DIGITALES GESUNDHEITSWESEN - Risiken und Nebenwirkungen von eHealth - FVDZ
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14 TITEL DIGITALES GESUNDHEITSWESEN Risiken und Nebenwirkungen von eHealth © Andrey Suslov / Getty Images / iStock DER FREIE ZAHNARZT - Februar 2019
TITEL 15 Nichts ist sicher Elektronische Patientenakte. Die elektronische Patientenakte (ePa) kommt. Spätestens 2021 soll sie flächendeckend für jeden verfügbar sein. Soviel ist sicher. Das ist aber auch schon das einzig Sichere. Wie die ePa tatsächlich aussehen wird, welche Funktionen sie haben soll, ob sie auf mobilen Geräten zugäng- lich sein soll – all dies sind ungeklärte Fragen. Denn über allem schwebt das Grundproblem: Wie sicher werden all diese Gesundheitsdaten sein? AUTORIN: SABINE SCHMITT E IGENTLICH HÄTTE ES KAUM BESSER KOMMEN KÖNNEN. Gesundheitskarte (eGK) zu beschleunigen. Denn dieses Pro- jekt dümpelt seit 2004 und kommt trotz Milliardeninvestitio- Kurz nach den Silvesterfeierlichkeiten, kaum aus der Lethargie nen nicht so recht in Gang. Schritt für Schritt sollte nun also zwischen Gänsebraten und Sektflasche erwacht, hat ein Daten- die Neuzeit und mit ihr die Digitalisierung Einzug in die Pra- diebstahl auf höchster Ebene die Republik aufgerüttelt. Tausend xen halten: Erst die Anbindung aller Praxen an die Telematik Politiker und Prominente fanden gleich zu Anfang des Jahres infrastruktur (TI), dann der Stammdatenabgleich, dann die ihre Telefonnummern, Mailadressen, Chatverläufe und andere Notfalldaten, und schließlich kommt die ePA dazu. „Das Daten im Internet wieder. Die Aufregung war groß, und es stellte eHealth-Gesetz legt den Grundstein für die digitale Infra- sich heraus, dass es offenbar mit den recht trivialen Mitteln eines struktur“, heißt es in einem Zwölf-Punkte-Programm der Hobbyhackers möglich gewesen war, die Daten abzugreifen. Ein CDU zur „E-Health-Strategie für Deutschland“. Im Mittel- 20-jähriger Schüler war der Täter, passiert ist letztlich nicht viel, punkt stehe dabei der selbstbestimmte Patient: „Der Patient und deshalb hatte das Ganze sein Gutes: Spätestens in diesem ist Herr seiner Daten und entscheidet darüber, wem er welche Moment war allen klar, dass mit etwas mehr krimineller Ener- Daten verfügbar macht“, heißt es weiter. „Mit der ePA, auf die gie, Professionalität und besseren Mitteln viel mehr mit sehr viel der Patient über das Internet jederzeit zugreifen kann, hat er sensibleren Daten hätte passieren können. Plötzlich war sie wie- selbst einen Überblick über Diagnosen und Therapien und ist der da: die Aufmerksamkeit für den Datenschutz. wesentlich umfassender informiert als bisher und kann somit auch weit besser in gemeinsame Entscheidungsprozesse einge- HERZSTÜCK DER VERNETZTEN VERSORGUNG bunden werden.“ Im Koalitionsvertrag, den CDU/CSU und Gesundheitsdaten sind solche sensiblen Daten, von denen wohl SPD 2018 geschlossen haben, ist die Einführung der ePA niemand wünscht, dass sie ausgelesen, abgegriffen und öffent- ebenfalls als Zielvorgabe verankert. lich gemacht werden können. Deshalb hat die Diskussion um die Digitalisierung im Gesundheitswesen und vor allem auch GESUNDHEITSDATEN AUF DEM SMARTPHONE um die ePA noch einmal richtig Fahrt aufgenommen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn legte dann recht zügig Die ePA soll zum Herzstück der vernetzten Gesundheitsver- die Latte noch ein wenig höher: Der Zugriff auf medizinische sorgung werden. Den Grundstein dafür hat vor drei Jahren Daten der ePA soll auch mittels Smartphone oder Tablet mög- das sogenannte eHealth-Gesetz gelegt, das vor allem dafür lich werden. Sicherheitsbedenken wischte der Minister sorgen sollte, den stockenden Prozess der Digitalisierung zunächst einmal beiseite. Standards wie in der Arztpraxis sowie die Einführung und Nutzung der elektronischen seien bei mobiler Anwendung der ePA sicher nicht notwendig, Februar 2019 - DER FREIE ZAHNARZT
16 TITEL sagte Spahn im Mai 2018 beim Frühjahrsfest der Zahnärzte- rium bei der Einführung der digitalen Infrastruktur im schaft. Kurz später folgte dann der Entwurf des Terminser- Gesundheitswesen. Der gesamte Digitalisierungsprozess im vice- und Versorgungsgesetzes (TSVG), das ebenfalls Voraus- Gesundheitswesen sei zu überdenken, um Sicherheitsdefizite setzungen für die ePA setzt. In einem Interview mit dem erkennen und beheben zu können. Demonstrativer Aktionis- Tagesspiegel sagte Spahn: „Wir sorgen jetzt für Tempo, nach mus sei nicht zielführend, warnte der FVDZ-Bundesvorsit- 14 Jahren Blockade ist es auch bitter nötig.“ zende Harald Schrader. Bei der ersten Lesung zum TSVG erläuterte der Bundesge- sundheitsminister: „Dieses Gesetz enthält wichtige Bestand- ABSTRICHE BEIM DATENSCHUTZ teile für die Versorgung. Wir wollen jetzt zügig dazu kom- Dass in dieser Gemengelage selbst die Digital-Staatsministe- men, dass es einen spürbaren Mehrwert für Ärztinnen und rin Dorothee Bär (CSU) mal den Überblick verliert und Ärzte, Patienten und andere Beteiligte gibt.“ Deshalb solle es Abstriche beim deutschen Datenschutz fordert, um die Digi- spätestens ab 2021 eine Verpflichtung der Kassen gegenüber talisierung im Gesundheitswesen zu forcieren, ist fast schon ihren Patienten und ihren Versicherten geben, die Verfügbar- verständlich. Nur, ob es der Sache dienlich ist, darf weitge- keit von und den Zugang zur elektronischen Patientenakte hend bezweifelt werden. Bär jedenfalls hatte im Dezember, sicherzustellen – „im Übrigen auch auf dem Smartphone“. etwa einen Monat vor dem Datenleak von Politikern und Pro- mis, gesagt: „Wir haben in Deutschland mit die strengsten GESUNDHEITSAKTEN SOLLEN IN TI ÜBERGEHEN Datenschutzgesetze weltweit und die höchsten Anforderun- Wie in vielen anderen Bereichen drückt Gesundheitsminister gen an den Schutz der Privatsphäre. Das blockiert viele Ent- Spahn aufs Tempo in Sachen Patientenakte. Spahns Ansinnen wicklungen im Gesundheitswesen, deshalb müssen wir da ist durchaus berechtigt, denn dass Deutschland in der Digita- auch an der einen oder anderen Stelle abrüsten, einige Regeln lisierung des Gesundheitswesens nicht gerade an vorderster streichen und andere lockern.“ Der Welt am Sonntag sagte Front zu finden ist, bestätigen internationale Vergleiche Bär, die Deutschen seien insgesamt bei allem „zu zögerlich immer wieder. Der Minister möchte gestalten und „nicht und zu sehr von Ängsten getrieben und gehemmt“. Im gestaltet werden“, wie er zu diversen Gelegenheiten immer November hatte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung erge- wieder wiederholt hat. Doch die Entwicklungen ziehen teil- ben, dass Deutschland in Fragen der Digitalisierung des weise rasant an ihm vorbei. Mitte vergangenen Jahres starte- Gesundheitswesens in einem internationalen Vergleich auf ten mehrere Krankenkassen die digitale Gesundheitsakte dem vorletzten Platz gelandet war. „Vivy“, die Techniker Krankenkasse brachte eine Gesund- heitsakte an den Start, auch die AOK hat eine digitale Lösung SCHLUSSLICHT MIT POSITIVER KONNOTATION – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Die Zeit drängt für Schlusslicht zu sein, ist in Deutschland schwer erträglich. eine Lösung, denn am Ende heißt es, all diese Einzellösungen Martin Tschirsich, IT-Security Analyst des Schweizer IT- solcher Gesundheitsakten, die tatsächlich bereits auf dem Sicherheitsunternehmens Modzero, der beim diesjährigen Smartphone nutzbar sind, müssen in die ePA übergehen. Der Kongress des Chaos Computer Clubs in Leipzig einen vielbe- Datenverkehr soll dann über die bisher aufgebauten Zugriffs- achteten Vortrag zum Thema Sicherheit von Gesundheitsak- punkte der Telematikinfrastuktur laufen. Dass dies nicht über ten gehalten hat, sieht die Sache allerdings etwas anders. „In Nacht passieren kann, davon ist der Freie Verband Deutscher Deutschland sind wir historisch bedingt besonders für die Zahnärzte (FVDZ) überzeugt und forderte jüngst ein Morato- Gefahren sensibilisiert, die sich aus der Sammlung und Verar- beitung personenbezogener Merkmale und Daten ergeben“, sagt Tschirsich im DFZ-Interview. „Wenn wir jetzt sehen, wie in anderen Ländern mit Vorreiter- rolle in der Digitalisierung nach und nach die Gesundheitsdaten – darunter genetische Merkmale – der Bevölke- rung abfließen, dann bekommt das Wort ‚Schlusslicht‘ auf einmal eine positive Konnotation.“ Denn das ver- schaffe Deutschland Zeit, die nachteili- gen Folgen der Digitalisierung zu ver- stehen und abzufangen. „Wir können © momius / stock.adobe.com aus den Fehlern der anderen lernen“, sagt der IT-Sicherheitsexperte. Bei sei- nem Vortrag in Leipzig hatte er gezeigt, Die gesammelten Patientendaten sind dass in jeder Gesundheitsakte – egal nur einen Tastendruck entfernt. von welchem Anbieter – Sicherheitslü- DER FREIE ZAHNARZT - Februar 2019
TITEL 17 cken vorhanden sind. Eindrucksvoll belegte er, dass auch hier gen ohne Zusatz-Hardware auskommen und damit komfortab- mit nicht besonders hohem Aufwand die eingebauten Sicher- ler sein, aber eben auch weniger sicher.“ Ein weiteres Risiko heitshürden für Hacker mit etwas Potenzial recht leicht zu ergebe sich aus den vielen im Umlauf befindlichen Smartphones überwinden sind. mit veralteter Software. „Soll die ePA einem großen Nutzerkreis zur Verfügung stehen, dann müssen Abstriche bei den Sicher- FORDERUNG NACH SICHERHEIT NICHT ERFÜLLBAR heitsanforderungen an die mobile Plattform gemacht werden“, „In jedem Fall wissen wir, dass Forderungen nach absoluter oder ist Tschirsich überzeugt. Viele Nutzer wollen ihre Daten schnell wirklicher Sicherheit nicht ehrlich, da nicht erfüllbar sind.“ Auch und leicht zur Verfügung haben. Der Datendiebstahl im Januar die gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesund- hat gezeigt, dass es den meisten Nutzern offenbar der Komfort- heitskarte) sehe bei der ePA Restrisiken, die trotz Zulassung (über gewinn wichtiger ist als die Sicherheit – schneller Zugang, einfa- das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik – BSI) che Passwörter, wenige Klicks. und Sicherheitsmonitoring nicht ausgeschlossen werden können. Vielfach ist auch zu hören, dass man sich vor 15 Jahren auch noch Ärzte, Krankenkassen und das Gesundheitsminsterium haben nicht vorstellen konnte, seine Bankgeschäfte online oder gar per sich im vergangenen Herbst auf ein Grundkonzept zur Ein Smartphone abzuwickeln. Also alles eine Frage der Gewohnheit? führung der elektronischen Gesundheitsakte geeinigt. Die „Bankdaten sind keine Gesundheitsdaten“, betont IT-Experte Gesundheitsakten, die derzeit im Umlauf sind, sind die Vorläu- Tschirsich. „Wir haben uns im Online-Banking daran gewöhnt, fer der ePA. „Dennoch sind auch diese Akten in Teilen bereits dass die Banken den Kunden das Geld im Betrugsfall meist aus an die TI angebunden und sollen, so die Intention, schrittweise Kulanz erstatten.“ Die Verluste durch Betrug im Online-Banking in die ePA übergehen“, gibt Tschirsich zu bedenken. „Die Ent- stiegen regelmäßig an, wie zuletzt Statistiken aus England beleg- wickler der künftigen ePA werden also zum Teil dieselben sein, ten. „Während ein finanzieller Schaden einfach ausgeglichen wer- die für die jetzigen Anwendungen verantwortlich zeichnen.“ den kann, sieht dies bei Gesundheitsdaten anders aus“, gibt Man könne optimistischerweise erwarten, dass die in Zusam- Tschirsich zu bedenken. Gesundheitsdaten seien langlebig, und menarbeit mit dem BSI entstandene Spezifikation der ePA viel es müsse dafür Sorge getragen werden, dass sie ein Leben lang der zurzeit vorgefundenen konzeptionellen Sicherheitsmängel sicher verwahrt werden müssten. „Ein bisher ungelöstes Prob- von vornherein ausschließen würden, sagt Tschirsich. Risiken lem“, warnt der Sicherheitsexperte. bestünden dann jedoch noch in einer fehlerhaften Umsetzung der Spezifikation. „Grundsätzlich aber ist zu erwarten, dass MAMMUTAUFGABE BIS 2021 Daten an den Schnittstellen des Systems abfließen.“ Dies sieht auch der Präsident des BSI, Arne Schönbohm, ähn- lich. Bei einem Expertengespräch mit dem Gesundheitsaus- GESUNDHEITSDATEN SIND LANGLEBIG schuss des Bundestages betonte er, dass sensible Daten, die von Absolute Datensicherheit gibt es nach Tschirsichs Einschätzung Bürgern ins Netz gestellt werden, nicht einfach zurückgerufen nicht. Besonders problematisch schätzt er die geforderte Verfüg- werden könnten. Das könnte sich durchaus als Problem erwei- barkeit von Patientendaten auf Smartphones und Tablets ein. sen. Denn die Fachleute im Bundestag waren sich einig darü- Die Forderung nach einer Patientenakte für das Smartphone sei ber, dass Patienten jederzeit über ihre Gesundheitsdaten verfü- eng verbunden mit einer zweiten Forderung nach einem einfa- gen können müssten und selbst entscheiden dürften, wer außer cheren Zugang zur ePA unter Verzicht auf die Gesundheitskarte ihnen Zugang dazu bekommt. Die Souveränität der Patienten (eGK), erläutert Tschirsich. Bislang sehe die Spezifikation eine dürfe keinesfalls infrage gestellt werden, hieß es bei dem sichere Authentifizierung des Versicherten über seine eGK vor. Gespräch. Wie Sicherheit, Souveränität und Bequemlichkeit „Typischerweise wird die eGK über ein Kartenlesegerät mit unter einen Hut zu bringen sind, das dürfte die Mammutauf- PIN-Eingabepad ausgelesen, die wenigsten Versicherten besit- gabe der nächsten zwei Jahre sein, bis die ePA dann flächende- zen ein solches Lesegerät für ihr Smartphone“, sagt der IT- ckend stationär wie mobil für alle einsatzbereit sein wird. Sicherheitsexperte. „Der geplante Zugang ohne eGK wird dage- Das Interview mit Martin Tschirsich lesen Sie in voller Länge unter fvdz.de Sandra Sandmann-Bettruh Fraktionsvorsitzende der Schlafpartei Februar 2019 - DER FREIE ZAHNARZT
18 TITEL Künstliche Intelligenz – Fluch oder Segen? Risiken und Nebenwirkungen im Gesundheitswesen. Wer sich heute mit Digitalisierung beschäftigt, kommt am Thema „Künst- liche Intelligenz (KI)“ nicht vorbei. Zwar waren schon in den achtziger Jahren einzelne technische Errungenschaften wie kommerzielle Schachcomputer auf dem Vormarsch, aber aktuell sind Diskussionen und vor allem umfassende Visionen im Zusammenhang mit KI omni- präsent. Auch das Gesundheitswesen ist in den Fokus gerückt. AUTORIN: MELANIE FÜGNER Neu und fremd ist Künstliche Intelligenz Da wundert es nicht, dass auch die Auch werden mögliche nächste Schritte schon lange nicht mehr. Der Alltag im Medizin verstärkt KI einsetzt, um aufgezeigt, zum Beispiel ob sofort ein Jahr 2019 ist geprägt von Algorithmen Krankheiten zu erkennen und Behand- Arzt eingeschaltet werden soll oder ob und neuronalen Netzen. Ob digitale lungen nachzuvollziehen. Ein Beispiel eine Behandlung noch warten kann. Sprachassistenten, Streamingdienste, ist die App „Ada“ der Techniker Kran- Zusätzlich ist Anfang 2019 der Beta-Test Staubsaugerroboter, Fitness-Apps oder kenkasse (TK). Über diese können Ver- einer neuen „TK-Doc“-App an den Start Navigationsgeräte – Berührungspunkte sicherte ihre Beschwerden mit Hilfe gegangen, über die Versicherte nach der mit KI hat fast jeder. Weitere Anwen- eines KI-gesteuerten Fragenkatalogs Bewertung ihrer Beschwerden telefo- dungsgebiete: autonomes Fahren, Aus- eingeben. Danach spuckt „Ada“ eine nisch, per Text- oder Videochat mit wertungen riesiger Datenmengen (Stich- persönliche Analyse, also eine Art Vor- einem Arzt Kontakt aufnehmen können. wort: Big Data) sowie Analysen und Pro- abdiagnose, aus und informiert auf gnosen. Selbst eine musikkomponie- Wunsch des Nutzers über passende TK: „SERIÖSE VALIDIERTE rende Software wurde bereits entwickelt. digitale Versorgungsangebote der TK. GESUNDHEITSINFORMATIONEN“ Allein der Symptomcheck ist nicht ohne Tücken: Ein Test von „Ada“ hat gezeigt, dass die App nach der Angabe von relativ harmlosen Symptomen wie Kopfschmerz SCHWACHE UND STARKE KI und Wärmegefühl eine Serie von mögli- chen Krankheitsbildern diagnostizierte – von Bluthochdruck über Schilddrüsen- Künstliche Intelligenz bezeichnet in der Regel den Versuch, Entscheidungsstruk- überfunktion bis hin zu einem gutartigen turen des Menschen zu simulieren. Dafür wird etwa ein Computer so program- Tumor der Hypophyse. Empfohlen wurde miert, dass er relativ eigenständig Probleme bearbeiten kann. Unterschieden wird ein sofortiger Arztbesuch mit unverzüg zwischen schwacher und starker KI. Die schwache KI, die heutzutage eingesetzt licher medizinischer Behandlung. Nicht wird, kann das menschliche Denken in einzelnen Bereichen unterstützen. Es geht jeder Versicherte bewahrt in einem sol- um die Simulation intelligenten Verhaltens mit Hilfe der Mathematik und Infor- © Andrea Danti / Fotolia matik. Das Ziel einer starken KI ist es, die gleichen intellektuellen Fertigkeiten chen Fall die Ruhe. Das bedeutet mitun- eines Menschen zu erlangen oder sogar zu übertreffen. Eine starke KI, die ihre ter Notarzt oder Notaufnahme im Kran- Erkenntnisse auf andere Bereiche übertragen kann, gibt es derzeit noch nicht. kenhaus. Versetzen derartige Diagnosen Patienten nicht eher in Panik? Wäre bei DER FREIE ZAHNARZT - Februar 2019
TITEL 19 „Die Erschaffung einer echten künstlichen Intelligenz könnte das Ende der Menschheit bedeuten.“ Stephen Hawking (2018 verstorbener Physiker und Astrophysiker) solchen Beschwerden der Besuch beim Hausarzt nicht sinnvol- ler? Fragen wie diese beantwortet die Techniker Krankenkasse recht ausweichend: „Die TK kooperiert mit Ada, um Versicher- ten seriöse, validierte Gesundheitsinformationen an die Hand zu geben. Bereits heute informiert sich das Gros der Patienten vor und nach einem Arztbesuch im Internet und googelt die Symp- tome. Vielen fällt es jedoch schwer, seriöse Informationen im Internet zu finden“, schrieb die TK auf Anfrage der DFZ-Redak- tion. Die Krankenkasse preist die App vor allem vor dem Hinter- grund an, dass sie sieben Jahre lang von Medizinern mit Tausen- den von Fällen gespeist worden sei und täglich durch die Nutzer der App mit rund 30.000 neuen Fällen erweitert werde. Dass diese Informationen deutlich seriöser und somit sinnvol- ler sind als die oft gewerblichen Treffer bei Google, steht sicherlich außer Frage. Aber was ist mit der Haftung? Wer haf- tet, wenn ein Patient nach einer nicht eindeutigen Diagnose via „Ada“-App nicht rechtzeitig zum Arzt geht und sich sein gesundheitlicher Zustand dadurch (und vielleicht dauerhaft) verschlechtert? Auch diese Frage hat die Techniker Kranken- kasse nicht zufriedenstellend beantwortet: „Die Diagnostik durch einen Arzt ersetzt Ada in keinem Fall“, räumte die Kasse nur ein. „Ada stellt keine Diagnosen. Es geht darum, dass Versicherte qualifizierte Gesundheitsinformationen bekommen und so besser informiert sind. Ada ersetzt in kei- nem Fall den Besuch beim Arzt.“ Etwas konkreter als die Pressestelle der TK zeigte sich dage- gen ihr Vorstandsvorsitzender Dr. Jens Baas nach der Vorstel- lung der App im vergangenen Jahr: „Mit dem digitalen Symp- tomcheck und anschließendem Arzt-Chat geben wir bereits heute einen Ausblick darauf, wie Versorgung in der Zukunft aussehen kann“, sagte Baas. Und mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine da. DAS GESUNDHEITSWESEN IST EIN SCHLÜSSELBEREICH Auch die Bundesregierung setzt verstärkt auf Künstliche Intel- ligenz. Der Deutsche Bundestag hat 2018 eine sogenannte Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ (siehe Kasten, S. 20) ins Leben gerufen. Und die solle sich besonders auf das Gesundheitswesen konzentrieren, forderte beispielsweise der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge, Berichterstatter der Unionsfraktion für Digitalisierung und Gesundheitswirtschaft und stellvertretendes Mitglied in der neuen Kommission. Das Gesundheitswesen „gehört zu den wenigen Gebieten, auf denen die Chancen von KI schon heute ganz konkret greifbar sind“, sagte der Magdeburger Bundestagsabgeordnete laut Ärzteblatt. Als Beispiel nannte er die digitale Bildauswertung: „Maschinen können Bilder oft schon präziser auswerten als Februar 2019 - DER FREIE ZAHNARZT
20 TITEL der Arzt – denn durch KI lernen sie auf brachte es der Chef der Kassenärzt Intelligenz, jedoch will ich als Arzt der Grundlage von Tausenden Bildern, lichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. natürlich nicht für deren Fehler haften.“ verlässlich zwischen gesund und krank Andreas Gassen, gegenüber der Deut- Computerprogramme könnten zwar zu unterscheiden“, sagte er. schen Presse-Agentur auf den Punkt. „Es heutzutage schon durchaus verwertbare In dieselbe Richtung zielt die Antwort wird ärztliche Sache bleiben, Dinge Diagnosen stellen, sagte Kisro. Bei- der Bundesregierung auf eine Kleine zusammenzuführen und für die indivi- spielsweise könne die radiologische Dia- Anfrage der FDP-Fraktion. „Die Bun- duelle Patientensituation zu werten.“ gnostik offenbar inzwischen eine mit desregierung will Künstliche Intelligenz Helfen kann KI laut Gassen etwa beim einem menschlichen Diagnostiker ver- (KI) als Schlüsseltechnologie intensiv Auswerten komplexer Laborbefunde. gleichbare Treffsicherheit erreichen. und in der Breite fördern. Deutschland Jedoch bei allem, wo menschliche Selbst dass ein Roboter zahnärztliche soll führender Standort für die Ent- Wärme und Zuwendung gefragt seien, Arbeiten übernimmt, hält Kisro für wicklung und Anwendung von KI-Tech- sei KI genauso wie Robotik keine erstre- „technisch denkbar“. Doch nach den nologien werden, auch um die Wettbe- benswerte Variante. Stattdessen solle derzeitigen Bedingungen müsse ein werbsfähigkeit des Landes zu sichern“, lieber die sprechende Medizin gestärkt Arzt oder Zahnarzt für dessen Arbeit heißt es in der Stellungnahme. Dazu werden, waren sich die Mediziner auf geradestehen, wenn etwas schiefgeht. habe das Kabinett im November 2018 dem Deutschen Ärztetag 2018 einig. Das bestätigt der Justiziar des Freien eine Strategie Künstliche Intelligenz Auch bei einem „Health-IT Talk“ Anfang Verbandes Deutscher Zahnärzte, beschlossen, die für die nächsten sieben des Jahres in Berlin haben unterschiedli- Rechtsanwalt Michael Lennartz: „KI Jahre Investitionen in Höhe von drei che Experten im Gesundheitswesen die kann (zahn)medizinische Behandlungen Milliarden Euro vorsehe. sinnvolle Nutzung von Künstlicher Intel- nur ergänzen. Für die eigene Anamnese, ligenz angemahnt. Dr. Bernhard Tenck- die Untersuchung des Patienten in Per- TECHNISCH MÖGLICH, ABER hoff von der Stabsstelle Innovation, stra- son und darauf fußende Diagnostik gibt Damit ist klar, wohin die Reise geht. tegische Analyse und IT-Beratung der es auch haftungsrechtlich keinen Ersatz. Was das Gesundheitswesen betrifft, ste- KBV nannte drei entscheidende Voraus- Sich auf KI, insbesondere von Algorith- hen Ärzte- und Zahnärzteschaft der setzungen für den Einsatz von KI: Sie men erstellte Diagnosen zu verlassen, Thematik eher kritisch gegenüber. Viele dürfe in erster Linie dem Patienten nicht würde im Schadensfall zur Haftung Verbände haben sich nach der Vorstel- schaden, müsse verlässlich funktionieren wegen Behandlungsfehlern führen.“ lung der TK-Apps deutlich positioniert. und natürlich auch medizinisch von Nut- Hauptkritikpunkt: Mit dem Angebot zen sein, forderte Tenckhoff. ROBOTER HABEN (NOCH) KEINE GEFÜHLE mischt sich die TK unbotmäßig in das Für Arzt und Zahnarzt Dr. Rolf Kisro Ganz abgesehen von der juristischen Seite vertrauliche Arzt-Patienten-Verhältnis aus Berlin gibt es beim Thema KI eine ist gerade im Gesundheitswesen die ein. „Ich warne davor, eine Künstliche entscheidende Frage – die Frage der menschliche Komponente von großer Intelligenz Diagnosen stellen zu lassen“, Haftung: „Ich bin Fan der Künstlichen Bedeutung. In Medizin und Pflege wird schon seit Längerem darüber gesprochen, Roboter zukünftig als Betreuer einzuset- zen. Aber können Roboter Empathie, und Emotionen zeigen und auf die Gefühle ENQUETE-KOMMISSION ZU KI von Menschen eingehen? Prof. Dr. Oliver Bendel, Wirtschaftsinformatiker und selbsternannter Roboterphilosoph, sieht Der Deutsche Bundestag hat im Juni 2018 die Einset- da einem teachtoday-Interview zufolge zung einer Enquete-Kommission „Künstliche Intelli- ganz klare Grenzen: „Wir verfügen über genz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirt- Roboter, die Emotionen erkennen und schaftliche, soziale und ökologische Potenziale“ be- zeigen, aber natürlich nicht haben. Robo- schlossen. Die Enquete-Kommission setzt sich zu glei- ter und KI-Systeme werden meiner Mei- chen Teilen aus Mitgliedern des Deutschen Bundestages und externen Experten zusammen und soll den künf- nung nach nie Gefühle haben. Für diese tigen Einfluss der KI auf das Zusammenleben, die deut- braucht es biochemische Grundlagen.“ Es sche Wirtschaft und die Arbeitswelt untersuchen. Im fehlt also an emotionaler Intelligenz. Mittelpunkt stehen sowohl die Chancen als auch die Zumindest vorerst. Denn Forscher gehen Herausforderungen der KI. Dabei nehmen die Kom- schon davon aus, dass die Künstliche missionsmitglieder technische, rechtliche und ethische Intelligenz die Intelligenz des Menschen Fragen unter die Lupe. Die Enquete-Kommission hat eines Tages übersteigen wird. Das Deut- © psdesign1 / Fotolia den Auftrag, den Handlungsbedarf auf nationaler, eu- sche Forschungszentrum für Künstliche ropäischer und internationaler Ebene auszumachen. Intelligenz rechnet allerdings frühestens in 50 Jahren damit. DER FREIE ZAHNARZT - Februar 2019
22 TITEL Ein völlig Gesundheitsapps. Wie viele Health-Apps es gibt, weiß niemand, und gerade in der Zahnmedizin sind die Angebote meist noch sehr wilder Markt schlicht. Aber auch vor diesem Bereich werden die mobilen Anwendungen kaum Halt machen. AUTORIN: MARION MEYER-RADTKE Warum lange beim Arzt im Wartezim- Appell bereits gefolgt. Laut den Betrei- lyse oder gar der Bekämpfung von mer sitzen, wenn man auch einfach eine bern klickt sich alle drei Sekunden ein Schlafstörungen, Migräne und Tinnitus © links: kebox / stock.adobe.com, rechts: [M] Andrey Popov / stock.adobe.com App fragen kann? „Hallo, ich bin Ada. Nutzer durch die Symptomanalyse. Eine wird in den App-Stores alles angeboten, Ich kann dir helfen, wenn du dich nicht Weltkarte auf der Webseite verkündet was denkbar ist. Einen wirklichen wohlfühlst.“ Ob Kopfschmerzen oder spektakuläre Beispielergebnisse: Geni- Überblick hat niemand. Weder das Lippenbläschen, Gelenkprobleme oder talherpes, Dengue-Fieber, Morbus Bundesamt für Sicherheit in der Infor- neurologische Störungen – die Medizin Fabry. mationstechnik (BSI) noch der Bran- app „Ada – Die Gesundheitshelferin“ chenverband Bitkom oder das Bundes- (siehe auch Seite 18), Produkt eines Ber- ZAHN-APPS NOCH IN DEN gesundheitsministerium können die liner Startups, verspricht eine Art erste KINDERSCHUHEN Frage beantworten, wie viele Gesund- Hilfe: „Du fühlst dich unwohl? #tell Gesundheit ist ein Riesenthema, ent- heitsapps überhaupt auf dem Markt Ada“, ruft es von Plakaten und aus dem sprechend boomt auch der IT-Markt. sind. Schätzungen bewegen sich Netz. Mehr als fünf Millionen Men- Vom Bewegungstracker über den Blut- irgendwo zwischen 100.000 und schen in über 130 Ländern sind diesem druckmesser bis hin zur Symptomana- 380.000. DER FREIE ZAHNARZT - Februar 2019
TITEL 23 DAS ANGEBOT FÜR ZAHN- APPS STECKT OFFENBAR NOCH IN DEN KINDER- SCHUHEN Wie viele davon die Zahnmedizin 500 Downloads seit der Einrichtung im betreffen, weiß erst recht niemand, und März 2017 an. auch die Qualität ist bislang kaum eva- Auf über eine Million Downloads luiert. Warum sie keine Zahnmedizin- kommt „Oral B – Ihr persönlicher Putz- App für ihre Versicherten im Angebot assistent“, eine App, die sich mit der haben, könne sie auch nicht sagen, sagt Zahnbürste verbindet und per Positi- eine Sprecherin einer gesetzlichen onserkennung und Smartphone- Krankenkasse, die das Feld der Gesund- Kamera das Putzverhalten analysieren heitsapps recht offensiv angeht. Über will. In den Kommentaren bemängeln Zahn-Apps habe sie noch gar nicht Benutzer schlechte Bluetooth-Verbin- nachgedacht. Möglicherweise weil die dungen und die ausführliche Datenab- bisherigen einfach nicht sehr hilfreich frage durch die App, darunter auch eine sind? Auskunft gibt die Kassenspreche- Standortbestimmung. Bei Monitoring- rin darüber keine, einen Interviewter- Angeboten anderer Anbieter für Kinder min sagt sie ab. beschweren sich die Eltern darüber, dass Der Blick in die App-Stores aber zeigt: die Anwendungen abstürzen, die eigene Das Angebot für Zahn-Apps steckt Zeitvorgabe nicht einhalten oder gar offenbar großenteils noch in den Kin- nicht erfassen, ob wirklich geputzt wird derschuhen. Bislang erschöpft es sich oder einfach jemand vor der Kamera vor allem in Zahnarzt-Spielchen für herumzappelt. Kinder, in Motivations- und Monito- ring-Angeboten rund ums Zähneput- ZAHNMEDIZIN EIN BISSCHEN ZU KOMPLEX zen und im Informationsaustausch mit Und natürlich finden sich auch schon Zahnarztpraxen oder Krankenkassen. wieder Apps, die in unterirdischer GoDentis, eine Tochter der DKV, bietet Deutsch-Übersetzung verkünden, sie mit ihrer App „Zähne!“ den Patienten würden aufklären über „Die wahre Ursa- allerlei praktische Tools: eine Zahn- che von Hohlräumen, Gummi-Krank- arztsuche vor Ort, Speicher für Doku- heit und alle Formen der Karies (Hin- mente wie Röntgenaufnahmen, weis: Es ist NICHT in Zucker)“. Dieses Behandlungsplan, Rechnungen und 2,99-Euro-Angebot fand gerade eben 50 Bonusheft, Hinweise zur Zahnpflege Downloads. Für völlig doof lassen sich und einen Timer fürs Zähneputzen. So die meisten dann doch nicht verkaufen. richtig eingeschlagen ist das Angebot Dennoch: Abtun sollte man den App- noch nicht: Der Google Playstore gibt Markt für Zahnmedizin nicht. „Das Februar 2019 - DER FREIE ZAHNARZT
24 TITEL wird kommen, da bin ich mir ganz sollen sich Zahnarzt und Patient etliche sicher“, sagt Dirk Ruffing, Mitglied des Besuche in der Praxis sparen. In Frank- FVDZ-Bundesvorstandes, der in Bexbach reich, Australien, USA und Hongkong im Saarland von der Patientenakte bis hat die Firma schon Niederlassungen, in zum Röntgenbild seit Jahren eine digita- Deutschland noch nicht. lisierte Praxis betreibt. „Im Moment überzeugen mich die Angebote noch 90 PROZENT MÜLL nicht. Vielleicht ist die Zahnmedizin Dirk Ruffing bleibt bei solchen Verspre- auch ein bisschen zu komplex.“ Ein Kin- chen skeptisch: „Wenn etwas Sinnvolles derarzt könne schon viel übers Telefon entwickelt wird, bin ich gerne dabei. klären, das sei bei Zahnärzten anders: Bisher sehe ich das nicht.“ Und ohnehin „Wenn bei mir ein Patient anruft und begleite er die Entwicklung hin zur beschreibt, was er hat, kann ich immer Telematik kritisch. „Vor allem die nur sagen, er müsse mal vorbeikommen.“ Datensicherheit wird ja immer mehr in Allerdings arbeiten Entwickler bereits den Hintergrund gedrängt. Mir kann daran, die Telemedizin (siehe auch Seite keiner erzählen, dass diese zentrale 25) auch auf den Zahnbereich auszu- Datensammelwut im Gesundheitsbe- dehnen. Der Franzose Philippe Salah reich sicherer wird.“ brachte vor einigen Jahren die App Den- Das sieht auch der Mainzer Orthopäde tal Monitoring auf den Markt – die nach und Unfallchirurg Dr. Sebastian Kuhn seiner Aussage erste mobile Anwen- so, der an der Uni die Lehrveranstaltung dung, mit der Patienten die Fortschritte „Medizin im digitalen Zeitalter“ leitet. ihrer Zahnbehandlung selbst dokumen- Von den Hunderttausenden Gesund- tieren: Patienten, die Aligner zur heitsapps seien „90 Prozent Müll. Die Behandlung einer Okklusionsstörung wollen vor allem die Daten der Nutzer angepasst bekommen, sollen die Aus- ausspionieren“, sagte er „Carta 2020“, wirkungen auf ihre Zahnstellung per einem Magazin des Stifterverbands. 3-D-Scanner auf ihrem Smartphone Umso wichtiger sei es, dass die Medizin festhalten. Die Aufnahmen werden an sich nicht das Heft des Handelns aus der den Zahnarzt geschickt, dem die App Hand nehmen lasse, um solchem Wild- auch gleich eine Analyse liefert. Damit wuchs zu begegnen. DIE MEDIZIN SOLLTE SICH NICHT DAS HEFT DES HANDELNS AUS DER HAND NEH- © links: Andrey Popov / stock.adobe.com, rechts: PhonlamaiPhoto / Getty Images / iStock MEN LASSEN DER FREIE ZAHNARZT - Februar 2019
TITEL 25 Mit Vorsicht zu genießen Telemedizin. Sie findet einen immer breiteren Einsatz in der Patien- tenversorgung, auch in Zahnarztpraxen: Telemedizin. Chancen und Risiken telemedizinischer Anwendungen. AUTORIN: MAIKE RAACK Keine Frage, es spart kostbare Zeit und bei werden Informations- und Kommuni- in Deutschland ansässige Mediziner Wege, wenn zum Beispiel Tele-Stroke- kationstechnologien eingesetzt.“ über digitale Medien ermöglicht. Vor- Units in kleineren Krankenhäusern auf Bereits seit den 1980er Jahren kommen aussetzung: Die ärztliche Sorgfalt bei dem Land Schlaganfallpatienten versor- telemedizinische Methoden bei einer Diagnostik, Beratung, Therapie und gen, wenn keine reguläre Stroke Unit in räumlichen Trennung von Arzt und Dokumentation muss gewährleistet erreichbarer Nähe ist, oder wenn Herz- Patient oder von Arzt und Facharzt zum sein, Patienten müssen über die Online- schrittmacherwerte den Kardiologen in Einsatz, etwa bei militärischen Einsät- Behandlung aufgeklärt werden. Echtzeit erreichen. Telemedizin bringt zen, bei Expeditionen oder in entlege- Es gibt aber durchaus auch Abweichler: viele Chancen – birgt aber auch Risiken. nen Wohngegenden (Flying Doctors). So schließt etwa die Ärztekammer Die Bundesärztekammer definiert Tele- Zunehmend auch in medizinisch gut Brandenburg in ihrer Berufsordnung medizin als „einen Sammelbegriff für versorgten Gebieten soll Telemedizin die ausschließliche Fernbehandlung verschiedenartige ärztliche Versorgungs- seit einiger Zeit die Möglichkeit verbes- weiterhin aus. konzepte“, mit der Gemeinsamkeit, „dass sern, eine Zweitmeinung einzuholen Heruntergebrochen auf die Zahnmedi- medizinische Leistungen der Gesund- oder etwa Notfälle durch apparative zin sieht das Pflegepersonal-Stärkungs- heitsversorgung der Bevölkerung in den Fernbeobachtung verhindern helfen. Gesetz (PpSG), das zum 1. Januar 2019 Bereichen Diagnostik, Therapie und Im Mai 2018 beschloss nun der Deut- in Kraft getreten ist, die Möglichkeit von Rehabilitation sowie bei der ärztlichen sche Ärztetag eine Änderung der Mus- Videosprechstunden und -fallkonferen- Entscheidungsberatung über räumliche terberufsordnung für Ärzte, die eine zen vor, „zur Weiterentwicklung der Entfernungen (...) erbracht werden. Hier- ausschließliche Fernbehandlung durch zahnärztlichen Versorgung von Pflege- Februar 2019 - DER FREIE ZAHNARZT
26 TITEL bedürftigen und zur Verbesserung der Kommunikation zwi- Ein weiterer Vorteil der Digitalisierung der Medizin sei die schen Zahnärzten und Pflegepersonal.“ Ergänzend heißt es Möglichkeit einer Versendung von Röntgenbildern und digi- darin weiter: „Auch wenn telemedizinische Verfahren im talen Fotos in Echtzeit, um eine Zweitmeinung zwischen Ärz- zahnärztlich-kurativen Bereich sicherlich von geringerer ten einzuholen. Aber, bemängelt van Rijt, in der Praxis ist die Bedeutung sind als in anderen medizinischen Bereichen, Technik häufig nicht kompatibel - und es stelle sich die Frage, kommt diesen Verfahren bei Information, Beratung und Auf- welcher Anbieter die Bilder überträgt? Und was passiert, wenn klärung hohe Bedeutung zu.“ die Technik gehackt wird? FÜR ERSTKONTAKT PERSÖNLICHE BEGEGNUNG WEITERHIN VORSICHT BEI TELEMEDIZIN IN SACHEN DATENSCHUTZ NOTWENDIG In datenschutzrechtlicher Hinsicht betreten technikaffine Auch drs. Hubertus van Rijt, Vorstandsmitglied des Freien Zahnmediziner tatsächlich eine Grauzone: Die einschlägigen Verbandes Deutscher Zahnärzte und Verbandsbeauftragter Gesetze bieten diesbezüglich in Sachen Zahnmedizin bislang für Digitales, sieht durchaus Chancen telemedizinischer wenig Vorgaben. Rechtsanwältin Walburga van Hövell rät Methoden im Bereich der aufsuchenden Zahnheilkunde. daher zu großer Vorsicht bei telemedizinischen Anwendungen So könne etwa bei pflegebedürftigen Patienten eine zahnärzt- in der Zahnmedizin. So solle ein Zahnmediziner vorab unbe- liche Fachangestellte (ZFA) mit Hilfe einer intraoralen dingt abklären, ob seine Berufshaftpflichtversicherung eine Kamera vor Ort Befunde aufnehmen und diese an den live telemedizinische Behandlung abdeckt. Abzuklären seien zugeschalteten Zahnarzt übermitteln. Voraussetzung sei, dass bezüglich einer Videokonferenz etwa auch die Verschwiegen- die ZFA von der Berufsgruppe geschult und die Technik aus- heitsverpflichtung und der Datenschutz. Aus Sicht des Daten- gereift sei, betont van Rijt. „Auf der Grundlage der übermit- schutzes sei für den Einsatz von Telemedizin womöglich auch telten Bilder kann ich als Zahnarzt unmittelbar eine grobe eine Datenschutzfolgeabschätzung nach Art. 35 DSGVO Einteilung des Behandlungsbedürfnisses vornehmen.“ (Datenschutzgrundverordnung) erforderlich sowie auch bei Damit müssten Pflegebedürftige nicht häufiger als nötig in die kleinen Praxen (weniger als zehn datenverarbeitende Perso- Praxis kommen, für den Zahnarzt ließen sich Doppelfahrten nen) gegebenenfalls die Benennung eines Datenschutzbeauf- vermeiden. tragten. Allerdings könne der dank intraoraler Kamera übermittelte Befund nur als Ersteindruck dienen, anhand dessen der Zahn- NEUREGELUNG ERFORDERLICH arzt beurteilt, ob eine Behandlung nötig ist, und wie umfang- Anders als bei den Humanmedizinern, deren Musterberufs- reich diese sein muss. Für den Erstkontakt sei weiterhin eine ordnung mittlerweile ein gelockertes Fernbehandlungsverbot persönliche Begegnung zwingend notwendig, unterstreicht regelt, gibt die Musterberufsordnung der Zahnärzte keine kla- van Rijt. Und um letztlich einen Schaden am Zahn in Ord- ren Vorgaben für eine telemedizinische Behandlung. Laut § 9 nung zu bringen, sei in der Zahnmedizin immer manuelle Abs. 1 Muster BerufsO-Z ist die Berufsausübung des selbstän- Tätigkeit notwendig. „Eine Behandlung am Patienten darf in digen Zahnarztes an einen Praxissitz gebunden, woraus sich jedem Fall nur ein Arzt oder Zahnarzt vornehmen. Ohne bislang ein Fernbehandlungsverbot ableitet. Darüber hinaus Ertasten und Fühlen, ob beispielsweise eine Verfärbung hart regelt § 9 Abs. 1 des Bundesmantelvertrages der Zahnärzte die oder weich ist, kann man sich kein vernünftiges Bild von der persönliche Leistungserbringung durch den Zahnarzt. „Beide Zahn- und Mundgesundheit machen.“ Vorschriften sind vor anderen Hintergründen sowie ohne Kenntnis um die heutige Technik ent- standen und heute möglicherweise neu zu interpretieren. Nichtsdestotrotz wird bislang standesrechtlich ein Fern- behandlungsverbot angenommen. Zur Rechtssicherheit ist eine diesbezügliche Neuregelung absolut erforderlich“, sagt van Hövell. Auch bedürfe es klarer gesetzlicher Vorgaben für die Abrech- nung sowie sonstiger rechtlicher Rah- menbedingungen für eine zahnmedizi- nische Telemedizin. VERSCHWIEGENHEITSVERPFLICHTUNG © angellodeco / Fotolia UND DATENSCHUTZ Beides bedingt, dass die telemedizini- sche Dienstleistung sicher vor dem unbefugten Zugriff Dritter stattfindet. DER FREIE ZAHNARZT - Februar 2019
TITEL 27 Sollten die Rahmenbedingungen rechtliche Sicherheit bie- ten, ist der Einsatz von Telemedizin in der eigenen Praxis laut Datenschützerin van Hövell „auf den Prüfstand zu stellen“, also eine mögliche Nutzung rechtlich abzuklären – etwa über die Rechtsberatung des Freien Verbandes für Mitglieder oder über eine Prüfung durch einen Anwalt – und auch durch eine entsprechende Berufshaftpflicht abzusichern. „Für die Umsetzung bedeutet dies, dass datenschutzrechtlich zertifizierte Videoportale zu nutzen sind. Das sind mit Sicher- heit nicht Facetime, WhatsApp oder Skype, sondern speziali- sierte Videoportale“, empfiehlt die Juristin. Diese sollten eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung garantieren. Die weitere Datenverarbeitung (etwa Aufzeichnung und Speicherung von Videosprechstunden) hat nach den Vorschriften der DSGVO und des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) zu erfolgen. Auch wenn im zahnärztlichen Bereich, etwa bei Versorgungs- verträgen mit Altersheimen, Telemedizin bei Diagnose oder Nachsorge entlastet und Transportwege einsparen hilft, sollten Zahnärzte angesichts der unklaren rechtlichen Rahmenbedin- gungen Telemedizin vorerst nicht nutzen, wenn dieses Vorha- ben nicht zuvor durch eine fachkundige Stelle überprüft wurde, betont van Hövell. DIFFERENZIERUNG, NICHT PAUSCHALKRITIK Eine Reflexion darauf, was Telemedizin leisten kann und was nicht, fordert Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio von der Universität Freiburg. „Gegenwärtig wird so getan, als könne man über Digitalisierung alles besser machen“, so Maio. „Das ist grundlegend falsch. Man kann einiges verbes- sern und erleichtern, aber die Digitalisierung kann erstens nicht alle Probleme lösen und zweitens schafft die Überbewer- tung der Digitalisierung neue Probleme.“ Die Digitalisierung der Kommunikation verändere laut Maio die Information durch Selektion und Verformung. Dies führe letzten Endes zu einer „Entkörperlichung“ von Informatio- nen. Und genau diesen Trend gilt es kritisch zu reflektieren. „Wir nehmen ganzheitlich wahr, mit allen Sinnen, und machen uns ein Gesamtbild, indem wir verschiedene Eindrü- cke zusammenführen. Das kann das Bild schlichtweg nicht“, kritisiert Maio. Das Bild bleibe, auch wenn es vielleicht präzi- ser ist, immer etwas Ausschnitthaftes. Es müsse also in der Diskussion von Nutzen und Risiko der Telemedizin um Diffe- renzierung gehen, nicht um Pauschalkritik. „Die größte Gefahr besteht darin, dass man irgendwann glauben könnte, das persönliche Untersuchen war gestern, heute machen wir es genauer, nämlich über Maschinen“, betont Maio. „Das wäre ein eindeutiger Rückschritt. Die persönliche Untersuchung, gekoppelt an das persönliche Gespräch wird immer der Königsweg bleiben.“ Februar 2019 - DER FREIE ZAHNARZT
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