TATORT FAMILIE POLIS AKTUELL 9/2021 - ZENTRUM POLIS
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lIeBe leSerIn, lIeBer leSer! Österreich hat ein Gewaltschutzgesetz, das internatio- von Gewalt reagieren können. Zudem finden Sie Tipps, nal durchaus vorzeigbar ist und in manchen Bereichen wie das Thema in der Schule anhand von Methoden und als Vorzeigemodell gilt. Trotzdem wurden von Jänner Unterrichtsmaterialien umgesetzt werden kann, sowie bis Oktober des Jahres 2021 23 Frauen ermordet und es Links zu Organisationen aus dem Gewaltschutzbereich. gibt belegbare Daten, dass die COVID-19 Pandemie zu Schule ist ein wichtiger Ort der Auseinandersetzung einem Anstieg der Gewalt in der Familie geführt hat. mit dem Thema, ungeachtet dessen, ob Kinder und Aktuelle Diskussionen rund um Fußball-Großereignisse, Jugendliche selbst betroffen sind und ihnen dadurch K.-O.-Mittel oder Maturareisen zeugen vom Ausmaß der unterstützend begegnet werden kann oder ob es sich Gewalt. Dies belegen auch internationale Daten: Laut um einen Beitrag zur Sensibilisierung und Bewusstseins- einer europaweiten Studie der Europäischen Grundrech- bildung handelt. teagentur aus dem Jahr 2014 ist jede dritte Frau von Dieses Heft soll Ihnen Grundlagenwissen und Hilfe- Gewalt betroffen. stellungen für diese wichtige Aufgabe anbieten. Gewalt ist überall und allgegenwärtig, besonders aber sind Frauen und Kinder von Männergewalt betroffen. Ihr Team von Zentrum polis Gewalt ist Ausdruck von Machtungleichheit und Abhän- > service@politik-lernen.at gigkeitsverhältnisse verstärken gewaltsame Beziehun- gen, aus denen sich Frauen oft schwer lösen. Alle Frauen sind der Gefahr ausgesetzt, Gewalt zu erfahren, wobei InHalt Faktoren wie Alter, Migrationshintergrund oder Behin- Begriffliche Annäherung derungen verstärkende Faktoren sein können, warum an das Thema ............................................... 3 Frauen Gewalt und Diskriminierung erleben. Gewalt gegen Frauen ..................................... 5 Das Heft setzt sich mit dem vielschichtigen Begriff Gewalt gegen Kinder.................................... 13 „Gewalt“ auseinander, behandelt Formen und Aus- prägungen von Gewalt, informiert über die rechtliche Interview mit Rosa Logar ............................. 18 Situation in Österreich und wirft einen Blick auf die Unterrichtsbeispiel „Faktencheck zu Mythen“ ... 19 europäische und internationale Ebene. Der zweite Teil Angebote für Schulen: stellt Gewalt gegen Kinder in den Mittelpunkt und geht Materialien, Links, Literatur .......................... 22 u.a. der Frage nach, wie Lehrkräfte bei Verdachtsfällen polis aktuell Nr. 7 2019 Kinderrechte Die Rechte von Kindern und Jugendlichen Die UN-Kinderrechtskonvention Die Umsetzung der Kinderrechte in Österreich und weltweit Kinder und Jugendliche, die für ihre Rechte kämpfen Unterrichtsideen, Materialien, Linktipps schulische BuBenarBeit Frauenrechte Kinderrechte polis aktuell 9/2019 polis aktuell 2/2021 polis aktuell 7/2019 > www.politik-lernen.at/ > www.politik-lernen.at/ > www.politik-lernen.at/ pa_bubenarbeit pa_frauenrechte pa_kinderrechte 2 polis aktuell 9/2021
1 BegrIfflICHe annäHerung an DaS tHeMa 1.1 was ist Gewalt? Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es eine Reihe von zwischen den Geschlechtern sowie eine Hierarchie zwi- Definitionen, aber keinen allgemein gültigen Gewaltbe- schen Frauen und Männern vorsieht, leiten Männer ein griff. Der Friedensforscher Johan Galtung stellt Gewalt Besitz- und Kontrollrecht über die Frau ab. in einen breiten Kontext: 1993 wurde auf der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien erstmals Gewalt gegen Frauen international als Menschenrechtsverletzung anerkannt: Der Staat ist ver- „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen pflichtet, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und zu so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somati- verfolgen, egal, von wem diese Gewalt ausgeübt wird sche und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung ... Gewalt ist das, und unabhängig davon, ob Gewalt im öffentlichen oder was den Abstand zwischen dem Potenziellen und privaten Bereich ausgeübt wird.3 Dass das Machtun- dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung gleichgewicht zwischen Männern und Frauen eine zent- dieses Abstandes erschwert.“1 rale Ursache von Gewalt an Frauen ist, wurde dann auch im Aktionsplan der Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen von 1995 ersichtlich: Galtung unterscheidet strukturelle Gewalt von perso- neller. Da mit struktureller Gewalt nicht einzelne Ge- walttaten bezeichnet werden, sondern Gewalt- und „Gewalt gegen Frauen ist Ausdruck der historisch Machtverhältnisse, die in gesellschaftlichen Strukturen ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und verankert sind, wurde kritisiert, dass so Gewalt „ent- Frauen, die dazu geführt haben, dass die Frau vom persönlicht“ werde und die notwendige persönliche Mann dominiert und diskriminiert und daran gehindert wird, sich voll zu entfalten.“4 Verantwortungsübernahme für TäterInnen leicht abzu- schieben sei.2 Um Ursachenforschung zu betreiben, muss jedoch auch strukturelle Gewalt thematisiert werden, da Zwanzig Jahre nach der Weltmenschenrechtskonferenz diese persönliche Gewaltübergriffe fördert. bekräftigten 2013 hochrangige Frauenrechtsexpertin- In Bezug auf Gewalt in der Familie bezieht sich der nen bei einer internationalen Konferenz in Wien, dass strukturelle Gewaltbegriff auf die ungleiche Machtver- der Schutz von Frauen gegen Gewalt noch immer unzu- teilung im Geschlechterverhältnis und ermöglicht die reichend sei und noch viele Anstrengungen zur effizi- Betrachtung des gesellschaftlichen Hintergrunds von enteren Bekämpfung notwendig sind. Parallel dazu fand Gewalt gegen Frauen. Das immer noch verbreitete Rol- eine Konferenz der Zivilgesellschaft statt, bei der auch lenverständnis vom Mann als „Familienvorstand und Er- frauenrechtsrelevante Themen diskutiert wurden.5 nährer“ und der Frau als „Hausfrau und Mutter“ fördert die für Gewaltbeziehungen charakteristischen sozialen In diesem polis aktuell wird immer wieder und ökonomischen Abhängigkeiten von Frauen und bewusst auf frauenrechtliche und kinderrechtliche lässt männliche Dominanz- und Machtansprüche unwi- Standards Bezug genommen, um aufzuzeigen, dersprochen bestehen. Aus der – im Übrigen schicht- dass „Gewalt in der Familie“ die Menschenrechte unabhängigen – Orientierung an traditionellen Frauen- von Frauen und Kindern klar verletzt. und Männerbildern, die eine klare Aufgabentrennung 1 Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg, 1975, S. 9; zit. nach: Gewalt in der Familie. Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung. Gewaltbericht 2001. Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen (Hrsg.). Download: www.gewaltinfo.at/uploads/pdf/bmwfj_gewaltbericht_2001_gesamt.pdf, S. 385. 2 Näher dazu: Lehner-Hartmann, Andrea: Wider das Schweigen und Vergessen. Gewalt in der Familie. Innsbruck, 2002, S. 10 ff. 3 Vgl. DEVAW (Erklärung zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen) 1993; zit. im Gewaltbericht 2001, S. 418-419. 4 United Nations (Hrsg.): The Beijing Declaration and the Platform for Action, Fourth World Conference on Women Beijing, China 4-15 September 1995, New York, 1996; zit. nach Gewaltbericht 2001, S. 390. 5 ExpterInnenkonferenz: www.bmeia.gv.at/europa-aussenpolitik/menschenrechte/vienna-20 Zivilgesellschaftliche Konferenz: http://viennaplus20.wordpress.com/programm polis aktuell 9/2021 3
1.2 was Genau versteht man unter 1.3 wer sind die opFer? „Gewalt in der Familie“? Im Kontext von Gewalt in der Familie kommt uns oft als Alternativ werden auch die Bezeichnungen „häusliche erstes das Bild der misshandelten Frau, die von ihrem Gewalt“, „familiäre Gewalt“ oder „Gewalt im sozialen Mann oder Partner geschlagen wird, in den Sinn. Nahraum“ verwendet. der BeGriFF Jedoch umFasst weit mehr: hauptmerKmale von Gewalt in der Familie 6 Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen und Zwischen gewaltausübender Person (in der einschlä- Trennungssituationen gigen Literatur auch Gefährder genannt) und der Gewalt gegen Männer in Paarbeziehungen und von Gewalt betroffenen Person besteht eine emotio- Trennungssituationen nale Bindung. Auch mit einer Trennung/Scheidung ist diese Bindung oft nicht gelöst. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Familie Die Gewalt wird meist im eigenen Wohnraum ausgeübt, der eigentlich als Ort von Sicherheit und Gewalt gegen ältere Menschen im Familienverband Geborgenheit verstanden wird. Gewalt gegen Menschen mit Behinderung im Gewalt in der Familie verletzt die körperliche und/ Familienverband oder psychische und sexuelle Integrität durch Ausübung oder Androhung von physischer, sexuel- Gewalt in der Familie beinhaltet somit mehrere ler, psychischer, sozialer oder ökonomischer Gewalt. Opfergruppen, die im häuslichen Kontext misshan- delt und/oder erniedrigt werden. Jede Gewalthandlung ist Ausdruck von Macht und Kontrolle. Dieses Heft geht auf die besonders ausgeprägten Erscheinungsformen von „Gewalt gegen Frauen und Kinder“ ein, da sie überproportional betrof- wiener interventionsstelle GeGen Gewalt fen sind. in der Familie 83 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt sind Detaillierte Informationen zu Geschlecht, Alter laut Statistik der Wiener Interventionsstelle ge- oder Nationalität der Opfer sowie der Gefährder gen Gewalt in der Familie weiblich – Frauen, die finden Sie in den Tätigkeitsberichten und Statis- von ihren Ehepartnern, Ex-Partnern, dem Freund tiken der Wiener Interven- usw. misshandelt werden.7 Kinder werden im Zu- tionsstelle gegen Gewalt in sammenhang mit familiärer Gewalt oft zweimal der Familie. zum Opfer: durch die Mitbetroffenheit, wenn ihre Mütter misshandelt werden, und durch direkte Ge- www.interventionsstelle-wien. walthandlungen der Eltern oder eines Elternteils. at/publikationen-statistiken In den nächsten Kapiteln zu „Gewalt gegen Frauen“ und „Gewalt gegen Kinder“ werden Formen, Ursa- chen, Auswirkungen usw. von Gewalt analysiert, rechtliche Möglichkeiten aufgezeigt und Hilfsorga- nisationen sowie Projekte vorgestellt. 6 Vgl. dazu das Informationsblatt: Definition, Formen und Betroffene häuslicher Gewalt. Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG (Hrsg.). Bern, 2007. 7 Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (Hrsg.): Statistik 2020 der Wiener Interventionsstelle. Wien, 2021. 4 polis aktuell 9/2021
2 gewalt gegen frauen 2.1 Formen der Gewalt Nach ihren unterschiedlichen Ausprägungen unterschei- reich erst 1989 nach vorangehender heftiger Diskussion det man physische, psychische, sexuelle und ökonomi- klargestellt. Die vergleichsweise niedrige Anzeigenrate sche Gewalt. Diese unterschiedlichen Gewaltformen treten und die noch geringere Verurteilungsrate weisen jedoch aber oft gleichzeitig auf und verstärken sich gegenseitig. darauf hin, dass Vergewaltigung in der Ehe immer noch Strukturelle Gewalt wiederum stellt ein verstärkendes ein Tabuthema und die Scham der Opfer groß ist. Element für alle Formen interpersonaler Gewalt dar. Ökonomische Gewalt Körperliche Gewalt bezieht sich auf jene Situationen, in denen die Frau über kann sich gegen das Opfer selbst, gegen Personen im geringes oder kein eigenes Einkommen verfügt und der Umfeld, gegen Gegenstände, aber auch Tiere richten und Mann diese Situation ausnützt, indem er ungenügende beinhaltet alle Formen von physischer Misshandlung: Geldmittel für den Haushalt bereitstellt und/oder Ein- stoßen, treten, schlagen, schütteln, mit Gegenständen kommen, Vermögen und Ausgaben geheim hält. Es werfen, Mordversuch und Mord, um einige Beispiele zu kommt aber auch vor, dass Frauen ihr Einkommen ab- nennen. Außerdem ist das Schlagen der Kinder und geben müssen bzw. dessen Verwendung vom Mann kon- Quälen von Tieren in Gegenwart der Frau oder die Zer- trolliert wird. Die finanzielle Abhängigkeit erschwert es störung (persönlicher) Gegenstände aus dem Besitz der den Frauen aus Angst vor Verarmung und sozialem Ab- Frau zusätzlich psychische Gewalt gegen die Frau. stieg, die gewalttätige Beziehung zu verlassen. Psychische Gewalt 2.2 Gewalt gegen ältere Frauen sind jene Handlungen, die eine Verletzung der psychi- Zu den Formen der Gewalt in der Familie kommt bei äl- schen Integrität darstellen, die Angst und Abhängigkeit teren Frauen eine weitere hinzu, nämlich Vernachlässi- erzeugen und das Selbstwertgefühl der Frau untergra- gung. Dies betrifft ältere Frauen, die von ihren Bezie- ben, bis hin zum Verlust jeder Selbstachtung. Dazu hungspartnern oder pflegenden Personen versorgt und gehört die Isolation, die soziale Gewalt, indem ihr die gepflegt werden. Ausprägungen von Vernachlässigung, Kontakte zu Familie und FreundInnen (oft sehr subtil) die im schlimmsten Fall den Tod zur Folge haben kön- verboten werden, (wiederholte) Drohungen sich, die nen, sind beispielsweise die falsche oder ungenügende Frau oder die ganze Familie umzubringen, aber auch die Verabreichung von Medikamenten, die Beschränkung Kinder wegzunehmen. Die Angst vor den angedrohten des Lebensraums auf Sessel und Bett sowie die soziale Taten nimmt der Frau das für eine Trennung vom Ge- Isolation (alleine lassen, schweigen usw.). Verschlim- walttäter notwendige Selbstvertrauen. Demütigungen, mert wird diese Situation durch das Abhängigkeitsver- Beschimpfungen und Diffamierungen verfolgen das glei- hältnis, das zwischen älteren Frauen und den Angehö- che Ziel, geschehen aber im Unterschied zu physischer rigen bzw. Pflegepersonen besteht, da sie in der Angst Gewalt und Drohungen nicht nur im Kreis der Familie, leben, ihre Unterstützung zu verlieren, wenn sie über sondern auch öffentlich.8 Auch Formen digitaler Gewalt ihre Gewalterfahrungen sprechen.9 sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. 2.3 Gewalt gegen Frauen Sexuelle Gewalt mit Behinderungen umfasst alle sexuellen Handlungen, zu der die Frau ge- Was die Abhängigkeit betrifft, befinden sich Frauen mit drängt oder gezwungen wird, und ist eine Demonstra- Behinderungen in einer ähnlichen Situation. Auch sie tion von Macht und Kontrolle sowie der Überzeugung, zögern häufig, ihren Partner oder die pflegende Person jederzeit Anspruch auf Sexualität zu haben. Nie aber bei der Polizei zu melden – aus Angst, die notwendige kann sexuelle Gewalt Ausdruck unbezähmbarer Triebe alltägliche Unterstützung zu verlieren. Studien bele- oder „betont aggressiver Liebe“ sein. Dass sexuelle Ge- gen, dass Frauen mit Behinderungen viel öfter von allen walt auch in der Ehe ein Verbrechen ist, wurde in Öster- Gewaltformen betroffen sind als Frauen ohne Behinde- 8 Zitate betroffener Frauen bei: Lehner-Hartmann, 2002, S. 54-55. 9 Mehr dazu: Helga Amesberger und Birgit Haller: Mind the gap – Verbesserte Interventionen bei Partnergewalt gegen ältere Frauen. Länderbericht Öster- reich, Institut für Konfliktforschung (IKF), Wien, 2013. polis aktuell 9/2021 5
rungen. Vor allem Frauen mit Lernschwierigkeiten sind schränkten Zugang zum Arbeitsmarkt bei legalem Auf- einem höheren Gewaltrisiko ausgesetzt. Die oft man- enthalt, den Ausbau der Beratungsangebote in den gän- gelnde Wehrfähigkeit und die Erfahrung, dass ihnen gigen Muttersprachen der Frauenhausbewohnerinnen, sowieso nicht geglaubt wird, erschwert es den Frauen eine Verbesserung des Zugangs zu Sozialleistungen (Fa- oft, Unterstützung zu suchen. Zudem werden Abhängig- milienbeihilfe, Sozialhilfe, Kinderbetreuungsgeld) sowie keitsverhältnisse ausgenutzt, indem Frauen die notwen- den Zugang zu geförderten Gemeindewohnungen.11 dige Hilfe verwehrt und über ihre Köpfe hinweg über sie entschieden wird.10 2.5 warum haut Jemand hin? Beratung für Frauen mit Behinderungen: www.ninlil.at Für die Ursachen von Gewalt existieren zahlreiche Erklä- rungsansätze. Alberto Godenzi hat dazu einen Überblick 2.4 situation von miGrantinnen zusammengestellt:12 Misshandelte Migrantinnen, deren rechtmäßiger Aufent- halt sowie Zugang zum Arbeitsmarkt und damit deren fi- intra-individuelle Ursachen wie Persönlichkeitsstö- nanzielle Existenz meist unmittelbar an ihren misshan- rungen, biologische und neurologische Faktoren, die delnden Ehemann gebunden sind, befinden sich in einer Rolle von Alkohol, Drogen etc. besonders aussichtslosen Lage. Die Hürde für von Gewalt sozial-psychologische Faktoren wie Gewalterfahrun- betroffene Migrantinnen, eine Arbeit zu finden, ist sehr gen in der Kindheit. hoch und schafft enorme Abhängigkeit. Darüber hinaus soziokulturelle Ansätze: Hier steht der Einfluss ermöglicht der Arbeitsmarkt Migrantinnen vorwiegend sozialer Komponenten wie Schichtzugehörigkeit, Jobs im unteren Lohnniveau mit Arbeitszeiten, die sich Bildung oder Einkommen im Mittelpunkt. Auch der mit Kinderbetreuungspflichten häufig schwer vereinba- feministische Ansatz, dass das männlich dominierte ren lassen. Zur wirtschaftlichen Abhängigkeit als aus- Machtverhältnis die Ursache von Gewalt ist, kann zu schlaggebendem Faktor in Gewaltbeziehungen kommt den soziokulturellen Ansätzen gezählt werden. für Migrantinnen auch noch ein gefährdeter Aufent- haltsstatus bei Scheidung hinzu. Sprachliche Barrieren Die auslösenden Ursachen, die letztlich zu Gewalthand- und traditionelle Familienstrukturen verschärfen die Si- lungen führen, sind meist nicht monokausal zu erklä- tuation. Aus diesen Gründen sind für Migrantinnen, die ren, sondern das Produkt von mehreren Faktoren. ihren gewalttätigen Partner verlassen möchten oder vor ihm flüchten müssen, Frauenhäuser oft die einzige Mög- Fra-studie zeiGt: Jede dritte Frau lichkeit. Um die Situation von Migrantinnen zu verbes- in der eu ist von Gewalt BetroFFen sern, fordert der Verein AÖF (Autonome österreichische 2014 präsentierte die Agentur der Europäischen Frauenhäuser) einen eigenständigen Aufenthaltsstatus Union für Grundrechte FRA (Fundamental Rights der Frauen bei Familienzusammenführung, uneinge- Agency) die Ergebnisse der bisher größten inter- nationalen Dunkelfeldstudie zu Gewalt an Frauen. FRA befragte 42.000 Frauen zu ihren Gewalt- Beratung, Bildung und erfahrungen: Ein Drittel aller Frauen in der EU hat Begleitung für Migrantinnen: seit ihrer Jugend körperliche und/oder sexuelle www.lefoe.at Gewalt erlebt – das sind etwa 62 Millionen Frauen. www.orientexpress-wien.com https://fra.europa.eu/en/publication/ www.maiz.at 2014/violence-against-women-eu-wide- survey-main-results-report 16 taGe GeGen Gewalt an Frauen Die 16 Tage finden vom 25. November – dem internationalen Gedenktag für alle Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden – bis zum 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, statt. oranGe the world 2015 lancierte UN Women die Kampagne „Orange The World“, die im Rahmen der UNiTE Kampagne (UNiTE to End Violence against Women by 2030) stattfindet. 10 Siehe dazu: Österreichische Gewaltprävalenzstudie 2019: https://bim.lbg.ac.at/sites/files/bim/attachments/studie_erfahrungen_und_pravention_von_ gewalt_an_menschen_mit_behinderung.pdf 11 Siehe dazu auch: www.interventionsstelle-wien.at/download/?id=353 12 Godenzi zitiert in: Gewaltbericht 2001, S. 390. 6 polis aktuell 9/2021
2.6 Gefangen im eigenen Heim – Gewalttäter sind, ob sie nun auch misshandelt werden wie Frauen in Gewaltbeziehungen leben oder „nur“ die Misshandlungen der Mutter miterleben Wenn Frauen sich aus einer Gewaltbeziehung befreien müssen, wollen viele Menschen nicht wahrhaben. In und die Gewalt in der Familie öffentlich machen (indem gewalttätigen Familienverhältnissen aufwachsen zu sie davon erzählen, die Polizei rufen oder ein Frauen- müssen, kann nicht zum Wohl der Kinder beitragen. So- haus aufsuchen), geht dem oft eine lange Leidensge- bald Frauen realisieren, dass sich die Gewalt in jedem schichte von Misshandlungen voraus. Fall auch gegen die Kinder richtet und ihnen schwe- ren Schaden zufügt, ist es gerade das Verantwortungs- „Du gehörst nur mir.“ bewusstsein den Kindern gegenüber, das Frauen dazu bewegt, die Gewaltbeziehung zu verlassen. Durch systematische, wiederholte Gewalthandlungen traumatisiert der Täter die Frau und erreicht so eine Un- „Das geht nur uns was an.“ tergrabung ihrer Autonomiebestrebungen, was in Folge zu gesellschaftlicher Isolation führt. Die Gewalttätigkeit Isolation hält die Opfer in Abhängigkeit und ist ein des Mannes erzeugt Gefühle von Hilflosigkeit, Ohn- wichtiger Faktor in einer Gewaltbeziehung. Durch die macht und Ausgeliefertsein. Ziel des Täters ist es, das sukzessive Zerstörung ihrer sozialen Beziehungen er- Selbstwertgefühl der Frau auszulöschen. Das Verhalten reicht der Täter, dass die Frau keine Möglichkeit sieht, misshandelter Frauen folgt psychologischen Mechanis- von außen Unterstützung zu bekommen. Das Verbot des men, die wir auch bei Geiselopfern finden: Sie passen Kontakts zu Familie und FreundInnen, das Untersagen, sich an, um zu überleben. Diese Strategie wird Stock- eine Arbeit aufzunehmen, oder die ständige Kontrolle holm Syndrom genannt.13 Der Täter wird zur mächtigs- dienen dieser Isolationsstrategie. So gerät die Frau in ten Person im Leben der Frau (und der mitbetroffenen eine emotionale und ökonomische Abhängigkeit. Kinder), mit dessen „Launen die Familie leben und um- gehen lernen muss“. „Die Kinder kriegst du nie!“ „Sind wir wieder gut, Schatzi?“ Die Macht der Täter, Frauen den Zugang zu Rechtsin- formationen zu verwehren, ist nicht zu unterschätzen. Auf Gewaltausbrüche folgen Phasen des „Nettseins“: Ent- Immer noch schüchtern Gewalttäter Frauen mit der schuldigungen, „es“ nie wieder zu tun, Blumen und Lie- Aussage „Die Kinder kriegst du nie“ ein und halten sie besbeteuerungen verunsichern die Frauen und bringen so von einer Trennung ab, obwohl die rechtliche Lage sie dazu, auf eine Änderung des Mannes zu hoffen und klar ist: Gewalttätern wird auch bei finanzieller Überle- Trennungsabsichten wieder zu verwerfen. Der „richtige“ genheit die Obsorge für Kinder nicht zugesprochen. Die Mann ist für sie dann jener, der lieb und nett ist und nur Falschinformationen verstärken bei den Opfern Gefühle in Ausnahmefällen „böse“ sein kann. Die Verwirrung, die der Hilflosigkeit und verzerren die Wahrnehmung der durch die Ausblendung seiner Gewalttätigkeit entsteht, Realität. wird durch die Umwelt verstärkt, die auch lieber nur die „netten“ Seiten des Misshandlers sehen möchte und sei- „Ohne Geld keine Freiheit!“ ne Gewaltbereitschaft zum „emotionalen Ausnahmezu- stand“ verklärt. Verkannt wird dabei, dass diese Phasen Wirtschaftliche Abhängigkeit zwingt Frauen dazu, eine der gelegentlichen Zuwendung Teil der Strategie zur Auf- Gewaltbeziehung so lange wie möglich aufrecht zu er- rechterhaltung der Machtausübung sind. halten. Frauen mit Ausbildung und eigenem Einkommen wird es eher gelingen, ein neues, unabhängiges Leben „Ich halte durch, solange die zu organisieren. Lässt ein Ausstieg aus einer Gewaltbe- Kinder noch klein sind!“ ziehung auch noch Existenznöte erwarten, baut sich die finanzielle Unabhängigkeit zu einem unüberwindbaren Appelle wie „Kinder brauchen Vater und Mutter“ setzen Hindernis auf. Frauen unter Druck, die Gewalttätigkeit hinzunehmen, um den Kindern das Aufwachsen in einer „richtigen“ Familie zu ermöglichen. Dass Kinder selbst Opfer der 13 Positiv besetzte Bindung, die Geiseln zu ihrem/ihren GeiselnehmerInnen entwickeln, in deren Folge sie die Perspektive des/der GeiselnehmerIn übernehmen und eine Intervention zu ihrer Befreiung von außen als bedrohlich empfinden, benannt nach einer Untersuchung der Auswirkungen von Geiselnahme nach einem Banküberfall in Stockholm. polis aktuell 9/2021 7
2.7 Strategien der Täter Bagatellisierung: „War eh nur ein Ausrutscher!“ victim blaming (Viktimisierung) Die Gewalttat wird als etwas Einmaliges dargestellt: „ist Unter „victim blaming“ versteht man die Umkehrung halt passiert“, „war nur eine Ohrfeige“ etc. So wird die der Verantwortung für eine Gewalttat: Nicht der Täter Schwere der Misshandlung heruntergespielt. Die körper- ist schuld, sondern das Opfer. Dieses Phänomen der lichen Schmerzen sowie die Verletzung der Würde der Schuldumkehr wird nicht nur von den Tätern zur ei- Frau, die mit den Gewalttaten einhergeht, werden dabei genen Entlastung verwendet, sondern auch in der Ge- nicht anerkannt. sellschaft wird es selten als das erkannt, was es ist: eine unzulässige Schuldzuweisung an das Opfer und die 2.8 Folgen für die Betroffenen Entlassung des Täters aus der Verantwortung für seine Gewalt in der Familie hinterlässt deutliche, unmittelba- strafbare Handlung. Mit Rechtfertigungen wie „... hät- re körperliche und psychische sowie psychosomatische te sie mich halt nicht so anschreien sollen“, „... wenn Spuren und hat soziale Folgen. Diese reichen je nach In- sie wenigstens ordentlich aufräumen und kochen würde, tensität der erlittenen Gewalt von (schweren) Verletzun- müsste ich mich nicht so aufregen!“ oder „... dann hätte gen über Schmerzen am ganzen Körper, Atemproblemen, sie sich halt keinen Liebhaber zugelegt!“ wird die Ursa- Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit, Nervosität, Konzen- che für die Gewalt im Verhalten der Frau gesucht. Eine trationsstörungen, Schlaflosigkeit, Angstgefühlen bis zu klare Positionierung im Sinne von „Für die Gewalt ist Depression und Panikattacken. Weiters kann es zu Alko- der Gewalttäter verantwortlich!“ und „Gewalt ist durch holproblemen, Drogenmissbrauch oder zum Suizid kom- nichts zu rechtfertigen!“ kann dazu beitragen, dass Tä- men. Frauen mit Gewalterlebnissen haben signifikant ter die Konsequenzen für ihr Verhalten tragen müssen mehr gesundheitliche Beschwerden als nicht betroffene und nicht die Opfer. An dieser Stelle sei auch darauf Frauen. Gewalttaten im Familienkreis sind traumatische hingewiesen, dass Männer, die sich vom Chef ungerecht Erfahrungen, je länger sie dauern, desto stärker ist der behandelt fühlen, meist beherrscht bleiben und zumin- Grad der Traumatisierung. Frauen leiden sehr häufig dest auf Prügel verzichten. auch an sozialen Problemen wie Stigmatisierung und so- zialer Isolation. Sie schämen sich für die erlebte Gewalt Aggression und Gewalt als und ziehen sich immer mehr aus ihrem Umfeld zurück. „normale männliche Eigenschaften“ Eine andere Strategie der Täter, sich der Verantwortung 2.9 Die österreichische Rechtslage für die Gewalttat zu entziehen, ist es, Aggression und 1997 trat in Österreich das Bundesgesetz zum Schutz Gewalt als „normale männliche Eigenschaften“ darzu- vor Gewalt in der Familie in Kraft. Das Gesetz basiert auf stellen, die in den Genen des Mannes vorhanden seien. drei Säulen: Daher „überkommt“ es Männer manchmal, lautet hier 1. Polizeiliche Wegweisung/Betretungsverbot die Entschuldigung. Selbst die Forschungsergebnisse 2. Gerichtliche einstweilige Verfügung von Studien, die sich eng an biologischen Fragestellun- 3. Unterstützung der von Gewalt betroffenen Frauen gen orientieren, zeigen eindeutig, dass soziokulturelle Bedingungen nicht ausgeblendet werden können.14 Wäre 2009 trat das „Zweite Gewaltschutzgesetz“ in Kraft, Gewalt ausschließlich biologisch bedingt, wäre die Si- das weitere Verbesserungen zum Schutz und zur Unter tuation für Männer eine hoffnungslose: Wie sollte die stützung der Opfer beinhaltet. Mit dem Gewaltschutz- Gewalt je überwunden werden? Wie sollte Prävention gesetz demonstriert der Staat eine grundlegende Wer- möglich sein? Nur wenn man dem Gewalttäter die Fä- tehaltung: Gewalt in der Familie ist keine Privatsache, higkeit zur Weiterentwicklung zugesteht, besteht die sondern eine kriminelle, gerichtlich strafbare Handlung, Chance auf eine Abkehr von die eine staatliche Reaktion zur Folge haben muss. der Gewalttätigkeit hin Diese eindeutige Positionierung zieht nach sich, dass zu einem partnerschaft- Misshandlungen im Familienkreis nicht mehr als Kava- lichen Verhalten. liersdelikt zu behandeln sind und ein Einschreiten der Exekutive bei häuslicher Gewalt nicht Streitschlichtung, sondern Schutz der Frau durch Entfernung des Gefähr- ders aus der Wohnung zur Folge haben muss. Nicht die Frau soll aus der Wohnung fliehen müssen, sondern der Gefährder ist gezwungen, die Wohnung zu verlassen. 14 Vgl. Lehner-Hartmann 2002, S. 79. 8 polis aktuell 9/2021
Das österreichische Gewaltschutzgesetz wurde zum Allianz GewaltFREI leben Modell im europäischen Raum und mehrere Länder Zusammenschluss von Opferschutz- (Deutschland, Luxemburg, Tschechien u.a.) haben einrichtungen und Zivilgesellschafts- ähnliche Regelungen eingeführt. organisationen, die sich der Verbesserung des Gewaltschutzes 2.9.1 „Wer schlägt, der geht“: polizeiliche in Österreich widmen. MaSSnahmen – Wegweisung und Betretungs- www.gewaltfreileben.at verbot Jede Person hat das Recht, in ihrem Wohnbereich frei von Gewalt zu leben und erhält Schutz durch das Gesetz. Im Kontext der familiären Gewalt sind es überwiegend 2.9.2 „Halte dich von mir fern“: Männer (91 %), die Gewalttaten an Frauen begehen.15 die „Gewaltschutz-Verfügungen“ Im Folgenden ist daher vom „Gefährder“ die Rede. Ein Antrag auf Einstweilige Verfügung (EV) kann auch ohne vorheriges Einschreiten der Polizei gestellt wer- Wegweisung den (Wegweisung und/oder Betretungsverbot sind keine Wenn die Polizei aufgrund einer Misshandlung oder Dro- Voraussetzung). Wenn sich eine Frau durch ihren Ehe- hung annehmen muss, dass die Gesundheit, die Freiheit mann, Partner, Ex-Freund oder eine andere Person ge- oder das Leben der Frau sowie betroffener Kinder ge- fährdet fühlt, kann sie (für Kinder auch das Jugendamt) fährdet sind, kann sie den Gefährder sofort aus Woh- beim Bezirksgericht eine EV beantragen. nung/Haus sowie aus der unmittelbaren Umgebung der Wohnstätte wegweisen. Einstweilige Verfügung (EV) für Wohnung/ Haus Betretungsverbot Eine EV zum Schutz vor Gewalt in Wohnungen – dauert Die Polizei kann dem Gefährder zwei Wochen verbieten, sechs Monate, kann bei einer Scheidungsklage bis zum den Wohnbereich sowie die unmittelbare Umgebung zu Ende des Verfahrens wirken. betreten – notfalls mit polizeilicher Gewalt. Die Missach- tung ist strafbar. Einstweilige Verfügung (EV) für bestimmte Orte Eine EV zum allgemeinen Schutz vor Gewalt gilt für be- Verlängerung des Betretungsverbots stimmte Orte (z.B. Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz). Falls die Frau weiteren Schutz benötigt, kann sie (oder Das Verbot für den Gefährder, diese aufzusuchen oder auch das Jugendamt, wenn Kinder mitbeteiligt sind) in- Kontakt aufzunehmen, ist auf ein Jahr beschränkt. nerhalb dieser zwei Wochen beim Bezirksgericht einen Antrag auf „Einstweilige Verfügung“ (EV) stellen und Wie werden die Einstweiligen Verfügungen das Betretungsverbot verlängert sich auf vier Wochen. durchgesetzt? Wird während dieser Zeit auch ein Scheidungsverfahren Es muss beim Antrag auf EV ein Nachweis der Gewalt eingeleitet, so können Wegweisung und Betretungsver- erbracht werden. Diese „Bescheinigungsmittel“ – Aussa- bot bis zum Ende des Scheidungsverfahrens ausgedehnt ge des Opfers und von ZeugInnen, Spitalsbefunde, Poli- werden. zeiberichte, Fotos usw. – müssen dem Gericht vorgelegt werden. Wenn eine EV erlassen wurde, kontrolliert das Besonderer Schutz für Kinder Gericht (evtl. mit Hilfe der Polizei), ob der Gefährder Das Gesetz schützt vor allem Kinder verstärkt vor Ge- die Wohnung/das Haus verlassen hat. Die Schlüssel des walt. Wird ein Betretungsverbot ausgesprochen, gilt Gefährders werden bei Gericht hinterlegt. dieses automatisch auch für Schulen und Kinderbetreu- ungseinrichtungen, wenn Kinder unter 14 Jahren im Statistik 2020: Detaillierte Informationen über die An- Haushalt leben. Weiters sieht das Gesetz die verpflich- zahl von Wegweisungen, Einstweiligen Verfügungen tende Information des Kinder- und Jugendhilfeträgers und Strafanzeigen können Sie dem Tätigkeitsbericht vor. ExekutivbeamtInnen, die ein Betretungsverbot und der Statistik 2020 der Wiener Interventionsstelle aussprechen, müssen diesen unverzüglich darüber in- gegen Gewalt in der Familie entnehmen: www.inter- formieren.16 ventionsstelle-wien.at/publikationen-statistiken 15 Statistik 2020, Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie, siehe unter: www.interventionsstelle-wien.at/publikationen-statistiken 16 www.oesterreich.gv.at/themen/gesundheit_und_notfaelle/gewalt_in_der_familie/5/Seite.299420.html polis aktuell 9/2021 9
2.9.3 Weitere rechtliche Errungenschaften Neuerungen 202017 zum Schutz von Frauen vor Gewalt Annäherungsverbot Die Polizei kann einer Person, von der eine Gefahr aus- Prozessbegleitung für Opfer geht, nun auch verbieten, sich dem Opfer zu nähern und Seit Jänner 2006 haben alle Opfer von Gewalt das Recht, zwar in einem Umkreis von 100 Metern. Dieses Annähe- im Strafverfahren kostenlos psychosoziale und juristi- rungsverbot gilt für alle Orte, an dem sich das Opfer auf- sche Prozessbegleitung zu erhalten. Im Bereich Gewalt hält, natürlich auch für die Arbeitsstelle. Durch das An- an Frauen führen eine Reihe von Fraueneinrichtungen näherungsverbot erhalten auch gefährdete Kinder und sowie alle Interventionsstellen niederschwellige Pro- Jugendliche Schutz: Der Gefährder darf sie in Schule zessbegleitung für die Betroffenen durch. Diese wird oder Kinderbetreuungseinrichtung nicht aufsuchen. Die vom Bundesministerium für Justiz finanziert. Polizei muss Schule oder Kinderbetreuungseinrichtung informieren, wenn ein Annäherungsverbot besteht. Psychosoziale Prozessbegleitung beinhaltet: Informationen über mögliche rechtliche Schritte Gewaltpräventionszentren sowie Verfahrensabläufe Seit September 2020 wurden Gewaltpräventionszentren Begleitung zu Polizei, Gericht, GutachterInnen, in allen Bundesländern eingerichtet. Gefährder müssen RechtsanwältInnen sich nach einem Betretungs- und Annäherungsverbot Unterstützung bei der Entscheidungsfindung für bei einem Gewaltpräventionszentrum melden und sechs oder gegen eine Anzeige u.v.m. Stunden Beratung absolvieren. Juristische Prozessbegleitung beinhaltet: Melde- und Anzeigeverpflichtungen rechtliche Beratung durch einen Rechtsanwalt/eine Diese gibt es für diverse Angehörige von Gesundheits- Rechtsanwältin berufen, etwa PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, rechtsanwaltliche Vertretung bei Gericht SanitäterInnen. Ausnahme: Wenn das Vertrauensver- hältnis zwischen KlientInnen und dem Gesundheitsper- Anti-Stalking-Gesetz sonal zerstört werden würde. Bei begründetem Verdacht Seit Juli 2006 ist ein Gesetz in Kraft, das die „Beharrli- von Gewalt haben auch Lehrkräfte eine Meldepflicht che Verfolgung“ unter Strafe gestellt. Stalking ist dann bei der Kinder- und Jugendhilfe bzw. müssen den Ver- gegeben, wenn eine Person eine andere Person gegen dacht der Schulleitung melden. Anzeigepflicht bei der deren Willen über einen längeren Zeitraum beharrlich Polizei besteht bei akuter Gefährdung. Auch hier muss verfolgt und dadurch die Lebenssituation der betroffe- die Schulleitung unter Berücksichtigung des Vertrauens- nen Person unzumutbar beeinträchtigt wird. Dazu gehö- verhältnisses entscheiden (siehe https://rdb.manz.at/ ren z.B. wiederholte Verfolgung, Belästigung durch Te- document/rdb.tso.LIsundr20130210). lefonanrufe oder per E-Mail. Im akuten Fall von Stalking kann die Polizei gerufen werden, die gegen den Stalker ein Betretungsverbot aussprechen kann. Zum sofortigen Schutz kann auch eine Einstweilige Verfügung beim Be- zirksgericht beantragt werden. > weiterlesen Recht auf Schutz und Hilfe für Opfer von Frauen haben Recht(e). Rechtliche Infor Gewalt. Gesetze zum Schutz vor Gewalt in mationen, praktische Hinweise und Unter Österreich. Informationen in 20 Sprachen. Auch stützungsangebote für gewaltbetroffene die Neuerungen 2020 sind zusammengefasst und Frauen. Wien, 2017 (7. Auflage). in mehreren Sprachen erhältlich. Download: www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/ Download: www.interventionsstelle-wien.at/ge- frauen-und-gleichstellung/gewalt-gegen-frauen/ waltschutzbroschuere formen-der-gewalt.html 17 Siehe dazu: www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/gewalt-gegen-frauen/gewaltformen/haeusliche-gewalt.html oder www.gewaltschutzzentrum.at/ooe/cms/wp-content/uploads/2020/04/%C3%9Cberblick-Neuerungen-Gewaltschutzgesetz-2019.pdf 10 polis aktuell 9/2021
wo BeKomme ich hilFe? interventionsstelle/Gewaltschutzzentren: lich vom Wegweiserecht Gebrauch zu machen. Das Opferschutzeinrichtungen, die Frauen und Kinder erste österreichische Frauenhaus wurde 1978 in Wien unterstützen, wenn sie von Gewalt betroffen bzw. eingerichtet, mittlerweile gibt es in ganz Österreich davon bedroht sind. In jedem Bundesland wurde eine 30 Frauenhäuser (19 unter dem Dachverband Verein Interventionsstelle bzw. ein Gewaltschutzzentrum Autonomer Österreichischer Frauenhäuser – AÖF). Ins- gegen Gewalt in der Familie (in manchen Bundeslän- gesamt 1.507 Frauen und 1.487 Kinder haben 2020 in dern gibt es auch Regionalstellen) eingerichtet. Diese den autonomen österreichischen Frauenhäusern Schutz Stellen müssen nach jedem Einsatz der Exekutive bei und Unterkunft gefunden. Gewalt in der Familie verständigt werden und nehmen www.aoef.at umgehend Kontakt mit den Betroffenen auf. Sie bieten rechtliche Beratung und psychosoziale Unterstützung Frauenhelpline: Seit 1998 gibt es eine österreich- sowie die Begleitung zu Gericht an. Wenn minder- weite 24-Stunden-Frauenhelpline bei Gewalt in der jährige Kinder in der Familie sind, erhält auch die Familie, die über die servicetelefonnummer 0800 Kinder- und Jugendhilfe eine Mitteilung der Exekutive 222 555 gratis für die Betroffenen sowie auch für über Gewaltvorfälle mit Betretungsverboten. Dieses Personen in ihrem Umfeld (Familienmitglieder, Konzept hat sich als zielführend erwiesen, denn das FreundInnen, ArbeitskollegInnen, NachbarInnen usw.) Gewaltschutzgesetz kann nur über die Präventions- jederzeit erreichbar und mittlerweile als effiziente arbeit der Interventionsstelle/Gewaltschutzzentren Hilfseinrichtung nicht mehr wegzudenken ist. effizient umgesetzt werden. Neben dem Schutz und der Unterstützung der Opfer leisten sie auch Täterarbeit. männerarBeit: Männerberatungsstellen und www.gewaltschutzzentrum.at Männerbüros18 gibt es mittlerweile in jedem Bundes- www.interventionsstelle-wien.at land. Mit ihrer klaren Positionierung „Männer sagen Nein zu Männergewalt“ leisten sie einen wichtigen Frauenhäuser: Eine unverzichtbare Opferschutzein- Beitrag zur Bewusstseinsbildung der Täter. Auch die richtung – die trotz des Gewaltschutzgesetzes immer seit 2020 eingerichteten Gewaltpräventionszentren, in noch nötig ist – sind die Frauenhäuser, die Zufluchts- denen Gefährder nach einer Wegweisung sechs Stun- möglichkeiten für misshandelte Frauen und ihre Kinder den Beratung in Anspruch nehmen müssen, stellen darstellen. In manchen Fällen ist es für die Frau sinn- die Reflexion über die eigene Gewalttätigkeit und die voller, die Wohnung (vorerst) zu verlassen – um etwa Verhinderung weiterer Gewalttaten in den Mittelpunkt sich und die Kinder vor einem besonders gefährlichen ihrer Arbeit. Misshandler in Sicherheit zu bringen – als ausschließ- www.maenner.at > Links > Männerarbeit in Österreich 2.10 europäischer Frauenrechtsschutz Umsetzung wird vom Frauenministerium überwacht. Im europäischen Kontext setzen sich u.a. der Europa- Artikel 10 der Istanbul-Konvention verpflichtet die Ver- rat und die EU mit Initiativen gegen Gewalt an Frau- tragsstaaten zur Einrichtung von zumindest einer offi- en ein. Seit August 2014 ist die Konvention zur ziellen Koordinierungsstelle. In Umsetzung dieser Ver- Verhütung und Bekämpfung von gewalt gegen pflichtung hat Österreich 2015 die „Nationale Koordinie- frauen und häusliche gewalt des Europarats, be- rungsstelle – Schutz von Frauen vor Gewalt“ sowie eine kannt unter dem Namen Istanbul-Konvention, in „Interministerielle Arbeitsgruppe – Schutz von Frauen Kraft. Sie gilt als Meilenstein für den Schutz von Frau- vor Gewalt“ eingerichtet: www.coordination-vaw.gv.at en vor Gewalt und sieht umfassende Standards für Prävention, Schutz, Strafverfolgung und staatliche Vorgeschichte, zentrale Inhalte und weiterführen- Leistungen für von Gewalt betroffene Frauen vor. Die de Informationen (Stand der Ratifikationen, Emp- Vertragsstaaten werden darin u.a. angehalten, Dienste fehlungen zur Umsetzung, Daten und Zahlen über wie Telefon-Hotlines, Notunterkünfte, medizinische Ver- häusliche Gewalt etc.) zur Istanbul-Konvention: sorgung, Beratung und Rechtshilfe einzurichten. Auch www.coordination-vaw.gv.at/istanbul-konvention Österreich hat die Istanbul-Konvention ratifiziert. Ihre www.coe.int/en/web/istanbul-convention 18 Arbeitsgemeinschaft der Männerberatungsstellen und Männerbüros in Österreich zum Zwecke des Erfahrungsaustausches, der Vernetzung und Entwick- lung der Männerarbeit in Österreich. polis aktuell 9/2021 11
Im Rahmen der Europäischen Union regelt eine Das Zusatzprotokoll aus dem Jahr 2000 sieht zwei In- Richtlinie das Verbot der sexuellen Belästigung am strumente des internationalen Rechtsschutzes vor, die Arbeitsplatz. Andere Formen der Gewalt an Frauen wer- Frauen auch in Österreich zu ihrem Recht verhelfen den derzeit noch nicht im Gemeinschaftsrecht geregelt. können: Die EU-Kommission und das Europäische Parlament ha- das Individualbeschwerdeverfahren und ben vielfältige Initiativen gegen Gewalt an Frauen ge- das Untersuchungsverfahren setzt, wie etwa die Einführung des DAPHNE Programms19 oder die Verabschiedung einer Resolution gegen Gewalt Österreichische Beschwerden an das an Frauen (Europäisches Parlament 2006). Der Vertrag CEDAW-Komitee: von Amsterdam (1999), der die Gleichstellung von Frau- Im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens haben en und Männern zu einem der Rahmenziele der EU-Poli- österreichische Nichtregierungsorganisationen im Jahr tik macht, ist ein Auftrag zur Eliminierung von Gewalt 2004 zwei Fälle beim CEDAW-Komitee eingebracht. In an Frauen, da Gewalt Frauen an der Erlangung der tat- den Fällen wurden zwei Frauen (Sahide G. und Fatma sächlichen Gleichstellung behindert. Dies gilt auch für Y.) von ihren Ehemännern getötet. Das CEDAW-Komitee die EU-Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter verurteilte Österreich und in der Entscheidung (2007) 2020-2025. wurde angeführt, dass die zuständigen Stellen (Poli- zei, Justiz, Staatsanwaltschaft) nicht mit angemessener 2.11 Vereinte Nationen Sorgfalt vorgegangen seien und nicht alles Notwendige Die UN-Frauenrechtskonvention (Convention on zur Verhinderung dieser Taten unternommen hätten. the Elimination of All Forms of Discrimination Das CEDAW-Komitee empfahl Österreich, zusätzliche Against Women – CEDAW) Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt zu im- Seit über vier Jahrzehnten setzt sich die UNO für den plementieren. Österreich hat darauf reagiert und eine Schutz von Frauen gegen Gewalt ein: 1979 wurde die Reihe von rechtlichen Schritten eingeleitet, um den UN-Frauenrechtskonvention als Meilenstein des Frau- Schutz vor Gewalt an Frauen zu verbessern. enrechtsschutzes verabschiedet. Die Ratifikation in Österreich erfolgte 1982. Die Frauenrechtskonvention > weiterlesen beinhaltet das Diskriminierungsverbot von Frauen auf der Grundlage ihres Geschlechts und Familienstands so- wie das Gleichberechtigungs-, Gleichbehandlungs-, und Frauenrechte. polis aktuell 2/2021 Gleichstellungsgebot mit Männern. Siehe vor allem das Kapitel „Die UN-Frauen- rechtskonvention – Magna Charta der Frauen- Das CEDAW-Komitee, das für die Überwachung der Um- rechte“, S. 9 ff. setzung der Konvention auf nationaler Ebene zuständig www.politik-lernen.at/pa_frauenrechte ist, hat mit sogenannten „Allgemeinen Empfehlungen“, besonders mit der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 (die Auf der Website der Wiener Interventionsstelle 2017 in Empfehlung 35 aktualisiert wurde), auf inter- gegen Gewalt in der Familie finden Sie mehrere nationaler Ebene entscheidend dazu beigetragen, dass Artikel zur CEDAW-Umsetzung, u.a. den Text von Gewalt gegen Frauen auch im privaten Kontext als Men- Rosa Logar Die UNO-Frauenrechtskonvention schenrechtsverletzung und als Diskriminierung im Sin- CEDAW als Instrument zur Bekämpfung der ne der Konvention anerkannt wurde. Aus diesem Grund Gewalt an Frauen: zwei Beispiele aus Öster- sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, mit „angemesse- reich. ner Sorgfalt“ vorzugehen, Gewalt in der Familie zu ver- www.interventionsstelle-wien.at/die-uno-frau- hindern und die Betroffenen zu schützen. enrechtskonvention-cedaw Auf der CEDAW-Website finden Sie umfassende Informationen zur Konvention, zum CEDAW- Komitee und zum Fakultativprotokoll (englisch). www.un.org/womenwatch/daw/cedaw 19 Finanzielle Mittel zur Bekämpfung von Gewalt an Kindern, Jugendlichen und Frauen. Das Programm wurde mehrfach verlängert (bis 2013). Seit 2021 werden Projekte gegen Gewalt an Frauen im Rahmen des „Citizens, Equality, Rights and Values Programme“ gefördert. 12 polis aktuell 9/2021
3 gewalt gegen KInDer 3.1 „wenn der papa die mama haut, „Ich habe immer daran gedacht, was mit triFFt er mich auch!“ meiner Mutti passiert, deswegen habe ich Kinder, die Gewalt miterleben, sind immer auch Opfer fast nie zugehört.“20 der Gewalt, als ZeugInnen der Gewalt an der Mutter oder direkt durch eigene Misshandlungen. Wenn Kinder mit- erleben müssen, wie ihre Mütter misshandelt werden, Kinder fallen im Unterricht durch Nervosität, Unkon- sind sie einem enormen Stress ausgesetzt und können zentriertheit und unsoziales Verhalten auf, die Konse- Traumatisierungen erleiden. Kinder sehen und hören quenzen sind Lernprobleme und schlechte Noten. Die z.B. Schläge und Schreie, hören Morddrohungen gegen Ursache wird aber oft nicht erkannt: Die meisten Kinder die Mutter und sie selbst und sehen die Verletzungen erzählen in der Schule nichts von ihren Gewalterfah- der Mutter. Bei dem Versuch der Kinder, der Mutter zu rungen zuhause. Die Schule erfährt so nichts von den Hilfe zu kommen – indem sie sich zwischen die Eltern Polizeieinsätzen oder Frauenhausaufenthalten, die die werfen, den Vater anflehen, aufzuhören, versuchen, bei Kinder erleben mussten, und das Verhalten der Kinder NachbarInnen oder der Polizei Hilfe zu holen – oder kann nicht richtig gedeutet werden. Wenn in Betracht ihre Geschwister zu schützen, werden sie oft selbst Op- gezogen wird, dass die Auffälligkeiten der Kinder ein fer von Misshandlungen. Die Interventionsstelle, Kin- nonverbaler Ausdruck ihrer Probleme sein können, kann derschutz- und Krisenzentren sowie die Kinder- und Schule ein erster Ort der Enttabuisierung der familiären Jugendhilfe sind Anlaufstellen für Kinder, die Gewalt Gewalt sein. Ins Vertrauen gezogene und entsprechend erleben. Jedoch weist die Statistik 2020 der Wiener sensibilisierte LehrerInnen können in solchen Fällen oft Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie aus, den ersten Schritt zur Aufdeckung der Gewalt machen dass von den insgesamt 6.199 Hilfesuchenden nur 755 und so den Kindern und ihren Müttern helfen. Kinder und Jugendliche waren. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass Kinder sich kaum selbst an die „die möwe“ Polizei wenden können, wenn sie misshandelt werden, Kinderschutzzentren für physisch, psychisch oder und dass das Umfeld noch nicht sensibilisiert ist. Sehen sexuell misshandelte Kinder – kostenlos und ano- sich Kinder als Ursache der Gewaltausbrüche, etwa weil nym erhalten junge Menschen in fünf Zentren in der Vater die Mutter für das Verhalten der Kinder verant- Wien und Niederösterreich Unterstützung. wortlich macht (ihr z.B. schlechte Noten der Kinder oder www.die-moewe.at von den Kindern gemachte Unordnung vorwirft), so ent- wickeln sie starke Schuldgefühle und sehen sich selbst als die „Bösen“, die an der Gewalt gegen die Mutter die 3.2 die „G’sunde watsch’n“ als Schuld tragen. Das Verhalten der Mutter, die in der Ge- erziehunGsmittel waltbeziehung lebt oder eine Trennung nicht endgültig Kinder und Jugendliche erleben neben indirekter Ge- schafft, vermittelt den Kindern ein starkes Gefühl der walt auch oft direkte Gewaltanwendungen und Miss- Hilf- und Ausweglosigkeit. Mitunter geben Frauen die handlungen, die teilweise leider noch immer Teil tra- erlittene Gewalt an ihre Kinder weiter und misshandeln ditioneller Erziehungsmethoden sind. Im Artikel 19 sie selbst. Als Folge der überwältigenden Gefühle von der UN-Kinderrechtskonvention wurde bereits 1989 das Angst und Hilflosigkeit können Symptome auftreten wie Recht auf gewaltfreie Erziehung international festge- z.B. Entwicklungs- und Konzentrationsstörungen, Un- schrieben. Weiters ist in der „Allgemeinen Bemerkung“ ruhe sowie ständige Angstgefühle, Rückzugstendenzen des Kinderrechtsausschusses Nr. 8 (2008)21 „das Recht und psychosomatische Probleme, um hier nur einige des Kindes auf Schutz vor körperlicher Bestrafung bzw. mögliche Auswirkungen zu nennen. Züchtigung“ festgehalten. In Österreich wurde das Ge- waltverbot 1989 gesetzlich verankert. Damit wurde der Einsatz der „g’sunden Watsch’n“ als legitimes Erzie- hungsmittel rechtlich verboten. 20 12-jähriges Kind im Gespräch mit einer Frauenhausmitarbeiterin; vgl. dazu Strasser, Philomena: Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder. Wien, 2001, S. 251. 21 www.crin.org/en/library/publications/crc-general-comment-corporal-punishment polis aktuell 9/2021 13
Das „Züchtigungsverbot“ ist in § 146 ABGB (Allge- die Weitergabe an die nächste Generation verhindert meines bürgerliches Gesetzbuch) ausdrücklich normiert: wird. Wird in einer Gewaltbeziehung hingegen die Frau vom Mann misshandelt, steigt die Gefahr, dass Kinder „Das minderjährige Kind hat die Anordnungen der vom Vater auch misshandelt werden, stark an. Auch die Eltern zu befolgen. Die Eltern haben bei ihren Anord- Wahrscheinlichkeit, dass die misshandelten Frauen die nungen und deren Durchsetzung auf Alter, Entwicklung Gewalt an ihre Kinder weitergeben und sie selbst zu Tä- und Persönlichkeit des Kindes Bedacht zu nehmen. Die terinnen werden, erhöht sich.24 Anwendung von Gewalt und die Zufügung körper- lichen und seelischen Leides sind unzulässig.“ Ist Kindesmisshandlung ein schicht-spezifisches Phänomen? Die 30 Jahre alte Definition von Kindesmisshandlung Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Berufschancen und von Pernhaupt/Czermak hat nach wie vor nichts von soziale Isolation sind Risikofaktoren, doch auch hier ihrer Aktualität und Gültigkeit verloren: gilt: Mittel- und Oberschichtfamilien versuchen eher, soziale Probleme nicht nach außen zu tragen, Interven- „Misshandlung im weitesten Sinn ist jede gewalttäti- tionen einer Behörde sind zum Großteil unerwünscht. ge oder unnötig einengende Handlung an Kindern oder Sie verfügen über andere Möglichkeiten, Gewaltfälle zu deren Vernachlässigung, als deren Folge Angst, seeli- verheimlichen und scheinen daher bedeutend weniger sches Leid und/oder körperliche Verletzung auftreten. in den Statistiken auf. Während ältere Studien familiäre Die Misshandlung muss keine sofort feststellbaren see- Gewalt noch als Problem der „Unterschicht“ dargestellt lischen oder körperlichen Spuren hinterlassen; die Aus- haben, ist heute mittlerweile unbestritten, dass das wirkungen einer Misshandlung können auch erst nach Phänomen der familiären Gewalt gegen Kinder in allen einer sehr langen Latenzzeit sichtbar werden.“22 sozialen Schichten anzutreffen ist.25 Im Folgenden sollen die verschiedenen Formen der 3.2.2 Psychische Gewalt: „Lass mich endlich Gewalt definiert und opfer- und täterInnenrelevante Da- in Ruhe!“ ten besprochen werden. Unter psychischer Misshandlung wird verstanden: Ängstigung durch Drohungen 3.2.1 Physische Gewalt: „Du tust mir weh!“ Entwürdigung und Demütigung durch Worte Unter körperlicher Gewalt versteht man ohrfeigen, tre- Ablehnung des Kindes, emotionale Erpressung und ten, drücken, festhalten usw. Zu schwerer körperlicher Terrorisieren von Kindern, Liebesentzug Gewalt zählen u.a. die „Tracht Prügel“ oder Schläge mit Isolieren und Negieren des Kindes, „Nichtsehen“ Gegenständen.23 Verletzung des Schamgefühls Die körperliche Vernachlässigung der Kinder ist Eine Gemeinsamkeit des Zufügens derartiger seeli- ebenfalls eine Form physischer Misshandlung und um- scher Verletzungen liegt darin, dass Erwachsene ihre fasst die Unterlassung von medizinischer Hilfe, von Si- Bedürfnisse an erste Stelle setzen und die Bedürfnisse cherheitsmaßnahmen (z.B. das Kind unbeaufsichtigt zu der Kinder, die es im Eltern-Kind-Verhältnis primär zu lassen) und die unzureichende Ernährung und Pflege. befriedigen gilt, nicht beachtet werden. Wird erlebte Gewalt weitergegeben? Gewalt ist nie ok! Informationen über häusliche Gewalterfahrungen in der Kindheit tragen laut zahlrei- Gewalt für Kinder und Jugendliche chen Studien dazu bei, dass Gewalt weitergegeben wird. Portal in deutscher, englischer und Erklärt wird dies u.a. dadurch, dass kulturelle Normen, türkischer Sprache. Enthält Videos welche die Anwendung von Gewalt billigen, weiter getra- mit Erfahrungsberichten, Hin- gen werden und gelernt wird, dass Gewalt als erfolgrei- weise auf Hilfsangebote und ches Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt Tipps, wie man Betroffene werden kann. Eine funktionierende partnerschaftliche unterstützen kann. Beziehung im Erwachsenenalter kann dazu beitragen, www.gewalt-ist-nie-ok.at dass eigene Gewalterfahrungen bewältigt werden und 22 Pernhaupt, Günter; Czermak, Hans: Die gesunde Ohrfeige macht krank. Wien, 1980, S. 86. 23 Siehe dazu auch: Familie – kein Platz für Gewalt!(?). 20 Jahre gesetzliches Gewaltverbot in Österreich. Wien, 2009, S. 88 f. 24 Gewaltbericht 2001, S. 144-145. 25 Haller et al.: Gewalt in der Familie. Graz, 1998; zit. nach Gewaltbericht 2001, S. 134. 14 polis aktuell 9/2021
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