Traiskirchen von innen. Österreichische Flüchtlingspolitik zu Beginn der achtziger Jahre.
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Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Rüdiger Wischenbart: Wien - Central Europe - Balkan Rüdiger Wischenbart Traiskirchen von innen. Österreichische An Inside View on Traiskirchen. Flüchtlingspolitik zu Beginn Refugees in Austria in the early der achtziger Jahre. 1980ies. Für Flüchtlinge bedeutet der Aufenthalt in einem Flüchtlingslager zu warten, häufig ohne genau zu wissen worauf. Das Personal des Lagers hingegen ist angehalten, die zumeist schwer vorhersehbaren Lebenswege der Flüchtlinge einem System administrativer Routine und Kontrolle zu unterwerfen. Beide leiden unter geringem öffentlichen Ansehen. Gemeinsam und gegeneinander bewältigen sie fortwährend akute Krisensituationen. Durch zahlreiche Regelungen und Begrenzungen entsteht ein Lagersystem, welches das Territorium der Flüchtlingsgesellschaft scharf trennt vom Rest der Gesellschaft, die wenigstens für die Flüchtlinge das erhoffte und phantasierte Ziel darstellt. Die permanente, zumindest innerhalb der Welt des Lagers kaum jemals auflösbare Konfliktsituation läßt zwischen Flüchtlingen und Personal freilich keine Gemeinschaft entstehen, sondern tiefe Konkurrenz. Das Lager selbst wird zur Zwischenwelt, keiner Normalität verbunden außer jener internen, selbst täglich aufs neue hergestellten und nach außen eifersüchtig abgeschotteten Alltäglichkeit, darin Gefängnissen und Internaten eng verwandt. Anrainer schließlich begegnen solchen Gebilden entsprechend scheel bis offen feindselig als einem Fremdkörper, vor dem man sich tunlich zu schützen versucht. http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (1 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Als Bruchstelle gesellschaftlicher Norm aber ist ein Flüchtlingslager ein aufschlußreicher Spiegel, an dem betrachtet werden kann, wie es eine Gesellschaft mit dem Fremden, und das impliziert selbstverständlich auch, wie sie es mit ihrem Selbstbild hält 1. Das Flüchtlingssystem Ich kam im Oktober 1982, rund ein Jahr nach der letzten großen Flüchtlingswelle - im Sommer der Solidarnosc aus Polen -, die Österreich im Kalten Krieg erreichte, als Zivildiener ins Flüchtlingslager Traiskirchen. [1] Während der ersten drei Monate lebte ich auch im Lager. Mein Zimmer lag in einem scheckig roten, zweigeschossigen Gebäude, das seltsamerweise „Mozarthaus“ hieß, früher einmal jedoch als Pferdestallung gedient haben mochte. Die meisten Zimmer dienten als Unterkünfte für Gendarmen, nur drei waren von Zivildienern belegt. Trotz der räumlichen Nähe begegnete man einander mit Distanz. Es gab wenige Gelegenheiten für ein Gespräch über Bemerkungen zum Wetter hinaus. Eine ähnliche Barriere gab es anfangs auch gegenüber den Flüchtlingen, obgleich einige gleich nebenan lebten. Die beiden Gebäude verband ein Stück Wiese unter einer alten Kastanie. Vor dem Haus waren Wäscheleinen gespannt. Wenn eine der Frauen die Wäsche abnahm, stellte sich flüchtiger Blickkontakt ein. Mehrere kleine Kinder spielten, lachten, warfen einander Bälle zu. Ein größeres Mädchen zeigte den kleinen Geschwistern, wie man den Ball fängt. Ihrer Sprache nach waren es Rumänen. Ich saß auf einer Bank wenige Meter entfernt. Zu einem Gespräch kam es nie. Ein Flüchtlingslager, lernte ich mit der Zeit, ist ein schlechter Ort, um Freundschaften zu schließen. Es ist ein Ort komplizierter Trennungen und verschachtelter Hierarchien. Die Teilung in Flüchtlinge und Personal ist dabei nur die gröbste Gliederung, wenngleich die einschneidendste. Sie bewirkt unter anderem, daß jede Episode aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann, aus jener des subjektiven Erleidens oder Erduldens (und auch ein diensthabender Gendarm kennt diesen Zustand der Passivität nur zu gut), sowie aus einer entgegengesetzten Sicht, wenn der Beobachter auch selbst einzugreifen und nach eigener Wahl zu handeln vermag. Als wir Zivildiener am ersten Tag in unsere künftige Tätigkeit eingewiesen wurden, erzählte uns ein Mitglied der Lagerleitung zur Einstimmung von der allmählichen Veränderung seines eigenen Blickwinkels. Anfangs habe er angesichts der Fülle der täglichen Probleme im Lager häufig ein Gefühl von Ohnmacht verspürt. Er wollte sich für jeden einzelnen Flüchtling persönlich einsetzen. Mit der Zeit jedoch, setzte der http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (2 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Administrator fort, sei er abgestumpft, teils aus Überforderung, mehr aber noch, weil er so häufig, trotz seiner Bemühungen, „hintergangen“ worden sei. Die Klage über die „Undankbarkeit“ der Flüchtlinge, erfuhren wir Neulinge bald, war eine durchgängige Melodie in den Selbstdarstellungen des Personals. Die Episoden, die zur Beweisführung herangezogen wurden, waren Legion. Was immer man den Flüchtlingen an Annehmlichkeiten biete, sie wüßten es nicht zu schätzen. Sie seien apathisch oder aggressiv, an ein geregeltes Leben und zivilisierte Umgangsformen nicht gewöhnt. Ihre Zimmer verwandelten sie in Höhlen („Wir haben auch Afrikaner und Asiaten hier“). Sie versuchten, die Lagerleitung zu übervorteilen. Sie zerschlügen mutwillig die Einrichtungen. Immer wieder käme es vor, daß einer in einem oberen Stockwerk in lebensgefährlicher Akrobatik auf einen Fenstersims sitze, nur für ein Sonnenbad. Das Bild von den Flüchtlingen ähnelte dem von Kriminellen oder von Kindern. Sie alle gelten als fremdartig und verantwortungslos. Für die Flüchtlinge hingegen präsentierte sich das Lager als ein schwer durchschaubarer Komplex, in dem zuverläßliche Informationen über Regelungen und Möglichkeiten zwar über die Chancen für das eigene Fortkommen entschieden, doch kaum zu bekommen waren. Das Verwaltungsgebäude, in dem Administration und Leitung des Lagers wie auch die Zentrale der Lagergendarmerie untergebracht waren, war wochentags, Tag für Tag, Ziel für eine schier endlose Kolonne von Auskunftssuchenden. Der Gang vor den Büros war von Wartenden verstopft. Ganze Familien saßen auf gepackten Koffern und warteten, daß sie in ausgelagerte Quartiere gebracht würden. Andere versuchten, Organisatorisches zu erfragen. Wiederum andere kamen von auswärts ins Zentrallager von Traiskirchen, um ein Dokument in Ordnung zu bringen oder auch nur in der Hoffnung, bei der Ausgabe von Kleidern einen guten Startplatz zu ergattern. Taktische Überlegungen und die Suche nach günstigen Ausgangspositionen für die Erreichung selten präzise definierbarer Ziele prägten den Tagesablauf und den Lebensrhythmus der Flüchtlinge ganz entscheidend. Es ging dabei mitunter tatsächlich um sehr viel. Einmal sollte ich, gemeinsam mit einer Gruppe von Ungarn, drei Vietnamesen in ein zweihundertfünfzig Kilometer entferntes Außenlager transportieren. Es gab eine aufgeregte Diskussion in der Lagerleitung, ob dies ohne Polizeischutz zu verantworten sei. Plötzlich war einer der drei verschwunden. Auch eine ausgedehnte Suche nach dem Vermißten blieb ohne Resultat. Da die Überstellung von Flüchtlingen zur täglichen Routine gehörte, überraschte mich die Aufregung. http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (3 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Unterwegs kauerten sich die beiden verbliebenen Vietnamesen ängstlich in eine Ecke des Kleinbusses und blieben stumm. Ihre Angst war mit Händen zu greifen. Während einer Fahrtpause an einer Autobahnraststätte kam in holprigem Englisch Licht in die verwickelte Geschichte. Die beiden jungen Männer hatten von ihrer - kommunistischen - Regierung ein Stipendium erhalten, um in Polen Mathematik und Physik zu studieren. Schon nach einem Jahr hatten sie es vorgezogen, sich über Jugoslawien in den Westen abzusetzen. So waren sie nach Traiskirchen gelangt. Von da hatte man sie ins Außenlager von Thalham in Oberösterreich überwiesen, in dem schon mehrere vietnamesische Familien untergebracht waren. Bloß, jene Landleute in Thalham waren als Boatpeople vor den Kommunisten geflüchtet. Für sie waren die Neuankömmlinge via Polen doppelte Nutznießer des verhaßten Regimes, als staatlich geförderte Stipendiaten wie auch noch als privilegierte Flüchtlinge, die nicht den lebensgefährlichen Weg über das chinesische Meer nehmen, sondern nur die komfortable grüne Grenze nach Österreich überqueren hatten müssen. Die beiden Studenten hatten um ihr Leben gefürchtet, als sie die Situation, in die sie in Thalham geraten waren, erkannten. Wohl nicht ganz zu Unrecht. Noch in der ersten Nacht kletterten sie aus dem Fenster und türmten per Autostop zurück nach Traiskirchen. Wenige Kilometer vor dem Ziel hatte sie eine Gendarmeriestreife gestellt und als Landstreicher ohne Geld und Papiere ins Lager gebracht. Dort schickte man sie ohne großes Federlesen zurück nach Thalham. Verständigungsbarrieren hatten an der bizarren Reaktion der Lagerleitung keine Schuld. Die beiden sprachen fließend polnisch, und Dolmetscher fürs Polnische gab es 1982, am Höhepunkt der Welle polnischer Flüchtlinge in Traiskirchen, in großer Zahl. Die Logik der Administration hatte einfach Vietnamesen zu Vietnamesen gruppiert. 2. Die Administration Die Anlagen des Flüchtlingslagers in Traiskirchen haben ihre eigene komplizierte Geschichte. Die zentralen Gebäude wurden 1903, in der Spätzeit der Doppelmonarchie, als k. u. k. Kadettenanstalt errichtet. Die Erste Republik widmete die Anlage für zivile Zwecke um. Man richtete gemäß den Maximen des sozialdemokratischen Schulreformers Otto Glöckel ein Gymnasium für begabte Landkinder unter dem etwas zwielichtig klingenden, wenn auch bildungsoptimistisch gemeinten Namen „Bundeserziehungsanstalt“ ein. Die „Otto Glöckel Straße“, die heute dem Lager die Anschrift leiht, erinnert noch daran. Eliteinternat blieb die Anstalt auch unter den http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (4 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Nationalsozialisten, wenngleich die Zwecke für die „nationalpolitische Akademie“, Napola, ideologisch streng nazistisch ausgerichtet wurden. 1945 bis 1955 waren sowjetische Besatzungstruppen einquartiert. Mit der Flüchtlingswelle aus Ungarn 1956 fand das Areal seine Bestimmung als Flüchtlingslager. Der Markt Traiskirchen ist eine Weinbaugemeinde an der Südbahn, weniger spektakulär gelegen als pittoreske Orte in Hanglage wie Gumpoldskirchen, wirtschaftlich geprägt durch die krisenanfälligen Gummiwerke von Semperit. Teesdorf, wo Hermann Broch sich vom Industriellenerben zum Schriftsteller wandelte, ist ein Nachbardorf. Kindern ist Traiskirchen indirekt durch die am Ortsrand zwischen Weingärten und Lager produzierten Bauklötze von Matador ein Begriff. Seit 1956 ist das Wort Traiskirchen ein von neuen Erinnerungen und Erfahrungen aufgeladener Name. Für Generationen von Flüchtlingen, großteils aus Osteuropa, aber auch aus Afghanistan, Uganda, Vietnam oder Syrien, blieb der Ortsname ein Synonym für die Ankunft im „Westen“ sowie, untrennbar damit verbunden, für die ersten Ernüchterungen, die der vergoldete Westen Neuankömmlingen entbietet. Der damalige Bürgermeister von Traiskirchen, Josef Musser, definierte das Lager rund heraus als „Fremdkörper“ in seiner Gemeinde, wenngleich er einräumte, daß eine Absiedelung wohl ein „unrealistischer“ Wunsch sei. Die Zahl von durchschnittlich 1.400 bis 1.500 Flüchtlingen entsprach einem Zehntel der Ortsbevölkerung. An der Lagerstraße standen Morgen für Morgen Dutzende junge Männer in der Hoffnung auf Schwarzarbeit. Der Lohn von 20 bis 40 Schilling pro Stunde entsprach einem Bruchteil der Kosten selbst für einen türkischen oder jugoslawischen Gastarbeiter. Achtzig bis hundert reguläre Arbeitsplätze gingen der Ortsbevölkerung auf diese Weise verloren, schätzte der Bürgermeister. Einnahmen habe die Gemeinde kaum, da der Bedarf des Lagers großteils in Wien gedeckt würde. Für nahezu jeden Flüchtling, der nach Österreich kam, war Traiskirchen zumindest eine entscheidende Zwischenstation. Im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes des Lagers residierte, streng abgeschottet, die Staatspolizei. In der Regel verbrachte jeder Neue einige Tage in „Quarantäne“, wie es im Lagerjargon hieß. Mit Gesundheit hatte dies freilich nichts zu tun. Vielmehr wurden die Papiere der Flüchtlinge überprüft und jeder einzelne einem in der Regel kaum mehr als fünf- bis zehnminütigen „Interview“, einem Verhör, unterzogen. Die Erkenntnisse aus diesem Gespräch entschieden maßgeblich darüber, wer „anerkannt“ wurde als „politischer Flüchtling“ im Sinne der Genfer Konvention, oder aussortiert und einer wenig aussichtsreichen Zwischenexistenz ohne klar definierten Rechtsstatus überantwortet wurde. Zwar lag zu Beginn der achtziger Jahre, in der letzten Eiszeit des Kalten Krieges, nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und dem kommunistischen Putsch http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (5 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Jaruzelskis in Polen, die Rate der Anerkennungen mit siebzig bis achtzig Prozent noch überaus hoch. [2] Doch schon 1983 war der Druck auf die Flüchtlingspolitik in Österreich so hoch, daß Karl Blecha als neuer Innenminister Überlegungen zur Verkürzung der Verfahren und zur Senkung der Quoten anstellen ließ. Der Flüchtlingskomplex stellte indessen in Österreich in Jahren hohen Aufkommens einen beträchtlichen Wirtschaftsfaktor dar. 1,434 Milliarden Schilling wendete das Innenministerium 1982 für diesen Bereich auf (gegenüber 172 Millionen im „ruhigen“ Jahr 1980). 1,1 Milliarden Schilling wurden allein an in ganz Ostösterreich verstreute Gasthöfe und Pensionen ausbezahlt, in denen Flüchtlinge vorübergehend untergebracht wurden. In solchen Spitzenzeiten war Traiskirchen gerade noch zentrale Einlauf- und Koordinationsstelle für das Flüchtlingswesen. Neun von zehn Flüchtlingen wurden dezentral untergebracht. Die meisten Quartiere gab es in strukturschwachen Regionen, im Alpenvorland, im niederösterreichischen Waldviertel nahe der Grenze zur CSSR, oder im burgenländischen Seewinkel. Die Aufteilung der Flüchtlinge war zu Beginn der achtziger Jahre durchaus bewußt als Regionalförderung angelegt. Zugleich aber zeugte die personelle Ausstattung wie auch die hierarchische Ansiedlung der Flüchtlingsadministration von einer außerordentlichen Geringschätzung des gesamten Komplexes durch den Staat. Dies ist das zentrale Paradox, das in der Beschaffenheit von Traiskirchen zum Ausdruck kommt und modellhaft für die gespaltene politische Haltung Österreichs gegenüber Immigranten jeder Schattierung steht. Der Lagerleiter, im Alltag nahezu uneingeschränkter Herrscher über das Wohlergehen von bis zu dreißigtausend Flüchtlingen (denn man muß in dieser Hinsicht jene in den Außenstellen dem Bestand in Traiskirchen hinzuzählen), war mit einem Regierungsrat besetzt, einem gewiß praktisch erfahrenen B-Beamten, einem Staatsdiener jedoch ohne besondere Ausbildung, dem es auch in jeder Hinsicht an den außerordentlichen Anforderungen adäquaten formalen Entscheidungskompetenzen gebrach. Der Rekurs auf bürokratischen Kleinkram war das höchste Regulativ, welches ihm zu Gebote stand. Hierarchisch entsprach ihm der lokale Postenkommandant der Gendarmerie. Der Vorgesetzte des Lagerleiters im Ministerium, ein Ministerialrat, kontrollierte den gesamten Flüchtlingskomplex. Unter Innenminister Erwin Lanc wurde zwar zu Beginn der achtziger Jahre ein sozialpartnerschaftlich besetztes „Kuratorium für Flüchtlingshilfe“ eingerichtet, das sich um Maßnahmen zur Integration von Flüchtlingen bemühen sollte. Daß 1983 von dessem Vorsitzenden, Felix M. Bertram, die Einrichtung eines ersten Schweißerkurses für Polen ausdrücklich als Erfolg herausgehoben wurde, [3] zeigt deutlich, wie begrenzt die http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (6 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Durchschlagskraft dieser Maßnahme war. Im gesamten Lager Traiskirchen gab es eine einzige Sozialarbeiterin, die auch noch einen Großteil der in Pensionen und Gasthöfen angesiedelten Flüchtlinge hätte betreuen sollen. Es gab einen praktischen Arzt im Lager für die Betreuung der Flüchtlinge. Die unzureichende und unrealistische Ausstattung spiegelte zu Beginn der achtziger Jahre eine längst irreale politische Konzeption wieder. Österreich definierte sich immer noch als ein „Transitland“ für Flüchtlinge, obwohl es längst im Begriff war, (wieder) zum Einwanderungsland zu werden. Viele hämische Anekdoten über Flüchtlinge, die im Merzedes aus Polen kamen und im Winter 1981/82 angeblich erst einmal Wintersportorte, und dann erst Traiskirchen ansteuerten, untermauerten unfreiwillig den Befund der Doppelbödigkeit. Im pragmatischen Umgang mit Flüchtlingen wurde längst der niemals näher definierte Begriff vom „Wirtschaftsflüchtling“ geprägt. Die emotionale Solidarität galt immer noch „Verfolgten“, denen man jedoch abverlangte, daß sie nicht nur ärmer als die durchschnittliche österreichische Bevölkerung zu sein hätten. Man erwartete auch weitgehenden Verzicht auf Forderungen an das Aufnahmeland. Österreich war nicht bereit, den Flüchtlingen praktische Lebensperspektiven einzuräumen. Im Gegenteil. Der Kalte Krieg hatte seit 1956 das Land in die praktische Position versetzt, daß Flüchtlinge zumindest unterschwellig als heroische Opfer anzusehen waren, denen nach kurzem Zwischenaufenthalt eine kosten- und für Österreich verantwortungsfreie Weiterreise in Drittländer nahegelegt wurde. In diesem Sinn war Österreich das „erste Land des Westens“, auf welches dann ein zweites als tatsächliches Aufenthaltsland folgen sollte, das auch die weiteren Kosten übernahm. 1981 wanderten von insgesamt 9072 infrage kommenden Flüchtlingen noch 3372 weiter in die USA, 2389 nach Kanada, 2241 nach Australien; 1982 gingen von insgesamt 20.730 rund ein Drittel, nämlich 7.009 in die USA, 4.739 nach Kanada, 4.449 nach Australien, 2.071 nach Südafrika. Deklariertes Ziel österreichischer Flüchtlingspolitik und ihrer administrativen Umsetzung war, dafür zu sorgen, daß Flüchtlinge aus den sozialistischen Ländern möglichst ohne großes Aufhebens als Auswanderer in die klassischen Immigrationsländer USA, Kanada, Australien und in geringem Umfang auch nach Südafrika weitergeleitet wurden. Dies zeigte sich im kleinsten Detail. Bereitgestellt wurden Englischkurse, keine http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (7 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Deutschkurse, Übergangsquartiere in abgelegenen Gasthöfen, doch nur wenige Wohnungen, keine Arbeitsplätze. Zwar gab es im Lager selbst eine Außenstelle des Arbeitsamtes, doch Dauerarbeitsplätze, wurde mir von dessen Referenten versichert, habe er kaum jemals vermittelt. Der damals im Innenministerium für Traiskirchen unmittelbar zuständige Beamte, Regierungsrat Gerhard Litschka, führte auf Befragen eine Argumentationskette vor, die, wenn nicht gerade schlüssig, so zumindest aufrichtig und konsequent ist: „Glauben Sie wirklich, daß man die Auswanderung fördert, wenn man hier Deutschkurse abhält?“ Wer einen Deutschkurs besuche, erwarte bald auch eine Wohnung und einen Arbeitsplatz. Und selbst wenn man bereit sei, in Einzelfällen eine Wohnung als Starthilfe bereitzustellen, stoße man sofort auf neue Hindernisse: „Die verbotene Ablöse können wir nicht bezahlen, und ohne Ablöse geht es doch nicht.“ In diesen Jahren konnten indessen nur noch massive Hilferufe der österreichischen Bundesregierung unter Bruno Kreisky erreichen, daß die Kontingente der klassischen Einwanderungsländer einigermaßen dem österreichischen Bedarf entsprachen. In Traiskirchen kursierten längst Briefe, in denen vom rauhen Willkommensgruß in den Drittländern, von Arbeits- und von Perspektivelosigkeit die Rede war. Selbst die zuständigen Beamten des österreichischen Innenministeriums rechneten, daß in Hinkunft wenigstens drei- bis fünftausend Flüchtlinge pro Jahr in Österreich bleiben würden. Bezeichnend war das Fehlen einer übergeordneten, positiven politischen Formulierung des Problems. Der östereichische Staat stellte sich zwar - nach außen wie auch vor der eigenen Bevölkerung - als großzügiger Hafen für die Verfolgten des Ostens dar. Gleichzeitig versuchte man aber, die praktische Bewältigung des Flüchtlingsproblems auf eine dermaßen untergeordnete administrative Ebene auszulagern, daß das Ergebnis zwangsläufig für alle Beteiligten unbefriedigend bleiben mußte. Bereits zu Beginn der achtziger Jahre war also klar, daß aus einem „Transit“-Problem eine Situation regulärer Immigration aus Ost- und Südosteuropa entstanden war. 3. Flüchtlingslebensläufe Margot, Jiri [*] und ihre beiden kleinen Kinder flüchteten 1981 aus der CSSR über http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (8 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Jugoslawien nach Österreich. Mehrmals wurden sie von jugoslawischen Grenzern zurückgewiesen. Dann klappte es. Die österreichischen Zöllner beglückwünschten sie mit Wein. Von der Südsteiermark wurden sie direkt nach Traiskirchen überstellt. „Wir kamen um acht Uhr abends an. Da war Traiskirchen schon zu“, erinnerte sich Margot bei unserem Gespräch im Frühsommer 1983. Vor dem Lagertor kampierten „mindestens zweihundert Leute auf der Straße“. Es war am Höhepunkt des Zustroms polnischer Flüchtlinge. Noch am selben Tag wurden sie, wegen des großen Andrangs ohne Zwischenstation in der „Quarantäne“, in eine Pension in Tannenberg überstellt. „Die ersten vierzehn Tage, das war das Paradies. Wir waren so froh, daß alles geklappt hat.“ Doch bald änderte sich der Stimmungszustand. „Mein Mann hat mir gesagt, das dauert so drei Monate. Ich habe damals noch gesagt, drei Monate, das ist ein bißl lang. Jetzt sind das fast zwei Jahre geworden.“ Auf die kurze Euphorie folgte die Ernüchterung durch die Umstände, unter denen sie untergebracht waren. „Für die Chefin waren wir keine Menschen.“ Ein halbes Jahr lang, von August bis Dezember 1981, lebten sie in einem Zimmer auf engstem Raum. Nicht einmal am Gang durften die Kinder spielen. Warmes Wasser bereiteten sie mit einem Tauchsieder in einem Kübel. Die Wirtsleute trachteten, die Flüchtlinge möglichst vor den regulären Gästen zu verstecken. Wenn sie Wäsche im Zimmer zum Trocknen aufhingen, wurde ihnen vorgehalten, dies sei offenbar „tschechische Kultur.“ Das Warten wurde zermürbend. „Ein Tag war wie eine Woche. Nach einem Jahr waren wir das dann schon gewöhnt.“ Die Gewöhnung aber erwies sich als tückische Hürde. Denn Gewöhnung hieß apathisches Hinnehmen des status quo und Verzicht auf Eigeninitiative zur Verbesserung der Lage. Ohne persönlichen Einsatz aber war ein Entkommen aus der Abhängigkeit vom Flüchtlingsversorgungssystem nahezu unmöglich. Der Mann suchte Arbeit. Sie waren als Flüchtlinge anerkannt, konnten sich folglich sogar am legalen Arbeitsmarkt bewegen. Jiri, ein Tiefbauingenieur, jobte in „mindestens zwanzig Berufen.“ http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_cen...l-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (9 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich „Ich muß schwarz arbeiten“, sagte Jiri, „verdiene ein bißchen Geld, aber dieses Geld brauche ich gleich wieder für Bus und Bahn, um neue Arbeit zu suchen. Ich bin einmal fast vierhundert Kilometer zu einer Arbeit gefahren. Die Fahrt dorthin kostete vierhundert Schilling. Ich habe drei Tage gearbeitet und sechshundert Schilling verdient. Dann mußte ich zurückfahren.“ Jeder Flüchtling wurde in seinen grundlegendsten Bedürfnissen durch das Lagersystem versorgt. Es gab, zusätzlich zu Kost und Logis, Monatsrationen für die persönliche Hygiene, gebrauchte Kleider wurden verteilt, und jeder Erwachsene, der außerhalb des Lagers Traiskirchen lebte, erhielt für persönliche Aufwendungen ein monatliches „Taschengeld“ von 240 Schilling. Das Taschengeld wurde in allmonatlichen Rundreisen von Lagerbediensteten persönlich an die Flüchtlinge ausbezahlt. Bei einer solchen Tour in einem Gasthof nahe der tschechischen Grenze geschah es, daß ein Flüchtling fehlte. Der angereiste Lagerbedienste kommandierte die Anwesenden im befehlsgewohnten „Du“, um den Abgängigen zu suchen. Da trat der Wirt, ein unscheinbarer Mann, auf ihn zu, grüßte mit einem unüberhörbar österreichischen „Grüß Gott“, ließ die Schelte, die ihm als vermeintlichem Polen galt, schmunzelnd über sich ergehen, quittierte, nahm das Geld und verabschiedete sich freundlich im Namen des fehlenden Flüchtlings. Der Lagerangestellte hatte nichts bemerkt. Es gab Gastwirte, die ihre Flüchtlinge geradezu als ihre Schutzbefohlenen betrachteten. Nicht unbedingt ohne Eigennutz, denn sie wußten auch um das für die abgelegenen Regionen ungewohnte Fixgeschäft durch die Beherbergung, das besonders für größere Betriebe lohnend war. Auch den Flüchtlingen kam solch ein aufgeklärter Internatsbetrieb durchaus zugute. Die Übersiedlung, nach mehreren negativen Erlebnissen, in ein positives Umfeld in Baden bei Wien war auch für Margit, Jiri und die Kinder ein erster Schritt in Richtung auf ein normales Leben - und dies meint immer die soziale Integration. „Wir bekommen hier Essen und Schlafen gratis“, kommentiert Margot. „Die Österreicher glauben, die Flüchtlinge haben es gut. Sie müssen nicht kochen. Das ist das Paradies. Keine Arbeit. Nur Schlafen. Aber was können wir machen ohne Arbeit? Für uns ist das nicht gut. Wir haben genug von den Pensionen. Wir wollen normal wohnen.“ Zahllose Anekdoten illustrierten den Alkoholismus und das Einbunkern von Flüchtlingen in ihren Unterkünften. Sie dienten auch dazu, das Bild vom abnormen Verhalten der Marginalisierten zu belegen. Aber selbst in Fällen, wo sich Herbergsgeber um ein gütliches Verhältnis bemühten, http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (10 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich blieben Flüchtlinge und heimische Gäste, Österreicher und Ausländer, unvereinbar. „Ich kann es mir nicht vorstellen; entweder bleibt der österreichische Gast aus, oder es fühlen sich die Flüchtlinge zurückgesetzt“, sagte Frau Satran, deren Familie in mehreren Unterkünften im niederösterreichischen Alpenvorland zeitweise mehrere hundert Flüchtlinge beherbergte. Großteils blieben die Flüchtlingsquartiere von den Räumen, die noch regulären Betrieb für einheimische Gäste unterhielten, strikt getrennt. Auffällig war für sie wie für viele, die mit den Flüchtlingen auf einer Alltagsbasis zu tun haben, deren psychische Streßsituation. „Es ist jeder auf sich selbst bedacht. Eine direkte Gemeinschaft [der Flüchtlinge] besteht eigentlich nicht.“ Eine Frau habe nach der zweiten Ablehnung ihres Gesuchs um Weiterwanderung nach Übersee einen Gallenanfall bekommen. „Sie zeigen es nicht so. Aber im Inneren hat jeder zu kämpfen.“ Im Sommer 1983 nahm Satran im extra angemieteten, heruntergekommenen Schlößchen eines einstigen „Hotel d’Orange“ und dem nahen „Hotel Stephanie“ aus der verblühten k.u.k. Monarchie um die hundert Afghanen aus Traiskirchen auf. Anlaß war deren Revolte gegen eine Verköstigung im Hauptlager, die keinerlei Rücksicht auf das islamische Schweinefleischverbot nahm. Unter den Polen bei Satran hatte sich zufällig eine Frau gefunden, die mit einem Afghanen verheiratet war und authentisch afghanisch zu kochen verstand. Die Zutaten fanden am Wiener Naschmarkt ohne größere Probleme zu kaufen. Kosten und Einnahmen stimmten für Satran ebenfalls. So wurde ein schwelendes Problem gelöst. Die afghanische Episode kannte mehrere aufschlußreiche Einzelheiten. Ich war auf die Flüchtlinge aus dem heißesten Stellvertreterkrieg der Großmächte in den frühen achtziger Jahren noch im Hauptlager Traiskirchen aufmerksam geworden. Es ging um rund einhundertvierzig großteils junge Männer, die innerhalb weniger Wochen, jeweils in kleinen Gruppen, mit der wöchentlichen Maschine aus Teheran nach Österreich gelangt waren. Alle trugen in ihren - durchwegs gefälschten - Pässen das gleiche, fehlerhafte österreichische Visum, in dem „Österreich“ jeweils mit nur einem „R“ geschrieben war. Ein paar Jahre später lernte ich im pakistanischen Islamabad die Hintergründe kennen. Ein Afghane, dessen Bruder die Überfuhr nach Europa schon geplant, doch im letzten Augenblick verpaßt hatte, erzählte mir die Geschichte. (Sein Bruder war unterdessen http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (11 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich längst in Deutschland angelangt.) Es hatte eine Schlepperorganisation gegeben, bei der bessere Familien in Kabul und in Herat gegen einen Fixbetrag in Dollar den Transfer nach Österreich regelrecht buchen konnten. Garantiert wurde sicheres Geleit zu Fuß über abgelegene Pässe in den Iran, dort ein Transport nach Teheran, ein Paß mit dem in Österreich schließlich auffälligen Visum sowie ein Ticket mit Austrian Airlines nach Wien. In Traiskirchen hatten die gut ausgebildeten und selbstbewußten Afghanen, trotz ihrer geringen Zahl, rasch für Unannehmlichkeiten gesorgt. Die aufmerksame Reaktion bei Satran entschärfte den Konflikt wenigstens vorübergehend. Nahezu alle Afghanen sind meines Wissens schließlich in die USA ausgewandert. „Wir haben alles, ein Bett, zu essen und viel Zeit“, sagte mir einmal ein junger Pole. „Aber das ist ein gutes Leben für Kinder, nicht für Erwachsene.“ Die Paradoxa konzentrierten sich auf besondere Weise im Hauptlager von Traiskirchen. Auf den ersten Blick wenigstens schien es keine besondere Regel dafür zu geben, wer blieb, und wer anderswo untergebracht wurde. Natürlich gab es jede Menge Gerüchte, daß jede gewünschte Pensionsadresse für entsprechendes Bakschisch zu haben sei. Zu beweisen war derlei kaum. Tatsache ist, daß in Traiskirchen längerfristig vorwiegend besondere Fälle unter den ohnehin Marginalisierten blieben. Zwei Inder aus Uganda, beide seit beinahe zehn Jahren in Traiskirchen, galten als Faktotum im Lager. Das Hauptgebäude wurde im Jargon „Hilton“ genannt. Es beherbergte nahezu ausschließlich Junggesellen. Auf drei Etagen, aufgefädelt an langen geraden Fluren der einstigen Kadettenanstalt, in denen scharfe Schritte hallten und Türen effektvoll aufgerissen werden konnten, war jedes einzelne Zimmer von sechs bis acht erwachsenen Männern bevölkert. Da brauchte es kein drastisches Regime mehr, um eine beängstigende Atmosphäre entstehen zu lassen. Die Wände und die Eisenbetten waren abgeschabt, die Spinde beklebt mit Pinups. Dazwischen wurde spärliches Privatgut gestapelt und gegen Zugriffe bewacht. Die jungen Gendarmen erzählten Geschichten von Schlägereien zwischen verfeindeten Polen und Tschechen, bei denen ein zufälliger erster Augenzeuge auf Patrouillengang rasch wieder türmen mußte, um erst einmal Verstärkung zu holen. Zumindest zweimal wurde in der Folge solcher Auseinandersetzungen ein Flüchtling in einen Spind gesperrt und aus einem Fenster im zweiten oder dritten Stockwerk gestürzt, mit tödlichen Folgen für den Unglücklichen. Die Fälle blieben unaufgeklärt, obwohl im Geschoß darüber die http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (12 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Staatspolizei ihre „Quarantänestation“ unterhielt. Die Schlägereien mitsamt Todesfällen sind gut dokumentiert. Doch ebenso zum Klima zählte eine grausame Ethnografie des Lagers, basierend auf Gerüchten, bei denen man nach meinen Beobachtungen allerdings in den Tatbeständen, weniger in den „ethnischen“ oder nationalen Spezifikationen, die stets als Erklärung mitgeliefert wurden, von einem soliden Grundstock an Faktizität ausgehen kann: Rund um den Zuzug aus Polen habe sich ein schwunghafter Handel mit Gebrauchtwagen etabliert; die Ladas und Zastavas der Flüchtlinge, denen es an Geld mangelte, seien um einen Pappenstiel aufgekauft und, unter Mithilfe österreichischer Zwischenhändler, in den Osten reexportiert worden; die Prostitution im Lager hätten rumänische Zigeuner kontrolliert; Ceausescus Rumänien würde über Informanten im Lager stets komplette Flüchtlingslisten beziehen. Aber auch das Bewachungspersonal wurde einbezogen ins reihum geflüsterte Deutungssystem: die meisten Gendarmen seien strafversetzte Beamte aus dem Burgenland. Es geht mir bei diesen Gerüchten nicht um den Wahrheitsgehalt einzelner Behauptungen, sondern um eine furchtbare Gesamtatmosphäre, die aus allgemeiner Verunsicherung und Desinformation erwächst und Flüchtlinge wie Lagerpersonal gleichermaßen umschließt. Keiner ist ausgenommen, keiner weiß die Wahrheit, keiner bleibt unbehelligt, solbald er dieses Universum betritt, egal durch welche Tür. Auf bizarre Weise bildete sich in solcher Verunsicherung der totalitäre Charakter der Herkunftsländer der meisten Flüchtlinge an der ersten Etappe jenseits der Schwelle noch einmal ab. 4. Tücken des Flüchtlingssystems Eines Abends im Spätherbst 1982, es war schon recht kühl, kehrte ich ins Lager Traiskirchen zurück und bemerkte, wie zwei Afrikaner sich redlich mühten, dem diensthabenden Gendarmen am Tor ein Anliegen nahezubringen. Durch einiges Nachfragen wurde ein Problem sichtbar, dessen Lösung die Kompetenz des Beamten schlicht überstieg. Die beiden Afrikaner stammten aus Zaire, lebten schon mehrere Monate in Österreich, anfangs legal als Touristen, nun aber, da ihre Pässe abgelaufen waren, als U-Boote. Beide waren Söhne besserer Familien, die in einer für ihre Familie schwierigen innenpolitischen Situation in ihrer Heimat die Flucht ins sichere Ausland vorgezogen http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (13 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich hatten. Zu recht, wie sich zeigte, denn neueste Nachrichten von ihren zurückgebliebenen Angehörigen ließen es für sie ratsam erscheinen, in Österreich um Asyl anzusuchen. Das östereichische Asylgesetz sah jedoch vor, daß ein Flüchtling innerhalb von zwei Wochen und ohne vorausgegangenen Zwischenstop in einem sicheren Drittland um Asyl anzusuchen hat. Diese Frist war für die zwei Hilfesuchenden überschritten, ein Asylgesuch deshalb nicht mehr möglich. Der Gendarm am Lagereingang aber hatte mit einem viel banaleren Problem zu kämpfen. Er behauptete, für die Aufnahme von Flüchtlingen nach Dienstschluß sei der diensthabende Lagerbeamte, nicht der Gendarm am Tor zuständig. Meine Nachfrage beim diensthabenden Lagerbeamten ergab, daß dieser die Sachlage genau umgekehrt sah. Es war unterdessen elf Uhr nachts geworden. Die Novembernacht versprach, kalt zu werden. Der Aufforderung des Gendarmen, die beiden Afrikaner sollten doch am nächsten Morgen wiederkommen, konnte ich begegnen. Nach einer weiteren Verhandlungsrunde zeichnete sich dann eine bezeichnende Lösung ab. Der Gendarm fragte mich, ob ich „Samy“ kenne, einen Ghanesen, der im Lager unter stillschweigender Aufsicht der Gendarmerie den halboffiziellen Alkoholhandel organisierte. (Die jeder öffentlichen Kontrolle entzogene Versorgung mit Wodka der Marken „Schwarzer“ bzw. „Weißer Adler“ sowie die Herstellung von Fusel aus Kartoffeln schien indessen eher in polnischer Hand zu sein; einmal wurde im Keller des Hauptgebäudes eine geheime Kartoffelbrennerei ausgehoben.) Samy, meinte der nun hilfsbereite Posten, verfüge über Quartier. Allerdings, trotz seiner Kooperationsbereitschaft ließ der Beamte die Herbergssuchenden nun nicht einfach beim Haupttor ein. Er erklärte umständlich, wo die Umzäunung des Lagers unaufällig überstiegen werden könne. Dorthin schickte ich meine beiden Schützlinge, holte sie von der Innenseite ab und führte sie zu Samy, der sie ohne weitere Umstände für die eine Nacht einquartierte. Die Schlußpointe ergab sich am folgenden Morgen, als ich die beiden vor der Lagerleitung wiedertraf, im Begriff, das Lager zu verlassen. Sie erzählten mir, ihnen sei von der Lagerleitung erklärt worden, daß man sie nicht aufnehmen könne. Nähere Gründe habe man ihnen nicht mitgeteilt. Nur wußte ich vom Vorabend aus eigener Anschauung, daß ihre Päse abgelaufen waren, sie also „illegal“, wenn auch ab jetzt mit Wissen des Innenministeriums, in Österreich waren. Der pragmatische Spalt zwischen Rechtsnorm und Alltag aber war bezeichnend für die gesamte österreichische Flüchtlingspolitik in den achtziger Jahren. Und der Schluß ist naheliegend, daß eine http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (14 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich gerade Linie von diesen Widersprüchlichkeiten zur prekären neuen Ausländergesetzgebung von 1991/92 führt, als die Füchtlings- zur Ausländerfrage geworden war. Die Tücke liegt, heute wie damals, im für die Betrofenen unüberschaubaren Detail. Samy, der Ghanese, war, obwohl aufgrund seines Handelstalents innerhalb des Lagers privilegiert, insgesamt selbst Opfer des Systems. Sein Antrag auf Anerkennung als politischer Flüchtling war abgelehnt worden, weil er, so die formaljuridische Argumentation, irgendwo am Weg von Ghana nach Österreich bereits durch ein „sicheres Drittland“ habe kommen müssen - was er selbst, wie auch immer, bestritt. Daß er nun in Österreich, einem ebenfalls sicheren Land, war, hatte zur Folge, daß er auch in keinem anderen Land mehr um Asyl hätte ansuchen können. Sein Antrag auf Auswanderung in die USA wurde von der amerikanischen Botschaft abgelehnt, weil es gerade kein Programm für Ghanesen gab. Kanada nahm überhaupt keine Afrikaner auf. Australien blieb ihm ebenso verschlossen, da es grundsätzlich keine Flüchtlinge aus dem British Commonwealth, dem auch Ghana angehörte, aufnahm. Samys vermittelnde Tätigkeit innerhalb des Lagers ermöglichte ihm letztlich allerdings doch noch den Ausbruch aus dem Flüchtlingssystem. Nach langem Drängen ließ ihn die Lagerleitung eines Tages nach Wien überstellen. Seine neue Herberge, das Hotel Zöch, ein ehemaliges Bordell am Westbahnhof, war ein Bauwerk in äußerst desolatem Zustand, mit rechtsgültiger Abbruchgenehmigung, mit einem einzigen Badezimmer für durchschnittlich 170 Flüchtlinge und Warmwasser von spätabends bis sieben Uhr früh. Bis zu sechs Personen waren in die Zimmer gepfercht. Einmal pro Woche wurde das Essen in Form von Fertigtiefkühlgerichten aus St. Pölten angeliefert. Eine einzige Angestellte, unterstützt von ein paar Flüchtlingen und einer Aushilfskraft besorgte den ganzen Betrieb. Das Innenministerium wußte um die katastrophalen Zustände und schritt nicht ein. Die Wiener Baufirma Hoffman & Maculan hatte das Objekt gerade vor Beginn der Polenkrise erworben, wenige Jahre später tatsächlich abgerissen und durch ein neues Hotel ersetzt. In der Zwischenzeit war es ein Flüchtlingsheim, ungeachtet der Zustände ein begehrtes noch dazu. Denn wer es nach Wien schaffte, der hatte, im Gegensatz zu den abgelegenen Dörfern in Randregionen, eine reale Chance, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu finden, einen kostenlosen Deutschkurs zu besuchen, mit einem Wort, sich zu integrieren. [4] http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (15 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich 5. Flüchtlinge und Ausländer Aus der Perspektive des Lagers Traiskirchen und der österreichischen Flüchtlingspolitik war eine solche Integration nicht vorgesehen, da das Selbstbild vom „Transitland Österreich“ bis zum Fall des Eisernen Vorhanges aufrecht erhalten wurde, selbst als es längst von den Tatsachen überholt worden war. Vergleicht man in Summe die Zahlen der Flüchtlingsbewegungen mit, soweit dies möglich ist, deren emotionaler Bewertung, ergibt sich ein seltsames Paradoxon. Die Zahl der nach Österreich kommenden und in Österreich sich niederlassenden Flüchtlinge sank seit 1945, von Welle zu Welle, kontinuierlich ab. Zwischen 1945 und 1950 kamen 400.000 Volksdeutsche und andere Flüchtlinge aus dem Osten. 1956 stellten 180.000 Ungarn einen Asylantrag in Österreich. 1968/69 verließen 162.000 Tschechen und Slowaken ihre Heimat, von denen 12.000 einen Asylantrag stellten. Rund 33.000 Polen suchten 1981/82 um politisches Asyl in Österreich an. [5] Über die gleiche Periode wurden semantisch Vertriebene zu Verfolgten, dann zu Flüchtlingen, schließlich, ganz deutlich ab 1981, zu Wirtschaftsflüchtlingen sowie nach 1989 zu Ausländern, Fremden, oder summarisch zu einem Migrationsproblem. Seit den frühen achtziger Jahre, als USA, Kanada und Australien aufgrund von wachsender heimischer Arbeitslosigkeit ihre Immigrationspforten schlossen, mutierte der Gegenstand der innerösterreichischen Debatte vom „Transitland“ Österreich zum „Einwanderungsland“ wider Willen. Die entsprechenden defacto-Immigrationsquoten konnten zwar vor einem Jahrzehnt durch die Rhethorik vom Transitland ähnlich wie heute durch die Fremdengesetze von 1991/92 punktuell gedrückt werden. Die sozialen und gesellschaftspolitischen Kosten der Ausgrenzung der „Fremden“ fallen dennoch an. Eine detaillierte Analyse legt nahe, daß eine direkte Kontinuität von der doppelbödigen Flüchtlingspolitik der frühen achtziger Jahre zur radikalisierten „Ausländerdebatte“ und den verschärften Fremdengesetzen der frühen neunziger Jahren, von den ersten Restriktionen in der Anerkennung von politischem Asyl unter Innenminister Karl Blecha zur intendierten europäischen Vorreiterrolle Österreichs bei der Begrenzung der Zuwanderung unter Innenminister Franz Löschnak besteht. http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (16 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich Traiskirchen ist für die komplexen und widerspenstigen Beziehungen Österreichs gegenüber seinen Fremden ein sensibler Spiegel. Die Bereitschaft jener, die ankommen, auf eine gute Zukunft zu hoffen, war und ist sentimental wie existenziell groß. Einmal, im Fasching, der Schnee zwischen den Gebäuden im Lager begann zu tauen, begegnete ich zwei Flüchtlingskindern im Indianerkostüm. Es war aus Packpapier. „Ich habe nicht das Paradies erwartet, als ich nach Österreich kam“, sagte ein junger Pole, der alles daransetzte, aus Österreich weg und nach Amerika zu gelangen. „Ich glaube, die meisten sind Österreich auch ziemlich dankbar für alles, was sie erhalten haben. Aber wenn man gerade aus dem ‘Hilton’ zur Lagerleitung geht und dort nicht gerade höflich behandelt wird, wenn man falsche Informationen kriegt, wenn man die ganze Zeit spürt, daß man im Büro als Eindringling angesehen wird, wenn man auf jede Frage die Antwort bekommt, daß die österreichische Regierung so viel Geld für diese Leute ausgibt, die um Asyl ansuchen - das ist nämlich eine der häufigsten Antworten -, wenn Flüchtlinge oft so behandelt worden sind, dann sind sie nicht immer imstande, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Trotzdem sind sie möglicherweise dankbar gegenüber der österreichischen Regierung. Warum aber sollte ich einem unhöflichen Beamten gegenüber dankbar sein, der mich wie jemanden behandelt, der in seinen österreichischen Wohlstand eindringt, den er in den vergangenen Jahren aufgebaut hat? Warum sollte ich ihn anlächeln? Wenn ich Bruno Kreisky träfe, könnte ich ihm sagen, ‘Ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür, daß ich in Österreich Schutz bekommen habe.’ Aber das betrifft niemanden, der unhöflich und unfreundlich zu mir gewesen ist.“ [*] „Jiri“ mit „hacek“ am „r“ - mehrmals auf in folgenden Absätzen! Anmerkungen: [1] Die Grundrecherche, die diesem Artikel zugrundeliegt, unternahm ich gemeinsam mit Wolfgang Weisgram und mit Genehmigung des Bundesministeriums für Inneres während meines Zivildienstes von Oktober 1982 bis Mai 1983. Aus diesem Zeitraum stammen auch die zitierten Interviews. http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (17 von 18)13.10.2004 18:24:28
Rüdiger Wischenbart: Traiskirchen - Flüchtlinge in Österreich [2] Laut damaligen Angaben des Bundesministeriums für Inneres gab es 1980 9259 offiziell in Österreich registrierte Flüchtlinge, die um Asyl ansuchten, und 5127 Prozent wurden positiv beschieden; 1981, am Höhepunkt der Fluchtwelle aus Polen, warben 34.557 um Asyl, 2801 wurden positiv beschieden (während ein Überhang an unerledigten Fällen entstand); 1982 wurden 6314 neue Asylwerber registriert und 17.361 positiv beschieden. In Bezug auf die jeweils erledigten Fälle ergibt dies Anerkennungsquoten von 72 Prozent für 1980, 46 Prozent für 1981 und 84,5 Prozent für 1982. [3] Felix M. Bertram: Die soziale Betreuung des Flüchtlings an der Basis - die österreichische Praxis. Typoskript 1983. (F.M. Bertram von der Caritas war zugleich einer der kritischen institutionellen Beobachter der österreichischen Flüchtlingspolitik der achtziger Jahre. Ihm und einigen anderen Mitarbeitern von Caritas und verwandten Organisationen kam als einzigen ein wenigstens indirekt korrigierender Einfluß auf die österreichische Flüchtlingspolitik zu. Der Leiter des Wiener Büros des Flüchtlingskomitees der Vereinten Nationen, UNHCR, kritisierte zwar mitunter die Zustände, hatte jedoch keinen Einfluß auf die tagtäglichen Handhabungen.) [4] Zum Hotel Zöch siehe auch meinen Artikel „Ein Bett, Lebensmittel und viel Zeit. Flüchtlinge warten in Österreich auf einen neuen Anfang.“ In: Die Presse, Spektrum, Wien 23./24.7.1983, S. I. [5] Heinz Faßmann, Rainer Münz: Einwanderungsland Österreich? Gastarbeiter - Flüchtlinge - Immigranten. BMUK und Österr. Akademie d. Wissenschaften. Wien 19924, S. 9. Erstveröffentlichung in: "Traiskirchen von innen. Flüchtlingspolitik zu Beginn der 80er Jahre." In: "Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914". Hg. v. Gernot Heiss u. Oliver Rathkolb. Wien, Jugend & Volk 1995 (=Veröffentl. d. Ludwig-Boltzmann-Institutes f. Geschichte u. Gesellschaft, Bd. 25), S. 195-209. © by Rüdiger Wischenbart Home - Back http://homepage.univie.ac.at/ruediger.wischenbart/03_ce...-allgem/03_Traiskirchen_Fluechtlinge-in-Oesterreich.htm (18 von 18)13.10.2004 18:24:28
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