Verbotene Liebe heute und verbotene Liebe im Mittelalter

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Verbotene Liebe heute
und verbotene Liebe im
Mittelalter
Verbotene Liebe, Blutschande, Inzest – der Geschlechtsverkehr zwi-
schen leiblichen Verwandten hat viele Namen. Je nach Epoche und
gesellschaftlicher Relevanz ist er geduldet, geächtet oder verboten
worden. Doch hat sich seit dem Mittelalter unser Denken über das
Thema Inzest grundsätzlich verändert?
2

    Verbotene Liebe heute und verbotene
    Liebe im Mittelalter – Akzeptiert oder
    Verurteilt?
    Intro
    Inzest ist kein Tabuthema! Ob als erotisches und zugleich provozierendes Motiv in Mu-
    sik und Literatur, als eine sexuelle Verirrung, die stets von Neuem im Fokus juristischer,
    religiöser und naturwissenschaftlicher Diskussionen steht,1 oder von Seiten der Öf-
    fentlichkeit fälschlich mit körperlichen Missbrauch an Kindern gleichgesetzt2 – Inzest
    scheint mehr die Regel als eine Ausnahme darzustellen. So vielfältig sich das Phänomen
    Inzest auch deuten lässt, bereits ein flüchtiger Blick auf vergangene und zeitgenössische
    Gesellschaften genügt, um dabei festzustellen, dass seine allgegenwärtige Präsenz stets
    zwischen Ekel und Faszination verortet wurde.

    Inzesttabu, -vermeidung, -verbot?
    Zwei wissenschaftliche Betrachtungen heben sich von diesen gängigen Deutungsmus-
    tern explizit ab: Zum einen die des österreichischen Psychoanalytikers Sigmund Freud
    (1856-1939), der inzestuöses Verhalten als ein unbewusstes sexuelles Verlangen (Ödi-
    pus/Elektra-Komplex) beschreibt, das ein Kind aufgrund seiner Sozialisation gegenüber
    seinen Eltern empfindet.3 Zum anderen die des französischen Ethnologen Claude Lévi-
    Strauss (1908-2009), der in der Problematisierung von Inzest, den Übergang des Men-
    schen von einem natürlichen zu einem kulturellen Wesen sah.4 Beide Forscher kamen
    unabhängig von ihren methodischen Ansätzen zu dem Ergebnis, dass nicht der Inzest
    als sexuelle Begierde einer wissenschaftlichen Erklärung bedürfe, sondern die Formen
    seiner kulturellen Tabuisierung, Vermeidung und Verbote.5 Führt man diesen Gedanken
    weiter aus, so stellt „das Inzesttabu eine >Kulturforderung der Gesellschaft
3

gung von Nachwuchs begründet. Aus der Perspektive den/der queer-studies/theory ver-
körpern sie ebenso gesellschaftliche Institutionen, in denen binäre Geschlechterrollen
sowie heterosexuelle Orientierungen als soziale Normen (Kategorien gender & sex) tra-
diert werden. Diese Normierungen fördern gleichermaßen eine „kulturelle Ordnung“,
deren hierarchische Strukturen als Produkte eines vermeintlich natürlichen Geschlech-
tersystems, durch Interaktionen, Performances und Symbolik zwischen den einzelnen
familiären Akteuren, in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen reproduziert werden.7
Von der Kultur als strukturgebend und somit als unentbehrlich empfunden, wird durch
das Inzesttabu eine heteronormative Matrix begründet, deren Ziel, so die amerikanische
Philosophin und Philologin Judith Butler, darin bestehe, den differenzierten Geschlech-
teridentitäten in Ehe-, Familien- und Verwandtschaftsgefügen eindeutige Sexualitäten
zuzuweisen.8

Die Autorität der Gesetzgebung
Um diesen Zustand zu garantieren, bedarf es Autoritäten, die das Inzesttabu in univer-
selle Regeln übertragen.9 Im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) ist es durch den § 173
Beischlaf zwischen Verwandten als Inzestverbot festgeschrieben. Demnach wird der
sexuelle Kontakt zwischen „leiblichen Abkömmlingen“ geahndet und zu einer „Frei-
heitsstrafe bis zu drei Jahre oder mit einer Geldstrafe“10 verurteilt. Das Bundesverfas-
sungsgericht (BVerfG) begründet seine Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des §
173 am 26. Februar 2008 folgendermaßen:

       „Als Instrument zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, der Gesundheit der
       Bevölkerung und insbesondere der Familie erfüllt die Strafnorm eine appellative,
       normstabilisierende und damit generalpräventive Funktion, die die Wertsetzungen
       des Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt.“11

Die normierende Macht der staatlichen Gesetzgebung beugt mit dem Inzestverbot nicht
nur einer ambivalenten Intention von innerfamiliären Geschlechteridentitäten vor,
sondern sie schreibt ebenso eine heterosexuelle Sozialisation als allgemeingültige sowie
„gesunde“12 Norm für die Bevölkerung in Deutschland fest. Entgegen der geläufigen
Meinung, mit einem Verbot Kinder vor familiären Misshandlungen zu schützen, trägt
die Bestrafung von Inzest maßgeblich zur Begründung einer sozial-politischen Wert-
ordnung bei, die nicht-heterosexuelle Orientierungen ausgrenzt und ihre Betroffenen

7
     Vgl. Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn 2008, S. 41f. Siehe außerdem
     Lücke, Martin: Identitäten, Geschlechter und Sexualitäten im Spiegel der historischen diversity- und
     intersectionality Studies. In: Günther-Saeed, Marita & Hornung, Esther (Hg.): Zwischenbestimmungen.
     Identitäten und Geschlecht jenseits der Fixierbarkeit? Würzburg 2012, S. 61-73.
8
     Vgl. Butler, Judith: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell? In: Eming, Jutta/Jarzebowski, Claudia &
     Ulbrich, Claudia (Hg.): Historische Inzestdiskurse. Königstein/Taunus 2003, S. 304- 342, hier S. 324ff.
9
     Vgl. Butler, S. 316-323.
10
     Strafgesetzbuch. Besonderer Teil (§§ 80–358), 12. Abschnitt-Straftaten gegen den Personenstand, die
     Ehe und die Familie (§§ 169-173), hier § 173.
11
     Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 29/2008 vom 13. März 2008. Strafbarkeit des Geschwis-
     terinzests verfassungsgemäß. (26.02.2008). Abgerufen unter BVerfG.de: http://www.bundesverfassungs-
     gericht.de/pressemitteil ungen/bvg08-029.html. (aufgerufen am 25.03.2013).
12
     Siehe hierzu die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH), die sich am
     29.04.2008 für einen kritischeren Gebrauch mit dem Eugenikargument im BVerfG-Urteil ausgesprochen
     hat.
4

    kriminalisiert. Der deutsche Rechtsstaat präferiert folglich eine Vorstellung von Fami-
    lie, in der traditionelle Ehe- und Familienidentitäten, gemäß dem christlichen Ehege-
    bot, in einer eindeutig organisierten Geschlechterhierarchie gepflegt werden.13

    Die Gesetzgebungsreform im Früh- und Hochmittelalter
    Auch wenn die gegenwärtige Inzestgesetzgebung in Deutschland weitestgehend von
    religiösen Einflüssen frei ist, so beruht ihre Rechtsstruktur dennoch auf dem mittel-
    alterlichen Kirchenrecht zur christlichen Ehelehre.14 Zeitlich ist seine Rechtsgenese
    zwischen dem 4. und 11. Jh. zu verorten und führte als „Transporteur von Bewusst-
    seins- und Sinnesgehalten“15 zu rechtlichen sowie sozial-politischen Neuerungen. Zwei
    Faktoren waren dafür maßgeblich: Zum einen der unaufhaltsame Zerfall der römischen
    Reichsadministration am Ende des 4. Jh. Weltliche Verwaltungsstrukturen worden zu-
    nehmend durch geistliche Einrichtungen ersetzt, wodurch Bischöfe, Priester und Laien
    neue Aufgabenbereiche zugewiesen bekamen.16 Diese Kompetenzüberschneidung führte
    zum anderen zu einer inhaltlichen Neuausrichtung der Verwaltungsstrukturen, die sich
    dem Wort Gottes, der Heiligen Schrift, unterzuordnen hatte. Nahm die Gesetzgebung in
    der Antike eine pragmatische Haltung zur Wirklichkeit ein, so kam es ab dem 8. Jh. zu
    einem religiösen Funktionswandel, welcher die Realität nach den tugendhaften Idealen
    einer christlichen Lebensführung neu zu definieren versuchte. Die rechtliche Verbin-
    dung zwischen Mann und Frau bildete dabei keine Ausnahme. Als eine „von Gott gestif-
    tete Institution“ (Gens. 2,24) wurden die ehelichen Rechte und Pflichten als Sakrament
    für weite Teile der europäischen Christenheit verbindlich.17

    Die Blutschande als Teil des ehelichen Sakraments
    Teil dieses Ehebekenntnisses war fortan auch das Verbot der Blutschande. In der
    Geschichtswissenschaft sind die Absichten und die radikale Ausweitung dieser genea-
    logischen Regelung bis auf den 7. Grad im 11. Jh. umstritten.18 Ob als normsetzendes
    Instrument zur Unterbindung von endogamen Praktiken in germanischen Sippen,19 als
    Mittel zur Mehrung von materiellem Besitz in den Händen der westlichen Kirche,20 oder
    als religiöses Zeichen der christlichen Abstammungsfeindlichkeit von weiteren Reli-
    gionen21 - da alle Deutungsversuche von einem europaweit einheitlichen Christentum
    ausgehen, sind ihre Aussagen mal mehr und mal weniger triftig.22
    Der österreichische Historiker Karl Ubl geht einen anderen Weg. Er sieht in der religi-

    13
         Vgl. Raab, Heike: Sexuelle Politiken. Die Diskurse zum Lebenspartnerschaftsgesetz. Frankfurt a. M. 2011,
         S. 30-31.
    14
         Vgl. Ubl, Karl: Inzestverbot und Gesetzgebung. In: Wolfram Brandes (u.a. Hg.): Millennium-Studien zu
         Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. (Bd. 20) Berlin & New York 2008, S. 11.
    15
         Ubl (2008), S. 482.
    16
         Vgl. Ubl (2008), S. 479.
    17
         Vgl. Ubl (2008), S. 482f.
    18
         Vgl. Ubl (2008), S. 486.
    19
         Vgl. Goody, Jack: The development of the family and the marriage in Europe. Cambridge 1983, S.59.
    20
         Vgl. Goody (1983), S. 123ff.
    21
         Vgl. Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. München 2003,
         S. 70ff. Für einen kurzen Überblick zu den einzelnen Deutungsansätzen, vgl. Ubl (2008), S. 5 ff.
    22
          Siehe hierzu die Gedanken von Pierre Bourdieu über Heiratsstrategien bei Fuchs-Heinritz, Werner &
         König, Alexandra: Pierre Bourdieu. Konstanz 2005, S. 13ff.
5

ösen Normierung der Ehe den Willen der westlichen Kirche, das normative Selbstver-
ständnis der mittelalterlichen Gesellschaft zu gestalten. Die Blutschande dient dabei
als christliche Legitimationsquelle, als sündhafter Steigbügelhalter zur Disziplinierung.
Sämtliche Verfehlungen und Verstöße gegen das Inzestverbot wurden durch den Zorn
Gottes, der sich in Naturkatastrophen oder Epidemien äußerte, bestraft. Eine Berufung
auf die göttliche Ehrfurcht verhalf zur Überwindung der in der Spätantike entstande-
nen Kluft zwischen verschulter Rechtstheorie und seiner praktischen Anwendung, was
wiederum zu einer stärkeren Bindung der Bevölkerung an die politische Herrschaft von
Adel, Königtum und Kirche führte.23
Neben dem Ziel innerhalb der Bevölkerung ein religiöses Zugehörigkeitsbewusstsein zu
einer christlichen Gemeinschaft zu etablieren, diente das Inzestverbot auch als Regula-
tionsmechanismus zur Organisation einer gottgewollten Ordnung. Die Integrität alter
gesellschaftlicher Schichten sollte dabei zu Gunsten einer größeren gesellschaftlichen
Komplexität aufgelöst werden, wodurch neue Abhängigkeitsverhältnisse und Rivalitä-
ten die Herrschaftsansprüche der weltlichen und geistlichen Fürsten stärken sollten.24

Systematisierung und Kritik
Während die Kirche im Verbot der Blutschande zunehmend ihre Möglichkeit erkann-
te, das Sakrament der Ehe und somit die Autorität des Glaubens zu stärken, sahen die
weltlichen Herrscher darin eine Bedrohung des familiären Ehrgefühls und ein Einbü-
ßen ihrer Machtstellung. Mittels einer umfangreichen Systematisierung der Ehelehre,
versuchte im 13. Jh. der Philosoph und Theologe Thomas von Aquin diesen Konflikt zu
klären. Im Artikel 9 des Bands 22 seiner Summa Theologica zeigt er auf, dass in fami-
liären Beziehungen tendenziell die Gefahr zu einer übergroßen Libido besteht, deren
unmittelbare Folgen die Blutschande und schließlich der Verfall des Ehesakraments
sowie der christlichen Gesellschaftsordnung sind.25 Die Familienehre sei demnach kein
alleiniger Garant für den Ordnungserhalt, sondern sie müsse sich der Liebe zu Gott und
somit der kirchlichen Autorität

Neben Befürwortern wie von Aquin, existierten ebenso kritische Stimmen, die sich vor
allem im weltlichen Lager organisierten. Mit subtiler Kritik in seinen Werken begeht der
Epiker Hartmann von Aue gegen die Autorität der Kirche auf. So berichtet er in seinem
wohl bekanntesten Werk Gregorius, Der arme Sünder von einem inzestuösen Verhältnis
zwischen einem fiktionalen königlichen Geschwisterpaar, welches trotz Gottesliebe und
Achtung der gottgewollten Ordnung ihre sündhafte Beziehung nicht verhindern konn-
te.26

Beide Beispiele schildern den Versuch, die sozial-politische Macht je nach Standpunkt
zu konsolidieren. Gleichermaßen wird in diesem Konflikt zwischen sacerdotium und
regnum aufgezeigt, dass eine eindeutige Abgrenzung der einzelnen Geltungsbereiche

23
     Vgl. Ubl (2008), S. 482ff.
24
     Vgl. Ubl (2008), S. 490.
 Thomas von Aquin: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und
25

 Österreichs, (Bd. 22) Graz (u.a.) 1993, S. 97ff.
26
  Vgl. Hörner, Petra: gebote, guot und êre in Hartmanns >>Gregorius
6

    untereinander nicht möglich war. Ein gegenseitiges Arrangieren wurde folglich not-
    wendig, um ein herrschaftliches Durchdringen der Familienstrukturen und schließlich
    der christlichen Kultur zu organisieren.27

    Historische Kontinuität?!
    Für die Zeit des Mittealters als auch für die staatliche Verfasstheit der deutschen Ge-
    sellschaft in der Gegenwart kann demnach resümiert werden, dass die Konzeptualisie-
    rung von Sexualitäten in Form von Ehe und Familie ein wesentlicher Bestandteil von
    Machtausübungen und Herrschaftsansprüchen sind. Dabei liegt beiden geschichtlichen
    Abschnitten „die Heteronormativität als ein unsichtbares Denksystem, als normatives
    Muster, als kulturelles Schemata und Wissensform“28 zugrunde, welches durch eine
    christlich oder pathologisch begründete Renaturalisierung als scheinbar legitim gilt.
    Bestehende Geschlechterhierarchien und sexuelle Identitäten werden somit unhinter-
    fragt akzeptiert und übernommen, was zu schwerwiegende Problemen im gesellschaft-
    lichen Zusammenleben führen kann.

    Einordnung
    Epochaler Schwerpunkt: Das Mittelalter
    Empfohlene Klassenstufe: Sek. I, ab 8. Klasse
    Themenvorschläge:

         - Hartmann von Aue und die Legende des guten Sünders Gregorius

         - Klerikale Wirkmächtigkeiten im Mittelalter, am Bsp. von Thomas von Aquins
            Summa Theologica

         - Geschlechterbeziehungen im Mittelalter

         - Die Konstruktion von familiären Rollen und Identitäten im Mittelalter

         - Das Inzestverbot als Konfliktfeld von sacerdotium und regnum im Mittelalter

         - Legenden und fiktive Geschichten als Ausdruck von Herrschaftskritik im Mittel-
            alter

    27
         Vgl. Ubl (2008), S. 494 ff.
    28
         Raab (2011), S. 319.
7

Reihenverlaufsplan zur Reihe:
Verbotene Liebe heute und verbotene Liebe im Mittelalter
8

    Baustein 1: Die Gesellschaft, meine Familie und ich – Was bedeu-
    tet eigentlich Familie? (45 min)

         Inhalt / Ablauf /               Ziele / Kompetenzen              Material / Methoden
            Impulse
    Inhalt:                             Methodenkompetenz                Stammbaumschema (M1) in EA
    Die Schüler_innen setzen sich       Die Schüler_innen arbeiten mit   + Galeriewalk
    mit dem Konzept Familie in          Schaubildern
                                                                         Mindmap Familie (M2) in UG,
    der Gegenwart auseiander und
                                        Orientierungskompetenz           Projektion an Tafel/Overhead/
    werden durch das Aufbrechen
                                        Die Schüler_innen begegnen       Smartboard
    von heteronormativen
                                        Fremdem und Vertrautem
    Familienkonstellationen an die                                       Der Stammbaum des Gregorius
                                        mit kritischer Wahrnehmung,
    Thematik „Inzest“ herangeführt.                                      nach der Überlieferung von
                                        Offenheit und Respekt behalten
                                                                         Hartmann von Aue (12.Jh.) (M3) in
    Ablauf:                             oder entwickeln Neugier auf
                                                                         UG/ Plenum
    Die Schüler_innen erstellen in      und Akzeptanz für Unbekanntes,
    EA einen Stammbaum zu ihrer         Fremdes, Geschichtliches.        Meinungslinie (M4) in UG

    Familie und stellen diese auf
    einem Galeriewalk vor. Im UG
    mit der Lehrkraft diskutieren sie
    über grundlegende Eigenschaften,
    Beziehungen etc. die eine Familie
    ausmachen und systematisieren
    diese in einem Mind-Map.

    Abschließend werden die Schüler_
    innen durch die Präsentation
    eines inzestuösen Stammbaums
    „verunsichert“ und diskutieren im
    UG, inwiefern der Stammbaum
    eine Familie in ihrem Sinne
    darstellt. Dazu positionieren sie
    sich am Ende der Stunde auf der
    Meinungslinie
9

Baustein 2: Thomas von Aquin über die Blutschande –
Zum Schutz der Familie oder zum Schutz des Glaubens? (90 min)

Inhalt / Ablauf / Impulse               Ziele / Kompetenzen                 Material / Methoden

Inhalt:                                 Methodenkompetenz                  Mindmap Familie (M2) &
Die Stunde bietet einen ersten          Die Schüler_innen arbeiten         Blutschande in: Summa Theologica.
Einblick über die normensetzende        mit Schaubildern und (fiktiven)    Masshaltung 2.Teil (1267 –
Wirkung von religiösen Regeln auf       historischen Quellen.              1273) Artikel 9 (Q1; Q2 & Q3) in
das Konzept „Familie“ im Mittelalter.                                      Gruppenpuzzle
                                        Deutungs- und
Ein wesentlicher Akteur stellte in
                                        Analysekompetenz                   Sicherungstabelle: Summa
jener Zeit Thomas von Aquin dar,
                                        Die Schüler_innen verwenden        Theologica (M 5) im Gruppenpuzzle
der mit seinem Wirken wesentlichen
                                        fachspezifische Begriffe (z.B.
Einfluss auf das kanonische Recht                                          Der Stammbaum des Gregorius
                                        Unkeuschheit und Keuschheit)
nahm.                                                                      nach der Überlieferung von
                                        fassen Entwicklungen und
                                                                           Hartmann von Aue (12.Jh.) (M3)
Ablauf:                                 Strukturen nach vorgegebenen
                                                                           Diskussion im UG/ Plenum
Die Schüler_innen analysieren die       Aspekten zusammen zeigen
Quellen zum kanonischen Recht           Perspektiven unterschiedlicher     HA: Eigenständige Narration

von Thomas von Aquin vor dem            Gruppen in konkreten               aus Perspektive von Thomas

Hintergrund des in der Stunde           historischen Situationen auf und   von Aquin über inzestuöse

zuvor erstellen Mindmaps im             vergleichen diese.                 Familienkonstellation.

Gruppenpuzzle und sichern ihre
                                        Narrative Kompetenz
Ergebnisse auf dem Arbeitsblatt.
                                        Die Schüler_innen
In einem zweiten Schritt                verknüpfen erzählende und
diskutieren die Schüler_innen           argumentierende Elemente.
im UG die Stundenfrage
hinsichtlich des normsetzenden
Einflusses des kanonischen
Rechts auf mittelalterliche
Familienkonstellationen.
Abschließend werden die Schüler_
innen aufgefordert, aus der
Perspektive von Thomas von Aquin
über den inzestuösen Stammbaum
einer Königsfamilie zu urteilen und
in der Begründung ihr erworbenes
historisches Wissen zu narrativieren
(möglicher Stunden Ausstieg für 1
Std. nach Aufgabe 5)
10

     Baustein 3: Hartmann von Aue über die Geschwisterliebe –
     Familienglück oder Familientragödie? (90 min)

          Inhalt / Ablauf / Impulse                               Ziele /                          Material /
                                                               Kompetenzen                         Methoden
     Inhalt:                                               Methodenkompetenz                 Der Stammbaum des
     In dieser Stunde wird die inzestuöse Beziehung        Die Schüler_innen arbeiten        Gregorius nach der
     des königlichen Geschwisterpaars in der               mit Schaubildern und (fiktiven)   Überlieferung von
     Gregorius Legende vor dem Hintergrund des             historischen Quellen              Hartmann von Aue
     bereits erworbenen historischen Wissens zur                                             (12.Jh.) (M3) in UG &
                                                           Deutungs- und
     Wirkmächtigkeit des kanonischen Rechts im                                               Hypothesenbildung
                                                           Analysekompetenz
     Mittelalter thematisiert. Dabei werden die
                                                           Die Schüler_innen verwenden       Der Inzestfall zwischen
     religiösen Familiennormen der vermeidlichen
                                                           fachspezifische Begriffe,         Bruder und Schwester (Q4)
     „Blutschande“ aus der Perspektive des
                                                           fassen Entwicklungen und          & Die Schwangerschaft
     Geschwisterpaars gegenübergestellt und
                                                           Strukturen nach vorgegebenen      der Schwester (Q5)
     hinsichtlich inner- und außerfamiliäre Zwängen
                                                           Aspekten zusammen, zeigen         im Gruppenpuzzle
     dekonstruiert. Abschließend werden mögliche
                                                           Perspektiven unterschiedlicher    + Sicherungstabelle:
     religiöse, gesellschaftliche, politische Folgen für
                                                           Gruppen in konkreten              Gregorius Legende (M6)
     die Familie und Gregorius antizipiert.
                                                           historischen Situationen auf
                                                                                             Die Konsequenzen für das
     Ablauf:                                               und vergleichen diese.
                                                                                             Geschwisterpaar (Q6) in
     Zu Beginn beschreiben die Schüler_innen den
                                                           Narrative Kompetenz               PA + Sicherungstabelle:
     bereits bekannten inzestuösen Stammbaum
                                                           Die Schüler_innen                 Gregorius Legende (M6)
     und formulieren auf Basis ihres historischen
                                                           verknüpfen erzählende und
     Wissens zum kanonischen Recht Hypothesen                                                Diskussion im UG/Plenum
                                                           argumentierende Elemente.
     über mögliche Folgen für die abgebildete                                                HA: Eigenständige Narration
     Königsfamilie.                                                                          über das Schicksal des
     Des Weiteren analysieren die Schüler_innen                                              jungen Gregorius
     zunächst im Lerntempoduett die Q4 & Q5
     und sichern ihre Ergebnisse auf dem M6.
     Ihre Ergebnisse diskutieren sie vor dem
     Hintergrund ihrer eingangs formulierten
     Hypothesen, bestätigen oder verwerfen diese
     und deuten auf Grundlage von Q 6 in Partner_
     innenarbeit einen möglichen Ausweg für das
     Geschwisterpaar.

     Abschließend sichern die Schüler_innen ihr
     erworbenes historisches Wissen, indem sie
     ein mögliches Schicksal für den in Blutschande
     geborenen Gregorius narrativieren (möglicher
     Ausstieg für 1 Std. nach Aufgabe 5).
Baustein 4: Verbotene Liebe im Mittelalter und verbotene Liebe
heute – Akzeptiert oder Verurteilt? (45 min)

 Inhalt / Ablauf / Impulse              Ziele / Kompetenzen                 Material / Methoden

Inhalt:                                 Methodenkompetenz                   Narrationen der Schüler_innen
Diese Stunde bildet den Abschluss       Die Schüler_innen arbeiten mit      im Schüler_innenvortrag
der Reihe, in der die Narration         Schaubildern und Kommentar zu
                                                                            Meinungslinie (M4) aus 1.Stunde
der Schüler_innen mit der               BVerfG-Urteil
                                                                            im UG
aktuellen Inzestgesetzgebung in
                                        Narrative Kompetenz
Deutschland verglichen werden, um                                           Auszug aus § 173 (StGB) Beischlaf
                                        Die Schüler_innen bewerten
in einer Gesamtreflexion mögliche                                           zwischen Verwandten (Q7)
                                        ansatzweise die Vielfalt der
normstrukturierende Kontinuitäten                                           & BVerfG-Entscheidung zur
                                        Möglichkeiten menschlichen
und Diskontinuitäten zum Konzept                                            Verfassungsmäßigkeit des § 173
                                        Handelns in der Vergangenheit
„Familie“ im Mittelalter und Heute                                          vom 26.02.2008 (Q8) im UG/
                                        und entwickeln daraus
aufzuzeigen.                                                                Plenum
                                        individuelle Schlussfolgerungen
Ablauf:                                 für die Gegenwart.                  - (M9) Feedbackbogen in EA

Die Schüler_innen tragen ihre
                                        Sie hören den Argumenten
quellengestützten Narrationen vor
                                        anderer nachvollziehend und
und reflektieren im Plenum anhand
                                        reflektierend zu, gehen auf diese
der Meinungslinie aus der 1. Stunde,
                                        ein und diskutieren kontroverse
inwiefern das Schicksal des Gregorius
                                        Deutungen sachlich und tolerant.
mit dem Konzept „Familie“ aus der
                                        Dabei sind sie zunehmend
Gegenwart übereinstimmt.
                                        in der Lage, den eigenen
Abschließend diskutieren die Schüler_   Standpunkt und die persönlichen
innen anhand der BVerfG-                Wertmaßstäbe mit Distanz zu
                                        überdenken und zu relativieren
Entscheidung über die
Verfassungskonformität des StGB §
173 Beischlaf zwischen Verwandten,
inwiefern sich die Situation für
die Familie von Gregorius und
für Gregorius selbst aus heutiger
Perspektive geändert hätte. Sie
verweisen dabei auf historische
Kontinuitäten und Diskontinuitäten
und formulieren mündlich ein
historisches Urteil hinsichtlich der
Reihenfrage.

- Feedback-Bogen
12

                   Baustein 1:
                   Die Gesellschaft, meine Familie und ich – Was
                   bedeutet eigentlich Familie?
     Hinsichtlich fehlender historischer Quellen, handelt es bei der ersten Unterrichts-
     einheit nicht um eine Geschichtsstunde im klassischen Sinne. Der Fokus bezieht sich
     primär auf das Aufzeigen und das Vermitteln von verschiedenen Familienbildern und
     dient als thematische Sensibilisierung.
     Zu diesem Zweck werden die bestehenden Schüler_innenvorstellungen von Familien-
     konzepten in Gegenwart und Vergangenheit erfragt, sowie auf normsetzende Einflüs-
     se aus Gesellschaft und Staat hin untersucht. Die Schüler_innen werden durch diese
     Einstiegphase dazu gebracht ihr persönliches Konzept von Familie zu Reflektieren und
     sich darüber hinaus bewusst zu werden, wie sie und andere das Konzept „Familie“
     rezipieren.
     Anhand des quellenbasierenden Stammbaums aus Hartmann von Aues „Gregorius. Der
     gute Sünder“, werden die Schüler_innen mit dem vermeintlichen Sonderfall „Inzest“
     aus einer mittelalterlichen Erzählung konfrontiert. Dadurch werden die Schüler_innen
     in die Lage versetzt, ihre gegenwärtigen Bilder von Familien mit dem an Hand der Blut-
     schande/des Inzests beleuchteten mittelalterlichen Bildes zu vergleiche.
Einstieg: mögliches Schema eines Stammbaums
                                              13
14

                                                         [M 2] Mindmap Familie

                           Familiäre  Beziehungen                                               Außerfamiliäre  Beziehungen  

                                                                                        

                                                              Arten  von  Familie  

                           Kulturelle  Bedürfnisse                                                 Natürliche  Bedürfnisse  
                           (Rituale  und  Symbole)                                                 (menschliche  Gefühle)  

                                                                                             
                        
[M 2] Mindmap Familie (optionale Lösung)

         Familiäre Beziehungen                                                  Außerfamiliäre Beziehungen

- Großeltern                                                              - Berufsleben       - Freundeskreis
- Eltern                                                                  - Arbeit
- Geschwister                                                             - Schule  
  ....

                                               Arten von Familie

                                    - Patchwork-Familie
                                    - Kernfamilie (Eltern + Kinder)
                                    - Großfamilie (Großeltern+Onkel...)
                                    - Alleinerziehend

         Kulturelle Bedürfnisse                                                    Natürliche Bedürfnisse
         (Rituale und Symbole)                                                     (menschliche Gefühle)

- Hochzeit   - das „Ja-Wort“                                               - Vertrauen         - Liebe
- Ehe        - Ausflüge                                                    - Fürsorge
- Ehering    - gemeinsames                                                 - Geborgenheit
  ...          Mittagessen
                                                                                                                15
16

[M 3] Der Stammbaum des Gregorius nach der Überlieferung von Hartmann von Aue
                                  (12.Jh.)

   Mutter                                             Vater
 Königin von                                        König von
 Aquitanien                                         Aquitanien

             Bruder                        Schwester
            Prinz von                    Prinzessin von
            Aquitanien                    Aquitanien

                          Gregorius
[M 4] Meinungslinie

Der Stammbaum zeigt                             Der Stammbaum zeigt eine

eine unmögliche Familie                         mögliche Form der Familie
                                                                            17
18

     Didaktische Anmerkung
     Die vorliegenden vier Unterrichtseinheiten bilden eine in sich geschlossene Unter-
     richtsreihe, deren Einstieg mit dem Thema „Die Gesellschaft, meine Familie und ich
     – Was bedeutet eigentlich Familie?“ beginnt. Angesichts der kompetenzorientierten
     Unterrichtsplanung, ist eine Durchführung einzelner Unterrichtseinheiten außerhalb
     der gesamten Reihe möglich. Ein Anspruch auf inhaltliche Vollständigkeit besteht je-
     doch nicht mehr.

     Einstieg
     Zu Beginn der Stunde werden die Schüler_innen aufgefordert, einen Stammbaum ihrer
     Familie zu erstellen (ggf. müsste das Konzept des Stammbaums kurz erklärt werden,
     hierfür könnte das beigefügte Schema M1 genutzt werden). Anschließend werden die
     Stammbäume zu einem Galeriewalk angeordnet, so dass die Schüler_innen die Ergeb-
     nisse betrachten und sich gegenseitig erläutern (Alternative: es genügt, wenn im Ple-
     num einige Stammbäume vorgestellt werden). Hierbei ist es wichtig die Schüler_innen
     darauf aufmerksam zu machen, dass sie mit Respekt und Toleranz anderen Entwürfen
     begegnen sollen.

        Arbeitsauftrag:
        Bitte erstellt einen Stammbaum eurer Familie.

     Erarbeitung
     Um das Thema des Bausteins (Was bedeutet eigentlich Familie?) zu erarbeiten bie-
     tet es sich an eine Mindmap (M 2) zum Konzept Familie anzufertigen. Diese kann als
     Arbeitsblatt, als Tafelbild oder am Beamer/Smartboard/Overhead den Schüler_innen
     schematisch vorgegeben werden oder frei angefertigt werden. Eine schematische Vor-
     gabe bietet sich jedoch an, um eine Vergleichbarkeit der Mindmaps zu gewährleisten.
     Durch diesen Arbeitsschritt werden die Schüler_innen dazu aufgefordert über das ihnen
     selbstverständliche Konzept Familie nachzudenken und ihr Bild dieses Konzepts zu
     reflektieren.

     Auswertung
     Die Ergebnisse dieses Arbeitsschritts sollten im Unterrichtsgespräch (UG) zusammen-
     getragen und diskutiert werden, so dass möglichst viele verschiedene Ergebnisse zur
     Geltung kommen (Orientierungs- und Methodenkompetenz).

        Arbeitsauftrag:
        Bitte schaut euch die Mindmap an und erstellt eure eigene. Stellt euer Ergebnis
        im Plenum vor.

     Anschließend werden die Schüler_innen durch einen inzestuösen Stammbaum (M 3)
     verunsichert. Dieser kann mit Beamer/Smartboard/ Overhead an die Tafel projiziert
     werden.
19

Sicherung
   Diskussionsfrage:
   Bildet dieser Stammbaum eine mögliche Familie ab?

Die Schüler_innen werden aufgefordert, ihre intuitiven Vorausurteile in der Meinungs-
linie (M 4) zu verorten. Diese Vorausurteile können am Ende der Unterrichtsreihe (siehe
Baustein 4) erneut aufgegriffen werden, um die Schüler_innen nach Abschluss der The-
matik zum Reflektieren ihres Lernprozesses anzuregen.
20

                          Baustein II:
                          Thomas von Aquin über die Blutschande –
                          Zum Schutz der Familie oder zum Schutz des
                          Glaubens?
                                                   Thomas von Aquin ist für seine philosophisch-theologi-
                                                   schen Schriften bekannt. Zu seinen größten Verdiensten
                                                   zählt die Vereinigung der antiken Philosophie Aristote-
                                                   les mit den Inhalten der christlichen Glaubenslehre.
                                                   Diese Verbindung ist die Voraussetzung zur natürlichen
                                                   Gotteserkenntnis. Darunter ist zu verstehen, dass sich
                                                   die von Gott erschaffene Welt, im Leib und in der Seele
                                                   eines Menschen vereint. Strebt ein Mensch nach Wissen
                                                   und Erkenntnis, so muss er stets seinen Willen auf das
                                                   Gute      – auf den Glauben an Gott – richten. Demnach ist
                                                   ein gutes Leben, ein nach Gottes Willen ausgerichtetes
                                                   Leben. Dieses Prinzip liegt auch seinem wohl wichtigs-
                       Porträt:                    ten Werk, der Summa Theologica, zugrunde. Verfasst im
                  Thomas von Aquin
                    (1225 - 1274)                  Stil eines Lehrbuchs, sind in mehreren Artikeln Fragen
                                                   formuliert, die sich mit besonderen Herausforderungen
                                                   einer guten Lebensführung auseinandersetzen. Eine
                                                   Herausforderung betrifft das Thema Blutschande, wel-
                                                   ches im Artikel 9 beschrieben und diskutiert wird.29

     29
          Vgl. Schönberger, Rolf: Thomas von Aquin zur Einführung. Hamburg 2012, S. 14-35.
21

    [Arbeitsblätter und Quellen]
              [Q 1]: Blutschande in: Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (1267 – 1273)

                                                           Artikel 9

    Die Blutschande betrifft [...] den „Mißbrauch von            15 ersichtlich,        daß        vor       allem        die
    Blutsverwandten oder Verschwägerten“. Also ist                     Geschlechtstätigkeiten mit einer der Ehrerbietung
    Blutschande       eine     besondere        Art      von           entgegenstehenden gewissen Schmach verbunden
    Unkeuschheit. [...] Der geschlechtliche Umgang                     sind; deshalb empfinden die Menschen dabei auch
 5 mit Blutsverwandten und Verschwägerten verträgt                     Scham. Und so ist es ungeziemend, wenn sich
    sich     aber      nicht     mit      den         rechten    20 solche Personen geschlechtliche begegnen. Dies
    Geschlechtsbeziehungen, und zwar aus folgendem                     scheint auch der Grund für jene Levitikusstelle zu
    Grund.                                                             sein, wo es heißt: „Es ist deine Mutter, blicke ihre
    Der Mensch muss natürlicherweise seinen Eltern                     Scham nicht an.“ [...]
10 nahe abstammen. Dies gilt so sehr, daß es bei den                   Der Geschlechtsverkehr unter Verwandten würde
    Alten, wie Maximus Valerius berichtet, dem Sohn              25 zu einer vollkommenen Verderbnis der
    nicht erlaubt war, zugleich mit seinem Vater zu                    Keuschheit führen [...]. Und deshalb wird im
    baden, damit sie sich gegenseitig nicht nackt                      besonderen Sinn der Mißbrauch derartiger
    sähen. Aus dem vorher Gesagten ist aber klar                       Personen mit „Inzest“ bezeichnet.

    [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz
    (u.a.) 1993, S. 97-101.]

  Zeile               Wort/Wendung                                     Erklärung/Beispielsatz                        Endung/P
                                                                                                                       lural

    1      die Blutschande                              (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen
                                                        Verwandten (Inzest)
    3      die Blutsverwandten                          (Substantiv)der oder die Blutsverwandte = nahe
                                                        Verwandte (Eltern, Geschwister)
    3      Verschwägerte                                (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne              die, -en
                                                        Verwandte (Onkel, Tanten etc.)
    5      die rechte Geschlechtsbeziehung              = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau
    6      natürlicherweise                             (Adjektiv) hier: von Gott erschaffen
    7      Maximus Valerius                             Name: lateinischer Schriftsteller, lebte im 1. Jh. n.
    9      die Geschlechtstätigkeiten                   Chr.
                                                        (Substantiv) die Geschlechtstätigkeit;
    9      die Ehrerbietung                             hier: Geschlechtsverkehr                                     die, -en
    9      die Schmach                                  (Substantiv) = Verehrung einer Person
    10     ungeziemend                                  (Substantiv) eine Schande, eine Demütigung
    11     Levitikus                                    (Adjektiv) unpassend, inkorrekt, nicht richtig
                                                        Name: 3. Buch Mose in der Bibel, auch als
    12     die Scham                                    Geschichts- und Gottesdienstbuch bekannt
    13     das Verderbnis                               (Substantiv) hier: das weibliche Geschlechtsteil             die, -se
                                                        (Substantiv) hier: die Sünde
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                       [Q 2] Blutschande in: Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (1267 – 1273)

                                                                 Artikel 9

          Die Blutschande betrifft den „Mißbrauch von 15 heit                            die        Menschen            allzusehr
          Blutsverwandten oder Verschwägerten“. Also                         verweichlichen. Aus diesem Grund scheint
          ist Blutschande eine besondere Art von                             das Verbot des Alten Testamentes vor
          Unkeuschheit.         [...]     Der    geschlechtliche             allem jenen Personen gegolten zu haben,
     5    Umgang          mit           Blutsverwandten         und          die     notwendigerweise          eine      Lebens-
          Verschwägerten verträgt sich aber nicht mit 20 gemeinschaft miteinander bilden mußten.
          den rechten Geschlechtsbeziehungen, und                            [...] Eine verschwägerte Person wird mit
          zwar aus folgendem Grund. [...]                                    jemandem durch einen Blutsverwandten
          Die Blutsverwandten müssen notwendiger-                            verbunden. Weil nun eines wegen des
     10   weise miteinander zusammenleben. Wenn nun                          anderen ist, so gilt diesbezüglich der
          die Leute nicht von geschlechtlichem Umgang 25 Unziemlichkeit                               das       gleiche        für
          abgehalten würden, so wäre ihnen zu viel                           Blutsverwandtschaft                wie            für
          Gelegenheit zum geschlechtlichen Zusammen-                         Schwägerschaft.
          finden gegeben, und so würde die Unkeusch-

          [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz
          (u.a.) 1993, S. 97-101.]

          Zeile                 Wort/Wendung                                   Erklärung/Beispielsatz                         Endung/
                                                                                                                               Plural

             1      die Blutschande                           (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen
                                                              Verwandten (Inzest)
             2      die Blutsverwandten                       (Substantiv) der oder die Blutsverwandte = nahe
                                                              Verwandte (Eltern, Geschwister)
             2      Verschwägerte                             (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne                die, -en
                                                              Verwandte (Onkel, Tanten etc.)
            7       die rechte Geschlechtsbeziehung           = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau              die, -en
            11      geschlechtlicher Umgang                   der geschlechtliche Umgang = sexuelle Beziehung
                                                              (altmodisch)
          13-14     geschlechtlichen Zusammenfinden           = Geschlechtsverkehr (altmodisch)
           25       die Unziemlichkeit                        (Substantiv) = etwas gehört sich nicht

                                                                                                                                22
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                [Q-3] Blutschande in: Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (1267 – 1273)

                                                        Artikel 9

         Die Blutschande betrifft den „Mißbrauch von                    Hinblick      auf    den     Nutzen       und        die
         Blutsverwandten oder Verschwägerten“. Also                     Ehrbarkeit          der      Eintracht          durch
         ist Blutschande eine besondere Art von                         verschiedene        Verwandtschaftsgrade             zu
         Unkeuschheit.        [...]     Der    geschlechtliche 20 verknüpfen. Es sollten sich eben nicht
5        Umgang        mit            Blutsverwandten      und          mehrere Verwandtschaftsverhältnisse in
         Verschwägerten verträgt sich aber nicht mit                    einem Menschen vereinen, sondern jedes
         den rechten Geschlechtsbeziehungen, und                        der Verhältnisse sollte sich auf einzelne
         zwar aus folgendem Grund. [...]                                verteilen.“ [...]
         Wenn nämlich der Mann eine auswärtige Frau 25 Bei                         der         Geschlechtsvermischung
10       nimmt, dann werden mit ihm, wie wenn sie                       verwandter Personen gibt es etwas, was in
         seine Blutsverwandten wären, in besonderer                     sich ungeziemend ist und der natürlichen
         Freundschaft alle Verwandten der Gattin                        Vernunft widerspricht, wie etwa die
         verbunden. [Dadurch wird der Vermehrung                        Geschlechtsverbindung zwischen Eltern
         von Freundschaften gewehrt]. Darum sagt 30 und Kindern, die an sich und unmittelbar
15       Augustinus: „Mit vollem Recht wurde auf die                    miteinander verwandt sind. Denn die
         Liebe Rücksicht genommen, um Menschen im                       Kinder

 [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz
                                                  (u.a.) 1993, S. 97-101.]

Zeile                 Wort/Wendung                                  Erklärung/Beispielsatz                         Endung/
                                                                                                                    Plural

     1      die Blutschande                         (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen
                                                    Verwandten (Inzest)
     3      die Blutsverwandten                     (Substantiv)der oder die Blutsverwandte = nahe
                                                    Verwandte (Eltern, Geschwister)
     3      Verschwägerte                           (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne               die, -en
                                                    Verwandte (Onkel, Tanten etc.)
     7      die rechte Geschlechtsbeziehung         = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau
     9      auswärtig                               (Adjektiv) hier: nicht zur Familie gehörend
    12      die Gattin                              (Substantiv) = die Ehefrau (altmodisch)
    15      Augustinus von Hippo                    Name: wichtiger Begründer der christlichen
                                                    Kirchenlehre, 4 Jh. n. Chr.
 18         die Ehrbarkeit                          (Substantiv) hier: etwas Heiliges würdigen
 18         die Eintracht                           (Substantiv) = die Harmonie
 27         ungeziemend                             (Adjektiv) = unpassend, inkorrekt, nicht richtig
27-28       der natürlichen Vernunft                = von Gott gegebene Einsicht, Zusammenhänge zu
                                                    erkennen

                                                                                                                         23
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     [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz
     (u.a.) 1993, S. 97-101.]

     Zeile                   Wort/Wendung                               Erklärung/Beispielsatz                       Endung/
                                                                                                                      Plural

        1       die Blutschande                         (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen
                                                        Verwandten (Inzest)

                                                        (Substantiv)der oder die Blutsverwandte = nahe
        3       die Blutsverwandten                     Verwandte (Eltern, Geschwister)

                                                        (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne
                                                        Verwandte (Onkel, Tanten etc.)
        3       Verschwägerte                                                                                       die, -en
                                                        = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau

        5       die rechte Geschlechtsbeziehung
                                                        (Adjektiv) hier: nicht zur Familie gehörend

        7       auswärtig
                                                        (Substantiv) = die Ehefrau (altmodisch)

        8       die Gattin
                                                        Name: wichtiger Begründer der christlichen
                                                        Kirchenlehre, 4 Jh. n. Chr.
        8       Augustinus von Hippo
                                                        (Substantiv) hier: etwas Heiliges würdigen

       10       die Ehrbarkeit
                                                        (Substantiv) = die Harmonie

       10       die Eintracht
                                                        (Adjektiv) = unpassend, inkorrekt, nicht richtig

       14       ungeziemend
                                                        = von Gott gegebene Einsicht, Zusammenhänge zu
                                                        erkennen

       15       der natürlichen Vernunft
25

[M3] Der Stammbaum des Gregorius nach der Überlieferung von Hartmann von Aue
                                  (12.Jh.)

   Mutter                                            Vater
 Königin von                                       König von
 Aquitanien                                        Aquitanien

             Bruder                        Schwester
            Prinz von                    Prinzessin von
            Aquitanien                    Aquitanien

                          Gregorius
26

                                            [M 5] Sicherungstabelle: Summa Theologica

[3] Definition:
   Blutschande

                  [4] Beschreibung von Familie                                     [5] Begründung

Q1

Q2

Q3
27

Didaktische Anmerkung
Der oben bereitgestellte Abstract kann von der Lehrkraft als kurzes Impulsreferat zur
thematischen Einführung verwendet werden. Ebenso bietet es sich an, den Abstract als
kurzen Infotext den Schüler_innen während der Erarbeitung bereitzustellen.

Einstieg
Für den Beginn dieser Unterrichtseinheit eignen sich das Mindmap (M 2) aus der ersten
Unterrichtseinheit und ein kurzer Lehrer_innenvortrag zu Thomas von Aquin. Den
Schüler_innen wird daran aufgezeigt, dass das „Konzept-Familie“ zur Zeit des Mittelal-
ters „anders“ definiert wurde (Orientierungskompetenz). Die Lehrkraft verweist darauf,
dass dieses „andere“ in einer quellenbezogenen Gruppenarbeit näher betrachtet wird.

Erarbeitung
Der folgende Arbeitsschritt ist in Gruppenarbeit mit der Methode des Gruppenpuzzles
durchzuführen. Im Vorfeld muss von der Lehrkraft die Klasse/der Kurs in drei Stamm-
gruppen mit einer möglichst gleichen Anzahl von Schüler_innen aufgeteilt werden.
Jede Stammgruppe erhält einen Quellenabschnitte zur Thematik „Blutschande“ aus der
Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (Q1; Q2; Q3), die gruppenübergreifenden Arbeits-
aufträge und den Sicherungsbogen M 5. Es bietet sich bei der Erarbeitung an, die ein-
zelnen Stammgruppen in Kleingruppen einzuteilen, so dass jeder Quellenabschnitt von
mindestens zwei Kleingruppen bearbeitet wird. Dies hat den Vorteil, dass sich jede_r
Schüler_in aktiv an der Quellenanalyse beteiligen kann.

   Arbeitsaufträge:
   1. Lest den Quellenauszug. Beachtet dabei die Worterklärungen im Glossar!
   2. Gliedert den Inhalt der Quelle mit Teilüberschriften.
   3. Formuliert eine Definition zum Begriff Blutschande
   4. Erläutert gemäß der Definition Aquins Vorstellung von Familie.
   5. Wie begründet Aquin diese? Erarbeitet seine Begründung.

Die Kleingruppenarbeit gibt allen Schüler_innen einen kurzen Überblick zu dem Begriff
„Blutschande“ und seine konstituierende Bedeutung für soziale und sexuelle Rollenbi-
ler (sex & gender) im mittelalterlichen Idealzustand des „Konzeptes-Familie“.

Sind die Schüler_innnen mit der Erarbeitung in ihren Kleingruppen fertig, tauschen
zunächst die Kleingruppen einer Stammgruppe untereinander ihre Ergebnisse aus. Die-
ser Austausch ermöglicht allen Kleingruppen auch als „Korrekturgruppe“ zu fungieren,
wodurch das Ergebnis der gesamten Stammgruppe qualitativ zunimmt. Ist die Siche-
rung in den Stammgruppen abgeschlossen, werden die Kleingruppen aus den Stamm-
gruppen gemischt, so dass je drei Kleingruppen eine Expertengruppe bilden, in der die
Ergebnisse zu allen Quellenabschnitten (Q 1, Q 2 & Q 3) im Dialog ausgetauscht und auf
dem Sicherungsbogen M 5 ergänzt werden.

Im Plenum werden die Ergebnisse von allen Schüler_innen präsentiert, gegebenenfalls
von der Lehrkraft korrigiert und gesichert.
28

     Auswertung
     Damit die soziale und politische Wirkmächtigkeit der christlichen Religion (religion) dür
     das mittelalterliche Familienkonzept deutlich wird, diskutiert die Klasse/der Kurs vor
     dem Hintergrund der erarbeiteten Ergebnisse im Plenum die Leitfrage der Unterrichts-
     einheit Thomas von Aquin über die Blutschande – Zum Schutz der Familie oder zum Schutz des
     Glaubens?

        Diskussionsfrage:

        Thomas von Aquin über die Blutschande – Zum Schutz der Familie oder zum
        Schutz des Glaubens?

     Die Schüler_innen erkennen, dass die scheinbar naturgegebenen Rollenbilder innerhalb
     einer Familie, wie Eltern und Kinder, durch die normsetzende Wirkung der christlichen
     Religion (religion) eingefordert werden. Diese äußern sich auf der innerfamiliären Ebene
     in heteronormativ geprägten Interaktionen und Repräsentationen zwischen den ein-
     zelnen Familienmitgliedern (gender). Gleichermaßen sind Gefühle, wie Achtung, Scham
     und elterliche Liebe, nicht genuin natürliche Bedürfnisse einer Familie, sondern ein
     Ausdruck religiöser Normierung. Durch den Begriff der Blutschande werden diese sozi-
     alen und politischen Wirkmächtigkeiten erneut re-naturalisiert (sex) und als unnatürli-
     ches Familienverhältnis unter göttliche Strafe gestellt.

     Sicherung
     Damit die Schüler_innen die Wirkmächtigkeit der christlichen Religion bei der Konst-
     ruktion von Familien im Mittelalter nachvollziehen können, werden sie dazu aufgefor-
     dert, sich in die Position Aquins hineinzuversetzen und über den inzestuösen Stamm-
     baum des Gregorius (M 3) ein schriftliches Urteil anzufertigen.

        Hausaufgabe:

        Stellt dir vor, du bist Thomas von Aquin und du erhältst die Nachricht von einer
        Blutschande innerhalb einer Königsfamilie.
        Wie würdest du über diese Familie urteilen?
        Verwende dazu deine Aufzeichnungen aus der Unterrichtsstunde.
29

                 Baustein III:
                 Hartmann von Aue über die Geschwisterliebe
                 – Familienglück oder Familientragödie?30
                                       Über Hartman von Aue ist nur wenig bekannt. Er gehör-
                                       te dem gebildeten Stand des „Dienstadels“ an, der an
                                       Fürsten- und Königshöfen für die Verwaltung, sowie für
                                       das Militär- und Finanzwesen zuständig war. Mit großer
                                       Wahrscheinlichkeit diente v. Aue in einer solchen Position
                                       an einem französischen Fürstenhof als Schreiber. Neben
                                       seinen Aufgaben als Verwalter, dichtete er Geschichten,
                                       die sowohl zur Unterhaltung als auch zur Belehrung ei-
                                       nes adligen Hörerkreises dienten. Dabei verwendete er oft
                                       Bestandteile von antiken Erzählungen (Ödipus-Sage) und
                                       mittelalterlichen Biographien von Heiligen („Viten“). Eine
                                       dieser Geschichten ist die Legende des Gregorius, der gute
                                       Sünder. Sie berichtet vom Leben der fiktive Person Gre-
        Fiktives Porträt               gorius, der als Kind eines königlichen Geschwisterpaars in
       Hartmann von Aue
                                      Blutschande zur Welt kam.
         (1160-1220)

                                      Die bereitgestellten Quellenauszüge geben einen kurzen
                                      Einblick in die Zeit vor seiner unmittelbaren Geburt und
                                      thematisieren dabei folgende Aspekte:

                                      [Q-4] Der Inzestfall zwischen Bruder und Schwester
                                      [Q-5] Die Schwangerschaft der Schwester
                                      [Q-6] Die Konsequenzen für das Geschwisterpaar

 Vgl. Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins
30

 Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 319-323.
[Arbeitsblätter & Quellen]
                                                                                30

[M 3] Der Stammbaum des Gregorius nach der Überlieferung von Hartmann von Aue
                                  (12.Jh.)

   Mutter                                             Vater
 Königin von                                        König von
 Aquitanien                                         Aquitanien

             Bruder                        Schwester
            Prinz von                    Prinzessin von
            Aquitanien                    Aquitanien

                          Gregorius
31

                              [Q 4] Der Inzestfall zwischen Bruder und Schwester

         Als nun besagte adlige Kinder zweifach verwaist                  20    Alle beide waren ausgezogen, ohne Kleider, bis
         waren, nahm sich der junge Herr [ihr Bruder] sofort                    auf die Bettdecke. [...] Er begann sie nun zu
         seiner Schwester an und sorgte für sie, so gut er                      liebkosen [...]. Sie sagte: „Ja wie, Bruder? Was
         konnte und wie es seinen Pflichten entsprach. [...] Sie                hast du vor? Lass dich nicht vom Teufel um
5        lebten in großem Glück.                                                deinen Verstand bringen! [...]“ Sie dachte bei
         Als dieses Glück und die Zufriedenheit der Feind des             25    sich: >Schweige ich still, so ergeht des Teufels
         Menschengeschlechts erblickte, [...] verdross ihn das                  Wille, und ich werde die Geliebte meines
         anständige Benehmen der beiden. [...] So kam er auf                    Bruders; schreie ich hingegen, dann werden wir
         die Idee, sie ihrer Freude und ihres Ansehens zu                       für immer unser Ansehen verloren haben.< Diese
10       berauben, und überlegte, wie er ihr Glück in Unglück                   Überlegung beschäftigte sie so sehr, bis ihr
         verkehren könnte. Zu grenzloser Liebe zur eigenen                30    Bruder sie niederrang – denn er war stark und sie
         Schwester forderte der Teufel [den Bruder] auf, bis                    zu schwach –, sodass er gegen den Willen des
         seine       [noch     kindliche        Unerfahrenheit    die]          braven Mädchens schließlich den Beischlaf
         vortreffliche       Zuneigung     in    falsches   Verlangen           vollzog.
15       verkehrte. Nun war das arglose Mädchen freilich
         blind für so geartete Liebe und die unschuldige
         Unerfahrene wusste nichts darüber, wovor sie sich
                                                                                [Zitiert nach Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich
         hüten sollte, und gewährte ihrem Bruder alles, was er                  Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins
                                                                                Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 21-29.]
         wollte. [Bis zu jener Nacht]:

Zeile                   Wort/Wendung                                     Erklärung/Beispiel                            Endung/Plural

     1      zweifach verwaist                           - zweifach (Adverb) – zweimal, doppelt
                                                        - verwaist (Verb) – ohne Eltern sein
                                                        = ohne Vater und Mutter sein
 6-7        der Feind des Menschengeschlechts           - das Menschengeschlecht (Subst-n-Sing.)                              die, - er
                                                        = alle Menschen auf der Welt
                                                        - der Feind des (Genitiv)                                             die,- e
                                                        = der Teufel
     7      verdross                                    - verdrossen sein (Verb) - der Verdruss (Subst.-m-Sing.)
                                                        = hier: sich ärgern
     9      ihres Ansehens                              - das Ansehen (Subst.-n-Sing)                                        die ,- en
                                                        = guter Ruf
    13      die kindliche Unerfahrenheit                - kindlich (Adj.) – die Unerfahrenheit (Subst.-f-Sing.)               die,- en
                                                        = wenig Erfahrung haben
    15      arglos                                      - arglos (Adj.)
                                                        = wenig Erfahrung haben, wenig wissen
    16      geartete                                    -geartet (Adj.)
                                                        = wie etwas beschaffen ist
    18      gewährte                                    - etwas gewähren (Verb)
                                                        = etwas zulassen, etwas erlauben
                                                        - liebkosen (Verb) [alt]
    22      liebkosen                                   = jemanden küssen, jemanden streicheln
                                                        - ergehen (unregelmäßiges Verb)
    25      ergeht                                      = etwas passiert, etwas geschieht
                                                        - der Beischlaf (Subst.-m-Sing.) [alt]                              Kein Plural
    32      Beischlaf                                   = der Sex, der Geschlechtsverkehr

                                                                                                                                          31
32

                                         [Q 5] Die Schwangerschaft der Schwester

              „Liebste Schwester, sag mir – du bist so bedrückt –,             Die Schwester sah ihren Bruder an und sagte:
              was belastet dich? Mir ist an dir aufgefallen, dass du           „Benimm dich wie ein Mann, hör auf zu weinen
              ziemlich traurig aussiehst, das bin ich von dir gar         20   wie eine Frau, denn das kann uns leider auch
              nicht gewohnt.“ [...] Sie sagte: „Das ist unbestritten:          nicht helfen und lass uns lieber eine Lösung
     5        mir bleibt die Pein des Trauerns nicht erspart. Bruder,          finden, damit [...] wenigstens unser Kindchen
              ich bin zweifach tot, an der Seele und am Leib. [...]            nicht auch noch mit uns gemeinsam verloren sei,
              Denn wegen dir habe ich Gottes und der Menschen                  und dass nicht drei Menschen ins Verderben
              Wohlwollen verloren. Der Frevel, den wir bis jetzt          25   stürzen. Außerdem           hat man uns früher oft
              vor der Welt geheim gehalten haben, der kann nun                 gesagt, dass ein Kind niemals die Schuld seines
     10       nicht länger verborgen bleiben. Ich passe zwar gut               Vaters auf sich nehmen müsse. Fürwahr, es möge
              auf, dass ich ihn nicht verrate, aber das Kind, das ich          Gottes Gnade nicht dadurch verloren haben, dass
              unterm Herzen trage, wird ihn aller Welt kundgeben.“             wir beide für die Hölle bestimmt sind, denn es
              [... ] Der Bruder begann heftig zu weinen und stützte       30   hat an unserer Verfehlung keinerlei Schuld.
              den Kopf in seine Hand, so voller Traurigkeit wie
     15       jemand, der Sorgen hat. Seine ganze Ehre stand auf               [Zitiert nach Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich
                                                                               Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins
              dem Spiel; dennoch beklagte er mehr die Mühsal
                                                                               Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 31-33]
              seiner Schwester als sein eigenes Leid.

     Zeile                   Wort/Wendung                               Erklärung/Beispiel                       Endung/Plural

          5       Pein                                   - die Pein (Subst.-f-Sing.)                                    die,- en
                                                         = der Schmerz
          6       zweifach                               - zweifach (Adverb)
                                                         = zweimal, doppelt
          8       Wohlwollen                             - das Wohlwollen (Subst.-n-Sing.)                            kein Plural
                                                         = die Gnade, das Verständnis
          8       Frevel                                 - der Frevel (Subst.-m-Sing)                                    die,-
                                                         = ein Verstoß gegen Gott, die Blasphemie
         12       unterm Herzen tragen                   - unter dem Herz etwas tragen [alt]
                                                         = schwanger sein
         16       Mühsal                                 - die Mühsal (Subst.-f-Sing.) [alt]                            die,- e
                                                         = große Mühe haben, große Anstrengung haben
         22       Kindchen                               - das Kindchen (Subst.-n-Sing.)                                die,- en
                                                         = das ungeborene Kind
         30       Verfehlung                             - die Verfehlung (Subst.-f-Sing)                               die,- en
                                                         = hier: ein Verstoß gegen Gott, die Blasphemie

                                                                                                                                      32
33

                               [Q 6] Die Konsequenzen für das Geschwisterpaar

         Der Bruder wägte in seinem Herzen mancherlei               20    Der [Lehnsmann sagte zum Bruder]: „ Dann rate
         Überlegungen hin und her. [...] Schließlich sagte er:            ich Euch dies: Diejenigen, die in Eurem Land
         „Schwester, fasse wieder Mut! Ich habe eine Lösung               herrschen, die Jungen wie die Alten, sollt Ihr an
         für uns gefunden, die uns in die Lage versetzt, unsere           Euren Hof bestellen [...]. Ihr sollt ihnen eröffnen,
5        Schande zu verbergen: Ich habe hier im Land einen                dass Ihr umgehend im Dienste Gottes zum
         sehr erfahrenen Lehnsmann, der uns bestimmt helfen         25    Heiligen Grab ziehen wollt. [Dort büßt Eure
         kann, einen, den mir überdiese mein Vater nannte und             Sünde.] Bringt uns dann durch Eure Bitte dazu,
         mich an seine Beratung verwies [...]. Den wollen wir             dass wir unserer jungen Herrin den Lehnseid
         zu unserer Hilfe nehmen [...] und seinem Rat folgen,             leisten [...]. Bleibt Eure Schwester nämlich im
10       dann bleibt unser Ansehen erhalten.“ [...]                       Lande als Herrin, kann sie ihre Sünde und
         Da wurde der Lehnsmann rasch herbeigeholt, der             30    Schande umso besser büßen. [...] Übergebt sie
         Bote brachte ihn sogleich. Der junge Mann [der                   dann in meine Obhut vor allen anwesenden
         Bruder] sagte: „[...] Da Gott dich so ausgezeichnet              Herren. Das wird ihnen recht sein, denn ich bin
         hat – er verlieh dir Aufrichtigkeit und ein hohes Maß            der    Älteste      von     ihnen      und     auch      der
15       an ratgeberischer Fähigkeit –, lass uns daraus Nutzen            Höchstgestellte.
         ziehen. Wir wollen dir ein Geheimnis eröffnen, bei
         dem unerfreulicherweise unser gesamtes Ansehen auf               [Zitiert nach Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich
                                                                          Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins
         dem Spiel steht [...].“ Daraufhin setzen sie ihn von
                                                                          Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 35-41.]
         ihrer Lage in Kenntnis. [...]

Zeile                   Wort/Wendung                              Erklärung/Beispiel                        Endung/Plural

     1       wägte                                    - etwas wägen (starkes und schwaches Verb)
                                                      = etwas überlegen
     3       Lehnsmann                                - der Lehnsmann (Subst.-m-Sing.)                          die,- männer
                                                      = eine Person, die dient
    10       Ansehen                                  - das Ansehen (Subst.-n-Sing.)                             kein Plural
                                                      = der gute Ruf
    15       ratgeberischer                           - ratgeberisch (Adj.)
                                                      = jemanden beraten, jemanden einen Tipp geben
    17       unerfreulicherweise                      - unerfreulich (Adverb)
                                                      = etwas ist schlecht
18-19        in Kenntnis setzen                       = jemanden informieren, eine Info geben
24-25        im Dienst Gottes zum Heiligen Grab       - das Heilige Grab (Eigenname)
             ziehen                                   = Jerusalem
                                                      - zum Heiligen Grab ziehen                                 die,- züge
                                                      = der Kreuzzug, für den Glauben kämpfen                      die,- e
    27       Lehnseid                                 - der Lehnseid (Subst.-m-Sing.)
                                                      = jemanden Treue schwören                                  kein Plural
    31       Obhut                                    - die Obhut (Subst-f-Sing.) [alt]
                                                      = der Schutz, die Betreuung                                  die,- en
    34       Höchstgestellte                          - der Höchstgestellte (Subst.-m-Sing.)
                                                      = der Chef, der Anführer

                                                                                                                                 33
34

                                              [M 6] Sicherungstabelle: Gregorius Legende

               [3] Ursachen für Blutschande             [4] Verhalten des Bruders          [5] Bedenken der Schwester

     Q4

     Q5

Ausweg? Q 6:

                                                                                                                        34
[M 6] Sicherungstabelle: Gregorius Legende (Erwartungshorizont)

                    [3] Ursachen für Blutschande                    [4] Verhalten des Bruders                    [5] Bedenken der Schwester

        Q4      - Teufel missgönnt den Geschwistern ihr     - brüderliches Pflichtbewusstsein gegenüber    - reflektiert die Ursache der Blutschande
                  Glück und verleitet den Bruder zur          seiner Schwester, übernimmt elterliche       - sieht sich in Zwangslage
                  übermäßigen Liebe (Blutschande)             Rolle, jedoch noch kindlich unerfahren       - wägt zwischen geheimer sexueller
                - kindliche Unerfahrenheit lässt den        - Pflichtbewusstsein verkehrt in übermäßige      Hingabe zum Bruder und negativer
                  Bruder sein falsches Begehren verkennen     sexuelle Anziehung gegenüber Schwester,        Reputation von Öffentlichkeit ab
                à unchristliches Verhalten                   Gewaltanwendung                              à sexuelle Hingabe ist kleineres Übel als
                                                            à sexuelle Hingabe ist wichtiger als              öffentliches Ansehen zu verlieren
                                                               öffentliches Ansehen

        Q5      - ein Frevel                                - ist um Schwester besorgt                     - reflektiert ihr Verhalten als Vergehen an
                - beiderlei Verfehlung sich sexuelle        - ist um eigenes Ehrgefühl besorgt               christlichen Glauben und am Geschwister-
                  hingegeben zu haben                       - empfindet Reue                                 verhältnis (Inzesttabu)
                àsexuell unangebrachtes Verhalten          - erkennt Fehlverhalten                        - weißt Bruder zurecht
                à unchristliches Verhalten                 à öffentliches Ansehen droht durch sexuelle   à fordert gegenseitige Übernahme von
                                                            Hingabe beschädigt zu werden                       Verantwortung für das Verhalten und für
                                                                                                               zukünftiges Kind

Ausweg? Q 6:         Bruder und Schwester holen sich Rat bei erfahrenem Lehnsmann. Bruder soll auf den Kreuzzug gehen, um seine Sünde zu büßen.

Schwester soll sich zur Königin ausrufen lassen, um ihre Sünden zu büßen. Beide werden getrennt, familiäre Beziehung wird aufgelöst, um öffentlicher

Ächtung und Demütigung zu entgehen.

                                                                                                                                                         35
                                                                                                                                                              35
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