maschinelles Zieh-Verfahren, schnell und effizient Glasscheiben auf Dienstbot*innen verzichtete und dafür auf eine „Kooperation aller zu produzieren. Über ein Rollband wurde die Glasmasse längs aus dem Ofen Familienmitglieder und eine bessere Organisation der Arbeits- und Raumver- gezogen und Stück für Stück abgekühlt. So entstand direkt eine flache Glas- hältnisse“65 setzte. Christine Frederick hielt in ihrem Buch The New House- scheibe, die anschließend – ähnlich den Verfahren zuvor, aber mit deutlich keeping Efficiency Studies in Home Management 1913 zum ersten Mal solche weniger Aufwand – poliert und geschliffen wurde. Durch die Regulierung rationalisierten Arbeitsabläufe in der Küche fest, 1921 wurde ihre Arbeit ins der Geschwindigkeit beim Ziehen aus dem heißen Ofen konnte die Dicke des Deutsche übersetzt.66 Flachglases reguliert werden. Nicht zu vermeiden waren aber Wellen in den Es wurden Frauen zu Rate gezogen, wenn es um die Detailplanung Glasscheiben.60 Bis in die 50er Jahre wurde Flachglas für Fensterscheiben mit der (Einbau-)Küchen ging. Die Architekt*in Margarete Schütte-Lihotzky diesem Verfahren hergestellt. entwickelte den ersten rationalisierten Entwurf einer Küche 1926 – sie ist Durch die industrielle Herstellung von Glas und die Entwicklung des neuen später als Frankfurter Küche bekannt. Die technische Zeichnung dieser besteht Baumaterials Stahlbeton wurden größere Wandöffnungen auch im Wohnungs- aus drei Projektionen des Grundrisses: Der Schrankwand, der Herdwand und bau möglich. Es entwickelten sich die ersten Erker.61 der Fensterwand. Die einzelnen Zeichnungen dienten der Vermittlung des Grundrisses, da dieser nicht ausreichte um alle Bauteile der Frankfurter Küche Exkurs La strada entra nella Cassa: zu beschreiben. Da die rationalisierte Küche wie eine Art Werkstatt gestaltet Der futuristische Maler Umberto Boccioni zeichnet in seinem Bild „Die Straße ist und demnach auch mit einer Raumorganisation an der Wand arbeitet, nutzte dringt ins Haus“ eine Szene, die sich auf dem Balkon eines Hauses in Mailand Schütte-Lihotzky, anders als in regulären architektonischen Grundrissen, also abspielt, inspiriert von der rasanten Industrialisierung seines Wohnortes. Die auch die Wandansichten, um die Küche darzustellen. Person, eine Frau, steht auf einem Balkon mit dem Rücken zur Betrachter*in Die 1,90 Meter breite Fensterwand besteht zu etwa drei Vierteln aus und führt sie in die Tiefe des Bildes. Die Frau verfolgt das Geschehen auf der dem auf zirka einem Meter Höhe angeordneten Fenster, welches zweiflügelig Straße vor dem Haus, ganz anders als noch die Frau am Fenster von Caspar als Sprossenfenster ausgebildet ist. Auf Fotos der fertiggestellten Küche ist ein David Friedrich, scheint sie sich über die Balkonbrüstung förmlich in den transluzenter Vorhang vor dem Fenster zu erkennen, durch den hochstehendes öffentlichen Raum zu beugen. Die anderen Häuser rund um die Straßen beugen Tageslicht flutet. Die Wand ist bis an den Fensterrahmen gefliest. Unterhalb sich ebenfalls in die Mitte des Bildes. Sie scheinen fast umzustürzen. Auf des Fensters befindet sich eine Arbeitsplatte (bezeichnet als Arbeitstisch), die, weiteren Balkonen stehen Frauen und ein etwas älterer Mann und beobachten im Gegensatz zu den anderen Arbeitsplatten der Küche, keinen Unterschrank ebenfalls das Geschehen. Auf der Straße finden sich zahlreiche Arbeiter*innen, hat. Unter der Arbeitsplatte steht ein runder Hocker. Am rechten Rand des die auf einem Baugerüst arbeiten, Backsteine umherkarren und Gruben mit Arbeitstisches befindet sich der Abfalleinwurf – eine Schublade aus Formstein, Schaufeln ausheben. „Die Stadt, so der Eindruck des Betrachters, bricht mit die durch eine Aussparung in der Arbeitsplatte befüllt und zum Entsorgen ihren vielfältigen Sinneseindrücken und ihrem Lärm über die Frau herein und der Abfälle herausgezogen werden kann. Die Küche ist mit Elektrizität und droht die Privatheit der eigenen vier Wände niederzureißen.“62 Deckenlampen ausgestattet. Links neben dem Arbeitstisch befindet sich ein schmaler Speiseschrank. Auf der Zeichnung der Herdwand ist zu erkennen, Wohnungen liegt (noch heute) das Ideal des „gesunden“ Wohnens dass ein ausklappbares Bügelbrett so installiert wurde, dass es sich vor den zugrunde, welches auf dem Prinzip ‚ein Raum gleich eine Funktion‘ basiert.63 Arbeitstisch und das Fenster klappen lässt. Es wurden Formstein, Buchenholz, Für die Architektur des Neuen Bauens wurden aufgrund der minimierten Stahl und Keramik-Fliesen für den Bau der Küche verwendet. Der Fußboden Raumgrößen auch Inneninstallationen wie beispielsweise Küchen genormt ist gefliest.67 22 23
Exkurs Scheibengardine: ten. Die Frau am Fenster war dagegen kein unübliches Bild.75 Der Fakt, dass Die Scheibengardine, umgangssprachlich auch Küchen- oder Omagardine, Sexarbeiter*innen ihre Kunden durch ein Klopfen an ein Fenster hineinbaten, wird an den Flügelrahmen (den zu öffnenden Teil) des Fensters angebracht, oft endete schnell in einer „gendered borderline“76. Diese gendered borderline, mit Hilfe von eigens dafür hergestellten Plastik- oder Holzprofilen. Sie ist meist war nun das Wohnungsfenster zur öffentlichen Straße. Frauen hatten sch im aus transluzentem Stoff und bedeckt das Fenster nur zur Hälfte. Ihr Vorteil: Inneren aufzuhalten und Männer bewegten sich im Außen. Der Theoretiker*in der Gardinenstoff benötigt keinen Platz links und rechts neben dem Fenster Irene Cierdaad folgend, hatte es für eine Frau etwas mit dem Stand in der und die Gardine bleibt auch im geöffneten Zustand am Fenster. Diese Gardinen Gesellschaft zu tun, ob sie am Fenster ihres Hauses zu sehen war oder nicht. wurden zum Einen zum Schutz der Privatsphäre, zum Anderen als Schutz vor Teilweise wurden sogar Hausmädchen geschickt, um durch ein Fenster auf direkter Sonneneinstrahlung an die Fenster angebracht. die Straße zu schauen, anstatt dies Frauen aus der bürgerlichen Klasse tun zu lassen.77 Durch diese Politisierung der Frau am Fenster und der „Sittenwidrig- Mit der Frankfurter Küche hielt auch die Teilung zwischen Wohn- keit“ der Prostitution im 20. Jahrhundert entstand auch der Wunsch nach dem raum und Küche Einzug und machte die Küche zur „Werkstatt der Frau“68. Verschließen dieser größer gewordenen Fensterflächen. Es entstand ein neues „Die Verkürzung der Arbeitswege durch ein neues funktionales Design löst die Berufsfeld: Das Interiordesign. Gardinen beispielsweise waren nicht mehr nur Hausfrau noch lange nicht von der traditionellen Pflicht, diese Arbeit weiterhin Teil des alltäglichen Tagesablaufs, sondern konnten auch Teil des Fassaden- alleine verrichten zu müssen, selbst wenn sie berufstätig ist“69, so Kurator*in bilds werden.78 Marion von Osten in einer späteren Analyse der Entwicklung der Küche. Be- sonders die minimalisierte Küche auf fünf bis acht Quadratmetern erschwerte Einschub Neufert: es, dass mehr als eine Person in ihr arbeiten konnte.70 Ein weiterer Grund der In den ersten Semestern meines Architekturstudiums 2014 wurde jede Woche räumlichen Trennung war die mangelnde Hygiene, in den bis zu diesem Zeit- eine Vorlesung von je unterschiedlichen Professor*innen zum Thema Bau- punkt standardmäßigen Wohnküchen.71 konstruktion gehalten. Sie galten als Grundlage für einen zu entwerfenden Die Architektur des Neuen Bauens setzte auf geradliniges sachliches Holzpavillon, in dem gewohnt werden sollte. Oft wurden dabei Inhalte des Design. So entstanden oft einfach zu öffnende Fenster in genormten Maßen, sogenannten Neuferts an die Wand geworfen. „Eine Art Bibel der Bauent- deren Rahmen überwiegend aus Holz (teilweise bereits aus Kunststoff) wurfslehre“, so einer der Professoren. Mit dem Bestreben, wie es im Untertitel ausgebildet wurden. Durch die, über das Bauen mit Stahlbeton genau einzuhal- heißt, „Grundlagen, Normen, Vorschriften über Anlage, Bau, Gestaltung, tenden Öffnungsmaße konnten die Fenster industriell vorgefertigt werden. Sie Raumbedarf. Raumbeziehungen, Maße für Gebäude, Räume, Einrichtungen, wurden einfach verglast oder, um eine bessere Wärmedämmung zu erreichen, Geräte mit Menschen als Maßstab als Maß und Ziel“ zu vermitteln. Ernst wurden Verbundfenster eingesetzt. Verbundfenster sind zwei sehr dicht anein- Neufert studierte im Bauhaus und im Jahr 1936 verfasste er die erste Auflage ander liegende Fensterrahmen mit je einer Einfachverglasung.72 des Neuferts.81 Darin normierte er Abstände, Höhen, Größen und Dimensionen Das Aufkommen innerstädtischer Wohnbebauung mit Läden im von Räumen, Bauteilen und Freiräumen. In einer der Vorlesungen erklärte Erdgeschoss und die industrielle Fertigung großer Glasflächen fördern die Ent- ein*e Professor*in den Neufert für ungeeignet. Dieser würde an Hand der wicklung einer großflächig verglasten Erdgeschossfassade. Das Schaufenster Rockbreite der Hausfrau Abstände von der Badewanne und dem Unterschrank verbreitete sich.73 des Waschbeckens messen. Generell würden lediglich Frauen in Küchen oder Das Schauen und Ausstellen hinter der Glasscheibe blieb allerdings im Haushalt bei der Arbeit dargestellt. Dies wäre sexistisch und nicht mehr nicht lange den Lebens- und Haushaltswaren vorbehalten. Der Schwellenraum zeitgemäß. Tatsächlich zeigt noch heute die aktuelle Ausgabe des Buches nur zwischen öffentlich und privat wurde auch zum Ort der Prostitution74, wobei Menschen mit Kleidern und Röcken, die Sorgetätigkeiten ausführen. Die Höhe das Fenster als Kontaktfläche genutzt wurde. Durch die gesellschaftliche der Brüstung des Küchenfensters ist ebenfalls beschrieben: „es ist sinnvoll Trennung von öffentlich und privat, von Mann und Frau, war es, wie bereits Fensterbrüstungen in ausreichendem Abstand zur Arbeitsfläche festzulegen, beschrieben, für eine Frau nicht üblich, sich im öffentlichen Raum aufzuhal- um ein Abräumen der Flächen zum Öffnen der Fenster zu vermeiden.“79 Die 24 25
Zeichnung zeigt ein Fenster auf eineinhalb Meter Höhe, so hoch, dass die dahinter gezeichnete Frau gerade noch herausschauen kann. Bis heute wurde der Neufert in 16 Sprachen übersetzt und veröffentlicht.80 Neufert Bauentwurfslehre: Neufert, Hufeisensiedlung, Foto: Unbekannt Berlin 2014, S.310. ,Berlin 1930. 26 27
48 61 73 Vgl. Reinhard Sturm: Die Weimarer Paul, https://www.bpb.de/geschichte/ „Im Jahr 1901 entwickelte das Verfassung, bpb.de, https://www.bpb. zeitgeschichte/sound-des-jahrhun- Reichsgericht eine Definition für de/geschichte/deutsche-geschichte/ derts/209610/sound-der-moderne- das ‚Anstandsgefühl aller billig und grundgesetz-und-parlamentarischer- im-futurismus gerecht Denkenden‘, Prostitution rat/39193/weimarer-verfassung, war fortan sittenwidrig, das Bordell 2020. 62 war Ort der Unzucht. Prostituierte, Vgl. E. Miklautz, H. Lachmayer, das waren Gestalten der ‚Halbwelt‘, 49 R. Eisendle (Hg.): Die Küche: zur die im Untergrund ihren Geschäften Vgl. Ernst May: Das Neue Frankfurt Geschichte eines architektonischen, nachgingen. Prostitution passte nicht Heft 4, Frankfurt, 1928. sozialen und imaginativen Raums, in eine tugendhafte, aufgeklärte Wien. Gesellschaft.“ […] „Heute etabliert 50 sich mehr und mehr der Begriff der Vgl. Barbara Orland: HaushaltsTräu- 63 Sexarbeit. Wir wünschen uns, dass me - Ein Jahrhundert Technisierung Vgl. B. Orland: HaushaltsTräume - unsere Arbeit in der Gesellschaft und Rationalisierung im Haushalt, Ein Jahrhundert Technisierung und als ein wertvoller und wichtiger Königstein im Taunus, 1990. Rationalisierung im Haushalt. Teil der Care-Arbeit anerkannt wird, dass zukünftig mehr Frauen 51 64 unsere Dienstleistungen in Anspruch Vgl. J. Posener, W. Schäche: Vorle- Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky, Die nehmen, dass wir mit Stolz sagen sungen zur Geschichte der Neuen Frankfurter Küche. können, ‚ich bin Sexarbeiter*in‘, Architektur. Bd. 2. wenn wir im Smalltalk nach unserem 65 Beruf gefragt werden.“ Berufsbild – 52 Vgl. B. Orland: HaushaltsTräume - BesD e.V. Berufsverband Sexarbei“: Vgl. B. Orland: HaushaltsTräume Ein Jahrhundert Technisierung und Sexualität: Prostitution, https://www. - Ein Jahrhundert Technisierung Rationalisierung im Haushalt, S.68. planet-wissen.de/gesellschaft/se- und Rationalisierung im Haushalt, xualitaet/prostitution_die_geschich- Königstein im Taunus, 1990. 66 te_der_kaeuflichen_liebe/index.html., Vgl. M. Schütte-Lihotzky, Die Frank- abgerufen 27. November 2018. 53 furter Küche. E. May: Das Neue Frankfurt Heft 4, S.25. 67 74 B. Orland: HaushaltsTräume - Ein Siehe hierzu „Exkurs Friedrich, Mo- 54 Jahrhundert Technisierung und Rati- net, Ancher“ in vorliegender Arbeit. B. Orland: HaushaltsTräume - Ein onalisierung im Haushalt, S.68. Jahrhundert Technisierung und Rati- 75 onalisierung im Haushalt, S.65. 68 Vgl. I. Cieraad (Hg.): At home: an Klaus Spechtenhauser (Hg.): Die anthropology of domestic space, 55 Küche: Lebenswelt, Nutzung, Pers- Syracuse. Ebd. S.65. pektiven, Basel, 2006. 76 56 69 Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 77 57 70 Vgl. R. Koolhaas: Elements: a series Ebd. S.65. Vgl. E. May: Das Neue Frankfurt of 15 books accompanying the exhi- Heft 4. bition Elements of Architecture at the 58 2014 Venice Architecture Biennale. Frankfurter Küche, Foto: Stadt Vgl. ebd. 71 78 Frankfurt am Main, 1926 Frankfurt Vgl. ebd. Vgl. Weresch, Male and female am Main. 59 perception of environment and diffe- Vgl. C. Leitner: Wohnbau am 72 rences of design due to the process Wienfluss. Die räumliche Wirkung Vgl. Irene Cieraad (Hg.): At home: of socialisation des Fensters in Gründerzeitfassaden an anthropology of domestic space, im Vergleich zum Zeitgenössischen Syracuse, 1999. 79 Wohnungsbau in Wien. Ernst Neufert, Johannes Kister: Bauentwurfslehre, 40., überarb. und 60 aktualisierte Aufl., Wiesbaden, 2012, Vgl. ebd. S. 108. 80 Vgl. Ebd., S. 81. 28 29
Drei auch Einfamilienhäuser mit dezentralisierten Einkaufs- und Geschäftsmöglich- keiten außerhalb der Stadt. Die Planung der autogerechten Stadt dominiert den Das Panoramafenster Wiederaufbau.84 1945-1973 Exkurs: Dr. Oetker: Ein Mann in einem Anzug mit breiten Schulterpolstern und einer eng gebun- denen Krawatte tanzt mit einer Frau, die einen schwarzen hochsitzenden Rock trägt und eine weiße Bluse mit weiten Ärmeln und einem hohen Kragen. Sie Charlotte Perriand, eine französische Architektin und Möbeldesignerin, lächeln sich gegenseitig an und tanzen eine Standardformation. Weitere Hete- entwarf die Küche der Unité d´habitation in Marseille.81 Ein Stahlbetonbau, ropaare tanzen miteinander auf der im Bild zu sehenden Terasse. Eine blonde der mit seinen 18 Geschossen und 337 Apartments (als Maisonettewohnungen) Frau mit perfekt sitzender Frisur und einem weiten, hochsitzenden Rock stürmt eine Antwort auf die Wohnraumknappheit nach dem zweiten Weltkrieg suchte. ins Bild und drängt die Frau aus den Armen des Mannes. Dabei schimpft sie 1952 entsteht die aus Sperrholz und Aluminium gebaute, minimalisierte Ein- mit ihr und mit ihm und zieht ihn auf kurzem Weg von der Tanzfläche. Aus bauküche mit einer Neuinterpretation der Durchreiche. Perriands Einbauküche dem ‚Off‘ ertönt eine helle freundliche Männerstimme „Dieses Jahr gibt es steht wie ein halb geschlossener Kubus in der Wohnung. Anstatt Küche und wieder zwei Möglichkeiten, entweder ist er frei oder vergeben.“ Kurz danach Wohnbereich durch solide Wände voneinander abzugrenzen, installiert sie ein wieder aus dem ‚Off‘: „Wenn er wieder frei ist, wird er endlich gebunden.“ Die Möbel an dessen Schnittstelle. Die Einbauküche besitzt eine Schrankwand und Szene zeigt das Anstecken des Eherings an eine Männerhand. Der Spot springt eine Herdwand sowie das trennende Möbel mit einer Durchreiche. Die Durch- in den Innenraum eines Hauses, besser: in eine Küche, und zeigt dieselben reiche scheint aber fast überflüssig, da das Möbel gerade einmal den halben Frauenhände, wie sie sich über einer Arbeitsplatte die Ärmel hochschieben. Raum breit und nur zirka 1,5 Meter hoch ist. Rückblickend sieht sie einer heute Verschiedene Szenen zeigen nun diese Frauenhände, wie sie Teig anrühren: gängigen Kochinsel sehr ähnlich. Auf der Seite des Wohn- und Essbereichs „Wer sich nun auf den Lorbeeren ausruht, der irrt sich. Ein Mann will täglich gibt es Schranktüren und eine zirka 80 mal 30 Zentimeter große Öffnung zum auf‘s Neue gewonnen werden.“ Im nächsten Schnitt ist die Frau zu sehen, wie „Inneren“ der Küche. Die Arbeitsplatte der Küche ist zirka 60cm tief, und auf sie ein Blech vor einem Küchenfenster bestreicht. Das Fenster aus Kunststoff Höhe der Durchreiche gefliest. Die Öffnung der Perriandschen Durchreiche ist im unteren Viertel opak. Zwei Öffnungsflügel befinden sich über der opaken lässt sich, ähnlich etablierter Durchreichen, schließen. Wenn die Öffnung Fläche, diese sind jedoch zur Hälfte mit Gardinen behangen, die in der Mitte geschlossen wird, öffnet sich der Schrank in der benachbarten Fläche, auf der der jeweiligen Flügel zusammengerafft sind. Neben den zwei Fenstern in der Seite des Esstisches, wo beispielsweise Teller, Gläser oder ähnliches ihren Küche befinden sich ebenfalls zwei weitere Gardinenschals je Fenster. Der Spot Platz gefunden haben. Der Wandel der Wohnung und des architektonischen zeigt die Frau, wie sie nach Hause kommt aus dem ‚Off‘ tönt die männliche Gehäuses verweisen auf gesellschaftliche Veränderungen, auf den Wandel von Stimme: „Jetzt aber schnell. Peter kommt gleich nach Hause und hat einen Ehe und Familie, von gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Herrschaftsorgani- Bärenhunger.“ Sie zieht eine weiße Schürze über und stellt ein Blech mit Ku- sation, von Geschlechterverhältnis und Charakterstrukturen […].82 chen in den Ofen. „Eigentlich hat sie es ja viel besser als er, sie darf backen.“ In der Nachkriegszeit gab es aufgrund der hohen Kriegsschäden Die Frau mit rotem Lippenstift und perfekt sitzendem Haar beschäftigt sich eine hohe Nachfrage an bezahlbarem Wohnraum.83 Die offene demokratische mit einem Pudding am Herd, aus dem ‚Off‘: „Wir wissen ja, eine Frau hat zwei Gesellschaft setzt auf sozialen Wohnungsbau, wie die großen Programme in Lebensfragen: Was soll ich anziehen und was soll ich kochen?“ Renate, wie sie Frankreich. In Westdeutschland müssen die Städte wiederaufgebaut werden aus dem ‚Off‘ genannt wird, serviert in neuem Outfit ohne Schürze dem Mann und, um aus den Feuerstürmen des zweiten Weltkriegs zu lernen, werden im Ess- oder Wohnzimmer eine Torte, einen Kuchen „Guter Kuchen macht uns offene Stadtviertel geplant und Wohnen und Arbeiten räumlich voneinander Männer sanft und erträglich.“ getrennt. Außerdem entstehen viele Neubauviertel am Rande der Stadt oder 30 31
In Westdeutschland, der BRD, setzten sich allmählich Alternativen Wohnzimmers belichtet und belüftet.92 zu der rationalisierten Werkstatt- oder Laborküche durch. Dennoch sieht die In der Wohnbauserie 70 der DDR, die erst 1970 realisiert wurde, ver- DIN Norm 18011 von 1958 mind. acht Quadratmeter Küchen vor. „So wurden schwindet das Küchenfenster gänzlich. Da die DDR schon seit Anbeginn ihrer Einbauküchen bei den stark reduzierten Küchenflächen zur unabdingbaren Verfassung auf eine Gleichberechtigung von Mann und Frau setzt, sollen beide Notwendigkeit.“85 Als in den 60er Jahren der Kühlschrank für jede Wohnung gleichberechtigt arbeiten. Ostdeutsche Frauen haben für dieselbe Arbeit im erschwinglich wurde, ersetzte das Kühlen das damalige Einmachen. Au- Schnitt aber 20 Prozent weniger verdient als Männer. Um trotzdem die Repro- ßerdem mussten die Frauen nicht mehr täglich einkaufen, sondern konnten duktion der Arbeitskraft zu gewährleisten, gab es sehr früh Sonderregelungen, Vorräte anlegen. Größere Supermärkte etablierten sich durch die Kühltechnik wie ein Babyjahr, einen Haushaltstag die Woche, eine 40-Stunden-Woche und und so konnten portionierte, bereits teilweise vorbereitete oder gekochte genügend Krippen- und Kita-Plätze in der DDR. Trotz alledem führte es nicht Produkte im Supermarkt erworben werden.86 Vermehrt wurden Erwartungen zu einer Sozialisierung der Hausarbeit und die Frauen waren immer noch dop- an die Frau gestellt, was die emotionale Ebene der Sorgearbeit betraf. Da die pelt belastet.93 Versprechungen des technischen Fortschritts eine enorme Arbeitsentlastung Unter der Parole Das Private ist politisch94 formierte sich die Frau- verhießen. Maschinen machten die menschliche Tätigkeit unsichtbar und man enbewegung der 1970er Jahre. Die Frauen setzten auf die Sichtbarmachung versprach sich einen steigenden technischen Fortschritt, bis zu dem Punkt, an der (Sorge-)Arbeit, die im privaten Raum stattfand und forderten Gleichbe- dem die Frau lediglich Schalthebel in der Küche zu bedienen hätte.87 „Mitte der rechtigung. Durch den Fokus auf das Private wollten sie der Vereinzelung fünfziger Jahre wurde in Deutschland errechnet, dass eine Hausfrau je nach der Probleme der Frauen im häuslichen Raum entgegenwirken und sie als Grad des Beschäftigungsverhältnisses 63 bis 86 Wochenstunden für Beruf und kollektive Probleme offenlegen.95 Außerdem spielte die Auseinandersetzung Haushalt aufwendet“88, was heute fast das Doppelte einer Vollzeitbeschäfti- mit der eigenen Sexualität und Lust eine große Rolle sowie die Legalisierung gung wäre. Bis 1977 beruhte das rechtliche Prinzip der Ehe auf dem Prinzip und Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe. Fest verankerten geschlechtlichen der Einverdienerehe oder auch der Versorgerehe, was bedeutete, dass eine Rollenbilder sollte durch kollektive Lernprozesse dekonstruiert werden.96 klare Rollenteilung gesetzlich festgeschrieben wurde. Der Mann war erwerbs- tätig und die Frau hatte sich um den Haushalt zu kümmern und die Kinder zu Exkurs Womanhouse: erziehen. „Auf Initiative von CDU/CSU trug das 2. Wohnungsbaugesetz vom Judy Chicago und Miriam Shapiro haben 1972 für die Ausstellung Woman- 1. Juli 1956 den Untertitel „Wohnungsbau- und Familienheimgesetz“ und sah house in Los Angeles, Kalifornien mit einer Gruppe weiblicher Künstler*innen stärkere Maßnahmen zur Bildung von Eigentum an Haus und Wohnung vor.“89 ein leerstehendes viktorianischen Haus zu einem Ausstellungsraum in Eigenar- Es entstehen vermehrt Einfamilienhäuser oder Reihenhäuser im Grünen für beit renoviert und ihre Arbeiten in den Räumen des Hauses ausgestellt. Dabei das Modell das „insbesondere im westlichen Nachkriegsdeutschland als bür- wurde das Haus selbst zum Teil der künstlerischen Arbeit. In der Ausstellung gerliche Kleinfamilie zur gesellschaftlichen Norm“90 geworden war. entstand unter anderem die Arbeit Semiotics of the Kitchen der Künstler*in Das Modell der Münchener Küche, das es auch schon als Gegenüber Martha Rosler. Die Videoarbeit zeigt Martha Rosler in der Küche. Zu Beginn zur Frankfurter Küche in den zwanziger Jahren gab, sieht eine trennende des Videos zieht sie eine Schürze an, die den gesamten Oberkörper bedeckt Glaswand zwischen der acht Quadratmeter großen Küche und dem 19 Qua- und auf dem Rücken zugebunden werden muss. Sie steht in der Mitte des dratmeter großen Wohnzimmer vor. So konnte die Person in der Küche die Bildes zwischen einem Tisch und einem Herd und einem Kühlschrank. In der Kinder im Wohnzimmer während der Arbeit beobachten.91 Diese Küchen lagen rechten Bildhälfte hinter ihr ist ein Regal zu erkennen, auf einem der Buch- oft an einem Balkon mit direkter Tür oder lediglich einem Oberlicht, um die rücken ist die Aufschrift „MOTHER“ zu lesen. Auf dem Tisch vor ihr liegen Küche zu belichten. Die Küche ist eine Vorstufe der besonders in den Einfami- verschiedene Küchengeräte vom Nudelholz bis zur Auflaufform. Alphabetisch lienhäusern beliebten Wohnküche. Bei der Wohnküche des 20. Jahrhunderts stellt Rosler nun die einzelnen Utensilien der Küche vor, benutzt sie dabei aber verschmilzt die Küche gänzlich mit dem Wohnzimmer und es gibt keine ähnlich wie Werkzeuge. Die Buchstaben U, V, W, X, Y, Z, performt sie mit trennende Wand zwischen beiden Räumen. Sie wurde durch die Fenster des einem Messer und einer Bratengabel. Am Ende steht Rosler vor der Kamera, 32 33
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