Und es hat "Higgs" gemacht

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Und es hat "Higgs" gemacht
Und es hat „Higgs“ gemacht

   •   03. Januar 2013

Das waren die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2012 aus der Welt der höchsten
irdischen und kosmischen Energien.

Das vergangene Jahr hatte für alle Freunde energiereicher Prozesse einen vollen
Kessel Buntes zu bieten. Wie eine Supernova überstrahlte die Entdeckung des
Higgs-Bosons alle anderen Erkenntnisse. Aber auch jenseits des Scheinwerferlichts
der internationalen Medien wurde den Teilchen- und Astrophysikern im Jahr 2012
keineswegs langweilig. Sowohl die Neutrinoforscher in ihren unterirdischen
Laboratorien wie auch die Astronomen mit ihren Weltraumteleskopen konnten auf
ereignisreiche Monate zurückblicken.

2012 war auch ein Jahr der Jubiläen: Vor 100 Jahren entdeckte Victor Hess auf
wagemutigen Ballonflügen die kosmische Höhenstrahlung und bescherte damit
vielen heutigen Physikern ihren meist etwas bequemeren Arbeitsplatz. Das Neutron
wurde 80 Jahre alt. Und die Supernova 1987A, die das Zeitalter der Neutrino-
Forschung einläutete, kommt nunmehr auf ein Viertel Jahrhundert. Das Gamma-
Observatorium H.E.S.S. schaut seit mittlerweile zehn Jahren nach Tscherenkov-
Blitzen hochenergetischer kosmischer Strahlung in der Atmosphäre und weihte
diesen Sommer passenderweise gleich sein neues Großteleskop HESS-II ein.
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Abb.: Mit H.E.S.S. entdeckte Gammastrahlenquellen entlang der Milchstraße,
montiert in ein Foto des Nachthimmels über der H.E.S.S.-Site in Namibia. (Bild: F.
Acero / H. Gast (H.E.S.S.-Kollaboration))

Der Large Hadron Collider in Genf startete ins neue Jahr mit den höchsten Energien,
die je von Menschenhand auf einen Punkt gebracht wurde: Seit Ende März wurde
die Schwerpunktenergie von sieben auf acht Teraelektronenvolt erhöht. Damit war
die Jagdsaison auf das Higgs-Boson eröffnet. Aufgrund der hervorragenden
Leistungen des Teilchenbeschleunigers lief dieser auch ein Jahr länger als
ursprünglich geplant. Erst im Februar 2013 beginnt die rund anderthalbjährige
Umrüstphase, bei der die Anlage auf die geplante Schwerpunktenergie von 14 TeV
gebracht wird.

Die Suche nach dem Higgs wurde von Messungen am Fermilab befeuert. Schon im
März war den beiden Kollaboration CDF und DZero vom Tevatron-Beschleunigerring
die präziseste Bestimmung der W-Boson-Masse gelungen. Mit gut 80
Megaelektronenvolt ist es 85-fach schwerer als ein Proton. Dank dieser und anderer
Präzisionsmessungen konnten die Experten von Fermilab und CERN nun den
möglichen Massebereich für das Higgs-Boson immer besser eingrenzen. CERN-
Forschern war es auch gelungen, einen angeregten Zustand des Ξb*-Teilchens
nachzuweisen, das aus up-, strange- und bottom-Quark besteht und ungefähr die
Masse eines Lithium-Atoms besitzt. Angespornt von diesen Erfolgen bliesen die
LHC-Kollaborationen ATLAS und CMS zum Halali. Und es dauerte nicht mehr lange,
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bis die magischen Wert 5,0 Sigma und 126 Gigaelektronenvolt auf den Titelseiten
der Weltpresse prangten.

Noch kurz vor der wichtigsten Pressekonferenz des Wissenschaftsjahres 2012 war
der Generaldirektor des CERN Rolf-Dieter Heuer selber nicht sicher, was dort
schließlich verkündet werden sollte. Denn nachdem in der jüngeren Vergangenheit
so einiges an halbgaren Spekulationen von verschiedenen Laboren an die
sensationslüsternen Medien lanciert worden war, wollten die beteiligten
Wissenschaftler diesmal betont vorsichtig sein und einen der wichtigsten Tage in der
Geschichte der Teilchenphysik nicht durch vorlaute Verkündigungen verderben. Eine
rigide Informationspolitik und die möglichst nüchternen und exakt belegbaren
Aussagen unterstrichen die Bedeutung des Ereignisses genauso wie die
euphorische Stimmung im randvollen Auditorium.

Aber auch wenn ein Laie sagen würde, man hätte das Higgs-Boson nun endlich
gefunden, bleibt doch einiges an harter Analyse, bis man seine Eigenschaften genau
vermessen hat. Das Teilchen, das allen anderen Masse verleiht, wird in den
kommenden Jahren auch deshalb so intensiv wie möglich unter die Lupe genommen
werden, weil die Teilchenphysiker sich davon Hinweise auf neue Physik jenseits des
Standardmodells erwarten.

Warum die Teilchenphysiker so scharf auf mögliche neue Physik sind, liegt nicht nur
daran, dass sie schon rein aus ästhetischen Gründen mit der heutigen Theorie und
ihren vielen Parametern unzufrieden sind. Wenn etwa die Modelle der
Supersymmetrie tatsächlich richtig sein sollten, dann gäbe es zu jedem Fermion ein
schweres Partner-Boson und umgekehrt. Ein stabiles supersymmetrisches Teilchen
würde auch zur Erklärung für die Eigenschaften der Dunklen Materie taugen.

Drei Generationen Teilchen laufen rückwärts anders als vorwärts

Die irdische Teilchenphysik hatte 2012 neben dem Higgs aber auch noch einige
weitere spektakuläre Einsichten zu bieten. Die LHCb-Kollaboration fand deutliche
Hinweise auf eine starke CP-Verletzung beim Zerfall von D-Mesonen und D-
Und es hat "Higgs" gemacht
Antimesonen – möglicherweise stärker, als die schwache Wechselwirkung erlaubt.
Man hat in den Kaffeepausen das Wörtchen Supersymmetrie munkeln hören.
Die beiden wichtigsten Erkenntnisse neben der Entdeckung des Higgs lassen sich
aber kurz so zusammenfassen, dass es nur drei Generationen an Standardmodell-
Fermionen gibt und dass deren Uhren rückwärts anders ticken als vorwärts.

Die BaBar-Kollaboration konnte erstmals an B-Mesonen nachweisen, dass die
Zeitsymmetrie mit 14 Sigma verletzt ist. Bereits 1998 hatte das Experiment CPLEAR
mit immerhin 4 Sigma Signifikanz festgestellt, dass beim Zerfall von Kaonen die
Zeitsymmetrie nicht erhalten ist. Andere Analysen hatten schon auf eine T-
Verletzung hingewiesen. BaBar und CPLEAR konnten dies aber rein auf Basis des
Zeitvertauschungsoperators zeigen. Die neuen Ergebnisse sind sogar unabhängig
von gleichzeitiger CP-Verletzung. Eine Verletzung der Gesamt-Symmetrie CPT, die
auf Physik jenseits des Standardmodells hinweisen könnte, findet sich aber bei
beiden Experimenten nicht.

Abb.: Detektoren wie CMS liefern die Daten zu den nun untersuchten
Teilchenzerfällen. (Bild: KIT / M. Breig)

Ebenfalls kompatibel mit dem Standardmodell ist die Erkenntnis, dass jenseits der
drei Fermionen-Generationen (Elektron, Myon und Tau mit den assoziierten
Neutrinos, sowie up- und down-, charm- und strange-, top- und bottom-Quark) keine
weiteren Teilchen existieren. Aufgrund der Zerfälle des Higgs und einer umfassenden
Datenanalyse konnten Forscher dies mit über 5 Sigma ausschließen.
In Garching wurde der Teststand für Hochfrequenz-Ionenquellen ELISE eröffnet, um
künftig dem Fusionsreaktor ITER einzuheizen. Die Pläne für die italienische B-
Mesonenfabrik SuperB mussten allerdings begraben werden und könnten auf eine
abgespeckte Version hinlaufen.

Neutrino-
Neutrino-Nachrichten und Majorana-
                         Majorana-Teilchen

Noch tiefer unter der Erde als die Beschleunigerexperten sitzen die Neutrinoforscher,
um möglichst gut gegen die tief dringenden Myonen aus der kosmischen
Höhenstrahlung abgeschirmt zu sein. Sollten sie bei bestimmten Zerfällen den
extrem seltenen neutrinolosen Doppelbeta-Zerfall nachweisen können, dann würde
das bedeuten, dass Neutrinos sogenannte Majorana-Teilchen sind und kein
gewöhnlichen Fermionen. Majorana-Teilchen sind ihre eigenen Antiteilchen. Dies
ergibt sich aus speziellen Lösungen der Dirac-Gleichung, wie sie der 1938 unter
ungeklärten Umständen verschwundene Ettore Majorana herausgefunden hatte.
Beim neutrinolosen Doppelbeta-Zerfall könnten sich Neutrino und Antineutrino
gegenseitig annihilieren. Die Ergebnisse von Experimenten wie EXO-200 sind
bislang jedoch negativ.

Was in der Elementarteilchenphysik nicht geglückt war, gelang jedoch den Kollegen
aus der Festkörperphysik. In einem Nanodraht fanden Forscher Spuren bestimmter
Anregungen, die dieselben topologischen Eigenschaften haben wie Majorana-
Fermionen. Auch wenn es sich hier nicht um den Nachweis eines Teilchens, sondern
von Teilchenzuständen handelt, könnte dies doch dem Verständnis einer gänzlich
neuen Klasse von Phänomenen der Weg ebnen.

Neutrinoforscher konnten sich dieses Jahr dafür über eine Reihe anderer wichtiger
Erfolge freuen. Zunächst einmal überwiegte die Erleichterung, dass die gespenstisch
durchdringenden Teilchen sich doch nicht mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen,
sondern brav den Gesetzen der Relativitätstheorie gehorchen. Es gelang auch,
erstmals eine Nachricht mit Neutrinostrahlen zu übermitteln, auch wenn die
Datenrate noch ausbaufähig ist: Über zwei Stunden Zeit benötigten die
Wissenschaftler vom Fermilab, um dem 240 Meter weiter gelegenen Detektor
MINERvA das Codewort „Neutrino“ zu übermitteln.

Beim Rennen um die Bestimmung des Mischwinkels Theta-1-3 hatte die Daya-
Kollaboration in Südchina die Nase vorn. Dieser für die Neutrino-Oszillationen
fundamentale Parameter hat einen erfreulich großen Wert, was künftige Experimente
zum Verständnis der CP-Verletzung und des Unterschiedes zwischen Materie und
Antimaterie leichter gestalten wird. Die Ergebnisse konnten wenig später von der
südkoreanischen RENO-Kollaboration bestätigt werden. Beide Experimente messen
den Neutrinofluss in unterschiedlicher Entfernung von großen kommerziellen
Atomkraftwerken und können so die Stärke von Neutrinofluktuationen bestimmen.

Dunkle Materie weiterhin dunkel, Ruhe am Rand unseres Sonnensystems

Nach etwas unterschiedlich lautenden Meldungen deuten die jüngsten Messungen
doch darauf hin, dass sich in unserer Milchstraße und auch in der Umgebung
unseres Sonnensystem große Mengen an Dunkler Materie befinden. Noch ist
allerdings völlig unklar, woraus diese bestehen könnte. Die Suche nach WIMPs
(Weakly Interacting Massive Particles) ist bislang genauso ergebnislos wie die nach
dem neutrinolosen Doppelbeta-Zerfall. Die beteiligten Wissenschaftler können nur
obere Schranken angeben und warten noch auf den rauchenden Colt, der den
Startschuss für das Zeitalter nach dem Standardmodell gibt.
Abb.: Die Simulation der Milchstrasse in hoher Auflösung wurde als Test für die neue
Massen-Messtechnik verwendet. (Bild: UZH)

In Mainz plant das Exzellenzcluster PRISMA deshalb einen neuen
Teilchenbeschleuniger, der nicht nur nach dem dunklen Photon fanden soll. Er sorgt
auch dafür, dass im Umland nicht die Lichter ausgehen. Denn er wird erstmals ein
Verfahren der Energierückgewinnung einsetzen, das deutliche Einsparungen bei den
Energiekosten ermöglicht.

Etwas dunkler als in Mainz ist es am Rande unseres Sonnensystems, von wo die
Voyager-Raumsonden immer noch Daten senden. Erstaunen bereitete die
Erkenntnis, dass dort überraschende Schwankungen der kosmischen Strahlung
auftreten. Voyager-1 befindet sich also immer noch im Einflussbereich der Sonne
und nicht im interstellaren Raum. Unser Sonnensystem erzeugt aber wohl keine
Bugwelle, während es durchs All driftet. Für einen ordentlichen interstellaren
Überschnallknall sind wir leider ein bisschen zu langsam unterwegs.
Explosionen und Eruption in den Tiefen des Alls

Einen interessanten Fund machten Astronomen Anfang des Jahres, als sie Echos
der großen Eruption von Eta Carinae sahen. Die in den 1840er Jahren beobachteten
Ausbrüche spiegelten sich in weiter hinten liegenden Gaswolken und ließen mit über
100 Jahren Verzögerung eine Temperaturbestimmung der damaligen Eruptionen zu.
Die wegen ihrer konstanten Helligkeit auch als Standardkerzen bezeichneten
Supernovae vom Typ Ia stammen nicht nur aus einer, sondern wohl aus zwei
Quellen: Sie geschehen entweder beim Verschmelzen zweier Weißer Zwerge, die
sich zu nahe gekommen sind, oder dadurch, dass ein Weißer Zwerg so lange
Material von einem Begleitstern abzieht, bis er explodiert. Diese Erkenntnis
ermöglicht präzisere Entfernungsangaben bis in weiteste beobachtbare
Entfernungen.

Die beiden Magic-Teleskope wiesen die höchsten je bei einem Pulsar gemessenen
Gamma-Energien nach. Die beobachteten 400 Gigaelektronenvolt liegen 50-fach
über theoretisch erwarteten Werten und rufen nicht nur, sondern schreien geradezu
nach neuen Modellen.

Der Kohlenstoff-14-Anteil aus alten Baumringen wies darauf hin, dass das „Rote
Kruzifix“ am Sternenhimmel des Jahres 774 eine nahe Supernova gewesen sein
könnte. Im Mittelalter noch als böses Omen gedeutet, verbirgt sie sich heute wohl
hinter Staubschwaden.
Abb.: War eine Supernova in einem dichten Staubkokon für das „Rote Kruzifix“
verantwortlich? (Bild: NASA)

Erstmals konnte auch das Entstehungsgebiet eines Quasar-Jets räumlich aufgelöst
werden. Und ein supermassives Schwarzes Loch, das eigentlich ruhig und fest im
Zentrum seiner Galaxie sitzen sollte, wurde offensichtlich bei der Verschmelzung mit
einer anderen Galaxie durch Gravitationswellen extrem beschleunigt und aus der
Galaxie geschleudert. Auch wenn der direkte Nachweis von Gravitationswellen
weiterhin aussteht, ist das mehrere Millionen Stundenkilometer schnelle Schwarze
Loch ein deutliches Indiz für ihre Kraft. Ebenso verliert ein Doppelsystem aus Weißen
Zwergen so deutlich Energie durch Gravitationsstrahlung, dass man diesen Effekt mit
einer Armbanduhr messen kann.

Ein extrem seltener Riesenstern, ein sogenannter Gelber Hyperriese, machte über
die letzten Jahre eine überraschend schnelle und dramatische Entwicklung durch,
während der er in wenigen Jahren seinen Durchmesser beinahe halbierte und dafür
doppelt so heiß wurde.

Und gleich zwei ebenfalls extrem seltene Paar-Instabilitäts-Supernovae fanden in
den Tiefen des Alls statt. Nur bei sehr metallarmen Riesensternen aus der Frühzeit
des Kosmos sind diese gigantischen Sternexplosionen möglich, bei denen der
gesamte Stern rückstandslos in einer thermonuklearen Explosion hochgeht.
Unser eigenes Sonnensystem verdankt seine Existenz aber wohl nicht direkt einer
Supernova, sondern stammte aus Gaswolken, die ein Riesenstern
zusammengeschoben hatte, dessen Geburt aber wiederum von Supernova-
Explosionen in einer gigantischen Molekülwolke angestoßen wurde. So spektakulär
das Wissenschaftsjahr 2012 für alle Beteiligten auch war: Die Entstehung unseres
Sonnensystems ist – kosmologisch gesehen – eine ganz gewöhnliche coming-of-
age-Geschichte.

Dirk Eidemüller
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