Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen - Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik ...
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S.I.G.N.A.L. e.V. Intervention im Gesundheitsbereich gegen Gewalt Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik
Veröffentlicht von der Weltgesundheitsorganisation in 2013 unter dem Titel Responding to intimate partner violence and sexual violence against women: WHO clinical and policy guidelines. © Weltgesundheitsorganisation 2013 Die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation hat S.I.G.N.A.L. e.V. die Übersetzungs- und Veröffentlichungsrechte für eine Ausgabe in deutscher Sprache erteilt. S.I.G.N.A.L. e.V. trägt die alleinige Verantwortung für die deutsche Ausgabe. Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen. Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik. © S.I.G.N.A.L. e.V. Impressum Verantwortung für die Übersetzung: S.I.G.N.A.L. e.V. – Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt Sprengelstraße 15, 13353 Berlin info@signal-intervention.de www.signal-intervention.de Lektorat: Marion Winterholler, Karin Wieners, Hilde Hellbernd Satzarbeiten: Atelier124 I Maria Kempter Wir danken dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Finanzierung der Übersetzung, des Lektorates und der Gestaltung der deutschen Ausgabe der Leitlinien. Druck durch die Koordinierungsstelle des S.I.G.N.A.L. e.V., gefördert durch die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung 2. Auflage, September 2018
Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik S.I.G.N.A.L. e.V. Intervention im Gesundheitsbereich gegen Gewalt
II Inhalt Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik Danksagungen IV Abkürzungen und Glossar V Abkürzungen V Glossar VI Zusammenfassung 1 Einführung 1 Zielpublikum 1 Methoden der Leitlinienentwicklung 2 Zusammenfassung der Empfehlungen 3 Hintergrund 10 Umfang der Leitlinien 12 Menschenrechte als Grundlage für diese Leitlinien 12 Methoden 14 Identifizierung, Beurteilung und Zusammenfassung der verfügbaren Evidenz 14 Zusammensetzung der Leitlinienentwicklungsgruppe 14 Erklärung der Mitglieder der Leitlinienentwicklungsgruppe und der Peer-Reviewer 15 zu möglichen Interessenkonflikten Entscheidungsfindung bei der Tagung der Leitlinienentwicklungsgruppe 15 Vorbereitung der Dokumente und Peer-Review 16 Evidenz und Empfehlungen 17 1. Frauenzentrierte Versorgung 17 2. Gewalt in Paarbeziehungen: Erkennen und Versorgen von Betroffenen 18 3. Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung: Klinische Versorgung von Überlebenden 27 4. Gewalt in Paarbeziehungen und sexuelle Gewalt: Schulung von 36 Gesundheitsfachkräften 5. Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung 40 6. Meldepflicht bei Gewalt in Paarbeziehungen 45
III Inhalt Forschungsbedarf 47 Erkannte Forschungslücken 47 Erkennen von Gewalt in Paarbeziehungen 47 Gewalt in Paarbeziehungen: Versorgen von Betroffenen 47 Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung: Klinische Versorgung von Überlebenden 48 Gewalt in Paarbeziehungen und sexuelle Gewalt: Schulung von Gesundheitsfachkräften 48 Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung 48 Meldepflicht bei Gewalt in Paarbeziehungen 48 Verbreitung und Umsetzung der Leitlinien 49 Verbreitung der Leitlinien 49 Umsetzung der Leitlinien 49 Überprüfung und Evaluation der Umsetzung der Leitlinien 50 Aktualisierung der Leitlinien 51 Anhang 52 I. Referenzen 52 II. An der Vorbereitung beteiligte externe Experten/innen und WHO-Mitarbeiter/innen 59 Mitglieder der Leitlinienentwicklungsgruppe 59 WHO-Sekretariat 60 Peer-Reviewer 61 Erklärung zu möglichen Interessenkonflikten der Leitlinienentwicklungsgruppe 61 III. Liste vollständiger Reviews und Evidenztabellen 62
4 IV Danksagung Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik Diese Leitlinien wurden von der Abteilung für repro- lung für Mutter-Kind-Gesundheit der Universität von duktive Gesundheit und Forschung (RHR) der Welt- North Carolina, USA, und Laura Sadowski, Ko-Leite- gesundheitsorganisation (WHO) unter der Leitung rin der Collaborative Research Unit am Cook County von Dr. Claudia García-Moreno erstellt. Die Entwick- Hospital, USA, führten die diesen Leitlinien zugrunde lung der Leitlinien war nur dank des Fachwissens und liegenden Evidenzbeurteilungen durch. der hervorragenden Unterstützung zahlreicher Perso- Die Lenkungsgruppe, die bei der Entwicklung nen möglich. Der Prozess der Leitlinienentwicklung dieser Leitlinien beratend tätig war, bestand aus Gene begann nach der vom 17. bis 19. März 2009 durch- Feder, Sandra Martin und Laura Sadowski (o. g.) so- geführten Expertentagung Expert meeting on health- wie Padma Deosthali, Koordinatorin des Centre for sector responses to violence against women, die Enquiry into Health & Allied Themes Research Centre durch eine Spende der Packard Foundation an die of Anusandhan Trust in Sai Ashray, Indien, Rachel WHO/RHR unterstützt wurde. Die WHO bedankt sich Jewkes von der Gender & Health Research Unit des bei den Mitgliedern der Leitlinienentwicklungsgruppe Medical Research Council in Südafrika und Nancy (LEG): Siti Hawa Ali, Maha A. Almuneef, Jacquelyn Turnbull, Projektmanagerin in Großbritannien. Campbell, Padma Deosthali, Gene Feder (Vorsitzen- Von der WHO: Metin Gülmezoglu und João Paulo der), Kelsey L. Hegarty, Louise M. Howard, Rachel Dias De Souza von der RHR, Mark Van Ommeren Jewkes, Ruxana Jina, Joanne Klevens, Sylvie Lo Fo vom Department of Mental Health and Substance Wong, Judith McFarlane, Harriet MacMillan, Sandra Abuse, Christopher Mikton vom Department of Inju- Martin, Jagadeesh Narayana Reddy, Josephine ries and Violence Prevention, Marco Antonio de Avila Njoroge, Ana Flavia Pires Lucas D’Oliveira, Aurora Vitoria und Rachel Baggaley vom Department of HIV/ del Rio Zolezzi, Laura Sadowski, Agnes Tiwari und AIDS, Alessandra C. Guedes von der Pan-American Zhao Gengli. Health Organization/WHO-Regionalbüro Amerika, Diese Leitlinien beruhen auf den Gesprächen Washington, D.C., und Isabel Yordi vom WHO-Re- bei der Tagung der LEG vom 12. bis 14. Septem- gionalbüro Europa, Kopenhagen, leisteten wertvolle ber 2011 in Genf und auf kontinuierlichen Beiträ- Beiträge zu diesen Leitlinien. gen von Mitgliedern der LEG und Peer-Reviewern. Besonderer Dank gilt den folgenden Perso- Gene Feder, Professor für primäre Gesundheitsver- nen für ihre Peer-Reviews: Nicola Christofides, Lina sorgung an der Universität Bristol, Vereinigtes König- Digolo-Nyagah, Jill Keesbury, Bob Mash, Vivienne reich Großbritannien und Nordirland (GB), leitete die Nathanson, Michael Rodriguez, Francelina Romao, Gruppe und stand ihr über den gesamten Zeitraum Nadine Wathen und Jiuling Wu. unterstützend und beratend zur Seite. Ruxana Jina Das Lektorat der Leitlinien wurde von Priya von der Witwatersrand-Universität in Südafrika, Naira- Shetty und Penny Howe durchgeführt. Kalra, Genf, Schweiz, Sandra Martin von der Abtei-
V Abkürzungen und Glossar Abkürzungen CBO Gemeinschaftsbasierte Organisation (community-based organization) KVT kognitive Verhaltenstherapie CDC Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention (Centers for Disease Control and Prevention) CEDAW UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women) DSM Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) EMDR Eye Movement Desensitization and Reprocessing FIGO Internationale Vereinigung für Gynäkologie und Geburtskunde (International Federation of Gynaecology and Obstetrics) LEG Leitlinienentwicklungsgruppe GRADE Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation ILO Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization) IUP Intrauterinpessar mhGAP WHO Aktionsprogramm psychische Gesundheit: Lücken schließen (WHO Mental Health Gap Action Programme) NGO Nichtregierungsorganisation (nongovernmental organization) PICOT Kohorte, Intervention, Vergleichsgröße, Ergebnis/Wirkung und Zeitrahmen (Population, Intervention, Comparator, Outcome and Timeframe) PMTCT Prävention der Mutter-Kind-Übertragung von HIV (prevention of mother-to-child transmission of HIV) PTBS posttraumatische Belastungsstörung RHR WHO Abteilung für reproduktive Gesundheit und Forschung (WHO Department of Reproductive Health and Research) SANE spezialisierte Pflegekraft für die Untersuchung und Versorgung nach Vergewaltigung (Sexual Assault Nurse Examiner) STI sexuell übertragbare Infektion (sexually transmitted infection) TF-KVT traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie GB Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland UNHCR Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (Office of the United Nations High Commissioner for Refugees) UNFPA Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Population Fund) USA Vereinigte Staaten von Amerika (United States of America) WHO Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization)
VI Glossar Empowerment: Frauen dabei helfen, mehr Kont- Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik rolle über ihr Leben zu empfinden und in der Lage Fachberatung: * Im Zusammenhang mit der Hil- zu sein, Entscheidungen über ihre Zukunft zu tref- fe bei Gewalt in Paarbeziehungen wird der Begriff fen, wie in der Empowerment-Theorie nach Dutton „Fachberatung“ nicht nur von Land zu Land, sondern beschrieben.2 Dutton merkt an, dass misshandelte auch innerhalb von Ländern je nach institutionellem Frauen nicht „krank“ sind, sondern sich vielmehr in Rahmen und der historischen Entwicklung der Auf- einer „kranken Situation“ befinden. Daher sollte ihnen gaben der Fachberatung unterschiedlich verwendet. gegenüber Verständnis gezeigt und ihre unterschied- Allgemein formuliert bezeichnet Fachberatung die lichen Bedürfnisse im Hinblick auf Unterstützung, Arbeit mit Klienten/innen, die misshandelt werden, Fachberatung und Heilung berücksichtigt werden. mit dem Ziel, ihnen Unterstützung und Empowerment Empowerment ist ein wesentliches Element von zu bieten und ihnen Zugang zu lokalen Diensten zu Fachberatungs-Interventionen und bestimmten psy- verschaffen. In einigen medizinischen Einrichtungen chologischen (kurzen Beratungs-) Interventionen. kann zu ihren Aufgaben auch die Veranlassung von Systemänderungen gehören, um das Erkennen von Eye Movement Desensitization and Reproces- Frauen mit Gewalterfahrungen durch Gesundheits- sing (EMDR): Bei dieser Therapie kommen stan- fachkräfte zu fördern. In diesen Leitlinien definieren dardisierte Verfahren zum Einsatz, die unter anderem wir die Hauptaktivitäten von Fachberatern/innen als die gleichzeitige Konzentration auf (a) spontane As- eine Unterstützung, die Folgendes umfasst: Beratung soziationen traumatischer Bilder, Gedanken, Gefühle in Rechts-, Wohn- und Finanzfragen und Förderung und körperlicher Empfindungen und (b) die bilaterale des Zugangs zu und der Nutzung von kommunalen Stimulation, zumeist in Form von repetitiven Augen- Ressourcen wie Zufluchtseinrichtungen, Notunter- bewegungen, umfassen. Anders als bei der trau- künften, informelle Beratung, laufende Unterstüt- mafokussierten KVT erfolgt die Behandlung bei der zung und Beratung bei der Sicherheitsplanung. In EMDR-Therapie ohne ausführliche Beschreibungen unseren Empfehlungen unterscheiden wir zwischen des Erlebten, ohne direktes Hinterfragen von Über- Fachberatungs-Interventionen und psychologischen zeugungen und ohne verlängerte Konfrontation. Interventionen. Dies spiegelt die relativ deutliche Unterscheidung in der Forschungsevidenz, wobei Gemeinsame Entscheidungsfindung: Das ge- psychologische Interventionen auf ausdrücklichen meinsame Treffen von Entscheidungen durch Ge- psychologischen Methoden und Theorien beruhen. sundheitsfachkräfte und Patientinnen auf Grundlage der besten verfügbaren Evidenz. Durch partnerschaft- Meldepflicht: Gesetzgebung in einigen Ländern liche Unterstützung der sie betreuenden Gesund- oder Bundesländern, die vorschreibt, dass Personen heitsfachkräfte werden Patientinnen ermutigt, die oder bestimmte Personen wie Gesundheitsfachkräfte verfügbaren Optionen und die jeweils zu erwartenden alle Fälle von tatsächlicher oder vermuteter häuslicher Vor- und Nachteile abzuwägen, ihre Präferenzen Gewalt oder Gewalt in Paarbeziehungen melden auszudrücken und zur Auswahl der entsprechend müssen (in der Regel bei der Polizei oder bei der am besten geeigneten Vorgehensweise beizutragen.3 rechtlich zuständigen Behörde). Während sich die Meldepflicht in vielen Ländern primär auf Kindesmiss- Zufluchtseinrichtung: Wird auch als Frauenhaus brauch und die Misshandlung Minderjähriger bezieht, oder Zufluchtsstätte bezeichnet. Eine Einrichtung, wurde sie in einigen Ländern auch auf das Melden häufig an einem geheimen Ort, in die Frauen vor von Gewalt in Paarbeziehungen ausgeweitet. gewalttätigen Partnern fliehen können. Wird in der Regel von einer Nichtregierungsorganisation (NGO) Beziehungspartner:1 Ein Ehemann, im gleichen geführt und war in Ländern mit hohem Einkommen Haushalt lebender Partner, Lebensgefährte oder in den 1970er Jahren die erste soziale und politische Geliebter oder Ex-Ehemann, Ex-Partner, ehemaliger Reaktion der Frauenbewegung auf Partnergewalt. Lebensgefährte oder ehemaliger Geliebter. Kann jedoch auch eine Kirche, lokale Organisation/ Gruppe oder andere Einrichtung bezeichnen, die einen Schutzort für Frauen bietet. * Anmerkung zur Übersetzung: Der Begriff „advocacy“ wurde mit „Fachberatung“ übersetzt. 1 Die Definition des Begriffs „Beziehungspartner“ (auch: „Intimpartner“) variiert je nach Umfeld und Studie und umfasst formelle Partner- schaften wie Ehen ebenso wie informelle Partnerschaften wie nichteheliche Lebensgemeinschaften, erste Beziehungen junger Menschen und sexuelle Beziehungen zwischen Unverheirateten. Während Beziehungspartner in manchen Regionen in der Regel verheiratet sind, sind in anderen Gebieten informelle Partnerschaften verbreiteter. 2 Dutton, M. A. Empowering and healing the battered woman. A model for assessment and intervention. New York, Springer Publishing Company, 1992 3 Elwyn, G. et al. Implementing shared decision making in the NHS. BMJ, 2010, 341:c5146
VII Gesundheitsdienstleister: ** Eine Person oder Or- Ersthilfe: Bezieht sich auf das Mindestmaß an (pri- Abkürzungen und Glossar ganisation, die auf systematische Weise Gesund- mär psychologischer) Unterstützung und Bestätigung heitsleistungen erbringt. Gesundheitsdienstleister/ des Erlebten, welches alle Frauen mit Gewalterfahrung innen können Vertreter von Gesundheitsberufen, erhalten sollten, die sich einem/einer Mitarbeiter/in im kommunale Gesundheitshelfer und andere Personen Gesundheitswesen (oder aus einem anderen Bereich) sein, die im Bereich Gesundheit geschult wurden und anvertrauen. Teilt viele Aspekte der sogenannten Fachkenntnisse haben. Dazu gehören auch Laien, „psychologischen Ersten Hilfe“ im Kontext von Notsi- die geschult wurden, um innerhalb ihrer Kommune tuationen mit traumatischen Erlebnissen. Pflege leisten zu können. Beispiele für Organisationen sind Krankenhäuser, Kliniken, Zentren für medizini- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Die KVT sche Grundversorgung und andere Einrichtungen, beruht auf der Annahme, dass Gefühle und Ver- die derartige Leistungen anbieten. In diesen Leitlinien halten nicht durch externe Faktoren wie Personen bezeichnet der Begriff „Gesundheitsdienstleister/in“ oder Ereignisse, sondern durch Gedanken gesteuert in der Regel die Erbringer von Gesundheitsleistungen werden. Menschen können unrealistische oder ver- (Krankenpfleger/innen, Hebammen/Entbindungspfle- zerrte Gedanken haben, die, wenn sie nicht überprüft ger, Ärztinnen/Ärzte und andere). werden, zu unvorteilhaftem Verhalten führen können. In der Regel weist die KVT eine kognitive Kompo- Gewalt in Paarbeziehungen: Verhalten eines Be- nente (Unterstützung der Person bei der Entwicklung ziehungspartners, das körperlichen, sexuellen oder der Fähigkeit, unrealistische negative Gedanken zu psychologischen Schaden oder Leid herbeiführt, ein- erkennen und zu hinterfragen) sowie eine Verhaltens- schließlich körperlicher Gewalt, sexueller Nötigung, komponente auf. Die Form der KVT hängt von den emotionaler Misshandlung und kontrollierendem Ver- jeweiligen psychischen Beschwerden ab. halten. Diese Definition umfasst Gewalt durch aktuelle und ehemalige Ehepartner, Lebensgefährten und Kriseninterventionsdienste: Dienste, die spezia- andere Beziehungspartner. Synonym oder über- lisierte Unterstützung, Fachberatung, psychosoziale schneidend verwendete Begriffe sind unter anderem Beratung und Information in einer sicheren, nicht häusliche Gewalt, Partnergewalt und Misshandlung bedrohlichen Umgebung unter Wahrung der Vertrau- der Ehefrau/Gattin. „Dating Violence“ wird in der Re- lichkeit bieten. gel in Bezug auf junge Menschen verwendet, die eine intime Beziehung von unterschiedlicher Dauer und Fragen im Verdachtsfall oder klinisches Nach- Intensität führen und nicht zusammenleben. fragen: Im Zusammenhang mit Gewalt in Paarbe- ziehungen bezeichnen diese Begriffe das Erkennen Gewalt gegen Frauen: Ein weit gefasster Ober- von Frauen, die Gewalt erfahren (die in einer medi- begriff, der von den Vereinten Nationen als „ge- zinischen Einrichtung vorstellig werden), anhand von schlechtsspezifische Gewalttaten, die bei Frauen Fragen, die sich aus dem aktuellen Zustand, der Ana- physische, psychische oder sexuelle Schäden oder mnese und, wenn angezeigt, der Untersuchung der Leid tatsächlich oder wahrscheinlich verursachen, Patientinnen ergeben. Die Begriffe sind von „Scree- einschließlich Androhungen solcher Gewalttaten, Nö- ning“ und „Routinebefragung“ zu unterscheiden. tigung oder willkürlicher Freiheitsberaubung, unab- hängig davon, ob sie im öffentlichen oder Privatleben Traumafokussierte kognitive Verhaltensthera- verübt werden“ 4 bezeichnet wird. Dies umfasst viele pie: Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventio- verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen und nen, deren Fokus auf einem traumatischen Ereignis Mädchen, darunter Gewalt in Paarbeziehungen, se- liegt (z. B. durch in senso- oder in vivo-Konfrontation xuelle Gewalt außerhalb von Paarbeziehungen, Men- und/oder direktes Hinterfragen maladaptiver Kog- schenhandel und schädliche Praktiken wie weibliche nitionen im Zusammenhang mit dem Ereignis und Genitalverstümmelung. dessen Folgeerkrankungen). 5 ** Anmerkung zur Übersetzung: Der Begriff „health care provider“ wurde mit „Gesundheitsdienstleister“ übersetzt. Im Text werden die Begriffe „Gesundheitsfachkraft“ und „Mitarbeiter/innen im Gesundheitswesen“ verwendet. 4 United Nations. Declaration on the elimination of violence against women. New York, United Nations, 1993. 5 Der Begriff „traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie“ („trauma-focused cognitive behavioural therapy“ (TF-CVT)) wird im englischen synonym zum Betriff „CBT with a trauma focus“ verwendet. Es ist jedoch anzumerken, dass letzterer Begriff in der Literatur zu traumatischer Belastung auch enger definiert ist. Die engere Definition durch Cohen und Kollegen (2000) wird für ein sehr spezifisches und weit verbreitetes KVT-Protokoll mit mehreren Komponenten für Kinder und Erwachsene benutzt. Der Begriff findet beispielsweise in den National Institute for Clinical Evidence Guidelines (NCCMH, 2005) und Cochrane-Reviews (z. B. Bisson und Andrew 2005) Anwendung.
VIII Psychologische Interventionen: Strukturierte Sexuelle Gewalt: Jede sexuelle Handlung, Ver- Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik psychosoziale Beratung, Psychotherapie oder ver- such, eine sexuelle Handlung herbeizuführen, uner- schiedene psychologische Techniken, die von ei- wünschte sexuelle Kommentare oder Annäherungen, ner in diesen Interventionen ausgebildeten Person Handlungen, mit dem Ziel des Frauenhandels/der durchgeführt werden. Diese Ansätze werden für ge- Zwangsprostitution oder Handlungen die sich an- schlechts- oder nicht geschlechtsspezifische Grup- derweitig gegen die Sexualität einer Person richten, pen, Paare oder Einzelpersonen angeboten. Dabei unter Anwendung von Zwang, durch irgendeine Per- sind verschiedene Formen möglich. Zumeist handelt son, unabhängig von deren Beziehung zum Opfer, in es sich um Therapien, die lose als kognitive Verhal- jedem Umfeld, auch zu Hause und am Arbeitsplatz.9 tenstherapien (KVT) katalogisiert werden. Siehe auch „kognitive Verhaltenstherapie“ und „Eye Movement Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung: *** Eine Un- Desensitization Processing“. terkategorie der sexuellen Gewalt. Umfasst in der Regel den Einsatz von körperlicher oder anderer Routinebefragung: Wird mitunter zur Bezeichnung Gewalt, um eine sexuelle Penetration zu erlangen des Erkennens von Gewalterfahrungen in Paarbe- oder zu versuchen. Dazu gehört die Vergewaltigung, ziehungen verwendet, ohne auf die Public Health definiert als körperlich oder anderweitig erzwungene Kriterien für ein vollständiges Screening-Programm Penetration der Vulva oder des Anus mit einem Penis, zurückzugreifen 6; kann auch einen niedrigen Schwel- einem anderen Körperteil oder einem Gegenstand, lenwert für das routinemäßige Befragen einiger, aber wobei die rechtliche Definition von Vergewaltigung nicht unbedingt aller Frauen im Gesundheitswesen unterschiedlich sein kann und in einigen Fällen auch nach Misshandlung bezeichnen.7 die orale Penetration umfasst.10 Screening (generelles Screening): Umfassende Unterstützung: Im Rahmen dieser Leitlinien bein- Untersuchungen ganzer Bevölkerungsgruppen, wo- haltet „Unterstützung“ jeden der folgenden Aspek- bei keine Auswahl einzelner Bevölkerungsgruppen te oder eine Kombination daraus: die Beratung in oder -untergruppen stattfindet.8 Rechts-, Wohn- und Finanzfragen, Förderung des Zugangs zu und der Nutzung von lokalen Ressourcen Sekundäre Traumatisierung: Wird auch indirekte, wie Zufluchtsstätten und psychologischen Interventi- stellvertretende oder vikariierende Traumatisierung onen und Beratung bei der Sicherheitsplanung, wie in genannt. Bezeichnet den Wandel des inneren Erle- Empfehlung 1 auf Seite 17 beschrieben. bens von Gesundheitsfachkräften als Ergebnis des empathischen und/oder wiederholten Umgangs mit Überlebenden von (sexueller) Gewalt und ihrer Trau- maerfahrung (siehe http://www.svri.org/trauma.htm). *** Anmerkung zur Übersetzung: Der Begriff „sexual assault“ wurde mit „sexuelle Nötigung/Vergewaltigung“ übersetzt. 6 Die Kriterien sind aufgeführt in Wilson, J. M. G., Jungner, G. Principles and Practice of Screening for Disease. Genf, Weltgesundheitsorganisa- tion, 1968, http://whqlibdoc.who.int/php/WHO_PHP_34.pdf. Die Screening-Kriterien für Großbritannien sind aufgeführt unter http://www.screening.nhs.uk/criteria#fileid9287 7 Taket, A. et al., Routinely asking women about domestic violence in health settings. BMJ, 2003, 327(7416):673–676. 8 Die Kriterien sind aufgeführt in Wilson, J. M. G., Jungner, G. Principles and Practice of Screening for Disease. Genf, Weltgesundheitsorganisa- tion, 1968, http://whqlibdoc.who.int/php/WHO_PHP_34.pdf. Die Screening-Kriterien für Großbritannien sind aufgeführt unter http://www.screening.nhs.uk/criteria#fileid9287 9 Jewkes, Sen und Garcia-Moreno, Sexual violence, in Krug, E. et al. World report on violence and health. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2002 10 ebd.
1 Zusammenfassung Einführung Obwohl auch Männer Opfer von Partnergewalt und sexueller Nötigung/Vergewaltigung werden, liegt Frauen mit Gewalterfahrung nehmen auch aufgrund der Schwerpunkt dieser Leitlinien auf Frauen, da ihrer Verletzungen häufig gesundheitliche Versor- diese häufiger und in stärkerem Maße sexueller und gung in Anspruch, allerdings berichten sie dabei körperlicher Gewalt und Zwang und Kontrolle durch nicht immer von der Misshandlung oder Gewalt. männliche Partner ausgesetzt sind. Ein Großteil der Mitarbeiter/innen im Gesundheitswesen sind oft der Informationen ist jedoch auch relevant für Gewalt erste professionelle Kontakt von Überlebenden von gegen Frauen durch andere Familienmitglieder als Gewalt in Paarbeziehungen oder Vergewaltigung. den Beziehungspartner und könnte auch für Gewalt Statistiken belegen, dass misshandelte Frauen häu- in Paarbeziehungen gegen Männer von Bedeutung figer Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen als sein. Einige der Empfehlungen werden auch bei Frauen ohne Gewalterfahrung. Gleichzeitig zeigen sexueller Nötigung/Vergewaltigung von Männern sie, dass Mitarbeitende der Gesundheitsversorgung relevant sein. die Berufsgruppe sind, denen bei der Offenbarung von Gewalterfahrung das meiste Vertrauen entgegen- gebracht wird. Zielpublikum Die vorliegenden Leitlinien sollen Gesundheits- fachkräften evidenzbasierte Richtlinien für angemes- Die Leitlinien richten sich an Anbieter von Gesund- senes Handeln bei Gewalt in Paarbeziehungen und heitsleistungen und an Beschäftigte im Gesund- sexueller Gewalt gegen Frauen bieten, einschließlich heitswesen. Sie befinden sich in einer einzigartigen klinischer Interventionen und emotionaler Unterstüt- Position, um auf die gesundheitlichen und psy- zung. Gleichzeitig sollen sie das Bewusstsein von chosozialen Bedürfnisse von Frauen mit Gewalt- Gesundheitsfachkräften und Gesundheitspolitiker/ erfahrung einzugehen. Angehörige der Gesund- innen für Gewalt gegen Frauen schärfen und dazu heitsberufe können helfen, indem sie Betroffene beitragen, den Bedarf für eine angemessene Reak- ermutigen, sich anzuvertrauen, Unterstützung und tion des Gesundheitssektors auf Gewalt gegen Frau- Weitervermittlung anbieten, angemessene medi- en deutlich zu machen. zinische Versorgung und Nachsorge bieten oder Die Leitlinien beruhen auf der systematischen – insbesondere in Fällen von sexueller Gewalt – Überprüfung der Evidenz a) zu Gewalt in Paarbe- rechtlich relevante Spuren und Befunde aufnehmen. ziehungen: Erkennen und klinische Versorgung, Diese Leitlinien bieten Gesundheitsfachkräften b) zur klinischen Versorgung bei sexueller Nötigung/ evidenzbasierte Empfehlungen zur angemessenen Vergewaltigung und c) zu Schulungen im Hinblick auf Versorgung von Frauen, die Gewalt in Paarbezie- Gewalt in Paarbeziehungen und sexuelle Nötigung/ hungen oder sexuelle Gewalt erleiden, einschließlich Vergewaltigung von Frauen, sowie d) zu gesund- klinischer Interventionen und emotionaler Unterstüt- heitspolitischen und programmatischen Ansätzen zur zung. Gleichzeitig sollen sie das Bewusstsein von Leistungserbringung und zur Meldepflicht bei Gewalt Gesundheitsfachkräften und Gesundheitspolitikern/ in Paarbeziehungen. Sie bieten Standards, die als innen für Gewalt gegen Frauen schärfen, um ein Grundlage für nationale Leitlinien und die Aufnahme evidenzbasiertes Handeln des Gesundheitssektors dieser Aspekte in die Ausbildung von Gesundheits- zu fördern und die Kompetenzentwicklung von Ge- berufen dienen können und Gesundheitsfachkräfte sundheitsfachkräften und anderen Mitgliedern mul- besser über die Versorgung von Frauen informieren, tidisziplinärer Teams zu verbessern. Sie sollten auch die sexueller Nötigung/Vergewaltigung oder Gewalt nützlich sein für diejenigen, die für die Entwicklung in Paarbeziehungen ausgesetzt sind.
2 von Lehrplänen in den Bereichen Medizin, Pflege und fehlungen wurden von der WHO in Zusammenarbeit Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik öffentliche Gesundheit zuständig sind. mit der LEG auf einer Tagung in der WHO-Zentrale Des Weiteren enthalten die Leitlinien Kompo- vom 12. bis 14. September 2011 in Genf erarbeitet. nenten zur Leistungserbringung und Programment- Dabei wurden die Evidenz sowie die Überlegungen wicklung, die an Personen gerichtet sind, die für zum Gleichgewicht zwischen Nutzen und Schaden, die Entwicklung, Finanzierung und Umsetzung von zu den Präferenzen von Frauen und ihren Menschen- Programmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen rechten sowie zu den Kostenfolgen in verschiedenen Frauen verantwortlich sind. Bei der Umsetzung der Ländern und Gemeinschaften weltweit berücksich- Empfehlungen muss der Umfang der verfügbaren tigt. Wenn Leitlinien erforderlich, aber keine einschlä- Mittel, einschließlich anderer unterstützender Ange- gige Forschungsevidenz verfügbar waren, wurden bote, berücksichtigt werden. Empfehlungen auf Grundlage der Fachkenntnisse der Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird LEG erarbeitet. mit Gesundheitsministerien, Nichtregierungsorgani- Bei klinischen Interventionen wurde die Qualität sationen (NGOs) und Schwesterorganisationen der der unterstützenden Evidenz anhand der GRADE- Vereinten Nationen zusammenarbeiten, um diese Methode als sehr niedrig, niedrig, moderat oder hoch Leitlinien zu verbreiten und ihre Anpassung und Um- eingestuft. Einige Empfehlungen beruhen zum Teil setzung in den Mitgliedsstaaten zu unterstützen. auf vorhandenen Leitlinien, deren Evidenz qualitativ beurteilt wurde. Wenn vorhandene Leitlinien nur indi- rekte Evidenz boten, die nicht direkt auf die jeweiligen Methoden der Leitlinien- Bevölkerungsgruppen und Rahmenbedingungen entwicklung anwendbar ist, wurde die Qualität der Evidenz ent- sprechend kenntlich gemacht. Die Empfehlungen für Der zur Erstellung dieser Leitlinien angewendete Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung so- Entwicklungsprozess, der im WHO handbook for wie zur Meldepflicht werden als „Best Practices“ oder guideline development1 beschrieben ist, umfasste als Maßnahmen zur Wahrung von Menschenrechten folgende Schritte: (I) Erarbeitung von Fragen in Bezug betrachtet. Zudem suchten wir für diese Empfeh- auf die klinische Praxis und Gesundheitspolitik; (II) Zu- lungen systematisch nach relevanter Literatur und sammentragen aktueller Evidenz; (III) Beurteilung und fassten diese qualitativ zusammen, ohne jedoch die Zusammenfassung der Evidenz; (IV) Ausarbeitung Evidenz und „Best Practices“ anhand der GRADE- von Empfehlungen unter Einbeziehung einer Vielzahl Methode zu bewerten. Wenn für eine klinische oder von Akteuren/innen und (V) Ausarbeitung von Plänen gesundheitspolitische Empfehlung keine Evidenz ge- zur Verbreitung, Umsetzung und Aktualisierung der funden wurde, ist dies in der Zusammenfassung der Leitlinien. Evidenz angegeben. Die wissenschaftliche Evidenz für die Empfehlun- Empfehlungen werden auf Grundlage der Verall- gen wurde anhand der GRADE-Methode (Grading of gemeinbarkeit des Nutzens in verschiedenen Umfel- Recommendations Assessment, Development and dern, der Bedürfnisse und Präferenzen von Frauen Evaluation) für klinische Interventionen zusammen- bei der Inanspruchn ahme von Angeboten sowie gefasst. Für jede im Vorfeld definierte kritische Frage unter Berücksichtigung des dafür erforderlichen Per- wurden Evidenzprofile auf Grundlage von vorhande- sonal- und Ressourcenbedarfs als stark oder ein- nen oder in Auftrag gegebenen systematischen Re- geschränkt eingestuft. Um sicherzustellen, dass alle views erstellt. Bei den Fragen zur Gesundheitspolitik Empfehlungen so verstanden und umgesetzt werden und Leistungserbringung wurde die deskriptive Evi- können, wie sie gemeint sind, hat die LEG Erläu- denz zusammengefasst und dabei die Stärken und terungen verfasst, die als Anmerkungen unter den Schwächen der verschiedenen Ansätze aufgezeigt. Empfehlungen aufgeführt sind. Die Leitfadenentwicklungsgruppe (LEG) bestand Auch Ansichten von Peer-Reviewern und ver- aus Wissenschaftler/innen, Beschäftigten des Ge- schiedenen Interessenvertretern/innen, darunter Kol- sundheitswesens und Gesundheitspolitikern/innen, legen/innen, die direkt mit weiblichen Überlebenden die in den Bereichen Frauengesundheit und Be- von Gewalt zusammenarbeiten, wurden eingeholt kämpfung von Gewalt gegen Frauen in Ländern und trugen zur Präzisierung der Empfehlungen bei. mit geringem und mittlerem Einkommen tätig sind, Es wurden wichtige Wissenslücken festgestellt, die sowie aus Fachberatern/innen (Frauengesundheit es durch Primärforschung zu schließen gilt, und auf und Frauenrechte), sodass ein breites Spektrum von deren Grundlage eine Liste zentraler Forschungsfra- Sichtweisen von Betroffenen vertreten war. Die Emp- gen erstellt werden konnte. 1 WHO handbook for guideline development. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2010
3 Zusammenfassung der Empfehlungen Zusammenfassung Empfehlungen Evidenzqualität Empfehlung 1. Frauenzentrierte Versorgung 1 Frauen, die von irgendeiner Form von Gewalt in Paarbeziehun- Indirekte Evidenz b Stark gen (oder durch ein anderes Familienmitglied) oder sexueller Nötigung/Vergewaltigung durch irgendeine Person berichten, sollte sofortige Unterstützung angeboten werden.a Gesundheits- fachkräfte sollten mindestens Ersthilfe anbieten, wenn eine Frau Gewalterfahrungen mitteilt. Ersthilfe umfasst: • Eine wertfreie, unterstützende und bestätigende Haltung zu dem, was die Frau berichtet • Praktische Versorgung und Unterstützung, die auf ihre Sorgen eingeht, ohne dabei aufdringlich zu sein • Erkundigen nach ihrer Gewaltgeschichte und aufmerksames Zuhören, ohne sie zum Sprechen zu drängen (in Anwesenheit von Dolmetscher/innen ist bei sensiblen Themen besondere Achtsamkeit geboten) • Ihr helfen beim Zugang zu Informationen, einschließlich rechtli- cher und anderer Angebote, die sie als hilfreich erachten könnte • Ihr, soweit erforderlich, bei der Erhöhung ihrer Sicherheit und der ihrer Kinder helfen • Bereitstellung oder Vermittlung sozialer Unterstützung Dabei sollte Folgendes sichergestellt sein: • Wahrung der Privatsphäre beim Gespräch • Vertraulichkeit, wobei Frauen über die Grenzen der Vertraulich- keit informiert werden müssen (z. B. wenn Meldepflicht besteht) Wenn Mitarbeiter/innen der Gesundheitsversorgung nicht in der Lage sind Ersthilfe anzubieten, müssen sie sicherstellen, dass eine andere Person (innerhalb der eigenen oder einer anderen, leicht zugänglichen Gesundheitseinrichtung) sofort verfügbar ist, um dies zu übernehmen. 2. Gewalt in Paarbeziehungen: Erkennen und Versorgen von Betroffenen 2.1 ERKENNEN VON GEWALT IN PAARBEZIEHUNGEN 2 Ein „generelles Screening“ oder „Routinebefragung“ (Nachfragen Schwach bis Eingeschränkt bei jedem Kontakt mit Einrichtungen des Gesundheitswesens) Moderat sollte nicht implementiert werden. 3 Gesundheitsfachkräfte sollten nach Gewalterfahrungen durch Indirekte Evidenz Stark einen Partner fragen, wenn sie Beschwerden behandeln, die durch Gewalt in Paarbeziehungen verursacht oder verschlimmert worden sein könnten (siehe Kasten 1: Beispiele für klinische Zustände im Zusammenhang mit Gewalt in Paarbeziehungen, S. 21), um das Erkennen, die Diagnose und die anschließende Versorgung zu verbessern (siehe Empfehlung 30). a Diese Empfehlung wurde dem Leitfaden Psychological first aid. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2011, für Personen in gesellschaftlichen Krisensituationen, entnommen, http://whqlibdoc.who.int/publications/2011/9789241548205_eng.pdf. b Die Evidenzqualität wird als „indirekte Evidenz“ bezeichnet, wenn keine direkte Evidenz für die jeweilige Population identifiziert und die Empfehlung daher von Evidenz aus einer anderen geeigneten Population abgeleitet wurde.
4 Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik Empfehlungen Evidenzqualität Empfehlung 4 In medizinischen Einrichtungen sollten schriftliche Informationen Es wurde keine Eingeschränkt zum Thema Gewalt in Paarbeziehungen in Form von Postern relevante Evidenz ausgehängt werden. Informationsblätter und Broschüren – mit identifiziert dem Hinweis, diese nicht mit nach Hause zu nehmen, wenn dort ein gewalttätiger Partner Zugang hat – sollten in privaten Berei- chen wie Damentoiletten ausgelegt werden. 2.2 VERSORGUNG VON BETROFFENEN VON GEWALT IN PAARBEZIEHUNGEN 5 Frauen mit bereits bestehender diagnostizierter oder mit Part- Indirekte Evidenz,b Stark nergewalt verbundener psychischer Erkrankung (z. B. Depres- variabel sion oder Alkoholabhängigkeit), die Gewalt in Paarbeziehungen (hängt von Intervention ab, siehe http://www. ausgesetzt sind, sollten eine psychische Versorgung für ihre who.int/mental_health/ Erkrankung erhalten (gemäß WHO-Interventionsleitfaden Mental mhgap/evidence/en/) Health Gap Action Programme [mhGAP], 2010) a. Diese sollte von Fachkräften mit fundiertem Wissen im Bereich Gewalt gegen Frauen durchgeführt werden. 6 Für Frauen, die keiner Gewalt mehr ausgesetzt sind, aber an Schwach bis Stark einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, wird Moderat als Intervention eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT) oder Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) c durch Gesundheitsfachkräfte mit fundiertem Wissen im Bereich Gewalt gegen Frauen empfohlen. 7 Frauen, die mindestens eine Nacht in einer Zufluchtseinrichtung Schwach Eingeschränkt verbracht haben, sollte ein strukturiertes Programm, das Fach- beratung, Unterstützung und/oder Empowerment beinhaltet, angeboten werden.c 8 Schwangeren Frauen, die von der Gewalt in der Partnerschaft Schwach Eingeschränkt berichten, sollte eine kurz- bis mittelfristige Empowerment- orientierte Beratung (bis zu zwölf Sitzungen) und Fachberatung/ Unterstützung mit Schutzaspekten durch geschulte Fachkräfte angeboten werden, wenn das jeweilige Gesundheitssystem dies leisten kann. In welchem Umfang dies außerhalb der Schwan- gerenvorsorge Anwendung findet und in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen umsetzbar ist, ist unklar. 9 Kindern, die zu Hause häusliche Gewalt (mit-) erleben, sollte eine Moderat Eingeschränkt psychotherapeutische Intervention - Sitzungen mit und ohne An- wesenheit der Mutter - angeboten werden. Allerdings ist unklar, in welchem Maße dies in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen umsetzbar ist. a mhGAP intervention guide for mental, neurological and substance use disorders in non-specialized health settings. Geneva, World Health Organization, 2010, http://whqlibdoc.who.int/publications/2010/9789241548069_eng.pdf b Die Evidenzqualität wird als „indirekte Evidenz“ bezeichnet, wenn keine direkte Evidenz für die jeweilige Population identifiziert und die Empfehlung daher von Evidenz aus einer anderen geeigneten Population abgeleitet wurde. c Siehe Glossar
5 Empfehlungen Evidenzqualität Empfehlung Zusammenfassung 3. Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung: Klinische Versorgung von Überlebenden 3.1 INTERVENTIONEN IN DEN ERSTEN 5 TAGEN NACH DEM GEWALTEREIGNIS 3.1.1 Ersthilfe 10 Anbieten von Ersthilfe für weibliche Überlebende von sexueller Indirekte Evidenz a Stark Nötigung/Vergewaltigung durch einen fremden oder einen be- kannten Täter (siehe auch Empfehlung 1), einschließlich: • Praktische Versorgung und Unterstützung, die auf ihre Sor- gen eingeht, ohne ihre Selbstbestimmung zu beeinträchtigen • Zuhören, ohne auf ihre Antworten oder auf die Enthüllung von Informationen zu bestehen • Zuspruch und Hilfe anbieten, um ihre Ängste zu lindern oder zu reduzieren • Informationen anbieten und ihr helfen bei der Inanspruch- nahme von Angeboten und sozialer Unterstützung 11 Erheben einer vollständigen Anamnese und Dokumentation der Indirekte Evidenz Stark Ereignisse, um über geeignete Interventionen zu bestimmen. Durchführen einer vollständigen körperlichen Untersuchung (von Kopf bis Fuß, einschließlich Genitalbereich).b Die Anamnese sollte Folgendes umfassen: • Zeitraum seit dem Ereignis und Art der Gewaltanwendung • Risiko einer Schwangerschaft • Risiko einer HIV und anderer sexuell übertragbarer Infektionen (STI) • Psychischer Gesundheitszustand 3.1.2 Notfallverhütung 12 Anbieten einer Notfallverhütung für Überlebende einer Vergewal- Moderat Stark tigung, sofern sie innerhalb von fünf Tagen nach dem Ereignis vorstellig werden. Zur Maximierung der Wirksamkeit sollte eine Notfallverhütung schnellstmöglich erfolgen. 13 Wenn verfügbar, sollte Levonorgestrel angeboten werden. Moderat Stark Empfohlen wird eine Einzeldosis von 1,5 mg, da diese ebenso wirksam ist wie zwei in einem Abstand von 12 bis 24 Stunden verabreichte Dosen von 0,75 mg. Wenn Levonorgestrel NICHT verfügbar ist, kann eine Kombinati- onstherapie aus Östrogen und Progestogen angeboten werden, wenn möglich in Verbindung mit Antiemetika. Wenn kein orales Notfallverhütungsmittel verfügbar ist, kann Frauen, die eine langfristige Verhütungsmethode wünschen, ein kupferhaltiges Intrauterinpessar (IUP) angeboten werden, sofern dies möglich ist. Unter Berücksichtigung des Risikos von STI kann das IUP bis zu fünf Tage nach der Vergewaltigung eingesetzt werden, sofern die medizinischen Voraussetzungen gegeben sind (siehe WHO medical eligibility criteria, 2010).c a Diese Empfehlung wurde dem Leitfaden Psychological first aid. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2011, für Personen in gesellschaftlichen Krisensituationen entnommen, http://whqlibdoc.who.int/publications/2011/9789241548205_eng.pdf b Siehe Guidelines for medico-legal care of sexual violence survivors. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2003; Clinical management of rape survivors. Genf, WHO/Office of the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), 2004 und E-learning programme on clinical management of rape survivors. Genf, WHO/UNHCR/United Nations Population Fund (UNFPA), 2009 c WHO medical eligibility criteria. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2010
6 Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik Empfehlungen Evidenzqualität Empfehlung 14 Wenn eine Frau nach dem Zeitfenster für eine Notfallverhütung Es wurde keine Stark (5 Tage) vorstellig wird, eine Notfallverhütung nicht wirksam ist, relevante Evidenz oder wenn eine Frau infolge einer Vergewaltigung schwanger ist, identifiziert sollte ihr ein sicherer Schwangerschaftsabbruch entsprechend der vor Ort geltenden nationalen Gesetze angeboten werden. 3.1.3 HIV-Postexpositionsprophylaxe 15 Bei Frauen, die innerhalb von 72 Stunden nach einer Vergewal- Sehr schwach, Stark tigung vorstellig werden, sollte das Angebot einer HIV-Postex- basierend auf positionsprophylaxe (PEP) in Erwägung gezogen werden. Die indirekter Evidenz Klärung, ob eine HIV Postexpositionsprophylaxe angemessen ist, (siehe gemeinsame sollte in gemeinsamer Entscheidungsfindung a mit der Überleben- Leitlinien der Internatio- nal Labour Organizati- den erfolgen. on (ILO)/WHO, 2008) b 16 HIV-Risiko mit der Überlebenden besprechen, um den Nutzen Indirekte Stark einer PEP abzuwägen. Dies schließt ein: Evidenz b • HIV-Prävalenz in der geographischen Region • Grenzen der PEP c • HIV-Status und Charakteristika des Täters, sofern bekannt • Tathergang, einschließlich Anzahl der Täter • Nebenwirkungen der bei der PEP-Therapie angewandten antiretroviralen Medikamente • Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung 17 Bei Durchführung einer HIV-PEP: Indirekte Stark • Therapiebeginn schnellstmöglich, vor Ablauf von 72 Stunden Evidenz d • Bei der Erstkonsultation HIV-Test und Beratung durchführen • Regelmäßige Nachfolgetermine mit der Patientin sicherstellen • Zweifach-Kombinationstherapien (mit fester Dosierung) sind Dreifach-Kombinationstherapien in der Regel vorzuziehen, wobei Medikamente mit geringeren Nebenwirkungen zu bevorzugen sind • Die Wahl der Medikamente und Therapie sollte gemäß den nationalen Richtlinien erfolgen 18 Beratungen zur Therapietreue sollten ein wichtiges Sehr schwach Stark Element der HIV-PEP sein. 3.1.4 Postexpositionsprophylaxe gegen sexuell übertragbare Infektionen 19 Weiblichen Überlebenden einer Vergewaltigung sollte Prophylaxe Schwach bis Stark gegen folgende Infektionen angeboten werden: sehr schwach, • Chlamydien basierend auf • Gonorrhoe indirekter Evidenz • Trichomonasis • Syphilis, je nach Prävalenz Die Wahl der Medikamente und Therapie sollte gemäß nationalen Richtlinien erfolgen. a Siehe Glossar b Joint ILO/WHO guidelines on post-exposure prophylaxis to prevent HIV infection. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2008 c In zwei Kohortenstudien zur HIV-PEP lagen die Serokonversionsraten zwischen 0 und 3,7% d Joint ILO/WHO guidelines on post-exposure prophylaxis to prevent HIV infection. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2008.
7 Zusammenfassung Empfehlungen Evidenzqualität Empfehlung 20 Eine Hepatitis-B-Impfung ohne Hepatitis-B-Immunglobulin sollte Sehr schwach, Stark gemäß nationalen Richtlinien angeboten werden. basierend auf • Vor Verabreichung der ersten Impfdosis Blutabnahme zur indirekter Evidenz Kontrolle des Hepatitis-B-Status durchführen • Bei Immunität ist keine weitere Impfung erforderlich 3.1.5 Psychologische Interventionen 21 Anbieten von Unterstützung und Versorgung wie in Indirekte Stark Empfehlung 10 beschrieben. Evidenz a 22 Es sollten schriftliche Informationen über Bewältigungsstrategien Es wurde keine Stark bei schwerem Stress/Belastungen bereitgestellt werden (mit dem relevante Evidenz Hinweis, diese nicht mit nach Hause zu nehmen, wenn dort ein identifiziert gewalttätiger Partner ist). 23 Psychologisches Debriefing sollte nicht benutzt werden. Sehr schwach Stark bis schwach a 3.2 PSYCHOLOGISCHE INTERVENTIONEN UND INTERVENTIONEN IM BEREICH DER PSYCHISCHEN GESUNDHEIT NACH 5 TAGEN 3.2.1 Interventionen bis zu 3 Monate nach dem Trauma 24 Fortgesetztes Anbieten von Unterstützung und Versorgung wie in Indirekte Stark Empfehlung 10 beschrieben. Evidenz a 25 Über einen Zeitrum von ein bis drei Monaten nach der Tat Sehr schwach Stark „abwartend beobachten“, es sei denn, die Betroffene leidet an bis schwach Depressionen, hat Alkohol- oder Drogenprobleme, psychotische Symptome, suizidales oder selbstverletzendes Verhalten oder Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags. Abwartendes Beobachten beinhaltet, der Frau zu erklären, dass es ihr im Laufe der Zeit voraussichtlich besser gehen wird und ihr die Op- tion auf weitere Unterstützung durch regelmäßige Folgetermine anzubieten. 26 Wenn die Betroffene durch die Symptome nach einer Verge- Schwach bis Stark waltigung in ihrer Leistungsfähigkeit so eingeschränkt ist, dass moderat sie Schwierigkeiten bei der Bewältigung ihres Alltags hat, sollte eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT) oder EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) durch eine Gesundheitsfachkraft mit umfassenden Kenntnissen im Umgang mit Überlebenden sexueller Gewalt veranlasst werden. 27 Wenn die Betroffene andere psychische Probleme hat (depressi- Indirekte Evidenz, Stark ve Symptome, Alkohol- oder Drogenprobleme, Suizidgefährdung variabel oder selbstverletzendes Verhalten): Versorgung gemäß WHO (hängt von Intervention ab, siehe http://www. mhGAP Intervention Guide 2010 leisten.b who.int/mental_health/ mhgap/evidence/en/) a Diese Empfehlung wurde dem Leitfaden Psychological first aid. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2011, für Personen in gesellschaftlichen Krisensituationen entnommen, http://whqlibdoc.who.int/publications/2011/9789241548205_eng.pdf b mhGAP intervention guide for mental, neurological and substance use disorders in non-specialized health settings. Genf, Weltgesundheitsorga- nisation, 2010, http://whqlibdoc.who.int/publications/2010/9789241548069_eng.pdf
8 Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen: Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik Empfehlungen Evidenzqualität Empfehlung 3.2.2 Interventionen nach Ablauf von 3 Monaten nach dem Trauma 28 Untersuchung auf psychische Probleme (Symptome von akutem Indirekte Evidenz, Stark Stress/PTBS, Depression, Alkohol- oder Drogenprobleme, variabel Suizidgefährdung oder selbstverletzendes Verhalten). Behand- (hängt von Intervention ab, siehe http://www. lung von Depression, Alkoholmissbrauch und anderen psychi- who.int/mental_health/ schen Problemen anhand des mhGAP Intervention Guide,a der mhgap/evidence/en/) evidenzbasierte klinische Protokolle der WHO für psychische Probleme enthält. 29 Bei Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung Schwach bis Stark (PTBS): Veranlassung einer Therapie für PTBS mit kognitiver Moderat Verhaltenstherapie (KVT) oder Eye Movement Desensitization and Reprosessing (EMDR). 4. Gewalt in Paarbeziehungen und sexuelle Nötigung/Vergewaltigung: Schulung von Gesundheitsfachkräften 30 Gesundheitsfachkräfte (insbesondere Ärztinnen/Ärzte, Pflegeper- Sehr schwach Stark sonal und Hebammen/Entbindungspfleger sollten während der Ausbildung/des Studiums eine Schulung in Ersthilfe für Frauen erhalten, die Gewalt in Paarbeziehungen oder sexuelle Nötigung/ Vergewaltigung erlebt haben (siehe Empfehlung I). 31 Mitarbeiter/innen im Gesundheitswesen, die Versorgung für Schwach Stark Frauen anbieten, sollten Fort- und Weiterbildungen erhalten, die bis moderat • Sie dazu befähigen, Ersthilfe anzubieten (siehe Empfehlungen 1 und 10) • Ihnen geeignete Fähigkeiten vermitteln, einschließlich: – wann und wie nach Gewalterfahrungen zu fragen ist – auf welche Weise am besten auf betroffene Frauen reagiert werden kann (siehe Abschnitte 2, Gewalt in Paarbeziehun- gen: Erkennen und Versorgung von Betroffenen, und 3, Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung: Klinische Versorgung von Überlebenden) – wie -wenn angemessen- rechtlich relevante Spuren und Befunde aufgenommen werden b • Folgendes behandeln: – grundlegendes Wissen zum Thema Gewalt, einschließlich Gesetzen, die für Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen und sexueller Gewalt von Bedeutung sind – Wissen um verfügbare Dienste/Angebote, die Unterstützung für Betroffene von Gewalt in Paarbeziehungen und sexueller Gewalt anbieten (z. B. in Form eines Verzeichnisses von Angeboten/Projekten) – unangemessene Haltungen von Gesundheitsfachkräften (z. B. Frauen die Schuld an der Gewalt zuweisen, erwarten dass sie sich trennen etc.) sowie ihre eigenen Erfahrungen mit Gewalt in Paarbeziehungen und sexueller Gewalt. a mhGAP intervention guide for mental, neurological and substance use disorders in non-specialized health settings. Genf, Weltgesundheits- organisation, 2010, http://whqlibdoc.who.int/publications/2010/9789241548069_eng.pdf b Siehe Guidelines for medico-legal care of sexual violence survivors. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2003; Clinical management of rape survivors. Genf, WHO/UNHCR, 2004; und E-learning programme on clinical management of rape survivors. Genf, WHO/UNHCR/UNFPA, 2009
9 Zusammenfassung Empfehlungen Evidenzqualität Empfehlung 32 Die Schulung von Gesundheitsfachkräften zur Gewalt in Paar- Schwach Stark beziehungen und sexueller Nötigung/Vergewaltigung sollte verschiedene Aspekte des Umgangs mit Gewalt in Paarbezie- hungen und sexueller Nötigung/Vergewaltigung beinhalten (z. B. Erkennen, Sicherheitseinschätzung und -planung, Kommunika- tion und klinische Fähigkeiten, Dokumentation und Bereitstellen von Überweisungspfaden). 33 Angesichts der thematischen Überschneidungen von Gewalt in Es wurde keine Stark Paarbeziehungen und sexueller Nötigung/Vergewaltigung und relevante Evidenz der beschränkten Ressourcen für die Schulung von Gesund- identifiziert heitsfachkräften sollten beide Themen in einer Schulung integriert werden. 5. Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung a 34 Die Versorgung von Frauen, die Gewalt in Paarbeziehungen Sehr schwach Stark oder sexuelle Nötigung/Vergewaltigung erfahren haben, sollte nach Möglichkeit kein eigenständiges Angebot sein, sondern in bestehende Angebote/Leistungen der Gesundheitsversorgung integriert werden. (siehe Mindestanforderungen, Kasten 3, S. 44). 35 Es bedarf länderspezifischer Modelle für die Versorgung von Sehr schwach Stark Betroffenen von Gewalt in Paarbeziehungen und sexueller Nötigung/Vergewaltigung auf den verschiedenen Ebenen des Gesundheitswesens. Die Priorität sollte jedoch auf der Bereit- stellung von Schulungen und Versorgungsangeboten in der primären Gesundheitsversorgung liegen. 36 Auf Bezirks- oder Kreisebene sollte zu jeder Tages- und Nacht- Sehr schwach Eingeschränkt zeit eine Gesundheitsfachkraft (Krankenpfleger/in, Arzt/Ärztin oder entsprechend qualifiziertes Personal) verfügbar sein (vor Ort oder in Rufbereitschaft), die in der geschlechtssensiblen Untersu- chung und Versorgung nach sexueller Nötigung/Vergewaltigung geschult ist. 6. Meldepflicht bei Gewalt in Paarbeziehungen a 37 Eine Pflicht zur Meldung bei der Polizei durch Mitarbeiter/innen Sehr schwach Stark der Gesundheitsversorgung wird nicht empfohlen. Wenn die Be- troffene es wünscht und sie ihre Rechte kennt, sollten Gesund- heitsfachkräfte jedoch anbieten, den Vorfall bei den zuständigen Behörden (einschließlich Polizei) zu melden. 38 Die Misshandlung von Kindern und lebensbedrohliche Vorfälle Sehr schwach Stark müssen von Gesundheitsfachkräften bei den zuständigen Behör- den gemeldet werden, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. a Vorhandene Evidenz wurde überprüft, aber GRADE aufgrund des größtenteils beschreibenden und qualitativen Charakters der Daten nicht angewendet.
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