TATORT FAMILIE POLIS AKTUELL 9/2021 - ZENTRUM POLIS

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TATORT FAMILIE POLIS AKTUELL 9/2021 - ZENTRUM POLIS
polis aktuell      9/2021

  tatOrt faMIlIe

gewalt gegen frauen unD KInDer
TATORT FAMILIE POLIS AKTUELL 9/2021 - ZENTRUM POLIS
lIeBe leSerIn, lIeBer leSer!

Österreich hat ein Gewaltschutzgesetz, das internatio-       von Gewalt reagieren können. Zudem finden Sie Tipps,
nal durchaus vorzeigbar ist und in manchen Bereichen         wie das Thema in der Schule anhand von Methoden und
als Vorzeigemodell gilt. Trotzdem wurden von Jänner          Unterrichtsmaterialien umgesetzt werden kann, sowie
bis Oktober des Jahres 2021 23 Frauen ermordet und es        Links zu Organisationen aus dem Gewaltschutzbereich.
gibt belegbare Daten, dass die COVID-19 Pandemie zu              Schule ist ein wichtiger Ort der Auseinandersetzung
einem Anstieg der Gewalt in der Familie geführt hat.         mit dem Thema, ungeachtet dessen, ob Kinder und
Aktuelle Diskussionen rund um Fußball-Großereignisse,        Jugendliche selbst betroffen sind und ihnen dadurch
K.-O.-Mittel oder Maturareisen zeugen vom Ausmaß der         unterstützend begegnet werden kann oder ob es sich
Gewalt. Dies belegen auch internationale Daten: Laut         um einen Beitrag zur Sensibilisierung und Bewusstseins-
einer europaweiten Studie der Europäischen Grundrech-        bildung handelt.
teagentur aus dem Jahr 2014 ist jede dritte Frau von             Dieses Heft soll Ihnen Grundlagenwissen und Hilfe-
Gewalt betroffen.                                            stellungen für diese wichtige Aufgabe anbieten.
    Gewalt ist überall und allgegenwärtig, besonders aber
sind Frauen und Kinder von Männergewalt betroffen.               Ihr Team von Zentrum polis
Gewalt ist Ausdruck von Machtungleichheit und Abhän-             > service@politik-lernen.at
gigkeitsverhältnisse verstärken gewaltsame Beziehun-
gen, aus denen sich Frauen oft schwer lösen. Alle Frauen
sind der Gefahr ausgesetzt, Gewalt zu erfahren, wobei            InHalt
Faktoren wie Alter, Migrationshintergrund oder Behin-            Begriffliche Annäherung
derungen verstärkende Faktoren sein können, warum                an das Thema ............................................... 3
Frauen Gewalt und Diskriminierung erleben.                       Gewalt gegen Frauen ..................................... 5
    Das Heft setzt sich mit dem vielschichtigen Begriff
                                                                 Gewalt gegen Kinder.................................... 13
„Gewalt“ auseinander, behandelt Formen und Aus-
prägungen von Gewalt, informiert über die rechtliche             Interview mit Rosa Logar ............................. 18
Situation in Österreich und wirft einen Blick auf die            Unterrichtsbeispiel „Faktencheck zu Mythen“ ... 19
europäische und internationale Ebene. Der zweite Teil            Angebote für Schulen:
stellt Gewalt gegen Kinder in den Mittelpunkt und geht           Materialien, Links, Literatur .......................... 22
u.a. der Frage nach, wie Lehrkräfte bei Verdachtsfällen

                                                                                                                                   polis aktuell   Nr. 7   2019

                                                                                                         Kinderrechte

                                                                                                  Die Rechte von Kindern und Jugendlichen
                                                                                                  Die UN-Kinderrechtskonvention
                                                                                                  Die Umsetzung der Kinderrechte in Österreich und weltweit
                                                                                                  Kinder und Jugendliche, die für ihre Rechte kämpfen
                                                                                                  Unterrichtsideen, Materialien, Linktipps

    schulische BuBenarBeit                         Frauenrechte                                   Kinderrechte
       polis aktuell 9/2019                      polis aktuell 2/2021                           polis aktuell 7/2019
    > www.politik-lernen.at/                 > www.politik-lernen.at/                       > www.politik-lernen.at/
      pa_bubenarbeit                           pa_frauenrechte                                 pa_kinderrechte

2                                                                                                               polis aktuell 9/2021
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1 BegrIfflICHe annäHerung
                                   an DaS tHeMa
   1.1 was ist Gewalt?
   Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es eine Reihe von                           zwischen den Geschlechtern sowie eine Hierarchie zwi-
   Definitionen, aber keinen allgemein gültigen Gewaltbe-                         schen Frauen und Männern vorsieht, leiten Männer ein
   griff. Der Friedensforscher Johan Galtung stellt Gewalt                        Besitz- und Kontrollrecht über die Frau ab.
   in einen breiten Kontext:                                                          1993 wurde auf der Weltmenschenrechtskonferenz
                                                                                  in Wien erstmals Gewalt gegen Frauen international als
                                                                                  Menschenrechtsverletzung anerkannt: Der Staat ist ver-
                „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen                             pflichtet, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und zu
           so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somati-
                                                                                  verfolgen, egal, von wem diese Gewalt ausgeübt wird
            sche und geistige Verwirklichung geringer ist als
           ihre potenzielle Verwirklichung ... Gewalt ist das,                    und unabhängig davon, ob Gewalt im öffentlichen oder
           was den Abstand zwischen dem Potenziellen und                          privaten Bereich ausgeübt wird.3 Dass das Machtun-
            dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung                        gleichgewicht zwischen Männern und Frauen eine zent-
                     dieses Abstandes erschwert.“1                                rale Ursache von Gewalt an Frauen ist, wurde dann auch
                                                                                  im Aktionsplan der Weltfrauenkonferenz der Vereinten
                                                                                  Nationen von 1995 ersichtlich:
   Galtung unterscheidet strukturelle Gewalt von perso-
   neller. Da mit struktureller Gewalt nicht einzelne Ge-
   walttaten bezeichnet werden, sondern Gewalt- und                                     „Gewalt gegen Frauen ist Ausdruck der historisch
   Machtverhältnisse, die in gesellschaftlichen Strukturen                            ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und
   verankert sind, wurde kritisiert, dass so Gewalt „ent-                              Frauen, die dazu geführt haben, dass die Frau vom
   persönlicht“ werde und die notwendige persönliche                                  Mann dominiert und diskriminiert und daran gehindert
                                                                                                  wird, sich voll zu entfalten.“4
   Verantwortungsübernahme für TäterInnen leicht abzu-
   schieben sei.2 Um Ursachenforschung zu betreiben, muss
   jedoch auch strukturelle Gewalt thematisiert werden, da                        Zwanzig Jahre nach der Weltmenschenrechtskonferenz
   diese persönliche Gewaltübergriffe fördert.                                    bekräftigten 2013 hochrangige Frauenrechtsexpertin-
       In Bezug auf Gewalt in der Familie bezieht sich der                        nen bei einer internationalen Konferenz in Wien, dass
   strukturelle Gewaltbegriff auf die ungleiche Machtver-                         der Schutz von Frauen gegen Gewalt noch immer unzu-
   teilung im Geschlechterverhältnis und ermöglicht die                           reichend sei und noch viele Anstrengungen zur effizi-
   Betrachtung des gesellschaftlichen Hintergrunds von                            enteren Bekämpfung notwendig sind. Parallel dazu fand
   Gewalt gegen Frauen. Das immer noch verbreitete Rol-                           eine Konferenz der Zivilgesellschaft statt, bei der auch
   lenverständnis vom Mann als „Familienvorstand und Er-                          frauenrechtsrelevante Themen diskutiert wurden.5
   nährer“ und der Frau als „Hausfrau und Mutter“ fördert
   die für Gewaltbeziehungen charakteristischen sozialen                                   In diesem polis aktuell wird immer wieder
   und ökonomischen Abhängigkeiten von Frauen und                                      bewusst auf frauenrechtliche und kinderrechtliche
   lässt männliche Dominanz- und Machtansprüche unwi-                                  Standards Bezug genommen, um aufzuzeigen,
   dersprochen bestehen. Aus der – im Übrigen schicht-                                  dass „Gewalt in der Familie“ die Menschenrechte
   unabhängigen – Orientierung an traditionellen Frauen-                                     von Frauen und Kindern klar verletzt.
   und Männerbildern, die eine klare Aufgabentrennung

1 Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg, 1975, S. 9; zit. nach: Gewalt in der Familie.
  Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung. Gewaltbericht 2001. Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen (Hrsg.). Download:
  www.gewaltinfo.at/uploads/pdf/bmwfj_gewaltbericht_2001_gesamt.pdf, S. 385.
2 Näher dazu: Lehner-Hartmann, Andrea: Wider das Schweigen und Vergessen. Gewalt in der Familie. Innsbruck, 2002, S. 10 ff.
3 Vgl. DEVAW (Erklärung zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen) 1993; zit. im Gewaltbericht 2001, S. 418-419.
4 United Nations (Hrsg.): The Beijing Declaration and the Platform for Action, Fourth World Conference on Women Beijing, China 4-15 September 1995,
  New York, 1996; zit. nach Gewaltbericht 2001, S. 390.
5 ExpterInnenkonferenz: www.bmeia.gv.at/europa-aussenpolitik/menschenrechte/vienna-20
  Zivilgesellschaftliche Konferenz: http://viennaplus20.wordpress.com/programm

   polis aktuell 9/2021                                                                                                                                   3
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1.2 was Genau versteht man unter                                               1.3 wer sind die opFer?
   „Gewalt in der Familie“?                                                       Im Kontext von Gewalt in der Familie kommt uns oft als
   Alternativ werden auch die Bezeichnungen „häusliche                            erstes das Bild der misshandelten Frau, die von ihrem
   Gewalt“, „familiäre Gewalt“ oder „Gewalt im sozialen                           Mann oder Partner geschlagen wird, in den Sinn.
   Nahraum“ verwendet.
                                                                                  der BeGriFF Jedoch umFasst weit mehr:
   hauptmerKmale von Gewalt in der Familie                         6
                                                                                    Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen und
     Zwischen gewaltausübender Person (in der einschlä-                             Trennungssituationen
     gigen Literatur auch Gefährder genannt) und der
                                                                                      Gewalt gegen Männer in Paarbeziehungen und
     von Gewalt betroffenen Person besteht eine emotio-
                                                                                      Trennungssituationen
     nale Bindung. Auch mit einer Trennung/Scheidung
     ist diese Bindung oft nicht gelöst.                                              Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der
                                                                                      Familie
       Die Gewalt wird meist im eigenen Wohnraum
       ausgeübt, der eigentlich als Ort von Sicherheit und                            Gewalt gegen ältere Menschen im Familienverband
       Geborgenheit verstanden wird.
                                                                                      Gewalt gegen Menschen mit Behinderung im
       Gewalt in der Familie verletzt die körperliche und/                            Familienverband
       oder psychische und sexuelle Integrität durch
       Ausübung oder Androhung von physischer, sexuel-                                Gewalt in der Familie beinhaltet somit mehrere
       ler, psychischer, sozialer oder ökonomischer Gewalt.                           Opfergruppen, die im häuslichen Kontext misshan-
                                                                                      delt und/oder erniedrigt werden.
       Jede Gewalthandlung ist Ausdruck von Macht und
       Kontrolle.                                                                     Dieses Heft geht auf die besonders ausgeprägten
                                                                                      Erscheinungsformen von „Gewalt gegen Frauen
                                                                                      und Kinder“ ein, da sie überproportional betrof-
        wiener interventionsstelle GeGen Gewalt                                       fen sind.
        in der Familie                                                                83 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt sind
        Detaillierte Informationen zu Geschlecht, Alter                               laut Statistik der Wiener Interventionsstelle ge-
        oder Nationalität der Opfer sowie der Gefährder                               gen Gewalt in der Familie weiblich – Frauen, die
        finden Sie in den Tätigkeitsberichten und Statis-                             von ihren Ehepartnern, Ex-Partnern, dem Freund
                            tiken der Wiener Interven-                                usw. misshandelt werden.7 Kinder werden im Zu-
                            tionsstelle gegen Gewalt in                               sammenhang mit familiärer Gewalt oft zweimal
                            der Familie.                                              zum Opfer: durch die Mitbetroffenheit, wenn ihre
                                                                                      Mütter misshandelt werden, und durch direkte Ge-
                                 www.interventionsstelle-wien.                        walthandlungen der Eltern oder eines Elternteils.
                                 at/publikationen-statistiken                         In den nächsten Kapiteln zu „Gewalt gegen Frauen“
                                                                                      und „Gewalt gegen Kinder“ werden Formen, Ursa-
                                                                                      chen, Auswirkungen usw. von Gewalt analysiert,
                                                                                      rechtliche Möglichkeiten aufgezeigt und Hilfsorga-
                                                                                      nisationen sowie Projekte vorgestellt.

6 Vgl. dazu das Informationsblatt: Definition, Formen und Betroffene häuslicher Gewalt. Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann
  EBG (Hrsg.). Bern, 2007.
7 Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (Hrsg.): Statistik 2020 der Wiener Interventionsstelle. Wien, 2021.

   4                                                                                                                           polis aktuell 9/2021
TATORT FAMILIE POLIS AKTUELL 9/2021 - ZENTRUM POLIS
2 gewalt gegen frauen
   2.1 Formen der Gewalt
   Nach ihren unterschiedlichen Ausprägungen unterschei-                        reich erst 1989 nach vorangehender heftiger Diskussion
   det man physische, psychische, sexuelle und ökonomi-                         klargestellt. Die vergleichsweise niedrige Anzeigenrate
   sche Gewalt. Diese unterschiedlichen Gewaltformen treten                     und die noch geringere Verurteilungsrate weisen jedoch
   aber oft gleichzeitig auf und verstärken sich gegenseitig.                   darauf hin, dass Vergewaltigung in der Ehe immer noch
   Strukturelle Gewalt wiederum stellt ein verstärkendes                        ein Tabuthema und die Scham der Opfer groß ist.
   Element für alle Formen interpersonaler Gewalt dar.
                                                                                Ökonomische Gewalt
   Körperliche Gewalt                                                           bezieht sich auf jene Situationen, in denen die Frau über
   kann sich gegen das Opfer selbst, gegen Personen im                          geringes oder kein eigenes Einkommen verfügt und der
   Umfeld, gegen Gegenstände, aber auch Tiere richten und                       Mann diese Situation ausnützt, indem er ungenügende
   beinhaltet alle Formen von physischer Misshandlung:                          Geldmittel für den Haushalt bereitstellt und/oder Ein-
   stoßen, treten, schlagen, schütteln, mit Gegenständen                       kommen, Vermögen und Ausgaben geheim hält. Es
   werfen, Mordversuch und Mord, um einige Beispiele zu                         kommt aber auch vor, dass Frauen ihr Einkommen ab-
   nennen. Außerdem ist das Schlagen der Kinder und                             geben müssen bzw. dessen Verwendung vom Mann kon-
   Quälen von Tieren in Gegenwart der Frau oder die Zer-                        trolliert wird. Die finanzielle Abhängigkeit erschwert es
   störung (persönlicher) Gegenstände aus dem Besitz der                        den Frauen aus Angst vor Verarmung und sozialem Ab-
   Frau zusätzlich psychische Gewalt gegen die Frau.                            stieg, die gewalttätige Beziehung zu verlassen.

   Psychische Gewalt                                                            2.2 Gewalt gegen ältere Frauen
   sind jene Handlungen, die eine Verletzung der psychi-                        Zu den Formen der Gewalt in der Familie kommt bei äl-
   schen Integrität darstellen, die Angst und Abhängigkeit                      teren Frauen eine weitere hinzu, nämlich Vernachlässi-
   erzeugen und das Selbstwertgefühl der Frau untergra-                        gung. Dies betrifft ältere Frauen, die von ihren Bezie-
   ben, bis hin zum Verlust jeder Selbstachtung. Dazu                           hungspartnern oder pflegenden Personen versorgt und
   gehört die Isolation, die soziale Gewalt, indem ihr die                      gepflegt werden. Ausprägungen von Vernachlässigung,
   Kontakte zu Familie und FreundInnen (oft sehr subtil)                        die im schlimmsten Fall den Tod zur Folge haben kön-
   verboten werden, (wiederholte) Drohungen sich, die                           nen, sind beispielsweise die falsche oder ungenügende
   Frau oder die ganze Familie umzubringen, aber auch die                       Verabreichung von Medikamenten, die Beschränkung
   Kinder wegzunehmen. Die Angst vor den angedrohten                            des Lebensraums auf Sessel und Bett sowie die soziale
   Taten nimmt der Frau das für eine Trennung vom Ge-                          Isolation (alleine lassen, schweigen usw.). Verschlim-
   walttäter notwendige Selbstvertrauen. Demütigungen,                         mert wird diese Situation durch das Abhängigkeitsver-
   Beschimpfungen und Diffamierungen verfolgen das glei-                        hältnis, das zwischen älteren Frauen und den Angehö-
   che Ziel, geschehen aber im Unterschied zu physischer                        rigen bzw. Pflegepersonen besteht, da sie in der Angst
   Gewalt und Drohungen nicht nur im Kreis der Familie,                         leben, ihre Unterstützung zu verlieren, wenn sie über
   sondern auch öffentlich.8 Auch Formen digitaler Gewalt                       ihre Gewalterfahrungen sprechen.9
   sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung.
                                                                                2.3 Gewalt gegen Frauen
   Sexuelle Gewalt                                                              mit Behinderungen
   umfasst alle sexuellen Handlungen, zu der die Frau ge-                       Was die Abhängigkeit betrifft, befinden sich Frauen mit
   drängt oder gezwungen wird, und ist eine Demonstra-                          Behinderungen in einer ähnlichen Situation. Auch sie
   tion von Macht und Kontrolle sowie der Überzeugung,                          zögern häufig, ihren Partner oder die pflegende Person
   jederzeit Anspruch auf Sexualität zu haben. Nie aber                         bei der Polizei zu melden – aus Angst, die notwendige
   kann sexuelle Gewalt Ausdruck unbezähmbarer Triebe                           alltägliche Unterstützung zu verlieren. Studien bele-
   oder „betont aggressiver Liebe“ sein. Dass sexuelle Ge-                      gen, dass Frauen mit Behinderungen viel öfter von allen
   walt auch in der Ehe ein Verbrechen ist, wurde in Öster-                     Gewaltformen betroffen sind als Frauen ohne Behinde-

8 Zitate betroffener Frauen bei: Lehner-Hartmann, 2002, S. 54-55.
9 Mehr dazu: Helga Amesberger und Birgit Haller: Mind the gap – Verbesserte Interventionen bei Partnergewalt gegen ältere Frauen. Länderbericht Öster-
  reich, Institut für Konfliktforschung (IKF), Wien, 2013.

   polis aktuell 9/2021                                                                                                                                  5
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rungen. Vor allem Frauen mit Lernschwierigkeiten sind                       schränkten Zugang zum Arbeitsmarkt bei legalem Auf-
   einem höheren Gewaltrisiko ausgesetzt. Die oft man-                         enthalt, den Ausbau der Beratungsangebote in den gän-
   gelnde Wehrfähigkeit und die Erfahrung, dass ihnen                          gigen Muttersprachen der Frauenhausbewohnerinnen,
   sowieso nicht geglaubt wird, erschwert es den Frauen                        eine Verbesserung des Zugangs zu Sozialleistungen (Fa-
   oft, Unterstützung zu suchen. Zudem werden Abhängig-                        milienbeihilfe, Sozialhilfe, Kinderbetreuungsgeld) sowie
   keitsverhältnisse ausgenutzt, indem Frauen die notwen-                      den Zugang zu geförderten Gemeindewohnungen.11
   dige Hilfe verwehrt und über ihre Köpfe hinweg über sie
   entschieden wird.10                                                         2.5 warum haut Jemand hin?
   Beratung für Frauen mit Behinderungen: www.ninlil.at                        Für die Ursachen von Gewalt existieren zahlreiche Erklä-
                                                                               rungsansätze. Alberto Godenzi hat dazu einen Überblick
   2.4 situation von miGrantinnen                                              zusammengestellt:12
   Misshandelte Migrantinnen, deren rechtmäßiger Aufent-
   halt sowie Zugang zum Arbeitsmarkt und damit deren fi-                          intra-individuelle Ursachen wie Persönlichkeitsstö-
   nanzielle Existenz meist unmittelbar an ihren misshan-                          rungen, biologische und neurologische Faktoren, die
   delnden Ehemann gebunden sind, befinden sich in einer                           Rolle von Alkohol, Drogen etc.
   besonders aussichtslosen Lage. Die Hürde für von Gewalt                         sozial-psychologische Faktoren wie Gewalterfahrun-
   betroffene Migrantinnen, eine Arbeit zu finden, ist sehr                        gen in der Kindheit.
   hoch und schafft enorme Abhängigkeit. Darüber hinaus                            soziokulturelle Ansätze: Hier steht der Einfluss
   ermöglicht der Arbeitsmarkt Migrantinnen vorwiegend                             sozialer Komponenten wie Schichtzugehörigkeit,
   Jobs im unteren Lohnniveau mit Arbeitszeiten, die sich                          Bildung oder Einkommen im Mittelpunkt. Auch der
   mit Kinderbetreuungspflichten häufig schwer vereinba-                           feministische Ansatz, dass das männlich dominierte
   ren lassen. Zur wirtschaftlichen Abhängigkeit als aus-                          Machtverhältnis die Ursache von Gewalt ist, kann zu
   schlaggebendem Faktor in Gewaltbeziehungen kommt                                den soziokulturellen Ansätzen gezählt werden.
   für Migrantinnen auch noch ein gefährdeter Aufent-
   haltsstatus bei Scheidung hinzu. Sprachliche Barrieren                      Die auslösenden Ursachen, die letztlich zu Gewalthand-
   und traditionelle Familienstrukturen verschärfen die Si-                    lungen führen, sind meist nicht monokausal zu erklä-
   tuation. Aus diesen Gründen sind für Migrantinnen, die                      ren, sondern das Produkt von mehreren Faktoren.
   ihren gewalttätigen Partner verlassen möchten oder vor
   ihm flüchten müssen, Frauenhäuser oft die einzige Mög-                              Fra-studie zeiGt: Jede dritte Frau
   lichkeit. Um die Situation von Migrantinnen zu verbes-                             in der eu ist von Gewalt BetroFFen
   sern, fordert der Verein AÖF (Autonome österreichische                          2014 präsentierte die Agentur der Europäischen
   Frauenhäuser) einen eigenständigen Aufenthaltsstatus                            Union für Grundrechte FRA (Fundamental Rights
   der Frauen bei Familienzusammenführung, uneinge-                                Agency) die Ergebnisse der bisher größten inter-
                                                                                  nationalen Dunkelfeldstudie zu Gewalt an Frauen.
                                                                                     FRA befragte 42.000 Frauen zu ihren Gewalt-
                     Beratung, Bildung und                                        erfahrungen: Ein Drittel aller Frauen in der EU hat
                  Begleitung für Migrantinnen:                                     seit ihrer Jugend körperliche und/oder sexuelle
                  www.lefoe.at                                                    Gewalt erlebt – das sind etwa 62 Millionen Frauen.
                  www.orientexpress-wien.com                                            https://fra.europa.eu/en/publication/
                  www.maiz.at                                                          2014/violence-against-women-eu-wide-
                                                                                               survey-main-results-report

       16 taGe GeGen Gewalt an Frauen
       Die 16 Tage finden vom 25. November – dem internationalen Gedenktag für alle Frauen und Mädchen, die Opfer
       von Gewalt wurden – bis zum 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, statt.

       oranGe the world
       2015 lancierte UN Women die Kampagne „Orange The World“, die im Rahmen
       der UNiTE Kampagne (UNiTE to End Violence against Women by 2030) stattfindet.

10 Siehe dazu: Österreichische Gewaltprävalenzstudie 2019: https://bim.lbg.ac.at/sites/files/bim/attachments/studie_erfahrungen_und_pravention_von_
   gewalt_an_menschen_mit_behinderung.pdf
11 Siehe dazu auch: www.interventionsstelle-wien.at/download/?id=353
12 Godenzi zitiert in: Gewaltbericht 2001, S. 390.

   6                                                                                                                      polis aktuell 9/2021
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2.6 Gefangen im eigenen Heim –                                            Gewalttäter sind, ob sie nun auch misshandelt werden
   wie Frauen in Gewaltbeziehungen leben                                     oder „nur“ die Misshandlungen der Mutter miterleben
   Wenn Frauen sich aus einer Gewaltbeziehung befreien                       müssen, wollen viele Menschen nicht wahrhaben. In
   und die Gewalt in der Familie öffentlich machen (indem                    gewalttätigen Familienverhältnissen aufwachsen zu
   sie davon erzählen, die Polizei rufen oder ein Frauen-                    müssen, kann nicht zum Wohl der Kinder beitragen. So-
   haus aufsuchen), geht dem oft eine lange Leidensge-                       bald Frauen realisieren, dass sich die Gewalt in jedem
   schichte von Misshandlungen voraus.                                       Fall auch gegen die Kinder richtet und ihnen schwe-
                                                                             ren Schaden zufügt, ist es gerade das Verantwortungs-
       „Du gehörst nur mir.“                                                 bewusstsein den Kindern gegenüber, das Frauen dazu
                                                                             bewegt, die Gewaltbeziehung zu verlassen.
   Durch systematische, wiederholte Gewalthandlungen
   traumatisiert der Täter die Frau und erreicht so eine Un-                     „Das geht nur uns was an.“
   tergrabung ihrer Autonomiebestrebungen, was in Folge
   zu gesellschaftlicher Isolation führt. Die Gewalttätigkeit               Isolation hält die Opfer in Abhängigkeit und ist ein
   des Mannes erzeugt Gefühle von Hilflosigkeit, Ohn-                       wichtiger Faktor in einer Gewaltbeziehung. Durch die
   macht und Ausgeliefertsein. Ziel des Täters ist es, das                   sukzessive Zerstörung ihrer sozialen Beziehungen er-
   Selbstwertgefühl der Frau auszulöschen. Das Verhalten                    reicht der Täter, dass die Frau keine Möglichkeit sieht,
   misshandelter Frauen folgt psychologischen Mechanis-                      von außen Unterstützung zu bekommen. Das Verbot des
   men, die wir auch bei Geiselopfern finden: Sie passen                     Kontakts zu Familie und FreundInnen, das Untersagen,
   sich an, um zu überleben. Diese Strategie wird Stock-                    eine Arbeit aufzunehmen, oder die ständige Kontrolle
   holm Syndrom genannt.13 Der Täter wird zur mächtigs-                      dienen dieser Isolationsstrategie. So gerät die Frau in
   ten Person im Leben der Frau (und der mitbetroffenen                      eine emotionale und ökonomische Abhängigkeit.
   Kinder), mit dessen „Launen die Familie leben und um-
   gehen lernen muss“.                                                           „Die Kinder kriegst du nie!“

       „Sind wir wieder gut, Schatzi?“                                       Die Macht der Täter, Frauen den Zugang zu Rechtsin-
                                                                             formationen zu verwehren, ist nicht zu unterschätzen.
   Auf Gewaltausbrüche folgen Phasen des „Nettseins“: Ent-                  Immer noch schüchtern Gewalttäter Frauen mit der
   schuldigungen, „es“ nie wieder zu tun, Blumen und Lie-                    Aussage „Die Kinder kriegst du nie“ ein und halten sie
   besbeteuerungen verunsichern die Frauen und bringen                       so von einer Trennung ab, obwohl die rechtliche Lage
   sie dazu, auf eine Änderung des Mannes zu hoffen und                      klar ist: Gewalttätern wird auch bei finanzieller Überle-
   Trennungsabsichten wieder zu verwerfen. Der „richtige“                    genheit die Obsorge für Kinder nicht zugesprochen. Die
   Mann ist für sie dann jener, der lieb und nett ist und nur               Falschinformationen verstärken bei den Opfern Gefühle
   in Ausnahmefällen „böse“ sein kann. Die Verwirrung, die                   der Hilflosigkeit und verzerren die Wahrnehmung der
   durch die Ausblendung seiner Gewalttätigkeit entsteht,                    Realität.
   wird durch die Umwelt verstärkt, die auch lieber nur die
   „netten“ Seiten des Misshandlers sehen möchte und sei-                        „Ohne Geld keine Freiheit!“
   ne Gewaltbereitschaft zum „emotionalen Ausnahmezu-
   stand“ verklärt. Verkannt wird dabei, dass diese Phasen                   Wirtschaftliche Abhängigkeit zwingt Frauen dazu, eine
   der gelegentlichen Zuwendung Teil der Strategie zur Auf-                  Gewaltbeziehung so lange wie möglich aufrecht zu er-
   rechterhaltung der Machtausübung sind.                                   halten. Frauen mit Ausbildung und eigenem Einkommen
                                                                             wird es eher gelingen, ein neues, unabhängiges Leben
       „Ich halte durch, solange die                                         zu organisieren. Lässt ein Ausstieg aus einer Gewaltbe-
          Kinder noch klein sind!“                                           ziehung auch noch Existenznöte erwarten, baut sich die
                                                                             finanzielle Unabhängigkeit zu einem unüberwindbaren
   Appelle wie „Kinder brauchen Vater und Mutter“ setzen                     Hindernis auf.
   Frauen unter Druck, die Gewalttätigkeit hinzunehmen,
   um den Kindern das Aufwachsen in einer „richtigen“
   Familie zu ermöglichen. Dass Kinder selbst Opfer der

13 Positiv besetzte Bindung, die Geiseln zu ihrem/ihren GeiselnehmerInnen entwickeln, in deren Folge sie die Perspektive des/der GeiselnehmerIn
   übernehmen und eine Intervention zu ihrer Befreiung von außen als bedrohlich empfinden, benannt nach einer Untersuchung der Auswirkungen von
   Geiselnahme nach einem Banküberfall in Stockholm.

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2.7 Strategien der Täter                                    Bagatellisierung:
                                                               „War eh nur ein ­Ausrutscher!“
   victim blaming (Viktimisierung)                             Die Gewalttat wird als etwas Einmaliges dargestellt: „ist
   Unter „victim blaming“ versteht man die Umkehrung           halt passiert“, „war nur eine Ohrfeige“ etc. So wird die
   der Verantwortung für eine Gewalttat: Nicht der Täter      Schwere der Misshandlung heruntergespielt. Die körper-
   ist schuld, sondern das Opfer. Dieses Phänomen der          lichen Schmerzen sowie die Verletzung der Würde der
   Schuldumkehr wird nicht nur von den Tätern zur ei-          Frau, die mit den Gewalttaten einhergeht, werden dabei
   genen Entlastung verwendet, sondern auch in der Ge-         nicht anerkannt.
   sellschaft wird es selten als das erkannt, was es ist:
   eine unzulässige Schuldzuweisung an das Opfer und die       2.8 Folgen für die Betroffenen
   Entlassung des Täters aus der Verantwortung für seine      Gewalt in der Familie hinterlässt deutliche, unmittelba-
   strafbare Handlung. Mit Rechtfertigungen wie „... hät-      re körperliche und psychische sowie psychosomatische
   te sie mich halt nicht so anschreien sollen“, „... wenn     Spuren und hat soziale Folgen. Diese reichen je nach In-
   sie wenigstens ordentlich aufräumen und kochen würde,      tensität der erlittenen Gewalt von (schweren) Verletzun-
   müsste ich mich nicht so aufregen!“ oder „... dann hätte   gen über Schmerzen am ganzen Körper, Atemproblemen,
   sie sich halt keinen Liebhaber zugelegt!“ wird die Ursa-    Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit, Nervosität, Konzen-
   che für die Gewalt im Verhalten der Frau gesucht. Eine     trationsstörungen, Schlaflosigkeit, Angstgefühlen bis zu
   klare Positionierung im Sinne von „Für die Gewalt ist      Depression und Panikattacken. Weiters kann es zu Alko-
   der Gewalttäter verantwortlich!“ und „Gewalt ist durch      holproblemen, Drogenmissbrauch oder zum Suizid kom-
   nichts zu rechtfertigen!“ kann dazu beitragen, dass Tä-     men. Frauen mit Gewalterlebnissen haben signifikant
   ter die Konsequenzen für ihr Verhalten tragen müssen      mehr gesundheitliche Beschwerden als nicht betroffene
   und nicht die Opfer. An dieser Stelle sei auch darauf       Frauen. Gewalttaten im Familienkreis sind traumatische
   hingewiesen, dass Männer, die sich vom Chef ungerecht       Erfahrungen, je länger sie dauern, desto stärker ist der
   behandelt fühlen, meist beherrscht bleiben und zumin-      Grad der Traumatisierung. Frauen leiden sehr häufig
   dest auf Prügel verzichten.                                auch an sozialen Problemen wie Stigmatisierung und so-
                                                               zialer Isolation. Sie schämen sich für die erlebte Gewalt
   Aggression und Gewalt als                                   und ziehen sich immer mehr aus ihrem Umfeld zurück.
   „normale ­männliche Eigenschaften“
   Eine andere Strategie der Täter, sich der Verantwortung     2.9 Die österreichische Rechtslage
   für die Gewalttat zu entziehen, ist es, Aggression und     1997 trat in Österreich das Bundesgesetz zum Schutz
   Gewalt als „normale männliche Eigenschaften“ darzu-         vor Gewalt in der Familie in Kraft. Das Gesetz basiert auf
   stellen, die in den Genen des Mannes vorhanden seien.       drei Säulen:
   Daher „überkommt“ es Männer manchmal, lautet hier
                                                                  1. Polizeiliche Wegweisung/Betretungsverbot
   die Entschuldigung. Selbst die Forschungsergebnisse
                                                                  2. Gerichtliche einstweilige Verfügung
   von Studien, die sich eng an biologischen Fragestellun-
                                                                  3. Unterstützung der von Gewalt betroffenen Frauen
   gen orientieren, zeigen eindeutig, dass soziokulturelle
   Bedingungen nicht ausgeblendet werden können.14 Wäre        2009 trat das „Zweite Gewaltschutzgesetz“ in Kraft,
   Gewalt ausschließlich biologisch bedingt, wäre die Si-      das weitere Verbesserungen zum Schutz und zur Unter­
   tuation für Männer eine hoffnungslose: Wie sollte die      stützung der Opfer beinhaltet. Mit dem Gewaltschutz-
   Gewalt je überwunden werden? Wie sollte Prävention         gesetz demonstriert der Staat eine grundlegende Wer-
   möglich sein? Nur wenn man dem Gewalttäter die Fä-          tehaltung: Gewalt in der Familie ist keine Privatsache,
   higkeit zur Weiterentwicklung zugesteht, besteht die        sondern eine kriminelle, gerichtlich strafbare Handlung,
   Chance auf eine Abkehr von                                  die eine staatliche Reaktion zur Folge haben muss.
   der Gewalttätigkeit hin                                     Diese eindeutige Positionierung zieht nach sich, dass
   zu einem partnerschaft-                                     Misshandlungen im Familienkreis nicht mehr als Kava-
   lichen Verhalten.                                           liersdelikt zu behandeln sind und ein Einschreiten der
                                                               Exekutive bei häuslicher Gewalt nicht Streitschlichtung,
                                                               sondern Schutz der Frau durch Entfernung des Gefähr-
                                                               ders aus der Wohnung zur Folge haben muss. Nicht die
                                                               Frau soll aus der Wohnung fliehen müssen, sondern der
                                                               Gefährder ist gezwungen, die Wohnung zu verlassen.
14 Vgl. Lehner-Hartmann 2002, S. 79.

   8                                                                                              polis aktuell 9/2021
TATORT FAMILIE POLIS AKTUELL 9/2021 - ZENTRUM POLIS
Das österreichische Gewaltschutzgesetz wurde zum                             Allianz GewaltFREI leben
     Modell im europäischen Raum und mehrere Länder                               Zusammenschluss von Opferschutz­­-
     (Deutschland, Luxemburg, Tschechien u.a.) haben                              einrichtungen und Zivilgesellschafts-
     ähnliche Regelungen eingeführt.                                             organisationen, die sich der
                                                                                  Verbesserung des Gewaltschutzes
   2.9.1 „Wer schlägt, der geht“: polizeiliche                                    in Österreich widmen.
   MaSSnahmen – Wegweisung und Betretungs-                                        www.gewaltfreileben.at
   verbot
   Jede Person hat das Recht, in ihrem Wohnbereich frei
   von Gewalt zu leben und erhält Schutz durch das Gesetz.
   Im Kontext der familiären Gewalt sind es überwiegend                          2.9.2 „Halte dich von mir fern“:
   Männer (91 %), die Gewalttaten an Frauen begehen.15                            die „Gewaltschutz-Verfügungen“
   Im Folgenden ist daher vom „Gefährder“ die Rede.                               Ein Antrag auf Einstweilige Verfügung (EV) kann auch
                                                                                  ohne vorheriges Einschreiten der Polizei gestellt wer-
   Wegweisung                                                                     den (Wegweisung und/oder Betretungsverbot sind keine
   Wenn die Polizei aufgrund einer Misshandlung oder Dro-                         Voraussetzung). Wenn sich eine Frau durch ihren Ehe-
   hung annehmen muss, dass die Gesundheit, die Freiheit                          mann, Partner, Ex-Freund oder eine andere Person ge-
   oder das Leben der Frau sowie betroffener Kinder ge-                           fährdet fühlt, kann sie (für Kinder auch das Jugendamt)
   fährdet sind, kann sie den Gefährder sofort aus Woh-                           beim Bezirksgericht eine EV beantragen.
   nung/Haus sowie aus der unmittelbaren Umgebung der
   Wohnstätte wegweisen.                                                          Einstweilige Verfügung (EV) für Wohnung/
                                                                                  Haus
   Betretungsverbot                                                               Eine EV zum Schutz vor Gewalt in Wohnungen – dauert
   Die Polizei kann dem Gefährder zwei Wochen verbieten,                          sechs Monate, kann bei einer Scheidungsklage bis zum
   den Wohnbereich sowie die unmittelbare Umgebung zu                             Ende des Verfahrens wirken.
   betreten – notfalls mit polizeilicher Gewalt. Die Missach-
   tung ist strafbar.                                                             Einstweilige Verfügung (EV) für bestimmte Orte
                                                                                  Eine EV zum allgemeinen Schutz vor Gewalt gilt für be-
   Verlängerung des Betretungsverbots                                             stimmte Orte (z.B. Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz).
   Falls die Frau weiteren Schutz benötigt, kann sie (oder                        Das Verbot für den Gefährder, diese aufzusuchen oder
   auch das Jugendamt, wenn Kinder mitbeteiligt sind) in-                         Kontakt aufzunehmen, ist auf ein Jahr beschränkt.
   nerhalb dieser zwei Wochen beim Bezirksgericht einen
   Antrag auf „Einstweilige Verfügung“ (EV) stellen und                          Wie werden die Einstweiligen Verfügungen
   das Betretungsverbot verlängert sich auf vier Wochen.                          durchgesetzt?
   Wird während dieser Zeit auch ein Scheidungsverfahren                          Es muss beim Antrag auf EV ein Nachweis der Gewalt
   eingeleitet, so können Wegweisung und Betretungsver-                           erbracht werden. Diese „Bescheinigungsmittel“ – Aussa-
   bot bis zum Ende des Scheidungsverfahrens ausgedehnt                           ge des Opfers und von ZeugInnen, Spitalsbefunde, Poli-
   werden.                                                                        zeiberichte, Fotos usw. – müssen dem Gericht vorgelegt
                                                                                  werden. Wenn eine EV erlassen wurde, kontrolliert das
   Besonderer Schutz für Kinder                                                   Gericht (evtl. mit Hilfe der Polizei), ob der Gefährder
   Das Gesetz schützt vor allem Kinder verstärkt vor Ge-                         die Wohnung/das Haus verlassen hat. Die Schlüssel des
   walt. Wird ein Betretungsverbot ausgesprochen, gilt                            Gefährders werden bei Gericht hinterlegt.
   dieses automatisch auch für Schulen und Kinderbetreu-
   ungseinrichtungen, wenn Kinder unter 14 Jahren im                               Statistik 2020: Detaillierte Informationen über die An-
   Haushalt leben. Weiters sieht das Gesetz die verpflich-                         zahl von Wegweisungen, Einstweiligen Verfügungen
   tende Information des Kinder- und Jugendhilfeträgers                            und Strafanzeigen können Sie dem Tätigkeitsbericht
   vor. ExekutivbeamtInnen, die ein Betretungsverbot                               und der Statistik 2020 der Wiener Interventionsstelle
   aussprechen, müssen diesen unverzüglich darüber in-                          gegen Gewalt in der Familie entnehmen: www.inter-
   formieren.16                                                                    ventionsstelle-wien.at/publikationen-statistiken

15 Statistik 2020, Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie, siehe unter: www.interventionsstelle-wien.at/publikationen-statistiken
16 www.oesterreich.gv.at/themen/gesundheit_und_notfaelle/gewalt_in_der_familie/5/Seite.299420.html

   polis aktuell 9/2021                                                                                                                             9
TATORT FAMILIE POLIS AKTUELL 9/2021 - ZENTRUM POLIS
2.9.3 Weitere rechtliche Errungenschaften                                 Neuerungen 202017
   zum Schutz von Frauen vor Gewalt                                          Annäherungsverbot
                                                                             Die Polizei kann einer Person, von der eine Gefahr aus-
   Prozessbegleitung für Opfer                                              geht, nun auch verbieten, sich dem Opfer zu nähern und
   Seit Jänner 2006 haben alle Opfer von Gewalt das Recht,                   zwar in einem Umkreis von 100 Metern. Dieses Annähe-
   im Strafverfahren kostenlos psychosoziale und juristi-                    rungsverbot gilt für alle Orte, an dem sich das Opfer auf-
   sche Prozessbegleitung zu erhalten. Im Bereich Gewalt                     hält, natürlich auch für die Arbeitsstelle. Durch das An-
   an Frauen führen eine Reihe von Fraueneinrichtungen                      näherungsverbot erhalten auch gefährdete Kinder und
   sowie alle Interventionsstellen niederschwellige Pro-                     Jugendliche Schutz: Der Gefährder darf sie in Schule
   zessbegleitung für die Betroffenen durch. Diese wird                     oder Kinderbetreuungseinrichtung nicht aufsuchen. Die
   vom Bundesministerium für Justiz finanziert.                             Polizei muss Schule oder Kinderbetreuungseinrichtung
                                                                             informieren, wenn ein Annäherungsverbot besteht.
        Psychosoziale Prozessbegleitung beinhaltet:
        Informationen über mögliche rechtliche Schritte                     Gewaltpräventionszentren
        sowie Verfahrensabläufe                                              Seit September 2020 wurden Gewaltpräventionszentren
        Begleitung zu Polizei, Gericht, GutachterInnen,                      in allen Bundesländern eingerichtet. Gefährder müssen
        RechtsanwältInnen                                                    sich nach einem Betretungs- und Annäherungsverbot
        Unterstützung bei der Entscheidungsfindung für                     bei einem Gewaltpräventionszentrum melden und sechs
        oder gegen eine Anzeige u.v.m.                                       Stunden Beratung absolvieren.

        Juristische Prozessbegleitung beinhaltet:                            Melde- und Anzeigeverpflichtungen
        rechtliche Beratung durch einen Rechtsanwalt/eine                    Diese gibt es für diverse Angehörige von Gesundheits-
        Rechtsanwältin                                                       berufen, etwa PsychologInnen, PsychotherapeutInnen,
        rechtsanwaltliche Vertretung bei Gericht                             SanitäterInnen. Ausnahme: Wenn das Vertrauensver-
                                                                             hältnis zwischen KlientInnen und dem Gesundheitsper-
   Anti-Stalking-Gesetz                                                      sonal zerstört werden würde. Bei begründetem Verdacht
   Seit Juli 2006 ist ein Gesetz in Kraft, das die „Beharrli-                von Gewalt haben auch Lehrkräfte eine Meldepflicht
   che Verfolgung“ unter Strafe gestellt. Stalking ist dann                  bei der Kinder- und Jugendhilfe bzw. müssen den Ver-
   gegeben, wenn eine Person eine andere Person gegen                        dacht der Schulleitung melden. Anzeigepflicht bei der
   deren Willen über einen längeren Zeitraum beharrlich                     Polizei besteht bei akuter Gefährdung. Auch hier muss
   verfolgt und dadurch die Lebenssituation der betroffe-                    die Schulleitung unter Berücksichtigung des Vertrauens-
   nen Person unzumutbar beeinträchtigt wird. Dazu gehö-                     verhältnisses entscheiden (siehe https://rdb.manz.at/
   ren z.B. wiederholte Verfolgung, Belästigung durch Te-                    document/rdb.tso.LIsundr20130210).
   lefonanrufe oder per E-Mail. Im akuten Fall von Stalking
   kann die Polizei gerufen werden, die gegen den Stalker
   ein Betretungsverbot aussprechen kann. Zum sofortigen
   Schutz kann auch eine Einstweilige Verfügung beim Be-
   zirksgericht beantragt werden.

        > weiterlesen
           Recht auf Schutz und Hilfe für Opfer von                                 Frauen haben Recht(e). Rechtliche Infor­
           Gewalt. Gesetze zum Schutz vor Gewalt in                                  mationen, praktische Hinweise und Unter­
           Österreich. Informationen in 20 Sprachen. Auch                            stützungsangebote für gewaltbetroffene
           die Neuerungen 2020 sind zusammengefasst und                              Frauen. Wien, 2017 (7. Auflage).
           in mehreren Sprachen erhältlich.                                          Download: www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/
           Download: www.interventionsstelle-wien.at/ge-                             frauen-und-gleichstellung/gewalt-gegen-frauen/
           waltschutzbroschuere                                                      formen-der-gewalt.html

17 Siehe dazu: www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/gewalt-gegen-frauen/gewaltformen/haeusliche-gewalt.html oder
   www.gewaltschutzzentrum.at/ooe/cms/wp-content/uploads/2020/04/%C3%9Cberblick-Neuerungen-Gewaltschutzgesetz-2019.pdf

   10                                                                                                                  polis aktuell 9/2021
wo BeKomme ich hilFe?

      interventionsstelle/Gewaltschutzzentren:                                lich vom Wegweiserecht Gebrauch zu machen. Das
      Opferschutzeinrichtungen, die Frauen und Kinder                         erste österreichische Frauenhaus wurde 1978 in Wien
      unterstützen, wenn sie von Gewalt betroffen bzw.                        eingerichtet, mittlerweile gibt es in ganz Österreich
      davon bedroht sind. In jedem Bundesland wurde eine                      30 Frauenhäuser (19 unter dem Dachverband Verein
      Interventionsstelle bzw. ein Gewaltschutzzentrum                        Autonomer Österreichischer Frauenhäuser – AÖF). Ins-
      gegen Gewalt in der Familie (in manchen Bundeslän-                      gesamt 1.507 Frauen und 1.487 Kinder haben 2020 in
      dern gibt es auch Regionalstellen) eingerichtet. Diese                  den autonomen österreichischen Frauenhäusern Schutz
      Stellen müssen nach jedem Einsatz der Exekutive bei                     und Unterkunft gefunden.
      Gewalt in der Familie verständigt werden und nehmen                     www.aoef.at
      umgehend Kontakt mit den Betroffenen auf. Sie bieten
      rechtliche Beratung und psychosoziale Unterstützung                     Frauenhelpline: Seit 1998 gibt es eine österreich-
      sowie die Begleitung zu Gericht an. Wenn minder-                        weite 24-Stunden-Frauenhelpline bei Gewalt in der
      jährige Kinder in der Familie sind, erhält auch die                     Familie, die über die servicetelefonnummer 0800
      Kinder- und Jugendhilfe eine Mitteilung der Exekutive                   222 555 gratis für die Betroffenen sowie auch für
      über Gewaltvorfälle mit Betretungsverboten. Dieses                      Personen in ihrem Umfeld (Familienmitglieder,
      Konzept hat sich als zielführend erwiesen, denn das                     FreundInnen, ArbeitskollegInnen, NachbarInnen usw.)
      Gewaltschutzgesetz kann nur über die Präventions-                       jederzeit erreichbar und mittlerweile als effiziente
      arbeit der Interventionsstelle/Gewaltschutzzentren                      Hilfseinrichtung nicht mehr wegzudenken ist.
      effizient umgesetzt werden. Neben dem Schutz und der
      Unterstützung der Opfer leisten sie auch Täterarbeit.                   männerarBeit: Männerberatungsstellen und
      www.gewaltschutzzentrum.at                                              Männerbüros18 gibt es mittlerweile in jedem Bundes-
      www.interventionsstelle-wien.at                                         land. Mit ihrer klaren Positionierung „Männer sagen
                                                                              Nein zu Männergewalt“ leisten sie einen wichtigen
      Frauenhäuser: Eine unverzichtbare Opferschutzein-                       Beitrag zur Bewusstseinsbildung der Täter. Auch die
      richtung – die trotz des Gewaltschutzgesetzes immer                     seit 2020 eingerichteten Gewaltpräventionszentren, in
      noch nötig ist – sind die Frauenhäuser, die Zufluchts-                  denen Gefährder nach einer Wegweisung sechs Stun-
      möglichkeiten für misshandelte Frauen und ihre Kinder                   den Beratung in Anspruch nehmen müssen, stellen
      darstellen. In manchen Fällen ist es für die Frau sinn-                 die Reflexion über die eigene Gewalttätigkeit und die
      voller, die Wohnung (vorerst) zu verlassen – um etwa                    Verhinderung weiterer Gewalttaten in den Mittelpunkt
      sich und die Kinder vor einem besonders gefährlichen                    ihrer Arbeit.
      Misshandler in Sicherheit zu bringen – als ausschließ-                  www.maenner.at > Links > Männerarbeit in Österreich

   2.10 europäischer Frauenrechtsschutz                                       Umsetzung wird vom Frauenministerium überwacht.
   Im europäischen Kontext setzen sich u.a. der Europa-                       Artikel 10 der Istanbul-Konvention verpflichtet die Ver-
   rat und die EU mit Initiativen gegen Gewalt an Frau-                       tragsstaaten zur Einrichtung von zumindest einer offi-
   en ein. Seit August 2014 ist die Konvention zur                            ziellen Koordinierungsstelle. In Umsetzung dieser Ver-
   Verhütung und Bekämpfung von gewalt gegen                                 pflichtung hat Österreich 2015 die „Nationale Koordinie-
   frauen und häusliche gewalt des Europarats, be-                            rungsstelle – Schutz von Frauen vor Gewalt“ sowie eine
   kannt unter dem Namen Istanbul-Konvention, in                              „Interministerielle Arbeitsgruppe – Schutz von Frauen
   Kraft. Sie gilt als Meilenstein für den Schutz von Frau-                   vor Gewalt“ eingerichtet: www.coordination-vaw.gv.at
   en vor Gewalt und sieht umfassende Standards für
   Prävention, Schutz, Strafverfolgung und staatliche                           Vorgeschichte, zentrale Inhalte und weiterführen-
   Leistungen für von Gewalt betroffene Frauen vor. Die                         de Informationen (Stand der Ratifikationen, Emp-
   Vertragsstaaten werden darin u.a. angehalten, Dienste                        fehlungen zur Umsetzung, Daten und Zahlen über
   wie Telefon-Hotlines, Notunterkünfte, medizinische Ver-                      häusliche Gewalt etc.) zur Istanbul-Konvention:
   sorgung, Beratung und Rechtshilfe einzurichten. Auch                         www.coordination-vaw.gv.at/istanbul-konvention
   Österreich hat die Istanbul-Konvention ratifiziert. Ihre                     www.coe.int/en/web/istanbul-convention

18 Arbeitsgemeinschaft der Männerberatungsstellen und Männerbüros in Österreich zum Zwecke des Erfahrungsaustausches, der Vernetzung und Entwick-
   lung der Männerarbeit in Österreich.

   polis aktuell 9/2021                                                                                                                         11
Im Rahmen der Europäischen Union regelt eine                            Das Zusatzprotokoll aus dem Jahr 2000 sieht zwei In-
   Richtlinie das Verbot der sexuellen Belästigung am                          strumente des internationalen Rechtsschutzes vor, die
   Arbeitsplatz. Andere Formen der Gewalt an Frauen wer-                       Frauen auch in Österreich zu ihrem Recht verhelfen
   den derzeit noch nicht im Gemeinschaftsrecht geregelt.                      können:
   Die EU-Kommission und das Europäische Parlament ha-                            das Individualbeschwerdeverfahren und
   ben vielfältige Initiativen gegen Gewalt an Frauen ge-                         das Untersuchungsverfahren
   setzt, wie etwa die Einführung des DAPHNE Programms19
   oder die Verabschiedung einer Resolution gegen Gewalt                       Österreichische Beschwerden an das
   an Frauen (Europäisches Parlament 2006). Der Vertrag                        CEDAW-Komitee:
   von Amsterdam (1999), der die Gleichstellung von Frau-                      Im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens haben
   en und Männern zu einem der Rahmenziele der EU-Poli-                        österreichische Nichtregierungsorganisationen im Jahr
   tik macht, ist ein Auftrag zur Eliminierung von Gewalt                      2004 zwei Fälle beim CEDAW-Komitee eingebracht. In
   an Frauen, da Gewalt Frauen an der Erlangung der tat-                       den Fällen wurden zwei Frauen (Sahide G. und Fatma
   sächlichen Gleichstellung behindert. Dies gilt auch für                     Y.) von ihren Ehemännern getötet. Das CEDAW-Komitee
   die EU-Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter                    verurteilte Österreich und in der Entscheidung (2007)
   2020-2025.                                                                  wurde angeführt, dass die zuständigen Stellen (Poli-
                                                                               zei, Justiz, Staatsanwaltschaft) nicht mit angemessener
   2.11 Vereinte Nationen                                                      Sorgfalt vorgegangen seien und nicht alles Notwendige
   Die UN-Frauenrechtskonvention (Convention on                                zur Verhinderung dieser Taten unternommen hätten.
   the Elimination of All Forms of Discrimination                              Das CEDAW-Komitee empfahl Österreich, zusätzliche
   Against Women – CEDAW)                                                      Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt zu im-
   Seit über vier Jahrzehnten setzt sich die UNO für den                     plementieren. Österreich hat darauf reagiert und eine
   Schutz von Frauen gegen Gewalt ein: 1979 wurde die                          Reihe von rechtlichen Schritten eingeleitet, um den
   UN-Frauenrechtskonvention als Meilenstein des Frau-                         Schutz vor Gewalt an Frauen zu verbessern.
   enrechtsschutzes verabschiedet. Die Ratifikation in
   Österreich erfolgte 1982. Die Frauenrechtskonvention

                                                                                   > weiterlesen
   beinhaltet das Diskriminierungsverbot von Frauen auf
   der Grundlage ihres Geschlechts und Familienstands so-
   wie das Gleichberechtigungs-, Gleichbehandlungs-, und                               Frauenrechte. polis aktuell 2/2021
   Gleichstellungsgebot mit Männern.                                                   Siehe vor allem das Kapitel „Die UN-Frauen-
                                                                                       rechtskonvention – Magna Charta der Frauen-
   Das CEDAW-Komitee, das für die Überwachung der Um-                                 rechte“, S. 9 ff.
   setzung der Konvention auf nationaler Ebene zuständig                               www.politik-lernen.at/pa_frauenrechte
   ist, hat mit sogenannten „Allgemeinen Empfehlungen“,
   besonders mit der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 (die                                Auf der Website der Wiener Interventionsstelle
   2017 in Empfehlung 35 aktualisiert wurde), auf inter-                               gegen Gewalt in der Familie finden Sie mehrere
   nationaler Ebene entscheidend dazu beigetragen, dass                                Artikel zur CEDAW-Umsetzung, u.a. den Text von
   Gewalt gegen Frauen auch im privaten Kontext als Men-                               Rosa Logar Die UNO-Frauenrechtskonvention
   schenrechtsverletzung und als Diskriminierung im Sin-                               CEDAW als Instrument zur Bekämpfung der
   ne der Konvention anerkannt wurde. Aus diesem Grund                                 Gewalt an Frauen: zwei Beispiele aus Öster-
   sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, mit „angemesse-                              reich.
   ner Sorgfalt“ vorzugehen, Gewalt in der Familie zu ver-                             www.interventionsstelle-wien.at/die-uno-frau-
   hindern und die Betroffenen zu schützen.                                           enrechtskonvention-cedaw

                                                                                       Auf der CEDAW-Website finden Sie umfassende
                                                                                       Informationen zur Konvention, zum CEDAW-
                                                                                       Komitee und zum Fakultativprotokoll (englisch).
                                                                                       www.un.org/womenwatch/daw/cedaw

19 Finanzielle Mittel zur Bekämpfung von Gewalt an Kindern, Jugendlichen und Frauen. Das Programm wurde mehrfach verlängert (bis 2013). Seit 2021
   werden Projekte gegen Gewalt an Frauen im Rahmen des „Citizens, Equality, Rights and Values Programme“ gefördert.

   12                                                                                                                     polis aktuell 9/2021
3 gewalt gegen KInDer
   3.1 „wenn der papa die mama haut,                                                    „Ich habe immer daran gedacht, was mit
   triFFt er mich auch!“                                                                meiner Mutti passiert, deswegen habe ich
   Kinder, die Gewalt miterleben, sind immer auch Opfer                                           fast nie zugehört.“20
   der Gewalt, als ZeugInnen der Gewalt an der Mutter oder
   direkt durch eigene Misshandlungen. Wenn Kinder mit-
   erleben müssen, wie ihre Mütter misshandelt werden,                              Kinder fallen im Unterricht durch Nervosität, Unkon-
   sind sie einem enormen Stress ausgesetzt und können                           zentriertheit und unsoziales Verhalten auf, die Konse-
   Traumatisierungen erleiden. Kinder sehen und hören                            quenzen sind Lernprobleme und schlechte Noten. Die
   z.B. Schläge und Schreie, hören Morddrohungen gegen                           Ursache wird aber oft nicht erkannt: Die meisten Kinder
   die Mutter und sie selbst und sehen die Verletzungen                          erzählen in der Schule nichts von ihren Gewalterfah-
   der Mutter. Bei dem Versuch der Kinder, der Mutter zu                         rungen zuhause. Die Schule erfährt so nichts von den
   Hilfe zu kommen – indem sie sich zwischen die Eltern                          Polizeieinsätzen oder Frauenhausaufenthalten, die die
   werfen, den Vater anflehen, aufzuhören, versuchen, bei                        Kinder erleben mussten, und das Verhalten der Kinder
   NachbarInnen oder der Polizei Hilfe zu holen – oder                           kann nicht richtig gedeutet werden. Wenn in Betracht
   ihre Geschwister zu schützen, werden sie oft selbst Op-                       gezogen wird, dass die Auffälligkeiten der Kinder ein
   fer von Misshandlungen. Die Interventionsstelle, Kin-                         nonverbaler Ausdruck ihrer Probleme sein können, kann
   derschutz- und Krisenzentren sowie die Kinder- und                            Schule ein erster Ort der Enttabuisierung der familiären
   Jugendhilfe sind Anlaufstellen für Kinder, die Gewalt                         Gewalt sein. Ins Vertrauen gezogene und entsprechend
   erleben. Jedoch weist die Statistik 2020 der Wiener                           sensibilisierte LehrerInnen können in solchen Fällen oft
   Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie aus,                          den ersten Schritt zur Aufdeckung der Gewalt machen
   dass von den insgesamt 6.199 Hilfesuchenden nur 755                           und so den Kindern und ihren Müttern helfen.
   Kinder und Jugendliche waren. Dies ist wohl darauf
   zurückzuführen, dass Kinder sich kaum selbst an die                               „die möwe“
   Polizei wenden können, wenn sie misshandelt werden,                               Kinderschutzzentren für physisch, psychisch oder
   und dass das Umfeld noch nicht sensibilisiert ist. Sehen                          sexuell misshandelte Kinder – kostenlos und ano-
   sich Kinder als Ursache der Gewaltausbrüche, etwa weil                            nym erhalten junge Menschen in fünf Zentren in
   der Vater die Mutter für das Verhalten der Kinder verant-                         Wien und Niederösterreich Unterstützung.
   wortlich macht (ihr z.B. schlechte Noten der Kinder oder                          www.die-moewe.at
   von den Kindern gemachte Unordnung vorwirft), so ent-
   wickeln sie starke Schuldgefühle und sehen sich selbst
   als die „Bösen“, die an der Gewalt gegen die Mutter die                       3.2 die „G’sunde watsch’n“ als
   Schuld tragen. Das Verhalten der Mutter, die in der Ge-                       erziehunGsmittel
   waltbeziehung lebt oder eine Trennung nicht endgültig                         Kinder und Jugendliche erleben neben indirekter Ge-
   schafft, vermittelt den Kindern ein starkes Gefühl der                        walt auch oft direkte Gewaltanwendungen und Miss-
   Hilf- und Ausweglosigkeit. Mitunter geben Frauen die                          handlungen, die teilweise leider noch immer Teil tra-
   erlittene Gewalt an ihre Kinder weiter und misshandeln                        ditioneller Erziehungsmethoden sind. Im Artikel 19
   sie selbst. Als Folge der überwältigenden Gefühle von                         der UN-Kinderrechtskonvention wurde bereits 1989 das
   Angst und Hilflosigkeit können Symptome auftreten wie                         Recht auf gewaltfreie Erziehung international festge-
   z.B. Entwicklungs- und Konzentrationsstörungen, Un-                           schrieben. Weiters ist in der „Allgemeinen Bemerkung“
   ruhe sowie ständige Angstgefühle, Rückzugstendenzen                           des Kinderrechtsausschusses Nr. 8 (2008)21 „das Recht
   und psychosomatische Probleme, um hier nur einige                             des Kindes auf Schutz vor körperlicher Bestrafung bzw.
   mögliche Auswirkungen zu nennen.                                              Züchtigung“ festgehalten. In Österreich wurde das Ge-
                                                                                 waltverbot 1989 gesetzlich verankert. Damit wurde der
                                                                                 Einsatz der „g’sunden Watsch’n“ als legitimes Erzie-
                                                                                 hungsmittel rechtlich verboten.

20 12-jähriges Kind im Gespräch mit einer Frauenhausmitarbeiterin; vgl. dazu Strasser, Philomena: Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als
   Trauma für Kinder. Wien, 2001, S. 251.
21 www.crin.org/en/library/publications/crc-general-comment-corporal-punishment

   polis aktuell 9/2021                                                                                                                              13
Das „Züchtigungsverbot“ ist in § 146 ABGB (Allge-                             die Weitergabe an die nächste Generation verhindert
   meines bürgerliches Gesetzbuch) ausdrück­lich normiert:                          wird. Wird in einer Gewaltbeziehung hingegen die Frau
                                                                                     vom Mann misshandelt, steigt die Gefahr, dass Kinder
      „Das minderjährige Kind hat die Anordnungen der                                vom Vater auch misshandelt werden, stark an. Auch die
   Eltern zu befolgen. Die Eltern haben bei ihren Anord-                             Wahrscheinlichkeit, dass die misshandelten Frauen die
   nungen und deren Durchsetzung auf Alter, Entwicklung                              Gewalt an ihre Kinder weitergeben und sie selbst zu Tä-
   und Persönlichkeit des Kindes Bedacht zu nehmen. Die                              terinnen werden, erhöht sich.24
   Anwendung von Gewalt und die Zufügung körper-
   lichen und seelischen Leides sind unzulässig.“                                    Ist Kindesmisshandlung ein
                                                                                     schicht-spezifisches Phänomen?
      Die 30 Jahre alte Definition von Kindesmisshandlung                            Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Berufschancen und
   von Pernhaupt/Czermak hat nach wie vor nichts von                                 soziale Isolation sind Risikofaktoren, doch auch hier
   ihrer Aktualität und Gültigkeit verloren:                                        gilt: Mittel- und Oberschichtfamilien versuchen eher,
                                                                                     soziale Probleme nicht nach außen zu tragen, Interven-
       „Misshandlung im weitesten Sinn ist jede gewalttäti-                          tionen einer Behörde sind zum Großteil unerwünscht.
   ge oder unnötig einengende Handlung an Kindern oder                               Sie verfügen über andere Möglichkeiten, Gewaltfälle zu
   deren Vernachlässigung, als deren Folge Angst, seeli-                             verheimlichen und scheinen daher bedeutend weniger
   sches Leid und/oder körperliche Verletzung auftreten.                             in den Statistiken auf. Während ältere Studien familiäre
   Die Misshandlung muss keine sofort feststellbaren see-                            Gewalt noch als Problem der „Unterschicht“ dargestellt
   lischen oder körperlichen Spuren hinterlassen; die Aus-                           haben, ist heute mittlerweile unbestritten, dass das
   wirkungen einer Misshandlung können auch erst nach                                Phänomen der familiären Gewalt gegen Kinder in allen
   einer sehr langen Latenzzeit sichtbar werden.“22                                  sozialen Schichten anzutreffen ist.25

      Im Folgenden sollen die verschiedenen Formen der                               3.2.2 Psychische Gewalt: „Lass mich endlich
   Gewalt definiert und opfer- und täterInnenrelevante Da-                           in Ruhe!“
   ten besprochen werden.                                                            Unter psychischer Misshandlung wird verstanden:
                                                                                        Ängstigung durch Drohungen
   3.2.1 Physische Gewalt: „Du tust mir weh!“                                           Entwürdigung und Demütigung durch Worte
   Unter körperlicher Gewalt versteht man ohrfeigen, tre-                               Ablehnung des Kindes, emotionale Erpressung und
   ten, drücken, festhalten usw. Zu schwerer körperlicher                              Terrorisieren von Kindern, Liebesentzug
   Gewalt zählen u.a. die „Tracht Prügel“ oder Schläge mit                             Isolieren und Negieren des Kindes, „Nichtsehen“
   Gegenständen.23                                                                      Verletzung des Schamgefühls
       Die körperliche Vernachlässigung der Kinder ist                               Eine Gemeinsamkeit des Zufügens derartiger seeli-
   ebenfalls eine Form physischer Misshandlung und um-                               scher Verletzungen liegt darin, dass Erwachsene ihre
   fasst die Unterlassung von medizinischer Hilfe, von Si-                           Bedürfnisse an erste Stelle setzen und die Bedürfnisse
   cherheitsmaßnahmen (z.B. das Kind unbeaufsichtigt zu                              der Kinder, die es im Eltern-Kind-Verhältnis primär zu
   lassen) und die unzureichende Ernährung und Pflege.                               befriedigen gilt, nicht beachtet werden.

   Wird erlebte Gewalt weitergegeben?                                                   Gewalt ist nie ok! Informationen über häusliche
   Gewalterfahrungen in der Kindheit tragen laut zahlrei-                               Gewalt für Kinder und Jugendliche
   chen Studien dazu bei, dass Gewalt weitergegeben wird.                               Portal in deutscher, englischer und
   Erklärt wird dies u.a. dadurch, dass kulturelle Normen,                              türkischer Sprache. Enthält Videos
   welche die Anwendung von Gewalt billigen, weiter getra-                              mit Erfahrungsberichten, Hin-
   gen werden und gelernt wird, dass Gewalt als erfolgrei-                              weise auf Hilfsangebote und
   ches Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt                               Tipps, wie man Betroffene
   werden kann. Eine funktionierende partnerschaftliche                                 unterstützen kann.
   Beziehung im Erwachsenenalter kann dazu beitragen,                                   www.gewalt-ist-nie-ok.at
   dass eigene Gewalterfahrungen bewältigt werden und

22 Pernhaupt, Günter; Czermak, Hans: Die gesunde Ohrfeige macht krank. Wien, 1980, S. 86.
23 Siehe dazu auch: Familie – kein Platz für Gewalt!(?). 20 Jahre gesetzliches Gewaltverbot in Österreich. Wien, 2009, S. 88 f.
24 Gewaltbericht 2001, S. 144-145.
25 Haller et al.: Gewalt in der Familie. Graz, 1998; zit. nach Gewaltbericht 2001, S. 134.

   14                                                                                                                              polis aktuell 9/2021
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