Undankbarer Hund Jean-Jacques Rousseau

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Undankbarer Hund Jean-Jacques Rousseau
Jean-Jacques Rousseau                            Immanuel Kant
                                                 brachte den Begriff
Undankbarer Hund                                 1784 auf den Punkt:
                                                 «Aufklärung ist der
                                                 Ausgang des Men-
Ein ruheloser Geist, verklemmt, misstrau-        schen aus seiner
isch und voller wahnhafter Ängste gilt bis       selbst verschulde-
heute als Matador der Aufklärung. Die epo-       ten Unmündigkeit».
chale Leistung seiner couragierten Freunde       Wenn derzeit die
aus dem Kreis der Enzyklopädisten ist da-        Leistungen des
gegen fast vergessen.                            Aufklärungs-Philo-
                                                 sophen Jean-Jacques Rousseau zu seinem 300.
300 Jahre nach seiner Geburt am 12. Juni         Geburtstag in den höchsten Tönen gewürdigt
1712 feiert Genf seinen ebenso berühmten         werden, verschwimmt die präzise Definition
wie ungeliebten Sohn Jean-Jacques Rousse-        des Königsberger Professors zu einem schön-
au. Die Calvin-Stadt gedenkt des einst ver-      geistigen Rauschen. Die Menschen sollten sich
femten Autors aufrührerischer Schriften, von     von der Vernunft leiten lassen, nicht von Reli-
denen es heisst, sie bestimmten bis heute un-    gion und Aberglauben, hiess einer der Leitsät-
ser Verständnis von Politik und Gesellschaft.    ze, auf den sich die Aufklärer im Kreis der En-
                                                 zyklopädisten um Denis Diderot verständig-
Seinen nach der Französischen Revolution         ten. Das Individuum müsse sich der Fesseln der
gefestigten Ruf als Vernunft-Philosoph ver-      Tradition entledigen und sich von willkürlichen
dankt Rousseau posthum dem Zeitgeist, der        Machtansprüchen kirchlicher und weltlicher
keine radikalen und aufrührerischen Ansich-      Obrigkeiten befreien. Im Gegensatz zu seinem
ten mehr duldete, und der universellen Ver-      Freund Diderot, der diese Grundsätze in aller
wendbarkeit seiner romantischen Konzepte.        Konsequenz verteidigte, zog es Jean-Jacques
Bis heute beliebt ist seine Vorstellung vom      Rousseau vor, immer wieder Kompromisse zu
einfachen Landleben, das auf moralisch sau-      machen. Er verkrachte sich mit seinen Freun-
bere Weise Körper und Seele erquickt.            den, die ihm seine Eskapaden immer wieder
                                                 verziehen. Es gehört deshalb zu den Merkwür-
In Genf geboren und aufgewachsen im länd-        digkeiten der Philosophie-Geschichte, dass
lich-idyllischen Vorort Bossey, riss Jean-Jac-   nicht diejenigen, welche die Prinzipien der
ques mit 15 von zu Hause aus. Sein jähzorni-     Aufklärung kompromisslos vertreten haben,
ger Vater, der Uhrmacher Isaac Rousseau, hat-    für ihren Mut und ihre Standhaftigkeit bewun-
te ihn und seinen älteren Bruder allein aufge-   dert werden, sondern Rousseau, der aus Furcht
zogen, nachdem seine Frau Suzanne im             vor dem Jüngsten Gericht viele seiner Über-
Kindbett gestorben war.                          zeugungen preisgab. Seine geschmeidige An-
                                                 passung an das bourgeoise Mittelmass mach-
Jean-Jacques litt deswegen zeitlebens an         te seinen Erfolg nachhaltig. Gemässigte Auf-
Schuldgefühlen. Und seine Beziehungen zu         klärer wie Kant, Voltaire und Rousseau wollten
Frauen waren immer geprägt von der Sehn-         Vernunft und Rationalität auf die Wissen-
sucht nach der bergenden Mutter. Gleichzei-      schaften beschränken und das Volk nicht mit
tig war schon der träumerische Junge davon       Religionskritik erschrecken, wie es die radikale
überzeugt, etwas Besonderes zu sein. Es war      Fraktion für notwendig hielt.
sein Traum, in Frankreich auf einem Schloss
zu leben.                                        Den Freundeskreis der radikalen Aufklärer um Denis
                                                 Diderot, dem auch Jean-Jacques Rousseau eine Zeit
Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, wollte    lang angehörte, rettet Philipp Bloms sehr gut lesba-
                                                 res Buch aus der Vergessenheit.
er so schnell wie möglich katholisch werden.     Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris
Die aus Vevey stammende Baronin Françoise-       und das vergessene Erbe der Aufklärung. München
Louise de Warens half ihm dabei. Die junge       2010 (Hanser). 400 Seiten. € 24.90. Eine Taschen-
Frau war selbst konvertiert und lebte, ge-       buchausgabe erscheint 2013 bei dtv.
Undankbarer Hund Jean-Jacques Rousseau
!       !       !       !        !       !       !        Rousseau                                           2
trennt von ihrem protestantischen Gatten, in
Annecy.

Sie schickte Rousseau für ein paar Wochen
zur Unterweisung und zur Taufe in ein Kloster
nach Turin, das auf Konversionen spezialisiert
war. Nach seiner Rückkehr blieb er im Haus-
halt der attraktiven Mitdreissigerin. Es dauer-
te sechs Jahre bis «Maman», wie er sie nannte,
ihren verklemmten Toyboy endlich dazu
brachte, mit ihr ins Bett zu gehen: «Zum ers-
ten Mal sah ich mich in den Armen einer Frau,
und einer Frau, die ich anbetete. … Mir war,
als hätte ich Blutschande getrieben», erinner-
te er sich Jahrzehnte später in seinen «Be-
kenntnissen».

1740 vermittelte ihm «Maman» eine Stelle als
Hauslehrer beim hoch gebildeten Polizeichef
von Lyon, der gern Intellektuelle zu Tisch bat
und sich für die Ideen Voltaires und anderer
                                                          Umtriebiger Freigeist: Denis Diderot
Geistesgrössen begeisterte. Rousseau, 28 Jah-
re alt und weniger als halbgebildet, sass                 aufgrund von Büchern, sondern als Drama
schweigend dabei. Von Philosophie verstand                der handelnden Personen erzählt. In seinem
er nichts. Sein Interesse galt der Musik. Er              Buch «Böse Philosophen» beschreibt der Kul-
wollte ein berühmter Opernkomponist wer-                  turhistoriker Philipp Blom1, lebendig und mit
den.                                                      grosser Sachkenntnis wie sich ein Freundes-
                                                          kreis von jungen Intellektuellen um Denis Di-
Nachdem sein Vertrag nach einem Jahr nicht                derot (1713-1784) daran machte, die Welt zu
erneuert worden war, wagte er, selbstbe-                  verändern.
wusst den Sprung nach Paris. Doch dort war-
tete niemand auf ihn: Den in seinen Augen                 Der harte Kern der Truppe bestand aus den
genialen Vorschlag, die Musiknoten durch                  Autoren der «Encyclopédie ou Dictionnaire
Zahlen zu ersetzen, lehnte die Akademie der               Raisonné des Sciences, des Arts et des Mé-
Wissenschaften ab, und auch sein erstes The-              tiers». Das herkulische Vorhaben, den gesam-
aterstück «Narcisse» war ein Flop.                        ten Bestand des aktuellen Wissens in einem
                                                          vielbändigen Nachschlagewerk zusammen-
Die Bekanntschaft mit dem umtriebigen Frei-               zuführen, gab ihnen die Möglichkeit, ihre
geist Denis Diderot, die alsbald zu einer tiefen          fortschrittlichen Ansichten zu propagieren.
Freundschaft wurde, muss wie eine Erlösung                Ungewohnt, ja revolutionär war die Wert-
gewesen sein. Endlich hatte er einen Geistes-             schätzung, die darin den Handwerken zuteil
verwandten gefunden, ein Landei wie er,                   wurde. Sie zeigte, dass das gemeine Volk über
Handwerkersohn, fast gleich alt und bren-                 Fähigkeiten verfügte, von denen viele Adlige
nend an Kunst, Theater und Philosophie inte-              nur träumen konnten. Und die alphabetische
ressiert.                                                 Ordnung brachte nicht nur die gewohnten
                                                          Hierarchien durcheinander, sondern machte
Die Geschichte der Aufklärung ist voller Vol-             es der Zensur auch unheimlich schwer, den
ten und Verwicklungen, wenn man sie nicht                 Durchblick zu behalten.

1Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2010 (Han-
ser). Deutsche Übersetzung der Originalausgabe: A Wicked Company. The Forgotten Radicalism of the European
Enlightenment. New York 2010 (Basic Books)
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!         !       !       !      !       !       !       Rousseau                                      3
So mischte das durch und durch subversive                 moralische Vorstellungen nicht für alle und
Unternehmen konventionelles Wissen listig                 überall Geltung hatten, sondern vom zeitli-
mit progressiven Positionen. Ein Trick bestand            chen und gesellschaftlichen Kontext abhän-
darin, biblische Geschichten wörtlich zu                  gig waren.
nehmen, um sie ad absurdum zu führen. Der
Autor eines Artikels über die Arche Noah                  Damit nicht genug. Am Beispiel des verstor-
rechnete vor, dass das gigantische Rettungs-              benen blinden Physikers Nicholas Saunder-
boot 36’000 Tonnen Wasser und 47‘000 Ton-                 son denunzierte er die gängigen Gottesbe-
nen Heu mitführen musste, um 208 Stück                    weise als Unfug. «Wenn Sie wollen, dass ich
Vieh durchzufüttern. Auch die Exkremente                  an Gott glaube», zitierte er den fiktiven Dia-
waren ein Thema, zumal ausser Noah nur                    log des Wissenschafters mit einem Trost
noch seine zwei Söhne beim Misten zur Ver-                spendenden Priester, «dann muss ich ihn be-
fügung standen.                                           rühren können.»

«Die Encyclopédie», resümiert Philipp Blom                Am 24. Juli 1749 wurde Denis Diderot zu Hau-
etwas pompös die Stossrichtung, «war das                  se verhaftet und in der Festung Vincennes
intellektuelle Äquivalent einer Belagerungs-              eingesperrt. Der Priester seiner Gemeinde
maschine, deren Fuktion es war, das Funda-                hatte ihn als Autor der anonym publizierten
ment ihrer Zeit zu erschüttern.» Dass er 25               Schrift «Lettre sur les aveugles à l’usage de
Jahre seines Lebens für das epochale Werk                 ceux qui voient» als Blasphemiker ange-
einsetzen würde, wusste Diderot nicht, als er             schwärzt.
damit begann. Aber es war ihm von Anfang
an klar, dass er damit eine «Delle ins Univer-            Erst nach mehreren Wochen Einzelhaft wurde
sum machen» wollte.2                                      ihm gestattet, Besucher zu empfangen. Am
                                                          häufigsten kam Jean-Jacques Rosseau, der
Um ganz gross herauszukommen, fehlte dem                  nach einem erfolglosen Abstecher als Diplo-
unbekannten Denis allerdings ein allgemein                mat in Venedig und einer Episode als Privat-
anerkannter Leistungsnachweis. Seine Verle-               sekretär einer weiteren reichen «Maman» in
ger, die mehr ans Marketing der neuen Buch-               Paris einen neuen Anlauf nahm. Er lebte von
reihe dachten als an den Inhalt, hatten ihm               Gelegenheitsarbeiten als Notenkopist und
als Herausgeber den jüngeren Mathematiker                 arbeitete weiter an seiner grossen Karriere.
Jean-Baptiste d’Alembert zur Seite gestellt,
der als Mitglied der Akademie der Wissen-                 Der gefangene Diderot half ihm dabei, zu-
schaften brillieren konnte.                               nächst ohne es zu merken. Bei einem Besuch
                                                          in Vincennes berichtete Rousseau von einem
Diderot brauchte also ein eigenes Profil; er              Essay-Wettbewerb, an dem er sich beteiligen
wollte als Autor Aufsehen erregen. Wie da-                wollte. Es ging darum, Vorschläge zu machen,
mals üblich, nahm er eine Alltagssensation                wie Künste und Wissenschaften dazu beitra-
zum Anlass, um daraus seine nonkonformen                  gen konnten, die Menschheit vorwärts zu
Ansichten zu entwickeln. Das Buch handelte                bringen. Um zu reüssieren, schlug Diderot
von einem blind geborenen Mädchen, das                    vor, müsse er das Thema gegen den Strich
durch eine Operation sehend geworden war.                 bürsten. Rousseau sollte nicht die zivilisatori-
Wie würde es auf die Welt reagieren, die es               schen Errungenschaften loben, sondern ihre
bisher bloss auf «blinde Weise» hatte wahr-               Schattenseiten hervorheben.
nehmen können? Es gab viele Dinge, über-
legte er, die für Blinde ein ganz anderes Ge-             Rousseau folgte dem Rat und gewann mit
wicht hatten als für Sehende. Was für diese               seinem «Discours sur les sciences et les arts»
ein öffentliches Ärgernis darstellte – etwa un-            den Wettbewerb und damit das lang ersehn-
sittliche Kleidung oder Nacktheit – spielte für           te Renommee als origineller Kopf, der nicht
jene keine Rolle. Diderot schloss daraus, dass            davor zurück schreckte, gewagte Thesen zu

2   Apple-Gründer Steve Jobs umschrieb so seine und seiner Mitarbeiter historische Mission.
Undankbarer Hund Jean-Jacques Rousseau
!      !      !       !      !       !      !     Rousseau                                    4
vertreten. Denn es war für die Leser des Trak-
tats offensichtlich, dass sich der Autor über
eine Gesellschaft mokierte, die sich, nicht zu-
letzt wegen ihres christlichen Glaubens, als
Krone der Schöpfung empfand.

Noch bevor die aufmüpfige Schrift des Gen-
fers gedruckt war, gelang es den Verlegern
der «Encyclopédie», Diderot aus dem Knast
zu befreien. Ihr schlagendes Argument: Das
Nachschlagewerk sichere tausend französi-
sche Arbeitsplätze und sei auf seinen Heraus-
geber angewiesen.

Als Gegenleistung musste Diderot ein Doku-
ment unterzeichnen, in dem er versprach, nie
wieder gotteslästerliche Schriften zu verfas-
sen oder drucken zu lassen. Der Brief verfehl-
te seine lähmende Wirkung nicht. Diderot war
vernünftig genug, nie ein grosses philosophi-     Voller Tatendrang: Thiry d’Holbach
sches Werk zu schreiben. Es hätte ihn unwei-
gerlich in akute Lebensgefahr gebracht.           tiger war der protestantisch-freie Geist der
                                                  unter Professoren und Studenten herrschte.
Gleichwohl trug ihm die Gefängnis-Episode
die Anerkennung seiner Freunde ein. Sie fei-      Besonders fasziniert war Holbach vom Mut
erten ihn als Märtyrer, der für seine Überzeu-    des bretonischen Arztes und Philosophen Ju-
gung zu leiden bereit war. Sogar Voltaire, der    lien Offray de La Mettrie (1709-1751), der sich
intellektuelle Vorreiter der Aufklärung,          wegen seiner nonkonformen Ansichten stän-
schrieb ihm einen aufmunternden Brief, in         dig auf der Flucht befand. Namentlich seine
dem er ihn mit Sokrates verglich.                 Vorstellung, dass der Mensch eine biologi-
                                                  sche Maschine war und sich nur graduell von
Im Jahr 1751 – Diderot war 38 – erschien der      Tieren und Pflanzen unterschied, galt als ge-
erste Band der «Encyclopédie», der ganz dem       fährliche Blasphemie. Er war überzeugt, dass
Buchstaben A gewidmet war. Und wenig spä-         auf nichts Verlass sei ausser auf die eigene
ter verkündeten die Herausgeber, dass es ih-      Wahrnehmung. Glück und Lust, fand er, seien
nen gelungen sei, einen Mann als Autor zu         allen zugänglich, egal ob sie ein tugendhaftes
verpflichten, der ausgezeichnete Kenntnisse       oder ein schandbares Leben führten. Glück-
der Mineralogie, Metallurgie und Physik mit-      lich seien alle, die ihr Leben lustvoll lebten.
bringe und deutscher Muttersprache sei: Ba-
ron Paul Henri Thiry d’Holbach (1723-1789).       Als er 1748 nach Paris zurück kehrte, war Hol-
                                                  bach voller Tatendrang. Er wollte sein Wissen
Holbach stammte aus der Pfalz, war aber           und seine Überzeugungen nutzbar machen,
1728, mit fünf Jahren, von seinem reichen Pa-     wohl wissend, dass er als Autor kein Spitzen-
riser Onkel Franz Adam d’Holbach adoptiert        talent war. Er brauchte Menschen um sich, die
und erzogen worden. Als 21-jähriger ging          seinen Geist anregten und bereit waren, ge-
Holbach an die Universität Leiden, eine der       meinsam die Welt zu bewegen.
führenden Hochschulen Europas, damals weit
berühmter als Oxford oder Cambridge. Vor          Weil ihm die Debatten in den Akademien zu
allem die Naturwissenschafter, die sich auf       steif und papieren erschienen und die Kon-
umfangreiche Sammlungen von Pflanzen,             versationen in den Salons der Damen der Ge-
Mineralien und exotischen Tieren stützten         sellschaft zu oberflächlich, richtete er, zu-
konnten, waren hoch angesehen. Noch wich-         sammen mit seiner Frau, einen eigenen
Undankbarer Hund Jean-Jacques Rousseau
!      !      !       !      !      !       !     Rousseau                                     5
glanzvollen Salon ein. Sonntags und don-
nerstags bat er herausragende Wissenschaft-
ler und Philosophen in seinem Haus in der
Rue Royale zu Tisch.

Der Kreis der Eingeladenen reichte über die
Autoren der Encyclopédie hinaus. Seine
Dîners mit auserlesenen Speisen und besten
Weinen waren bald legendär. Im Laufe der
Jahre gab sich alles, was in progressiven Mi-
lieus Europas Rang und Namen hatte, die Eh-
re.

Kaum ein Gast wurde so wichtig für Holbach
– und im negativen Sinn für Rousseau – wie
der aus Regensburg stammende Literat und
«diplomatische entrepreneur» (Philipp Blom)
Friedrich Melchior Grimm (1723-1807). Er
schrieb für die Encyclopédie und redigierte
seine eigene «Correspondance littéraire», in      Gepuderter Dandy: Friedrich Melchior Grimm
der er das intellektuelle Treiben in Paris be-
schrieb.                                          In Wirklichkeit waren weder Grimm noch Di-
                                                  derot Kinder von Traurigkeit, was Frauen an-
Seinen Newsletter, den er für teures Geld an      ging. Diderots zahlreiche Liebschaften waren
Meinungsführer in ganz Europa vertrieb, liess     notorisch; ausserdem war er als Verfasser von
er von Hand abschreiben, um die Zensur zu         zwei deftigen erotischen Romanen bekannt.
umgehen. Wie eine Spinne sass Grimm zu-           Und Grimm pflegte eine leidenschaftliche Be-
dem im Zentrum seines privaten Bezie-             ziehung zu Louise d’Épinay, einer hoch intel-
hungsgeflechts, das Diderot, Rousseau und         ligenten, selbstbewussten Frau, die sich dem
seine Geliebte, die freizügige und vielfach       Kreis um Holbach zurechnen durfte, obwohl
umschwärmte Marquise Louise Lalive d’Épi-         sie nie an der Tafelrunde teilnahm.
nay (1726-1783), umfasste.
                                                  Zwischen Diderot und Rousseau war es schon
Grimm, der mit Louise d’Épinay zusammen           1752 zu einer ersten ernsten Verstimmung
lebte, und Diderot, der unter einer unglückli-    gekommen, nachdem der Genfer mit seiner
che Ehe litt, wurden so dicke Freunde, dass       Oper «Der Dorfwahrsager» brilliert hatte. Der
alsbald das Gerücht aufkam, sie pflegten eine     König veranlasste die Aufführung des Stücks
homosexuelle Beziehung. Rousseau, von Lou-        und lud ihn zur Audienz nach Fontainebleau
ise bewundert, tat alles, um dem Verdacht         ein, um ihm eine lebenslange Pension auszu-
Nahrung zu geben. In seinen «Confessions»         richten.
behauptete er später sogar, Grimm habe
auch ihm Avancen gemacht.                         Rousseau, welcher der Première in einem be-
                                                  sonders schäbigen Tenue beigewohnt hatte,
Rousseau, der mit der ehemaligen Wäscherin        weigerte sich, die Einladung anzunehmen. Er
Thérèse Levasseur liiert war, urteilte über in-   sei zu schüchtern, behauptete er, während
time Beziehungen streng. Seine verklemmte         ihn seine Freunde anflehten, an Thérèse und
Phantasie störte seine Wahrnehmung. Und in        ihre alte Mutter zu denken, die von einem ge-
diesem Fall, war er zudem zweifellos eifer-       regelten Einkommen in erster Linie profitie-
süchtig. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass      ren würden.
sein Freund Diderot an einem gepuderten
deutschen Dandy offensichtlich den Narren          Diderot war besonders empört über den un-
gefressen hatte.                                  vernünftigen Egotrip seines Freundes. Aber
Undankbarer Hund Jean-Jacques Rousseau
!          !       !       !       !       !        !       Rousseau                                      6
Rousseau blieb stur und zog beleidigt ab. Mit
dem Vorfall begann der Rückzug Rousseaus
aus dem Kreis um Diderot. Als berühmter
Opernkomponist, glaubte er, konnte er ohne
seine Freunde aus Holbachs Salon auskom-
men. Typisch für ihn, wie er die Sache inter-
pretierte: Nicht er habe den Rückzug angetre-
ten. Vielmehr sei er hinausgeekelt worden.
«Sobald ich bei dem Baron erschien», heisst
es in den «Bekenntnissen», «hörte das Ge-
spräch auf, allgemein zu sein. Man vereinigte
sich in kleinen Gruppen, man flüsterte sich ins
Ohr, und ich blieb allein, ohne zu wissen, mit
wem ich sprechen konnte.»

Die Verstimmung wuchs, als sich Grimm in
seiner «Correspondance» darüber mokierte,
dass Rousseau eine Polemik gegen die fran-
zösische Musik angezettelt und das Französi-
sche als «unsingbar» bezeichnet hatte. Für
einen Mann, der gerade mit einer französi-                   Selbstbewusste Freundin: Louise d’Épinay
schen Oper Furore gemacht habe, sei eine
solche Haltung höchst merkwürdig, fand                       1755 war Rousseau zurück in Paris, wo er
Grimm. Einige beleidigte Musiker der Pariser                 frustriert feststellte, dass seine Freunde ganz
Oper hängten darauf in aller Öffentlichkeit                   gut ohne ihn ausgekommen waren. Dass er
eine lebensgrosse Rousseau-Puppe auf, um                     zum zweiten Mal seinen Glauben gewechselt
ihre Verachtung zu dokumentieren.                            hatte, sorgte für Kopfschütteln; die meisten
                                                             hatten sich längst von der Religion losgesagt.
Dergestalt gekränkt, zog sich Rousseau nach
und nach aus der Stadt zurück. Zuerst blieb er               Als ihm Louise d’Épinay ein kleines Haus auf
Holbachs Salon fern und holte sich seine nar-                ihrem weitläufigen Anwesen als Quartier of-
zisstische Gratifikation im Salon der ehemali-               ferierte, nahm er das grosszügige Angebot
gen Schauspielerin Jeanne-Françoise Qui-                     sofort an und zog mit seiner ganzen Ménage
nault. Und als er das Gefühl hatte, man wisse                aufs Land. Seinen Rückzug empfanden die
ihn auch dort zu wenig zu schätzen, machte                   einstigen Verbündeten der Holbachschen Ta-
er sich auf den Weg zurück nach Genf. Dort, in               felrunde «als eine scharfe Zurückweisung von
seiner sittenstrengen Heimat, glaubte er,                    allem, wofür sie standen und kämpften», fasst
würde man seinen Ekel vor dem frivolen Trei-                 Philipp Blom zusammen.
ben verstehen, das Paris regierte.
                                                             Aber es sollte noch schlimmer kommen –
Nach einem Abstecher zu seiner einstigen                     auch weil sich die Ansichten Holbachs, Dide-
Gönnerin «Maman» de Warens, zog er in Genf                   rots und anderer Denker in den folgenden
ein und konvertierte sogleich zurück zum                     Jahren radikalisierten. So publizierte Thiry
Calvinismus. Doch der Versuch, auf diese Wei-                d’Holbach 1761 – unter dem Pseudonym «par
se wieder Wurzeln zu schlagen, misslang                      feu M. Boulanger»3 – «Le christianisme de-
grandios. Sein Ruf war nicht bis an den Léman                voilé», eine Abrechnung mit der Religion. Das
gedrungen; die bornierten Patrizier ignorier-                unverhohlen atheistische Manifest wurde von
ten ihn. Die Stelle eines Bibliothekars, die                 der Polizei, wo immer möglich, beschlag-
man ihm anbot, lehnte er als unter seiner                    nahmt und theatralisch vom Henker öffent-
Würde ab.                                                    lich verbrannt.

3   «Von Herrn Boulanger selig». In der Folge nannte man Holbachs Salon scherzhaft auch «Boulangerie»
!      !      !       !      !      !       !     Rousseau                                    7
Diderot hatte schon Mitte der vierziger Jahre     in winzigsten Einzelheiten immer wieder be-
in seiner Schrift «Promenade du scéptique»        stätigte. Zum Beispiel die groteske Affäre um
Stellung bezogen. Wie er selbst baute auch        den eitlen Abbé Petit, der 1755 nach langem
Holbach am Gedankengebäude weiter, das            Drängen zur Holbachschen Tafelrunde vorge-
der Holländer Baruch Spinoza (1632-1677)          lassen wurde, um ihr ein (grauenhaft schlech-
fast 100 Jahre vor ihnen entworfen hatte. Zi-     tes) Drama vorzutragen. Der Abend endete
tieren mochte den radikalen Materialisten         im Desaster, weil sich die Freunde taktvoll zu-
wohlweislich keiner der beiden. Denn die          rückhielten, um den Spass, wie Zuschauer ei-
Schriften des mutigen, aus einer jüdisch-por-     ner heutigen Supertalent-Schau im Fernse-
tugiesischen Familie stammenden Linsenma-         hen, schadenfreudig zu geniessen. Nur Rous-
chers aus Amsterdam waren nach wie vor            seau hielt nicht Stand. Er riss dem Möchte-
streng verboten.                                  gern-Shakespeare das Manuskript aus der
                                                  Hand und beschimpfte ihn als Dummkopf,
Auch eine zweite Quelle der Unbotmässigkeit       der nicht merkte, wie sich alle im Raum über
durfte keinesfalls genannt werden: das            ihn lustig machten. Der Abbé rastete aus und
«Testament» des Priesters Jean Meslier (1664-     ging auf seinen Beleidiger los; die Streithähne
1729). Niemand hatte je so radikal mit seiner     mussten brachial getrennt werden, worauf
Religion abgerechnet wie der brave Pfarrer        Rousseau wutentbrannt weglief.
aus dem Ardennen-Dorf Étrépigny. Sein pro-
vokantes Pamphlet zirkulierte in Abschriften      Diderot tat alles, um seinen tief gekränkten
im literarischen Untergrund der Metropole.        Freund zu versöhnen. Er lud ihn ein, ihn zu
Und jeder, der es bei sich aufbewahrte, wuss-     besuchen; sie könnten gemeinsam Manu-
te, dass er sich in Lebensgefahr befand.          skripte redigieren. Rousseau gab zurück, er
                                                  werde die Stadt nicht mehr betreten. Denis
«Wisset, meine Freunde, dass alles, dass jeder    könne ihn in seine Klause kommen, um sich
Kult und alle Verehrung von Göttern nichts ist    zu entschuldigen. Als Herausgeber der «Ency-
als Irrtum, Missbrauch, Illusion, Lüge und Be-    clopédie» sei er so beschäftigt, dass er sich
trug», rief Meslier den Nachgeborenen zu,         den 15-Kilometer-Marsch zeitlich nicht leisten
«dass all die Gesetze und Bestimmungen, die       könne, gab Diderot zurück, und für eine Kut-
im Namen Gottes oder anderer Götter veröf-        sche fehle ihm das Geld. Als ihn Rousseau da-
fentlicht werden, nur menschliche Erfindun-       rauf an seine eigenen Märsche nach Vincen-
gen sind, genau wie die schönen Spektakel         nes erinnerte, wiederholte Diderot seine Ein-
und Feste und Opfer und alle anderen Bräu-        ladung, für einige Tage sein persönlicher Gast
che zu seinen Ehren.»                             zu sein. Erst als Rousseau weiter stur blieb,
                                                  griff Diderot zum Zweihänder, indem er sich
Es war ausgerechnet Voltaire, der das Un-         scheinheilig darüber ausliess, wie sehr er sich
denkbare wagte und 1761 Jean Mesliers Ver-        gefreut habe, dass Jean-Jacques sein neues
mächtnis in gedruckter Form publizierte. Wie      Stück «Le fils naturel» gefallen habe. Das Ge-
sich aber herausstellte, hatte der begüterte      genteil war der Fall. Rousseau war keineswegs
Schlossherr im fernen Ferney den Text zuvor       amüsiert. Denn es trat darin ein tugendhafter
nicht nur gestrafft, sondern ihn auch syste-       Philosoph auf, dem die Hauptfigur an den
matisch purgiert. Es fehlten alle atheistischen   Kopf wirft, dass «nur böse Menschen allein
und sozialrevolutionären Stellen. Das Chris-      leben».
tentum blieb unbefleckt, die Privilegien des
Adels unberührt. Voltaire wusste genau, wo-       Von da an lehnte Rousseau alle Vorschläge zu
her sein Reichtum kam!                            einem Treffen konsequent ab. Diderot gab
                                                  aber nicht auf und kündigte an, bald vorbei-
Rousseau, weit weniger berechnend als Volt-       zukommen. Darauf schaltete sich Louise
aire, dachte ganz ähnlich. Seine Freunde          d’Épinay ein und teilte mit, dass es keine gute
wurden immer radikaler und seine Ängste           Idee sei, worauf Denis schrieb: «Oh!, Rousse-
immer grösser. Dazu kam eine menschliche          au. Du wirst böse, ungerecht, grausam, wild,
Entfremdung, die ihm seine Aussenseiterrolle      und ich weine vor Schmerzen … »
!      !       !      !       !      !       !      Rousseau                                    8
Rousseau schottete sich ab und suchte Trost         au schoss sich seinerseits auf Grimm ein, den
in der, seiner Ansicht nach, keuschen und un-       er der Lüge und der Manipulation und– am
verdorbenen Natur. Er war zudem frisch ver-         schlimmsten – der Homosexualität bezichtig-
liebt – auf Distanz, wie gewöhnlich. Seine          te. Er war so blind, dass er die Gelegenheit
Angebetete war die Comtesse Sophie d’Hou-           verpasste, sich seine Wohltäterin wieder ge-
detot, die Schwägerin seiner Gastgeberin. Er        wogen zu machen.
schrieb ihr schwärmerische Billets und fand
die elegante Amazone in ihren Reithosen mit         Louise d’Épinay litt im Oktober 1757 an einer
der Peitsche einfach unwiderstehlich.               hartnäckigen Erkrankung ihrer Atemwege.
                                                    Sie hoffte, ein berühmter Genfer Arzt könnte
Seine Lebenspartnerin Thérèse blieb aussen          sie kurieren. Da ihr Freund Grimm unab-
vor. Sie hatte ihm fünf Kinder geboren, die         kömmlich war, bat sie Rousseau, sie zu beglei-
alle gleich nach der Geburt ins Findelhaus          ten. Doch der lehnte es ab, als Reisemarschall
kamen. Seine Profession gestattete keine Ab-        zu dienen. Diderot schrieb ihm, er solle daran
lenkung durch Kindergeschrei. Er war tatsäch-       denken, was er Louise alles verdanke. Ohne
lich sehr produktiv in der Zeit. Zwischen 1756      Erfolg. «Was hat Madame d’Épinay für mich
und 1759 schrieb er seine drei populären            getan? … sie hat ein kleines Haus bauen las-
Hauptwerke, den Erziehungsroman «Émile»,            sen und mich überredet, dort zu wohnen»,
sowie «Julie ou la Nouvelle Héloïse» und auch       schrieb er an Grimm. «Was habe ich selbst für
«Du contrat social».                                Madame d’Épinay getan?», fragte er. «Zu ei-
                                                    nem Zeitpunkt, an dem ich vorhatte, in die
So sehr sein Renommee als wegweisender              Stadt meiner Geburt zurückzukehren,… setz-
Denker wuchs, so bescheiden blieb sein per-         te sie Himmel und Erde in Bewegung, um
sönliches Glück. Da der Liebhaber seiner An-        mich hier zu behalten. …» Seine Zeit als Gast
gebeteten im Kriegsdienst war, intensivierte        der Marquise nannte er «zwei Jahre Sklave-
er seine Avancen. Aber die junge Frau nahm          rei».
ihn nicht zur Kenntnis. Seine Not war so gross,
dass er eine Einladung Diderots annahm, um          Louise d’Épinay bewahrte Haltung und reiste
mit ihm eine Lösung zu suchen. Denis riet           allein an den Léman. In ihrem Abschiedsbrief
ihm dringend, dem Marquis de Saint-Lam-             schrieb sie: «Es ist nicht normal, sein Leben
bert, Sophies Liebhaber, seine Lage offen zu         damit zu verbringen, die eigenen Freunde zu
schildern, bevor ihn der Klatsch erreichte.         verdächtigen und zu verletzen.» Rousseau
Nach seiner Rückkehr griff Rousseau wirklich         blieb auf dem Kriegspfad. Die Bande von
zur Feder. Statt ihn aber zu bitten, Sophie frei    Heuchlern, die einmal seine Freunde gewe-
zu geben, beklagte er sich beim Marquis über        sen waren, sollten es nicht weiter wagen, hin-
ihre Kälte und forderte ihn auf, sich bei ihr für   ter seinem Rücken zu intrigieren, sonst würde
ihn einzusetzen.                                    er sie frontal angreifen.

Wenig später ging es zu wie in einem Toll-          Er lehnte ihren Atheismus ab mit dem für ihn
haus: Weil er glaubte, Rousseau sei seinem          typischen Argument, dass er in diesem Leben
Rat gefolgt, machte Diderot gegenüber ei-           zu viel gelitten habe, um nicht anderes erwar-
nem Bekannten über dessen unglückliche              ten zu dürfen. Im «Émile» liess er einen Pries-
Liebe eine beiläufige Bemerkung. Als Rousse-        ter auftreten, der gesteht, früher einmal auf
au den Verräter suchte, verfiel er auf seine        die Philosophie vertraut habe. Es sei ihm aber
Gastgeberin Louise d’Épinay und beschuldig-         klar geworden, dass radikale Skepsis den
te sie, neidisch auf sein Glück zu sein.            menschlichen Geist überfordere. Und die Phi-
                                                    losophen hätten ihm nichts bieten können. Es
Grimm, der ebenfalls im Dienst war, warnte          herrsche nur Streit unter ihnen. Und sie
sie: «Du weisst, wie gefährlich Wahnsinnige         machten sich über einander lustig.
sind.» Und er erinnerte sie daran, dass sie
Rousseau «aus falsch verstandenem Mittleid»         1757 packte er die erste Gelegenheit, sich am
immer alles habe durchgehen lassen. Rousse-         stets besonnenen Diderot zu rächen, der ge-
!      !      !       !      !      !       !     Rousseau                                       9
rade sein Stück «Le fils naturel» in einem pri-
vaten Theater aufgeführt sah. Das allzu the-
senlastige Stück wurde ein Misserfolg –
Grund genug für einen Rundumschlag Rouss-
seaus in Form eines Briefes an d’Alembert.
Theater, begann er scheinheilig, sei als Unter-
haltungsform ungeeignet. Diderots Überzeu-
gung, dass das Theater eine moralische An-
stalt sei, nannte Rousseau naiv. Wer für die
Bühne schreibe, verführe zur Unmoral.

Dass er ausgerechnet den Mathematiker d’A-
lembert als Zielscheibe wählte, machte Sinn.
Denn der Mathematiker, von keinerlei politi-
schem Gespür beleckt, hatte in seinem Artikel
über Genf in der «Encyclopédie» kein Fett-
näpfchen ausgelassen. Angestiftet von Voltai-
re, mokierte sich d’Alembert über die Genfer
Kirchenmusik, über das Theaaterverbot der
sittenstrengen Calvinisten und überhaupt
über deren Konfession , die keiner Logik folg-
te.
                                                  Quelle der Ketzerei: Claude-Adrien Hélvetius
Der Sturm der Entrüstung tobte so heftig,         diesmal ein Buch aus, das von der Zensur zum
dass die ganze «Encyclopédie» in Gefahr ge-       Druck freigegeben worden war. Verfasser war
riet. Angeführt vom Pariser Generalstaatsan-      der allseits geschätzte, elegante Claude-Adri-
walt» sollte den Ketzern das Handwerk gelegt      en Hélvetius. Als Steuerpächter pflegte er ei-
und das Nachschlagewerk verboten werden.          ne grosse Nähe zum Hof, was ihn scheinbar
Die Jesuiten unterstützten die Kampagne, um       unangreifbar machte. Unweit des Holbach-
das Werk selbst weiter zu führen. Beide Lager     schen Hauses lud er jeweils dienstags in sei-
waren sich einig, Diderot zu vernichten.          nen Salon ein, der als zweites Hauptquartier
                                                  der Progressiven galt und auch wegen der
Voltaire beobachtete aus der Ferne amüsiert       schönen Gastgeberin Anne-Cathérine äus-
wie seine Intrige ihre Kreise zog. Vor allem      serst beliebt war.
gefiel ihm, wie Diderot in Bedrängnis geriet,
der dabei war, ihm den Rang als Chef-Aufklä-      «De l’esprit» kam als Abhandlung über den
rer abzulaufen. Schlaumeierisch heizte er die     menschlichen Geist daher, die auf Descartes
Stimmung mit heuchlerischen Briefen an. Erst      aufbaute, und auch Überlegungen zum Recht
als es möglich schien, dass die Kirche tatsäch-   auf Bildung für alle und zur Gesetzgebung
lich obsiegen könnte, wurde er nervös und         enthielt. Hélvetius war so stolz auf sein Werk,
verlangte von Diderot seine noch unveröf-         dass er dem König eigenhändig ein Exemplar
fentlichen Beiträge für künftige Enzyklopä-       überbrachte. Das stellte sich sofort als Fehler
die-Bände zurück. Auch d’Alembert gab auf.        heraus, denn Ludwig XV. war alles andere als
Halb aus Beleidigung, halb aus Angst trat er      ein aufgeklärter Monarch. Das Buch, in dem
von seiner Herausgeber-Rolle zurück.              die Existenz Gottes wie selbstverständlich
                                                  verneint wurde, geriet erneut in die Mühle
Diderot war in grösster Bedrängnis. Er muss-      der Zensur und wurde sogleich verboten und
te Tausende Manuskripte retten, die sich bei      verbrannt. Besonders gefährlich erschien die
ihm stapelten. An eine Antwort auf Rousse-        überzeugend und ruhig vorgetragene Argu-
aus perfiden Angriff war nicht zudenken, zu-       mentation, die sich ganz auf die Empirie ver-
mal sein Unternehmen unvermittelt erneut in       liess und alles spekulative Denken – zu dem
tödliche Gefahr geriet. Den Skandal löste         jede Art von Metaphysik zählte – ablehnte.
!      !      !       !      !      !       !     Rousseau                                    10
Diderot, der, wie auch Holbach, mit Hélvetius
übereinstimmte, musste zusehen, wie mit
«De l’esprit» auch die «Encyclopédie» als
Quelle der Ketzerei verboten wurde. Es war
sein Glück, dass er auf die heimliche Unter-
stützung des obersten Zensors, des hoch ge-
bildeten und fortschrittlichen Chrétien-Guil-
laume de Lamoignon de Malesherbes (1721-
1794) zählen konnte, der ihn ermunterte, ins-
geheim weiter an dem Werk zu arbeiten.

Erstaunlicherweise litten die Zusammenkünf-
te im Hause Holbach nicht unter den Turbu-
lenzen. Es waren private Gründe, die einen
Unterbruch bewirkten. 1754 starb Holbachs
Frau Basile-Geneviève im Kindbett und der
Baron verzichtete fortan auf einen jour fixe.

Erst fünf Jahre später, nun mit seiner Schwä-
gerin verheiratet und in einem neuen Haus,
lud Holbach erneut jede Woche zweimal zur         Überzeugter Agnostiker: David Hume
Debatte. Und die zweite Auflage seines Sa-
lons wurde noch glanzvoller und interessan-       Diesmal hatte er sich in Môtiers unmöglich
ter als die erste – vor allem wegen der zahl-     gemacht, wohin er nach der Veröffentlichung
reichen ausländischen Koryphäen, die sich zu      seines Romans «Émile» aus Angst vor der
seinem Intellektuellen-Kreis hingezogen fühl-     französischen Kirche geflüchtet war. Doch
ten. Einer der prominentesten war der schot-      auch in der Obhut des preussischen Fürsten-
tische Historiker und Philosoph David Hume        tums Neuchâtel gab er keine Ruhe. Diesmal
(1711-1776), der 1763 als Botschaftssekretär      wählte er wieder seine Heimatstadt Genf zur
nach Paris kam und sogleich zu einem Favori-      Zielscheibe und verzichtete demonstrativ ein
ten der Freunde wurde.                            zweites Mal auf seinen Bürgerbrief.

Die philosophischen Positionen allerdings         Der seltsame Kauz ging den Dörflern auf die
blieben unterschiedlich. Hume hielt wenig         Nerven. Sie versuchten, ihn mit allen mögli-
vom strengen Atheismus der Franzosen. Und         chen Mitteln wegzuekeln und bedrohten ihn
ihr materialistischer Ersatzglaube schien ihm     zuletzt so massiv, dass er, zusammen mit Thé-
naiv. Er gab sich als überzeugter Agnostiker      rèse, eine neue Bleibe suchen musste. Hume
äusserte aber Skepsis gegenüber dem Glau-         war bereit, ihn zu retten – allen Warnungen
ben an allein seligmachende wissenschaftli-       seiner Pariser Freunde zum Trotz.
che Wahrheiten. Im Gegensatz zu seinen
Gastgebern glaubte er auch nicht an eine po-      «Ich finde ihn mild und angenehm und be-
litische Wirkung seines Denkens.                  scheiden und gutmütig», schrieb er nach ih-
                                                  rem ersten Treffen vor der Abreise in Paris. Er
Dem Respekt und der Freundschaft, die sie         glaubte, Rousseau sei so bescheiden, weil
für einander empfanden, taten die Mei-            ihm gar nicht bewusst sei, wie prominent er
nungsunterschiede keinen Abbruch. Sie blie-       war. Diderot, der sein Haus drei Tage lang
ben auch in Kontakt, nachdem Hume 1766            nicht verliess, weil er die Hoffnung auf Ver-
nach London zurückgekehrt war – ausge-            söhnung einfach nicht aufgeben wollte, be-
rechnet zusammen mit Jean-Jacques Rousse-         kam den Freund nicht zu Gesicht.
au, der sich, wieder einmal auf der Flucht, ei-
nen Pass beschafft und Hume aus Strassburg         Aber jedermann sonst tat es. Denn Rousseau
einen Hilferuf geschickt hatte.                   versteckte sich nicht. Er spazierte so provo-
!      !       !      !       !      !       !     Rousseau                                     11
kant durch die Stadt, dass Diderot und seine       Herr Grimm Briefe von seiner eigenen Hand
Freunde fürchteten, er könnte verhaftet wer-       besitzt, die beweisen, dass er der undank-
den, und nach ihm auch sie selbst. Sie dräng-      barste Hund der Welt ist.»
ten Hume zur Eile, um die Gefahr zu bannen.
                                                   Hume liess sich durch die Launen nicht be-
Schon auf der Überfahrt im Januar 1766             eindrucken. Er erwirkte nicht nur die königli-
wunderte sich Hume über seinen Schützling.         che Rente, sondern fand auch ein Landhaus
Es fiel ihm auf, wie kränklich er tat, obwohl er   in Staffordshire, wo sich der Philosoph fernab
nachts zehn Stunden auf Deck verbrachte,           der lärmigen und schmutzigen Hauptstadt
«als alle Matrosen schon fast totgefroren wa-      seinen Studien widmen konnte.
ren». Und er hoffte, dass sich die Stimmung
aufhellen würde, sobald er in London gebüh-        Alle schienen zufrieden – nur Roussseau
rend empfangen worden sei.                         nicht. Humes Grossherzigkeit irritierte ihn. Er
                                                   war überzeugt, dass er ihn missbrauchte. An
Tatsächlich schien alle Welt auf den berühm-       der Abschiedsparty am 19. März 1766 setzte
ten Mann gewartet zu haben: ein Philosoph          er aus heiterem Himmel zu einer Tirade an.
vom Kontinent, der seiner Ansichten wegen          Ein Freund seines Gastgebers behandle ihn
verfolgt wurde und zu einem Leben voller           herablassend, beklagte er sich und verfiel in
Entbehrungen gezwungen war. Rousseau               beleidigtes Schweigen. Als ihn Hume zu be-
spielte mit, indem er überall in seinem lausi-     ruhigen versuchte, steigerte er sich in einen
gen armenischen Kittel und seiner abgetra-         Wutanfall und brach in Tränen aus. Es kam
genen Pelzmütze auftrat.                           ihm vor, als fixiere ihn Hume mit bohrenden,
                                                   dämonischen Blicken.
Als der Hype verflogen war und sich die Lon-
doner Gesellschaft neuen Sensationen zuge-         Am nächsten Morgen schien der Anfall vorbei
wandt hatte, blieb Hume treu an der Seite          zu sein. Doch in seinem neuen Refugium ver-
seines Schützlings. Er versuchte, ihm bei Hofe     festigte sich seine Überzeugung, dass sich
eine Leibrente zu verschaffen, und tat alles,       Hume nur für ihn eingesetzt habe, um von
um ihn bei Laune zu halten.                        seiner Berühmtheit zu profitieren. Er sei so
                                                   neidisch auf seinen Gast geworden, dass er
Mehrfach erhielt Hume Briefe aus Paris, in         ihn schliesslich aufs Land abgeschoben habe.
denen er vor den Zornesausbrüchen und              Und unverzüglich begann er, die Beschuldi-
dem Verfolgungswahn seines Gastes gewarnt          gungen in ganz Europa zu verbreiten.
wurde. Und tatsächlich vergingen nur ein
paar Wochen, bis Holbach seinen Freunden           Es war für Rousseau auch klar, dass Hume
einen Bericht aus England vorlas, in dem Hu-       nicht allein gegen ihn intrigierte, sondern
me einen der Anfälle Rousseaus schilderte.         dass er mit dem «Holbachschen Klüngel» un-
                                                   ter einer Decke steckte, der ihn fertigmachen
Der Baron wunderte sich nicht. «Nach der           wollte. Am 23. Juni 1766 schrieb er ihm einen
gründlichen Bekanntschaft, die ich mit ihm         «letzten» wütenden Brief. Die grotesken An-
hatte», schrieb er am 9. Februar 1766, «sehe       schuldigungen fanden eine so grosse Verbrei-
ich diesen Mann als einen blossen philoso-         tung, dass Hume sich wehren musste, um
phischen Scharlatan an, voller Affektiertheit,      seine Reputation zu retten. Denn er wusste,
Hochmut, Seltsamkeiten und sogar Schurke-          dass Rousseau an seinen Memoiren schrieb,
rei.» Besonders ärgerte ihn, dass er die Mutter    in denen er hemmungslos abrechnen würde,
seiner Mätresse mehrfach zurück gelassen           wie er mehrfach gedroht hatte.
hatte, so dass sich Grimm um sie kümmern
musste.: «Dieser Philosoph», regte sich Hol-       Hume wehrte sich, so gut er konnte, indem er
bach auf, «sollte sich daran erinnern, dass        er den Briefwechsel mit Kommentaren versah
!       !       !       !       !        !       !        Rousseau                                          12
und als Dokumentation publizieren liess.4 Er              Enttäuscht zog sich Diderot aus dem Unter-
schrieb unzählige Briefe an seine Freunde in              nehmen zurück und wandte sich wieder ei-
Paris, während Rousseau einen Anwalt beauf-               genen philosophischen Studien zu. Ab 1770
tragte, eine Klageschrift gegen seinen Gast-              begann Jean-Jacques Rousseau bei Paris-Au-
geber aufzusetzen. In Paris war es vor allem              fenthalten aus seinen Memoiren vorzulesen.
Holbach, der sich für den Schotten engagier-              Der Kreis um Holbach und Diderot war sich
te und seine Briefe publik machte. Und                    der Gefahr bewusst, den die vorgeblichen
Grimm machte den Krach mehrfach in seiner                 Enthüllungen ihres einstigen Freundes für
«Correspondance» zum Thema.                               ihren guten Ruf bedeuteten.

Die Affäre zog weite Kreise, zumal sich Rous-              Die Aussicht auf die drohenden Anschwär-
seau auf zahlreiche Verteidiger verlassen                 zungen erregte Diderot so sehr, dass er seiner
konnte. Die konnten sich nicht vorstellen,                Wut in einem Essay über Seneca freien Lauf
dass der bescheidene und tugendhafte Autor                liess. Rousseau war gerade gestorben, als er
der «Héloise», der von seinen Verfolgern im-              den Text veröffentlichte, der mit allerlei Belei-
mer wieder zur Flucht genötigt wurde, erfun-              digungen angereichert war: «Verachtet den
dene Geschichten erzählte.                                schrecklichen Mann, der nicht zögert, seine
                                                          ehemaligen Freunde anzuschwärzen.» Und
Die Propagandaschlacht endete mit einem                   als er für seine pietätlosen Worte gerügt wur-
Punktsieg Rousseaus. Sein Name und sein Ruf               de, setzte er in der zweiten Auflage noch Ei-
als moralisch integrer, von Verfolgung und                nen drauf: «Auf seinen Grabstein würde ich
Armut geplagter einfacher Mann verbreitete                schreiben: Der Jean-Jacques, den du hier
sich über die literarischen Milieus hinaus. Für           siehst, war verdorben.»
die rechtschaffenen Bürger schien es klar,
dass sich eine Horde ungläubiger Intelligenz-             Es war nicht nur enttäuschte Freundschaft,
bestien einen Spass daraus machte, einen Eh-              die Diderot solche Schimpftiraden formulie-
renmann zu demütigen.                                     ren liess, sondern auch die abgrundtiefe
                                                          weltanschauliche Entfremdung. Während Di-
Das traf den Kreis um Holbach härter als Hu-              derot, Holbach und ihre Freunde ein Leben
me, der sich nach der Rückkehr Rousseaus auf              lang ihren Prinzipien treu blieben und sich als
den Kontinent zunächst nach Edinburgh zu-                 Avantgarde der geistigen Freiheit fühlten,
rückzog. Doch auch die Enzyklopädisten wa-                hatte sich Rousseau auf den Ausbau jenes
ren schnell abgelenkt, erschien doch in die-              zivilisationskritschen Ansatzes kapriziert, den
sem Jahr die letzten zehn Textbände des                   ihm Diderot im Gefängnis von Vincennes für
Nachschlagewerks. Die Buchhändler, nutzten                den «Discours sur les arts et les sciences» vor-
einen finanziellen und politischen Schwäche-              geschlagen hatte.
anfall ihrer jesuitischen Hauptgegner, um ihre
Investition profitabel zu machen. Sie konnten             Die Abkehr von der Gesellschaft, die Pose als
sich dabei auf den Chefzensor verlassen, der              armer verfolgter Eremit wurde zu seinem Al-
nur die Bedingung stellte, dass keiner der                leinstellungsmerkmal. Während seine einsti-
Bände am Hof in Versailles auftauchen durfte.             gen Mitstreiter mutig den Atheismus vertei-
                                                          digten und die Menschen als autonome,
Diderot war trotzdem nicht glücklich. Denn er             selbstverantwortlich handelnde Wesen be-
hatte bei der Durchsicht der Druckfahnen                  schrieben, verfolgte er ein deistisches Kon-
festgestellt, dass der Buchhändler André-                 zept, das der individuellen Frömmigkeit Frei-
François Lebreton aus Angst um sein inves-                räume bot.
tiertes Kapital eigenmächtig in den Text ein-
gegriffen und kontroverse Stellen gestrichen               Seine Moralvorstellungen waren geprägt von
hatte.                                                    calvinistischer Strenge und Lustfeindlichkeit,

4A concise and genuine account of the dispute between Mr. Hume and Mr. Rousseau: with the letters that passed
between them during their controversy. London 1766
!      !      !       !      !       !      !      Rousseau                                   13
während der Holbachsche Salon – mindes-            Dass Rousseaus Denken bis in unsere Zeit
tens theoretisch – den Trieben freien Lauf         nachwirkt und die Schriften der radikalen
liess. Diderot schrieb 1772 als Reflex auf Ex-     Aufklärer um Holbach und Diderot fast ver-
peditionsberichte einen «Nachtrag zu Bou-          gessen sind, liegt daran, dass der Genfer die
gainvilles Reise», in dem er die natürliche und    Ängste der Menschen bediente, während sei-
freie Lebensweise eines «edlen wilden» Süd-        ne einstigen Freunde seelenlose «machines
see-Insulaners beschrieb und sie den ver-          humaines» beschrieben, die nach Lustgewinn
klemmten Ansichten eines christlichen Euro-        strebten, um ihre Art zu erhalten. «Rousseaus
päers gegenüber stellte.                           moralische Ideen», resümiert Philipp Blom in
                                                   seinem umfassenden Panorama der Aufklä-
Ähnliche Unterschiede betreffen auch die            rung, «stellten diesem scheinbar kühl-rationa-
Vorstellungen über Gesellschaft und Politik.       len Universum eine beseelte Welt entgegen,
Rosseau vertrat in seinen Romanen, beson-          eine philosophische Verteidigung der Religi-
ders deutlich in der «Héloïse», ein traditionel-   on und der edlen Gefühle gegen die anar-
les Familienkonzept. Die Hausfrau sorgte für       chistische Macht des Eros und den eisigen
Haus und Kinder, der Mann für den Unterhalt.       Blick der Rationalität.»
Dass seine Partnerin Thérèse Levasseur weder
schreiben noch lesen konnte störte ihn nicht.      © Jürg Bürgi, 2012
Dass ihre fünf Kinder gleich nach der Geburt       Abdruck und alle anderen Publikationsfor-
ins Findelhaus bringen musste, fand er nicht       men honorarpflichtig.
ungewöhnlich. Diderot dagegen tat alles, um        http://www.juerg-buergi.ch
seiner Tochter Angélique die bestmögliche          Wenn Sie unsere Arbeit fördern wollen, freu-
Erziehung zu ermöglichen – zum Ärger seiner        en wir uns über jeden Beitrag:
frommen Gattin, die sie in ein Kloster stecken     PC-Konto 40-32963-0; Jürg Bürgi, Basel
wollte.                                            IBAN CH75 0900 0000 4003 2963
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