Undankbarer Hund Jean-Jacques Rousseau
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Jean-Jacques Rousseau Immanuel Kant brachte den Begriff Undankbarer Hund 1784 auf den Punkt: «Aufklärung ist der Ausgang des Men- Ein ruheloser Geist, verklemmt, misstrau- schen aus seiner isch und voller wahnhafter Ängste gilt bis selbst verschulde- heute als Matador der Aufklärung. Die epo- ten Unmündigkeit». chale Leistung seiner couragierten Freunde Wenn derzeit die aus dem Kreis der Enzyklopädisten ist da- Leistungen des gegen fast vergessen. Aufklärungs-Philo- sophen Jean-Jacques Rousseau zu seinem 300. 300 Jahre nach seiner Geburt am 12. Juni Geburtstag in den höchsten Tönen gewürdigt 1712 feiert Genf seinen ebenso berühmten werden, verschwimmt die präzise Definition wie ungeliebten Sohn Jean-Jacques Rousse- des Königsberger Professors zu einem schön- au. Die Calvin-Stadt gedenkt des einst ver- geistigen Rauschen. Die Menschen sollten sich femten Autors aufrührerischer Schriften, von von der Vernunft leiten lassen, nicht von Reli- denen es heisst, sie bestimmten bis heute un- gion und Aberglauben, hiess einer der Leitsät- ser Verständnis von Politik und Gesellschaft. ze, auf den sich die Aufklärer im Kreis der En- zyklopädisten um Denis Diderot verständig- Seinen nach der Französischen Revolution ten. Das Individuum müsse sich der Fesseln der gefestigten Ruf als Vernunft-Philosoph ver- Tradition entledigen und sich von willkürlichen dankt Rousseau posthum dem Zeitgeist, der Machtansprüchen kirchlicher und weltlicher keine radikalen und aufrührerischen Ansich- Obrigkeiten befreien. Im Gegensatz zu seinem ten mehr duldete, und der universellen Ver- Freund Diderot, der diese Grundsätze in aller wendbarkeit seiner romantischen Konzepte. Konsequenz verteidigte, zog es Jean-Jacques Bis heute beliebt ist seine Vorstellung vom Rousseau vor, immer wieder Kompromisse zu einfachen Landleben, das auf moralisch sau- machen. Er verkrachte sich mit seinen Freun- bere Weise Körper und Seele erquickt. den, die ihm seine Eskapaden immer wieder verziehen. Es gehört deshalb zu den Merkwür- In Genf geboren und aufgewachsen im länd- digkeiten der Philosophie-Geschichte, dass lich-idyllischen Vorort Bossey, riss Jean-Jac- nicht diejenigen, welche die Prinzipien der ques mit 15 von zu Hause aus. Sein jähzorni- Aufklärung kompromisslos vertreten haben, ger Vater, der Uhrmacher Isaac Rousseau, hat- für ihren Mut und ihre Standhaftigkeit bewun- te ihn und seinen älteren Bruder allein aufge- dert werden, sondern Rousseau, der aus Furcht zogen, nachdem seine Frau Suzanne im vor dem Jüngsten Gericht viele seiner Über- Kindbett gestorben war. zeugungen preisgab. Seine geschmeidige An- passung an das bourgeoise Mittelmass mach- Jean-Jacques litt deswegen zeitlebens an te seinen Erfolg nachhaltig. Gemässigte Auf- Schuldgefühlen. Und seine Beziehungen zu klärer wie Kant, Voltaire und Rousseau wollten Frauen waren immer geprägt von der Sehn- Vernunft und Rationalität auf die Wissen- sucht nach der bergenden Mutter. Gleichzei- schaften beschränken und das Volk nicht mit tig war schon der träumerische Junge davon Religionskritik erschrecken, wie es die radikale überzeugt, etwas Besonderes zu sein. Es war Fraktion für notwendig hielt. sein Traum, in Frankreich auf einem Schloss zu leben. Den Freundeskreis der radikalen Aufklärer um Denis Diderot, dem auch Jean-Jacques Rousseau eine Zeit Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, wollte lang angehörte, rettet Philipp Bloms sehr gut lesba- res Buch aus der Vergessenheit. er so schnell wie möglich katholisch werden. Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris Die aus Vevey stammende Baronin Françoise- und das vergessene Erbe der Aufklärung. München Louise de Warens half ihm dabei. Die junge 2010 (Hanser). 400 Seiten. € 24.90. Eine Taschen- Frau war selbst konvertiert und lebte, ge- buchausgabe erscheint 2013 bei dtv.
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 2 trennt von ihrem protestantischen Gatten, in Annecy. Sie schickte Rousseau für ein paar Wochen zur Unterweisung und zur Taufe in ein Kloster nach Turin, das auf Konversionen spezialisiert war. Nach seiner Rückkehr blieb er im Haus- halt der attraktiven Mitdreissigerin. Es dauer- te sechs Jahre bis «Maman», wie er sie nannte, ihren verklemmten Toyboy endlich dazu brachte, mit ihr ins Bett zu gehen: «Zum ers- ten Mal sah ich mich in den Armen einer Frau, und einer Frau, die ich anbetete. … Mir war, als hätte ich Blutschande getrieben», erinner- te er sich Jahrzehnte später in seinen «Be- kenntnissen». 1740 vermittelte ihm «Maman» eine Stelle als Hauslehrer beim hoch gebildeten Polizeichef von Lyon, der gern Intellektuelle zu Tisch bat und sich für die Ideen Voltaires und anderer Umtriebiger Freigeist: Denis Diderot Geistesgrössen begeisterte. Rousseau, 28 Jah- re alt und weniger als halbgebildet, sass aufgrund von Büchern, sondern als Drama schweigend dabei. Von Philosophie verstand der handelnden Personen erzählt. In seinem er nichts. Sein Interesse galt der Musik. Er Buch «Böse Philosophen» beschreibt der Kul- wollte ein berühmter Opernkomponist wer- turhistoriker Philipp Blom1, lebendig und mit den. grosser Sachkenntnis wie sich ein Freundes- kreis von jungen Intellektuellen um Denis Di- Nachdem sein Vertrag nach einem Jahr nicht derot (1713-1784) daran machte, die Welt zu erneuert worden war, wagte er, selbstbe- verändern. wusst den Sprung nach Paris. Doch dort war- tete niemand auf ihn: Den in seinen Augen Der harte Kern der Truppe bestand aus den genialen Vorschlag, die Musiknoten durch Autoren der «Encyclopédie ou Dictionnaire Zahlen zu ersetzen, lehnte die Akademie der Raisonné des Sciences, des Arts et des Mé- Wissenschaften ab, und auch sein erstes The- tiers». Das herkulische Vorhaben, den gesam- aterstück «Narcisse» war ein Flop. ten Bestand des aktuellen Wissens in einem vielbändigen Nachschlagewerk zusammen- Die Bekanntschaft mit dem umtriebigen Frei- zuführen, gab ihnen die Möglichkeit, ihre geist Denis Diderot, die alsbald zu einer tiefen fortschrittlichen Ansichten zu propagieren. Freundschaft wurde, muss wie eine Erlösung Ungewohnt, ja revolutionär war die Wert- gewesen sein. Endlich hatte er einen Geistes- schätzung, die darin den Handwerken zuteil verwandten gefunden, ein Landei wie er, wurde. Sie zeigte, dass das gemeine Volk über Handwerkersohn, fast gleich alt und bren- Fähigkeiten verfügte, von denen viele Adlige nend an Kunst, Theater und Philosophie inte- nur träumen konnten. Und die alphabetische ressiert. Ordnung brachte nicht nur die gewohnten Hierarchien durcheinander, sondern machte Die Geschichte der Aufklärung ist voller Vol- es der Zensur auch unheimlich schwer, den ten und Verwicklungen, wenn man sie nicht Durchblick zu behalten. 1Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2010 (Han- ser). Deutsche Übersetzung der Originalausgabe: A Wicked Company. The Forgotten Radicalism of the European Enlightenment. New York 2010 (Basic Books)
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 3 So mischte das durch und durch subversive moralische Vorstellungen nicht für alle und Unternehmen konventionelles Wissen listig überall Geltung hatten, sondern vom zeitli- mit progressiven Positionen. Ein Trick bestand chen und gesellschaftlichen Kontext abhän- darin, biblische Geschichten wörtlich zu gig waren. nehmen, um sie ad absurdum zu führen. Der Autor eines Artikels über die Arche Noah Damit nicht genug. Am Beispiel des verstor- rechnete vor, dass das gigantische Rettungs- benen blinden Physikers Nicholas Saunder- boot 36’000 Tonnen Wasser und 47‘000 Ton- son denunzierte er die gängigen Gottesbe- nen Heu mitführen musste, um 208 Stück weise als Unfug. «Wenn Sie wollen, dass ich Vieh durchzufüttern. Auch die Exkremente an Gott glaube», zitierte er den fiktiven Dia- waren ein Thema, zumal ausser Noah nur log des Wissenschafters mit einem Trost noch seine zwei Söhne beim Misten zur Ver- spendenden Priester, «dann muss ich ihn be- fügung standen. rühren können.» «Die Encyclopédie», resümiert Philipp Blom Am 24. Juli 1749 wurde Denis Diderot zu Hau- etwas pompös die Stossrichtung, «war das se verhaftet und in der Festung Vincennes intellektuelle Äquivalent einer Belagerungs- eingesperrt. Der Priester seiner Gemeinde maschine, deren Fuktion es war, das Funda- hatte ihn als Autor der anonym publizierten ment ihrer Zeit zu erschüttern.» Dass er 25 Schrift «Lettre sur les aveugles à l’usage de Jahre seines Lebens für das epochale Werk ceux qui voient» als Blasphemiker ange- einsetzen würde, wusste Diderot nicht, als er schwärzt. damit begann. Aber es war ihm von Anfang an klar, dass er damit eine «Delle ins Univer- Erst nach mehreren Wochen Einzelhaft wurde sum machen» wollte.2 ihm gestattet, Besucher zu empfangen. Am häufigsten kam Jean-Jacques Rosseau, der Um ganz gross herauszukommen, fehlte dem nach einem erfolglosen Abstecher als Diplo- unbekannten Denis allerdings ein allgemein mat in Venedig und einer Episode als Privat- anerkannter Leistungsnachweis. Seine Verle- sekretär einer weiteren reichen «Maman» in ger, die mehr ans Marketing der neuen Buch- Paris einen neuen Anlauf nahm. Er lebte von reihe dachten als an den Inhalt, hatten ihm Gelegenheitsarbeiten als Notenkopist und als Herausgeber den jüngeren Mathematiker arbeitete weiter an seiner grossen Karriere. Jean-Baptiste d’Alembert zur Seite gestellt, der als Mitglied der Akademie der Wissen- Der gefangene Diderot half ihm dabei, zu- schaften brillieren konnte. nächst ohne es zu merken. Bei einem Besuch in Vincennes berichtete Rousseau von einem Diderot brauchte also ein eigenes Profil; er Essay-Wettbewerb, an dem er sich beteiligen wollte als Autor Aufsehen erregen. Wie da- wollte. Es ging darum, Vorschläge zu machen, mals üblich, nahm er eine Alltagssensation wie Künste und Wissenschaften dazu beitra- zum Anlass, um daraus seine nonkonformen gen konnten, die Menschheit vorwärts zu Ansichten zu entwickeln. Das Buch handelte bringen. Um zu reüssieren, schlug Diderot von einem blind geborenen Mädchen, das vor, müsse er das Thema gegen den Strich durch eine Operation sehend geworden war. bürsten. Rousseau sollte nicht die zivilisatori- Wie würde es auf die Welt reagieren, die es schen Errungenschaften loben, sondern ihre bisher bloss auf «blinde Weise» hatte wahr- Schattenseiten hervorheben. nehmen können? Es gab viele Dinge, über- legte er, die für Blinde ein ganz anderes Ge- Rousseau folgte dem Rat und gewann mit wicht hatten als für Sehende. Was für diese seinem «Discours sur les sciences et les arts» ein öffentliches Ärgernis darstellte – etwa un- den Wettbewerb und damit das lang ersehn- sittliche Kleidung oder Nacktheit – spielte für te Renommee als origineller Kopf, der nicht jene keine Rolle. Diderot schloss daraus, dass davor zurück schreckte, gewagte Thesen zu 2 Apple-Gründer Steve Jobs umschrieb so seine und seiner Mitarbeiter historische Mission.
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 4 vertreten. Denn es war für die Leser des Trak- tats offensichtlich, dass sich der Autor über eine Gesellschaft mokierte, die sich, nicht zu- letzt wegen ihres christlichen Glaubens, als Krone der Schöpfung empfand. Noch bevor die aufmüpfige Schrift des Gen- fers gedruckt war, gelang es den Verlegern der «Encyclopédie», Diderot aus dem Knast zu befreien. Ihr schlagendes Argument: Das Nachschlagewerk sichere tausend französi- sche Arbeitsplätze und sei auf seinen Heraus- geber angewiesen. Als Gegenleistung musste Diderot ein Doku- ment unterzeichnen, in dem er versprach, nie wieder gotteslästerliche Schriften zu verfas- sen oder drucken zu lassen. Der Brief verfehl- te seine lähmende Wirkung nicht. Diderot war vernünftig genug, nie ein grosses philosophi- Voller Tatendrang: Thiry d’Holbach sches Werk zu schreiben. Es hätte ihn unwei- gerlich in akute Lebensgefahr gebracht. tiger war der protestantisch-freie Geist der unter Professoren und Studenten herrschte. Gleichwohl trug ihm die Gefängnis-Episode die Anerkennung seiner Freunde ein. Sie fei- Besonders fasziniert war Holbach vom Mut erten ihn als Märtyrer, der für seine Überzeu- des bretonischen Arztes und Philosophen Ju- gung zu leiden bereit war. Sogar Voltaire, der lien Offray de La Mettrie (1709-1751), der sich intellektuelle Vorreiter der Aufklärung, wegen seiner nonkonformen Ansichten stän- schrieb ihm einen aufmunternden Brief, in dig auf der Flucht befand. Namentlich seine dem er ihn mit Sokrates verglich. Vorstellung, dass der Mensch eine biologi- sche Maschine war und sich nur graduell von Im Jahr 1751 – Diderot war 38 – erschien der Tieren und Pflanzen unterschied, galt als ge- erste Band der «Encyclopédie», der ganz dem fährliche Blasphemie. Er war überzeugt, dass Buchstaben A gewidmet war. Und wenig spä- auf nichts Verlass sei ausser auf die eigene ter verkündeten die Herausgeber, dass es ih- Wahrnehmung. Glück und Lust, fand er, seien nen gelungen sei, einen Mann als Autor zu allen zugänglich, egal ob sie ein tugendhaftes verpflichten, der ausgezeichnete Kenntnisse oder ein schandbares Leben führten. Glück- der Mineralogie, Metallurgie und Physik mit- lich seien alle, die ihr Leben lustvoll lebten. bringe und deutscher Muttersprache sei: Ba- ron Paul Henri Thiry d’Holbach (1723-1789). Als er 1748 nach Paris zurück kehrte, war Hol- bach voller Tatendrang. Er wollte sein Wissen Holbach stammte aus der Pfalz, war aber und seine Überzeugungen nutzbar machen, 1728, mit fünf Jahren, von seinem reichen Pa- wohl wissend, dass er als Autor kein Spitzen- riser Onkel Franz Adam d’Holbach adoptiert talent war. Er brauchte Menschen um sich, die und erzogen worden. Als 21-jähriger ging seinen Geist anregten und bereit waren, ge- Holbach an die Universität Leiden, eine der meinsam die Welt zu bewegen. führenden Hochschulen Europas, damals weit berühmter als Oxford oder Cambridge. Vor Weil ihm die Debatten in den Akademien zu allem die Naturwissenschafter, die sich auf steif und papieren erschienen und die Kon- umfangreiche Sammlungen von Pflanzen, versationen in den Salons der Damen der Ge- Mineralien und exotischen Tieren stützten sellschaft zu oberflächlich, richtete er, zu- konnten, waren hoch angesehen. Noch wich- sammen mit seiner Frau, einen eigenen
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 5 glanzvollen Salon ein. Sonntags und don- nerstags bat er herausragende Wissenschaft- ler und Philosophen in seinem Haus in der Rue Royale zu Tisch. Der Kreis der Eingeladenen reichte über die Autoren der Encyclopédie hinaus. Seine Dîners mit auserlesenen Speisen und besten Weinen waren bald legendär. Im Laufe der Jahre gab sich alles, was in progressiven Mi- lieus Europas Rang und Namen hatte, die Eh- re. Kaum ein Gast wurde so wichtig für Holbach – und im negativen Sinn für Rousseau – wie der aus Regensburg stammende Literat und «diplomatische entrepreneur» (Philipp Blom) Friedrich Melchior Grimm (1723-1807). Er schrieb für die Encyclopédie und redigierte seine eigene «Correspondance littéraire», in Gepuderter Dandy: Friedrich Melchior Grimm der er das intellektuelle Treiben in Paris be- schrieb. In Wirklichkeit waren weder Grimm noch Di- derot Kinder von Traurigkeit, was Frauen an- Seinen Newsletter, den er für teures Geld an ging. Diderots zahlreiche Liebschaften waren Meinungsführer in ganz Europa vertrieb, liess notorisch; ausserdem war er als Verfasser von er von Hand abschreiben, um die Zensur zu zwei deftigen erotischen Romanen bekannt. umgehen. Wie eine Spinne sass Grimm zu- Und Grimm pflegte eine leidenschaftliche Be- dem im Zentrum seines privaten Bezie- ziehung zu Louise d’Épinay, einer hoch intel- hungsgeflechts, das Diderot, Rousseau und ligenten, selbstbewussten Frau, die sich dem seine Geliebte, die freizügige und vielfach Kreis um Holbach zurechnen durfte, obwohl umschwärmte Marquise Louise Lalive d’Épi- sie nie an der Tafelrunde teilnahm. nay (1726-1783), umfasste. Zwischen Diderot und Rousseau war es schon Grimm, der mit Louise d’Épinay zusammen 1752 zu einer ersten ernsten Verstimmung lebte, und Diderot, der unter einer unglückli- gekommen, nachdem der Genfer mit seiner che Ehe litt, wurden so dicke Freunde, dass Oper «Der Dorfwahrsager» brilliert hatte. Der alsbald das Gerücht aufkam, sie pflegten eine König veranlasste die Aufführung des Stücks homosexuelle Beziehung. Rousseau, von Lou- und lud ihn zur Audienz nach Fontainebleau ise bewundert, tat alles, um dem Verdacht ein, um ihm eine lebenslange Pension auszu- Nahrung zu geben. In seinen «Confessions» richten. behauptete er später sogar, Grimm habe auch ihm Avancen gemacht. Rousseau, welcher der Première in einem be- sonders schäbigen Tenue beigewohnt hatte, Rousseau, der mit der ehemaligen Wäscherin weigerte sich, die Einladung anzunehmen. Er Thérèse Levasseur liiert war, urteilte über in- sei zu schüchtern, behauptete er, während time Beziehungen streng. Seine verklemmte ihn seine Freunde anflehten, an Thérèse und Phantasie störte seine Wahrnehmung. Und in ihre alte Mutter zu denken, die von einem ge- diesem Fall, war er zudem zweifellos eifer- regelten Einkommen in erster Linie profitie- süchtig. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass ren würden. sein Freund Diderot an einem gepuderten deutschen Dandy offensichtlich den Narren Diderot war besonders empört über den un- gefressen hatte. vernünftigen Egotrip seines Freundes. Aber
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 6 Rousseau blieb stur und zog beleidigt ab. Mit dem Vorfall begann der Rückzug Rousseaus aus dem Kreis um Diderot. Als berühmter Opernkomponist, glaubte er, konnte er ohne seine Freunde aus Holbachs Salon auskom- men. Typisch für ihn, wie er die Sache inter- pretierte: Nicht er habe den Rückzug angetre- ten. Vielmehr sei er hinausgeekelt worden. «Sobald ich bei dem Baron erschien», heisst es in den «Bekenntnissen», «hörte das Ge- spräch auf, allgemein zu sein. Man vereinigte sich in kleinen Gruppen, man flüsterte sich ins Ohr, und ich blieb allein, ohne zu wissen, mit wem ich sprechen konnte.» Die Verstimmung wuchs, als sich Grimm in seiner «Correspondance» darüber mokierte, dass Rousseau eine Polemik gegen die fran- zösische Musik angezettelt und das Französi- sche als «unsingbar» bezeichnet hatte. Für einen Mann, der gerade mit einer französi- Selbstbewusste Freundin: Louise d’Épinay schen Oper Furore gemacht habe, sei eine solche Haltung höchst merkwürdig, fand 1755 war Rousseau zurück in Paris, wo er Grimm. Einige beleidigte Musiker der Pariser frustriert feststellte, dass seine Freunde ganz Oper hängten darauf in aller Öffentlichkeit gut ohne ihn ausgekommen waren. Dass er eine lebensgrosse Rousseau-Puppe auf, um zum zweiten Mal seinen Glauben gewechselt ihre Verachtung zu dokumentieren. hatte, sorgte für Kopfschütteln; die meisten hatten sich längst von der Religion losgesagt. Dergestalt gekränkt, zog sich Rousseau nach und nach aus der Stadt zurück. Zuerst blieb er Als ihm Louise d’Épinay ein kleines Haus auf Holbachs Salon fern und holte sich seine nar- ihrem weitläufigen Anwesen als Quartier of- zisstische Gratifikation im Salon der ehemali- ferierte, nahm er das grosszügige Angebot gen Schauspielerin Jeanne-Françoise Qui- sofort an und zog mit seiner ganzen Ménage nault. Und als er das Gefühl hatte, man wisse aufs Land. Seinen Rückzug empfanden die ihn auch dort zu wenig zu schätzen, machte einstigen Verbündeten der Holbachschen Ta- er sich auf den Weg zurück nach Genf. Dort, in felrunde «als eine scharfe Zurückweisung von seiner sittenstrengen Heimat, glaubte er, allem, wofür sie standen und kämpften», fasst würde man seinen Ekel vor dem frivolen Trei- Philipp Blom zusammen. ben verstehen, das Paris regierte. Aber es sollte noch schlimmer kommen – Nach einem Abstecher zu seiner einstigen auch weil sich die Ansichten Holbachs, Dide- Gönnerin «Maman» de Warens, zog er in Genf rots und anderer Denker in den folgenden ein und konvertierte sogleich zurück zum Jahren radikalisierten. So publizierte Thiry Calvinismus. Doch der Versuch, auf diese Wei- d’Holbach 1761 – unter dem Pseudonym «par se wieder Wurzeln zu schlagen, misslang feu M. Boulanger»3 – «Le christianisme de- grandios. Sein Ruf war nicht bis an den Léman voilé», eine Abrechnung mit der Religion. Das gedrungen; die bornierten Patrizier ignorier- unverhohlen atheistische Manifest wurde von ten ihn. Die Stelle eines Bibliothekars, die der Polizei, wo immer möglich, beschlag- man ihm anbot, lehnte er als unter seiner nahmt und theatralisch vom Henker öffent- Würde ab. lich verbrannt. 3 «Von Herrn Boulanger selig». In der Folge nannte man Holbachs Salon scherzhaft auch «Boulangerie»
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 7 Diderot hatte schon Mitte der vierziger Jahre in winzigsten Einzelheiten immer wieder be- in seiner Schrift «Promenade du scéptique» stätigte. Zum Beispiel die groteske Affäre um Stellung bezogen. Wie er selbst baute auch den eitlen Abbé Petit, der 1755 nach langem Holbach am Gedankengebäude weiter, das Drängen zur Holbachschen Tafelrunde vorge- der Holländer Baruch Spinoza (1632-1677) lassen wurde, um ihr ein (grauenhaft schlech- fast 100 Jahre vor ihnen entworfen hatte. Zi- tes) Drama vorzutragen. Der Abend endete tieren mochte den radikalen Materialisten im Desaster, weil sich die Freunde taktvoll zu- wohlweislich keiner der beiden. Denn die rückhielten, um den Spass, wie Zuschauer ei- Schriften des mutigen, aus einer jüdisch-por- ner heutigen Supertalent-Schau im Fernse- tugiesischen Familie stammenden Linsenma- hen, schadenfreudig zu geniessen. Nur Rous- chers aus Amsterdam waren nach wie vor seau hielt nicht Stand. Er riss dem Möchte- streng verboten. gern-Shakespeare das Manuskript aus der Hand und beschimpfte ihn als Dummkopf, Auch eine zweite Quelle der Unbotmässigkeit der nicht merkte, wie sich alle im Raum über durfte keinesfalls genannt werden: das ihn lustig machten. Der Abbé rastete aus und «Testament» des Priesters Jean Meslier (1664- ging auf seinen Beleidiger los; die Streithähne 1729). Niemand hatte je so radikal mit seiner mussten brachial getrennt werden, worauf Religion abgerechnet wie der brave Pfarrer Rousseau wutentbrannt weglief. aus dem Ardennen-Dorf Étrépigny. Sein pro- vokantes Pamphlet zirkulierte in Abschriften Diderot tat alles, um seinen tief gekränkten im literarischen Untergrund der Metropole. Freund zu versöhnen. Er lud ihn ein, ihn zu Und jeder, der es bei sich aufbewahrte, wuss- besuchen; sie könnten gemeinsam Manu- te, dass er sich in Lebensgefahr befand. skripte redigieren. Rousseau gab zurück, er werde die Stadt nicht mehr betreten. Denis «Wisset, meine Freunde, dass alles, dass jeder könne ihn in seine Klause kommen, um sich Kult und alle Verehrung von Göttern nichts ist zu entschuldigen. Als Herausgeber der «Ency- als Irrtum, Missbrauch, Illusion, Lüge und Be- clopédie» sei er so beschäftigt, dass er sich trug», rief Meslier den Nachgeborenen zu, den 15-Kilometer-Marsch zeitlich nicht leisten «dass all die Gesetze und Bestimmungen, die könne, gab Diderot zurück, und für eine Kut- im Namen Gottes oder anderer Götter veröf- sche fehle ihm das Geld. Als ihn Rousseau da- fentlicht werden, nur menschliche Erfindun- rauf an seine eigenen Märsche nach Vincen- gen sind, genau wie die schönen Spektakel nes erinnerte, wiederholte Diderot seine Ein- und Feste und Opfer und alle anderen Bräu- ladung, für einige Tage sein persönlicher Gast che zu seinen Ehren.» zu sein. Erst als Rousseau weiter stur blieb, griff Diderot zum Zweihänder, indem er sich Es war ausgerechnet Voltaire, der das Un- scheinheilig darüber ausliess, wie sehr er sich denkbare wagte und 1761 Jean Mesliers Ver- gefreut habe, dass Jean-Jacques sein neues mächtnis in gedruckter Form publizierte. Wie Stück «Le fils naturel» gefallen habe. Das Ge- sich aber herausstellte, hatte der begüterte genteil war der Fall. Rousseau war keineswegs Schlossherr im fernen Ferney den Text zuvor amüsiert. Denn es trat darin ein tugendhafter nicht nur gestrafft, sondern ihn auch syste- Philosoph auf, dem die Hauptfigur an den matisch purgiert. Es fehlten alle atheistischen Kopf wirft, dass «nur böse Menschen allein und sozialrevolutionären Stellen. Das Chris- leben». tentum blieb unbefleckt, die Privilegien des Adels unberührt. Voltaire wusste genau, wo- Von da an lehnte Rousseau alle Vorschläge zu her sein Reichtum kam! einem Treffen konsequent ab. Diderot gab aber nicht auf und kündigte an, bald vorbei- Rousseau, weit weniger berechnend als Volt- zukommen. Darauf schaltete sich Louise aire, dachte ganz ähnlich. Seine Freunde d’Épinay ein und teilte mit, dass es keine gute wurden immer radikaler und seine Ängste Idee sei, worauf Denis schrieb: «Oh!, Rousse- immer grösser. Dazu kam eine menschliche au. Du wirst böse, ungerecht, grausam, wild, Entfremdung, die ihm seine Aussenseiterrolle und ich weine vor Schmerzen … »
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 8 Rousseau schottete sich ab und suchte Trost au schoss sich seinerseits auf Grimm ein, den in der, seiner Ansicht nach, keuschen und un- er der Lüge und der Manipulation und– am verdorbenen Natur. Er war zudem frisch ver- schlimmsten – der Homosexualität bezichtig- liebt – auf Distanz, wie gewöhnlich. Seine te. Er war so blind, dass er die Gelegenheit Angebetete war die Comtesse Sophie d’Hou- verpasste, sich seine Wohltäterin wieder ge- detot, die Schwägerin seiner Gastgeberin. Er wogen zu machen. schrieb ihr schwärmerische Billets und fand die elegante Amazone in ihren Reithosen mit Louise d’Épinay litt im Oktober 1757 an einer der Peitsche einfach unwiderstehlich. hartnäckigen Erkrankung ihrer Atemwege. Sie hoffte, ein berühmter Genfer Arzt könnte Seine Lebenspartnerin Thérèse blieb aussen sie kurieren. Da ihr Freund Grimm unab- vor. Sie hatte ihm fünf Kinder geboren, die kömmlich war, bat sie Rousseau, sie zu beglei- alle gleich nach der Geburt ins Findelhaus ten. Doch der lehnte es ab, als Reisemarschall kamen. Seine Profession gestattete keine Ab- zu dienen. Diderot schrieb ihm, er solle daran lenkung durch Kindergeschrei. Er war tatsäch- denken, was er Louise alles verdanke. Ohne lich sehr produktiv in der Zeit. Zwischen 1756 Erfolg. «Was hat Madame d’Épinay für mich und 1759 schrieb er seine drei populären getan? … sie hat ein kleines Haus bauen las- Hauptwerke, den Erziehungsroman «Émile», sen und mich überredet, dort zu wohnen», sowie «Julie ou la Nouvelle Héloïse» und auch schrieb er an Grimm. «Was habe ich selbst für «Du contrat social». Madame d’Épinay getan?», fragte er. «Zu ei- nem Zeitpunkt, an dem ich vorhatte, in die So sehr sein Renommee als wegweisender Stadt meiner Geburt zurückzukehren,… setz- Denker wuchs, so bescheiden blieb sein per- te sie Himmel und Erde in Bewegung, um sönliches Glück. Da der Liebhaber seiner An- mich hier zu behalten. …» Seine Zeit als Gast gebeteten im Kriegsdienst war, intensivierte der Marquise nannte er «zwei Jahre Sklave- er seine Avancen. Aber die junge Frau nahm rei». ihn nicht zur Kenntnis. Seine Not war so gross, dass er eine Einladung Diderots annahm, um Louise d’Épinay bewahrte Haltung und reiste mit ihm eine Lösung zu suchen. Denis riet allein an den Léman. In ihrem Abschiedsbrief ihm dringend, dem Marquis de Saint-Lam- schrieb sie: «Es ist nicht normal, sein Leben bert, Sophies Liebhaber, seine Lage offen zu damit zu verbringen, die eigenen Freunde zu schildern, bevor ihn der Klatsch erreichte. verdächtigen und zu verletzen.» Rousseau Nach seiner Rückkehr griff Rousseau wirklich blieb auf dem Kriegspfad. Die Bande von zur Feder. Statt ihn aber zu bitten, Sophie frei Heuchlern, die einmal seine Freunde gewe- zu geben, beklagte er sich beim Marquis über sen waren, sollten es nicht weiter wagen, hin- ihre Kälte und forderte ihn auf, sich bei ihr für ter seinem Rücken zu intrigieren, sonst würde ihn einzusetzen. er sie frontal angreifen. Wenig später ging es zu wie in einem Toll- Er lehnte ihren Atheismus ab mit dem für ihn haus: Weil er glaubte, Rousseau sei seinem typischen Argument, dass er in diesem Leben Rat gefolgt, machte Diderot gegenüber ei- zu viel gelitten habe, um nicht anderes erwar- nem Bekannten über dessen unglückliche ten zu dürfen. Im «Émile» liess er einen Pries- Liebe eine beiläufige Bemerkung. Als Rousse- ter auftreten, der gesteht, früher einmal auf au den Verräter suchte, verfiel er auf seine die Philosophie vertraut habe. Es sei ihm aber Gastgeberin Louise d’Épinay und beschuldig- klar geworden, dass radikale Skepsis den te sie, neidisch auf sein Glück zu sein. menschlichen Geist überfordere. Und die Phi- losophen hätten ihm nichts bieten können. Es Grimm, der ebenfalls im Dienst war, warnte herrsche nur Streit unter ihnen. Und sie sie: «Du weisst, wie gefährlich Wahnsinnige machten sich über einander lustig. sind.» Und er erinnerte sie daran, dass sie Rousseau «aus falsch verstandenem Mittleid» 1757 packte er die erste Gelegenheit, sich am immer alles habe durchgehen lassen. Rousse- stets besonnenen Diderot zu rächen, der ge-
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 9 rade sein Stück «Le fils naturel» in einem pri- vaten Theater aufgeführt sah. Das allzu the- senlastige Stück wurde ein Misserfolg – Grund genug für einen Rundumschlag Rouss- seaus in Form eines Briefes an d’Alembert. Theater, begann er scheinheilig, sei als Unter- haltungsform ungeeignet. Diderots Überzeu- gung, dass das Theater eine moralische An- stalt sei, nannte Rousseau naiv. Wer für die Bühne schreibe, verführe zur Unmoral. Dass er ausgerechnet den Mathematiker d’A- lembert als Zielscheibe wählte, machte Sinn. Denn der Mathematiker, von keinerlei politi- schem Gespür beleckt, hatte in seinem Artikel über Genf in der «Encyclopédie» kein Fett- näpfchen ausgelassen. Angestiftet von Voltai- re, mokierte sich d’Alembert über die Genfer Kirchenmusik, über das Theaaterverbot der sittenstrengen Calvinisten und überhaupt über deren Konfession , die keiner Logik folg- te. Quelle der Ketzerei: Claude-Adrien Hélvetius Der Sturm der Entrüstung tobte so heftig, diesmal ein Buch aus, das von der Zensur zum dass die ganze «Encyclopédie» in Gefahr ge- Druck freigegeben worden war. Verfasser war riet. Angeführt vom Pariser Generalstaatsan- der allseits geschätzte, elegante Claude-Adri- walt» sollte den Ketzern das Handwerk gelegt en Hélvetius. Als Steuerpächter pflegte er ei- und das Nachschlagewerk verboten werden. ne grosse Nähe zum Hof, was ihn scheinbar Die Jesuiten unterstützten die Kampagne, um unangreifbar machte. Unweit des Holbach- das Werk selbst weiter zu führen. Beide Lager schen Hauses lud er jeweils dienstags in sei- waren sich einig, Diderot zu vernichten. nen Salon ein, der als zweites Hauptquartier der Progressiven galt und auch wegen der Voltaire beobachtete aus der Ferne amüsiert schönen Gastgeberin Anne-Cathérine äus- wie seine Intrige ihre Kreise zog. Vor allem serst beliebt war. gefiel ihm, wie Diderot in Bedrängnis geriet, der dabei war, ihm den Rang als Chef-Aufklä- «De l’esprit» kam als Abhandlung über den rer abzulaufen. Schlaumeierisch heizte er die menschlichen Geist daher, die auf Descartes Stimmung mit heuchlerischen Briefen an. Erst aufbaute, und auch Überlegungen zum Recht als es möglich schien, dass die Kirche tatsäch- auf Bildung für alle und zur Gesetzgebung lich obsiegen könnte, wurde er nervös und enthielt. Hélvetius war so stolz auf sein Werk, verlangte von Diderot seine noch unveröf- dass er dem König eigenhändig ein Exemplar fentlichen Beiträge für künftige Enzyklopä- überbrachte. Das stellte sich sofort als Fehler die-Bände zurück. Auch d’Alembert gab auf. heraus, denn Ludwig XV. war alles andere als Halb aus Beleidigung, halb aus Angst trat er ein aufgeklärter Monarch. Das Buch, in dem von seiner Herausgeber-Rolle zurück. die Existenz Gottes wie selbstverständlich verneint wurde, geriet erneut in die Mühle Diderot war in grösster Bedrängnis. Er muss- der Zensur und wurde sogleich verboten und te Tausende Manuskripte retten, die sich bei verbrannt. Besonders gefährlich erschien die ihm stapelten. An eine Antwort auf Rousse- überzeugend und ruhig vorgetragene Argu- aus perfiden Angriff war nicht zudenken, zu- mentation, die sich ganz auf die Empirie ver- mal sein Unternehmen unvermittelt erneut in liess und alles spekulative Denken – zu dem tödliche Gefahr geriet. Den Skandal löste jede Art von Metaphysik zählte – ablehnte.
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 10 Diderot, der, wie auch Holbach, mit Hélvetius übereinstimmte, musste zusehen, wie mit «De l’esprit» auch die «Encyclopédie» als Quelle der Ketzerei verboten wurde. Es war sein Glück, dass er auf die heimliche Unter- stützung des obersten Zensors, des hoch ge- bildeten und fortschrittlichen Chrétien-Guil- laume de Lamoignon de Malesherbes (1721- 1794) zählen konnte, der ihn ermunterte, ins- geheim weiter an dem Werk zu arbeiten. Erstaunlicherweise litten die Zusammenkünf- te im Hause Holbach nicht unter den Turbu- lenzen. Es waren private Gründe, die einen Unterbruch bewirkten. 1754 starb Holbachs Frau Basile-Geneviève im Kindbett und der Baron verzichtete fortan auf einen jour fixe. Erst fünf Jahre später, nun mit seiner Schwä- gerin verheiratet und in einem neuen Haus, lud Holbach erneut jede Woche zweimal zur Überzeugter Agnostiker: David Hume Debatte. Und die zweite Auflage seines Sa- lons wurde noch glanzvoller und interessan- Diesmal hatte er sich in Môtiers unmöglich ter als die erste – vor allem wegen der zahl- gemacht, wohin er nach der Veröffentlichung reichen ausländischen Koryphäen, die sich zu seines Romans «Émile» aus Angst vor der seinem Intellektuellen-Kreis hingezogen fühl- französischen Kirche geflüchtet war. Doch ten. Einer der prominentesten war der schot- auch in der Obhut des preussischen Fürsten- tische Historiker und Philosoph David Hume tums Neuchâtel gab er keine Ruhe. Diesmal (1711-1776), der 1763 als Botschaftssekretär wählte er wieder seine Heimatstadt Genf zur nach Paris kam und sogleich zu einem Favori- Zielscheibe und verzichtete demonstrativ ein ten der Freunde wurde. zweites Mal auf seinen Bürgerbrief. Die philosophischen Positionen allerdings Der seltsame Kauz ging den Dörflern auf die blieben unterschiedlich. Hume hielt wenig Nerven. Sie versuchten, ihn mit allen mögli- vom strengen Atheismus der Franzosen. Und chen Mitteln wegzuekeln und bedrohten ihn ihr materialistischer Ersatzglaube schien ihm zuletzt so massiv, dass er, zusammen mit Thé- naiv. Er gab sich als überzeugter Agnostiker rèse, eine neue Bleibe suchen musste. Hume äusserte aber Skepsis gegenüber dem Glau- war bereit, ihn zu retten – allen Warnungen ben an allein seligmachende wissenschaftli- seiner Pariser Freunde zum Trotz. che Wahrheiten. Im Gegensatz zu seinen Gastgebern glaubte er auch nicht an eine po- «Ich finde ihn mild und angenehm und be- litische Wirkung seines Denkens. scheiden und gutmütig», schrieb er nach ih- rem ersten Treffen vor der Abreise in Paris. Er Dem Respekt und der Freundschaft, die sie glaubte, Rousseau sei so bescheiden, weil für einander empfanden, taten die Mei- ihm gar nicht bewusst sei, wie prominent er nungsunterschiede keinen Abbruch. Sie blie- war. Diderot, der sein Haus drei Tage lang ben auch in Kontakt, nachdem Hume 1766 nicht verliess, weil er die Hoffnung auf Ver- nach London zurückgekehrt war – ausge- söhnung einfach nicht aufgeben wollte, be- rechnet zusammen mit Jean-Jacques Rousse- kam den Freund nicht zu Gesicht. au, der sich, wieder einmal auf der Flucht, ei- nen Pass beschafft und Hume aus Strassburg Aber jedermann sonst tat es. Denn Rousseau einen Hilferuf geschickt hatte. versteckte sich nicht. Er spazierte so provo-
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 11 kant durch die Stadt, dass Diderot und seine Herr Grimm Briefe von seiner eigenen Hand Freunde fürchteten, er könnte verhaftet wer- besitzt, die beweisen, dass er der undank- den, und nach ihm auch sie selbst. Sie dräng- barste Hund der Welt ist.» ten Hume zur Eile, um die Gefahr zu bannen. Hume liess sich durch die Launen nicht be- Schon auf der Überfahrt im Januar 1766 eindrucken. Er erwirkte nicht nur die königli- wunderte sich Hume über seinen Schützling. che Rente, sondern fand auch ein Landhaus Es fiel ihm auf, wie kränklich er tat, obwohl er in Staffordshire, wo sich der Philosoph fernab nachts zehn Stunden auf Deck verbrachte, der lärmigen und schmutzigen Hauptstadt «als alle Matrosen schon fast totgefroren wa- seinen Studien widmen konnte. ren». Und er hoffte, dass sich die Stimmung aufhellen würde, sobald er in London gebüh- Alle schienen zufrieden – nur Roussseau rend empfangen worden sei. nicht. Humes Grossherzigkeit irritierte ihn. Er war überzeugt, dass er ihn missbrauchte. An Tatsächlich schien alle Welt auf den berühm- der Abschiedsparty am 19. März 1766 setzte ten Mann gewartet zu haben: ein Philosoph er aus heiterem Himmel zu einer Tirade an. vom Kontinent, der seiner Ansichten wegen Ein Freund seines Gastgebers behandle ihn verfolgt wurde und zu einem Leben voller herablassend, beklagte er sich und verfiel in Entbehrungen gezwungen war. Rousseau beleidigtes Schweigen. Als ihn Hume zu be- spielte mit, indem er überall in seinem lausi- ruhigen versuchte, steigerte er sich in einen gen armenischen Kittel und seiner abgetra- Wutanfall und brach in Tränen aus. Es kam genen Pelzmütze auftrat. ihm vor, als fixiere ihn Hume mit bohrenden, dämonischen Blicken. Als der Hype verflogen war und sich die Lon- doner Gesellschaft neuen Sensationen zuge- Am nächsten Morgen schien der Anfall vorbei wandt hatte, blieb Hume treu an der Seite zu sein. Doch in seinem neuen Refugium ver- seines Schützlings. Er versuchte, ihm bei Hofe festigte sich seine Überzeugung, dass sich eine Leibrente zu verschaffen, und tat alles, Hume nur für ihn eingesetzt habe, um von um ihn bei Laune zu halten. seiner Berühmtheit zu profitieren. Er sei so neidisch auf seinen Gast geworden, dass er Mehrfach erhielt Hume Briefe aus Paris, in ihn schliesslich aufs Land abgeschoben habe. denen er vor den Zornesausbrüchen und Und unverzüglich begann er, die Beschuldi- dem Verfolgungswahn seines Gastes gewarnt gungen in ganz Europa zu verbreiten. wurde. Und tatsächlich vergingen nur ein paar Wochen, bis Holbach seinen Freunden Es war für Rousseau auch klar, dass Hume einen Bericht aus England vorlas, in dem Hu- nicht allein gegen ihn intrigierte, sondern me einen der Anfälle Rousseaus schilderte. dass er mit dem «Holbachschen Klüngel» un- ter einer Decke steckte, der ihn fertigmachen Der Baron wunderte sich nicht. «Nach der wollte. Am 23. Juni 1766 schrieb er ihm einen gründlichen Bekanntschaft, die ich mit ihm «letzten» wütenden Brief. Die grotesken An- hatte», schrieb er am 9. Februar 1766, «sehe schuldigungen fanden eine so grosse Verbrei- ich diesen Mann als einen blossen philoso- tung, dass Hume sich wehren musste, um phischen Scharlatan an, voller Affektiertheit, seine Reputation zu retten. Denn er wusste, Hochmut, Seltsamkeiten und sogar Schurke- dass Rousseau an seinen Memoiren schrieb, rei.» Besonders ärgerte ihn, dass er die Mutter in denen er hemmungslos abrechnen würde, seiner Mätresse mehrfach zurück gelassen wie er mehrfach gedroht hatte. hatte, so dass sich Grimm um sie kümmern musste.: «Dieser Philosoph», regte sich Hol- Hume wehrte sich, so gut er konnte, indem er bach auf, «sollte sich daran erinnern, dass er den Briefwechsel mit Kommentaren versah
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 12 und als Dokumentation publizieren liess.4 Er Enttäuscht zog sich Diderot aus dem Unter- schrieb unzählige Briefe an seine Freunde in nehmen zurück und wandte sich wieder ei- Paris, während Rousseau einen Anwalt beauf- genen philosophischen Studien zu. Ab 1770 tragte, eine Klageschrift gegen seinen Gast- begann Jean-Jacques Rousseau bei Paris-Au- geber aufzusetzen. In Paris war es vor allem fenthalten aus seinen Memoiren vorzulesen. Holbach, der sich für den Schotten engagier- Der Kreis um Holbach und Diderot war sich te und seine Briefe publik machte. Und der Gefahr bewusst, den die vorgeblichen Grimm machte den Krach mehrfach in seiner Enthüllungen ihres einstigen Freundes für «Correspondance» zum Thema. ihren guten Ruf bedeuteten. Die Affäre zog weite Kreise, zumal sich Rous- Die Aussicht auf die drohenden Anschwär- seau auf zahlreiche Verteidiger verlassen zungen erregte Diderot so sehr, dass er seiner konnte. Die konnten sich nicht vorstellen, Wut in einem Essay über Seneca freien Lauf dass der bescheidene und tugendhafte Autor liess. Rousseau war gerade gestorben, als er der «Héloise», der von seinen Verfolgern im- den Text veröffentlichte, der mit allerlei Belei- mer wieder zur Flucht genötigt wurde, erfun- digungen angereichert war: «Verachtet den dene Geschichten erzählte. schrecklichen Mann, der nicht zögert, seine ehemaligen Freunde anzuschwärzen.» Und Die Propagandaschlacht endete mit einem als er für seine pietätlosen Worte gerügt wur- Punktsieg Rousseaus. Sein Name und sein Ruf de, setzte er in der zweiten Auflage noch Ei- als moralisch integrer, von Verfolgung und nen drauf: «Auf seinen Grabstein würde ich Armut geplagter einfacher Mann verbreitete schreiben: Der Jean-Jacques, den du hier sich über die literarischen Milieus hinaus. Für siehst, war verdorben.» die rechtschaffenen Bürger schien es klar, dass sich eine Horde ungläubiger Intelligenz- Es war nicht nur enttäuschte Freundschaft, bestien einen Spass daraus machte, einen Eh- die Diderot solche Schimpftiraden formulie- renmann zu demütigen. ren liess, sondern auch die abgrundtiefe weltanschauliche Entfremdung. Während Di- Das traf den Kreis um Holbach härter als Hu- derot, Holbach und ihre Freunde ein Leben me, der sich nach der Rückkehr Rousseaus auf lang ihren Prinzipien treu blieben und sich als den Kontinent zunächst nach Edinburgh zu- Avantgarde der geistigen Freiheit fühlten, rückzog. Doch auch die Enzyklopädisten wa- hatte sich Rousseau auf den Ausbau jenes ren schnell abgelenkt, erschien doch in die- zivilisationskritschen Ansatzes kapriziert, den sem Jahr die letzten zehn Textbände des ihm Diderot im Gefängnis von Vincennes für Nachschlagewerks. Die Buchhändler, nutzten den «Discours sur les arts et les sciences» vor- einen finanziellen und politischen Schwäche- geschlagen hatte. anfall ihrer jesuitischen Hauptgegner, um ihre Investition profitabel zu machen. Sie konnten Die Abkehr von der Gesellschaft, die Pose als sich dabei auf den Chefzensor verlassen, der armer verfolgter Eremit wurde zu seinem Al- nur die Bedingung stellte, dass keiner der leinstellungsmerkmal. Während seine einsti- Bände am Hof in Versailles auftauchen durfte. gen Mitstreiter mutig den Atheismus vertei- digten und die Menschen als autonome, Diderot war trotzdem nicht glücklich. Denn er selbstverantwortlich handelnde Wesen be- hatte bei der Durchsicht der Druckfahnen schrieben, verfolgte er ein deistisches Kon- festgestellt, dass der Buchhändler André- zept, das der individuellen Frömmigkeit Frei- François Lebreton aus Angst um sein inves- räume bot. tiertes Kapital eigenmächtig in den Text ein- gegriffen und kontroverse Stellen gestrichen Seine Moralvorstellungen waren geprägt von hatte. calvinistischer Strenge und Lustfeindlichkeit, 4A concise and genuine account of the dispute between Mr. Hume and Mr. Rousseau: with the letters that passed between them during their controversy. London 1766
! ! ! ! ! ! ! Rousseau 13 während der Holbachsche Salon – mindes- Dass Rousseaus Denken bis in unsere Zeit tens theoretisch – den Trieben freien Lauf nachwirkt und die Schriften der radikalen liess. Diderot schrieb 1772 als Reflex auf Ex- Aufklärer um Holbach und Diderot fast ver- peditionsberichte einen «Nachtrag zu Bou- gessen sind, liegt daran, dass der Genfer die gainvilles Reise», in dem er die natürliche und Ängste der Menschen bediente, während sei- freie Lebensweise eines «edlen wilden» Süd- ne einstigen Freunde seelenlose «machines see-Insulaners beschrieb und sie den ver- humaines» beschrieben, die nach Lustgewinn klemmten Ansichten eines christlichen Euro- strebten, um ihre Art zu erhalten. «Rousseaus päers gegenüber stellte. moralische Ideen», resümiert Philipp Blom in seinem umfassenden Panorama der Aufklä- Ähnliche Unterschiede betreffen auch die rung, «stellten diesem scheinbar kühl-rationa- Vorstellungen über Gesellschaft und Politik. len Universum eine beseelte Welt entgegen, Rosseau vertrat in seinen Romanen, beson- eine philosophische Verteidigung der Religi- ders deutlich in der «Héloïse», ein traditionel- on und der edlen Gefühle gegen die anar- les Familienkonzept. Die Hausfrau sorgte für chistische Macht des Eros und den eisigen Haus und Kinder, der Mann für den Unterhalt. Blick der Rationalität.» Dass seine Partnerin Thérèse Levasseur weder schreiben noch lesen konnte störte ihn nicht. © Jürg Bürgi, 2012 Dass ihre fünf Kinder gleich nach der Geburt Abdruck und alle anderen Publikationsfor- ins Findelhaus bringen musste, fand er nicht men honorarpflichtig. ungewöhnlich. Diderot dagegen tat alles, um http://www.juerg-buergi.ch seiner Tochter Angélique die bestmögliche Wenn Sie unsere Arbeit fördern wollen, freu- Erziehung zu ermöglichen – zum Ärger seiner en wir uns über jeden Beitrag: frommen Gattin, die sie in ein Kloster stecken PC-Konto 40-32963-0; Jürg Bürgi, Basel wollte. IBAN CH75 0900 0000 4003 2963
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