Verbotene Liebe heute und verbotene Liebe im Mittelalter
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Verbotene Liebe heute und verbotene Liebe im Mittelalter Verbotene Liebe, Blutschande, Inzest – der Geschlechtsverkehr zwi- schen leiblichen Verwandten hat viele Namen. Je nach Epoche und gesellschaftlicher Relevanz ist er geduldet, geächtet oder verboten worden. Doch hat sich seit dem Mittelalter unser Denken über das Thema Inzest grundsätzlich verändert?
2 Verbotene Liebe heute und verbotene Liebe im Mittelalter – Akzeptiert oder Verurteilt? Intro Inzest ist kein Tabuthema! Ob als erotisches und zugleich provozierendes Motiv in Mu- sik und Literatur, als eine sexuelle Verirrung, die stets von Neuem im Fokus juristischer, religiöser und naturwissenschaftlicher Diskussionen steht,1 oder von Seiten der Öf- fentlichkeit fälschlich mit körperlichen Missbrauch an Kindern gleichgesetzt2 – Inzest scheint mehr die Regel als eine Ausnahme darzustellen. So vielfältig sich das Phänomen Inzest auch deuten lässt, bereits ein flüchtiger Blick auf vergangene und zeitgenössische Gesellschaften genügt, um dabei festzustellen, dass seine allgegenwärtige Präsenz stets zwischen Ekel und Faszination verortet wurde. Inzesttabu, -vermeidung, -verbot? Zwei wissenschaftliche Betrachtungen heben sich von diesen gängigen Deutungsmus- tern explizit ab: Zum einen die des österreichischen Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856-1939), der inzestuöses Verhalten als ein unbewusstes sexuelles Verlangen (Ödi- pus/Elektra-Komplex) beschreibt, das ein Kind aufgrund seiner Sozialisation gegenüber seinen Eltern empfindet.3 Zum anderen die des französischen Ethnologen Claude Lévi- Strauss (1908-2009), der in der Problematisierung von Inzest, den Übergang des Men- schen von einem natürlichen zu einem kulturellen Wesen sah.4 Beide Forscher kamen unabhängig von ihren methodischen Ansätzen zu dem Ergebnis, dass nicht der Inzest als sexuelle Begierde einer wissenschaftlichen Erklärung bedürfe, sondern die Formen seiner kulturellen Tabuisierung, Vermeidung und Verbote.5 Führt man diesen Gedanken weiter aus, so stellt „das Inzesttabu eine >Kulturforderung der Gesellschaft
3 gung von Nachwuchs begründet. Aus der Perspektive den/der queer-studies/theory ver- körpern sie ebenso gesellschaftliche Institutionen, in denen binäre Geschlechterrollen sowie heterosexuelle Orientierungen als soziale Normen (Kategorien gender & sex) tra- diert werden. Diese Normierungen fördern gleichermaßen eine „kulturelle Ordnung“, deren hierarchische Strukturen als Produkte eines vermeintlich natürlichen Geschlech- tersystems, durch Interaktionen, Performances und Symbolik zwischen den einzelnen familiären Akteuren, in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen reproduziert werden.7 Von der Kultur als strukturgebend und somit als unentbehrlich empfunden, wird durch das Inzesttabu eine heteronormative Matrix begründet, deren Ziel, so die amerikanische Philosophin und Philologin Judith Butler, darin bestehe, den differenzierten Geschlech- teridentitäten in Ehe-, Familien- und Verwandtschaftsgefügen eindeutige Sexualitäten zuzuweisen.8 Die Autorität der Gesetzgebung Um diesen Zustand zu garantieren, bedarf es Autoritäten, die das Inzesttabu in univer- selle Regeln übertragen.9 Im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) ist es durch den § 173 Beischlaf zwischen Verwandten als Inzestverbot festgeschrieben. Demnach wird der sexuelle Kontakt zwischen „leiblichen Abkömmlingen“ geahndet und zu einer „Frei- heitsstrafe bis zu drei Jahre oder mit einer Geldstrafe“10 verurteilt. Das Bundesverfas- sungsgericht (BVerfG) begründet seine Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 am 26. Februar 2008 folgendermaßen: „Als Instrument zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere der Familie erfüllt die Strafnorm eine appellative, normstabilisierende und damit generalpräventive Funktion, die die Wertsetzungen des Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt.“11 Die normierende Macht der staatlichen Gesetzgebung beugt mit dem Inzestverbot nicht nur einer ambivalenten Intention von innerfamiliären Geschlechteridentitäten vor, sondern sie schreibt ebenso eine heterosexuelle Sozialisation als allgemeingültige sowie „gesunde“12 Norm für die Bevölkerung in Deutschland fest. Entgegen der geläufigen Meinung, mit einem Verbot Kinder vor familiären Misshandlungen zu schützen, trägt die Bestrafung von Inzest maßgeblich zur Begründung einer sozial-politischen Wert- ordnung bei, die nicht-heterosexuelle Orientierungen ausgrenzt und ihre Betroffenen 7 Vgl. Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn 2008, S. 41f. Siehe außerdem Lücke, Martin: Identitäten, Geschlechter und Sexualitäten im Spiegel der historischen diversity- und intersectionality Studies. In: Günther-Saeed, Marita & Hornung, Esther (Hg.): Zwischenbestimmungen. Identitäten und Geschlecht jenseits der Fixierbarkeit? Würzburg 2012, S. 61-73. 8 Vgl. Butler, Judith: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell? In: Eming, Jutta/Jarzebowski, Claudia & Ulbrich, Claudia (Hg.): Historische Inzestdiskurse. Königstein/Taunus 2003, S. 304- 342, hier S. 324ff. 9 Vgl. Butler, S. 316-323. 10 Strafgesetzbuch. Besonderer Teil (§§ 80–358), 12. Abschnitt-Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie (§§ 169-173), hier § 173. 11 Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 29/2008 vom 13. März 2008. Strafbarkeit des Geschwis- terinzests verfassungsgemäß. (26.02.2008). Abgerufen unter BVerfG.de: http://www.bundesverfassungs- gericht.de/pressemitteil ungen/bvg08-029.html. (aufgerufen am 25.03.2013). 12 Siehe hierzu die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH), die sich am 29.04.2008 für einen kritischeren Gebrauch mit dem Eugenikargument im BVerfG-Urteil ausgesprochen hat.
4 kriminalisiert. Der deutsche Rechtsstaat präferiert folglich eine Vorstellung von Fami- lie, in der traditionelle Ehe- und Familienidentitäten, gemäß dem christlichen Ehege- bot, in einer eindeutig organisierten Geschlechterhierarchie gepflegt werden.13 Die Gesetzgebungsreform im Früh- und Hochmittelalter Auch wenn die gegenwärtige Inzestgesetzgebung in Deutschland weitestgehend von religiösen Einflüssen frei ist, so beruht ihre Rechtsstruktur dennoch auf dem mittel- alterlichen Kirchenrecht zur christlichen Ehelehre.14 Zeitlich ist seine Rechtsgenese zwischen dem 4. und 11. Jh. zu verorten und führte als „Transporteur von Bewusst- seins- und Sinnesgehalten“15 zu rechtlichen sowie sozial-politischen Neuerungen. Zwei Faktoren waren dafür maßgeblich: Zum einen der unaufhaltsame Zerfall der römischen Reichsadministration am Ende des 4. Jh. Weltliche Verwaltungsstrukturen worden zu- nehmend durch geistliche Einrichtungen ersetzt, wodurch Bischöfe, Priester und Laien neue Aufgabenbereiche zugewiesen bekamen.16 Diese Kompetenzüberschneidung führte zum anderen zu einer inhaltlichen Neuausrichtung der Verwaltungsstrukturen, die sich dem Wort Gottes, der Heiligen Schrift, unterzuordnen hatte. Nahm die Gesetzgebung in der Antike eine pragmatische Haltung zur Wirklichkeit ein, so kam es ab dem 8. Jh. zu einem religiösen Funktionswandel, welcher die Realität nach den tugendhaften Idealen einer christlichen Lebensführung neu zu definieren versuchte. Die rechtliche Verbin- dung zwischen Mann und Frau bildete dabei keine Ausnahme. Als eine „von Gott gestif- tete Institution“ (Gens. 2,24) wurden die ehelichen Rechte und Pflichten als Sakrament für weite Teile der europäischen Christenheit verbindlich.17 Die Blutschande als Teil des ehelichen Sakraments Teil dieses Ehebekenntnisses war fortan auch das Verbot der Blutschande. In der Geschichtswissenschaft sind die Absichten und die radikale Ausweitung dieser genea- logischen Regelung bis auf den 7. Grad im 11. Jh. umstritten.18 Ob als normsetzendes Instrument zur Unterbindung von endogamen Praktiken in germanischen Sippen,19 als Mittel zur Mehrung von materiellem Besitz in den Händen der westlichen Kirche,20 oder als religiöses Zeichen der christlichen Abstammungsfeindlichkeit von weiteren Reli- gionen21 - da alle Deutungsversuche von einem europaweit einheitlichen Christentum ausgehen, sind ihre Aussagen mal mehr und mal weniger triftig.22 Der österreichische Historiker Karl Ubl geht einen anderen Weg. Er sieht in der religi- 13 Vgl. Raab, Heike: Sexuelle Politiken. Die Diskurse zum Lebenspartnerschaftsgesetz. Frankfurt a. M. 2011, S. 30-31. 14 Vgl. Ubl, Karl: Inzestverbot und Gesetzgebung. In: Wolfram Brandes (u.a. Hg.): Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. (Bd. 20) Berlin & New York 2008, S. 11. 15 Ubl (2008), S. 482. 16 Vgl. Ubl (2008), S. 479. 17 Vgl. Ubl (2008), S. 482f. 18 Vgl. Ubl (2008), S. 486. 19 Vgl. Goody, Jack: The development of the family and the marriage in Europe. Cambridge 1983, S.59. 20 Vgl. Goody (1983), S. 123ff. 21 Vgl. Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. München 2003, S. 70ff. Für einen kurzen Überblick zu den einzelnen Deutungsansätzen, vgl. Ubl (2008), S. 5 ff. 22 Siehe hierzu die Gedanken von Pierre Bourdieu über Heiratsstrategien bei Fuchs-Heinritz, Werner & König, Alexandra: Pierre Bourdieu. Konstanz 2005, S. 13ff.
5 ösen Normierung der Ehe den Willen der westlichen Kirche, das normative Selbstver- ständnis der mittelalterlichen Gesellschaft zu gestalten. Die Blutschande dient dabei als christliche Legitimationsquelle, als sündhafter Steigbügelhalter zur Disziplinierung. Sämtliche Verfehlungen und Verstöße gegen das Inzestverbot wurden durch den Zorn Gottes, der sich in Naturkatastrophen oder Epidemien äußerte, bestraft. Eine Berufung auf die göttliche Ehrfurcht verhalf zur Überwindung der in der Spätantike entstande- nen Kluft zwischen verschulter Rechtstheorie und seiner praktischen Anwendung, was wiederum zu einer stärkeren Bindung der Bevölkerung an die politische Herrschaft von Adel, Königtum und Kirche führte.23 Neben dem Ziel innerhalb der Bevölkerung ein religiöses Zugehörigkeitsbewusstsein zu einer christlichen Gemeinschaft zu etablieren, diente das Inzestverbot auch als Regula- tionsmechanismus zur Organisation einer gottgewollten Ordnung. Die Integrität alter gesellschaftlicher Schichten sollte dabei zu Gunsten einer größeren gesellschaftlichen Komplexität aufgelöst werden, wodurch neue Abhängigkeitsverhältnisse und Rivalitä- ten die Herrschaftsansprüche der weltlichen und geistlichen Fürsten stärken sollten.24 Systematisierung und Kritik Während die Kirche im Verbot der Blutschande zunehmend ihre Möglichkeit erkann- te, das Sakrament der Ehe und somit die Autorität des Glaubens zu stärken, sahen die weltlichen Herrscher darin eine Bedrohung des familiären Ehrgefühls und ein Einbü- ßen ihrer Machtstellung. Mittels einer umfangreichen Systematisierung der Ehelehre, versuchte im 13. Jh. der Philosoph und Theologe Thomas von Aquin diesen Konflikt zu klären. Im Artikel 9 des Bands 22 seiner Summa Theologica zeigt er auf, dass in fami- liären Beziehungen tendenziell die Gefahr zu einer übergroßen Libido besteht, deren unmittelbare Folgen die Blutschande und schließlich der Verfall des Ehesakraments sowie der christlichen Gesellschaftsordnung sind.25 Die Familienehre sei demnach kein alleiniger Garant für den Ordnungserhalt, sondern sie müsse sich der Liebe zu Gott und somit der kirchlichen Autorität Neben Befürwortern wie von Aquin, existierten ebenso kritische Stimmen, die sich vor allem im weltlichen Lager organisierten. Mit subtiler Kritik in seinen Werken begeht der Epiker Hartmann von Aue gegen die Autorität der Kirche auf. So berichtet er in seinem wohl bekanntesten Werk Gregorius, Der arme Sünder von einem inzestuösen Verhältnis zwischen einem fiktionalen königlichen Geschwisterpaar, welches trotz Gottesliebe und Achtung der gottgewollten Ordnung ihre sündhafte Beziehung nicht verhindern konn- te.26 Beide Beispiele schildern den Versuch, die sozial-politische Macht je nach Standpunkt zu konsolidieren. Gleichermaßen wird in diesem Konflikt zwischen sacerdotium und regnum aufgezeigt, dass eine eindeutige Abgrenzung der einzelnen Geltungsbereiche 23 Vgl. Ubl (2008), S. 482ff. 24 Vgl. Ubl (2008), S. 490. Thomas von Aquin: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und 25 Österreichs, (Bd. 22) Graz (u.a.) 1993, S. 97ff. 26 Vgl. Hörner, Petra: gebote, guot und êre in Hartmanns >>Gregorius
6 untereinander nicht möglich war. Ein gegenseitiges Arrangieren wurde folglich not- wendig, um ein herrschaftliches Durchdringen der Familienstrukturen und schließlich der christlichen Kultur zu organisieren.27 Historische Kontinuität?! Für die Zeit des Mittealters als auch für die staatliche Verfasstheit der deutschen Ge- sellschaft in der Gegenwart kann demnach resümiert werden, dass die Konzeptualisie- rung von Sexualitäten in Form von Ehe und Familie ein wesentlicher Bestandteil von Machtausübungen und Herrschaftsansprüchen sind. Dabei liegt beiden geschichtlichen Abschnitten „die Heteronormativität als ein unsichtbares Denksystem, als normatives Muster, als kulturelles Schemata und Wissensform“28 zugrunde, welches durch eine christlich oder pathologisch begründete Renaturalisierung als scheinbar legitim gilt. Bestehende Geschlechterhierarchien und sexuelle Identitäten werden somit unhinter- fragt akzeptiert und übernommen, was zu schwerwiegende Problemen im gesellschaft- lichen Zusammenleben führen kann. Einordnung Epochaler Schwerpunkt: Das Mittelalter Empfohlene Klassenstufe: Sek. I, ab 8. Klasse Themenvorschläge: - Hartmann von Aue und die Legende des guten Sünders Gregorius - Klerikale Wirkmächtigkeiten im Mittelalter, am Bsp. von Thomas von Aquins Summa Theologica - Geschlechterbeziehungen im Mittelalter - Die Konstruktion von familiären Rollen und Identitäten im Mittelalter - Das Inzestverbot als Konfliktfeld von sacerdotium und regnum im Mittelalter - Legenden und fiktive Geschichten als Ausdruck von Herrschaftskritik im Mittel- alter 27 Vgl. Ubl (2008), S. 494 ff. 28 Raab (2011), S. 319.
7 Reihenverlaufsplan zur Reihe: Verbotene Liebe heute und verbotene Liebe im Mittelalter
8 Baustein 1: Die Gesellschaft, meine Familie und ich – Was bedeu- tet eigentlich Familie? (45 min) Inhalt / Ablauf / Ziele / Kompetenzen Material / Methoden Impulse Inhalt: Methodenkompetenz Stammbaumschema (M1) in EA Die Schüler_innen setzen sich Die Schüler_innen arbeiten mit + Galeriewalk mit dem Konzept Familie in Schaubildern Mindmap Familie (M2) in UG, der Gegenwart auseiander und Orientierungskompetenz Projektion an Tafel/Overhead/ werden durch das Aufbrechen Die Schüler_innen begegnen Smartboard von heteronormativen Fremdem und Vertrautem Familienkonstellationen an die Der Stammbaum des Gregorius mit kritischer Wahrnehmung, Thematik „Inzest“ herangeführt. nach der Überlieferung von Offenheit und Respekt behalten Hartmann von Aue (12.Jh.) (M3) in Ablauf: oder entwickeln Neugier auf UG/ Plenum Die Schüler_innen erstellen in und Akzeptanz für Unbekanntes, EA einen Stammbaum zu ihrer Fremdes, Geschichtliches. Meinungslinie (M4) in UG Familie und stellen diese auf einem Galeriewalk vor. Im UG mit der Lehrkraft diskutieren sie über grundlegende Eigenschaften, Beziehungen etc. die eine Familie ausmachen und systematisieren diese in einem Mind-Map. Abschließend werden die Schüler_ innen durch die Präsentation eines inzestuösen Stammbaums „verunsichert“ und diskutieren im UG, inwiefern der Stammbaum eine Familie in ihrem Sinne darstellt. Dazu positionieren sie sich am Ende der Stunde auf der Meinungslinie
9 Baustein 2: Thomas von Aquin über die Blutschande – Zum Schutz der Familie oder zum Schutz des Glaubens? (90 min) Inhalt / Ablauf / Impulse Ziele / Kompetenzen Material / Methoden Inhalt: Methodenkompetenz Mindmap Familie (M2) & Die Stunde bietet einen ersten Die Schüler_innen arbeiten Blutschande in: Summa Theologica. Einblick über die normensetzende mit Schaubildern und (fiktiven) Masshaltung 2.Teil (1267 – Wirkung von religiösen Regeln auf historischen Quellen. 1273) Artikel 9 (Q1; Q2 & Q3) in das Konzept „Familie“ im Mittelalter. Gruppenpuzzle Deutungs- und Ein wesentlicher Akteur stellte in Analysekompetenz Sicherungstabelle: Summa jener Zeit Thomas von Aquin dar, Die Schüler_innen verwenden Theologica (M 5) im Gruppenpuzzle der mit seinem Wirken wesentlichen fachspezifische Begriffe (z.B. Einfluss auf das kanonische Recht Der Stammbaum des Gregorius Unkeuschheit und Keuschheit) nahm. nach der Überlieferung von fassen Entwicklungen und Hartmann von Aue (12.Jh.) (M3) Ablauf: Strukturen nach vorgegebenen Diskussion im UG/ Plenum Die Schüler_innen analysieren die Aspekten zusammen zeigen Quellen zum kanonischen Recht Perspektiven unterschiedlicher HA: Eigenständige Narration von Thomas von Aquin vor dem Gruppen in konkreten aus Perspektive von Thomas Hintergrund des in der Stunde historischen Situationen auf und von Aquin über inzestuöse zuvor erstellen Mindmaps im vergleichen diese. Familienkonstellation. Gruppenpuzzle und sichern ihre Narrative Kompetenz Ergebnisse auf dem Arbeitsblatt. Die Schüler_innen In einem zweiten Schritt verknüpfen erzählende und diskutieren die Schüler_innen argumentierende Elemente. im UG die Stundenfrage hinsichtlich des normsetzenden Einflusses des kanonischen Rechts auf mittelalterliche Familienkonstellationen. Abschließend werden die Schüler_ innen aufgefordert, aus der Perspektive von Thomas von Aquin über den inzestuösen Stammbaum einer Königsfamilie zu urteilen und in der Begründung ihr erworbenes historisches Wissen zu narrativieren (möglicher Stunden Ausstieg für 1 Std. nach Aufgabe 5)
10 Baustein 3: Hartmann von Aue über die Geschwisterliebe – Familienglück oder Familientragödie? (90 min) Inhalt / Ablauf / Impulse Ziele / Material / Kompetenzen Methoden Inhalt: Methodenkompetenz Der Stammbaum des In dieser Stunde wird die inzestuöse Beziehung Die Schüler_innen arbeiten Gregorius nach der des königlichen Geschwisterpaars in der mit Schaubildern und (fiktiven) Überlieferung von Gregorius Legende vor dem Hintergrund des historischen Quellen Hartmann von Aue bereits erworbenen historischen Wissens zur (12.Jh.) (M3) in UG & Deutungs- und Wirkmächtigkeit des kanonischen Rechts im Hypothesenbildung Analysekompetenz Mittelalter thematisiert. Dabei werden die Die Schüler_innen verwenden Der Inzestfall zwischen religiösen Familiennormen der vermeidlichen fachspezifische Begriffe, Bruder und Schwester (Q4) „Blutschande“ aus der Perspektive des fassen Entwicklungen und & Die Schwangerschaft Geschwisterpaars gegenübergestellt und Strukturen nach vorgegebenen der Schwester (Q5) hinsichtlich inner- und außerfamiliäre Zwängen Aspekten zusammen, zeigen im Gruppenpuzzle dekonstruiert. Abschließend werden mögliche Perspektiven unterschiedlicher + Sicherungstabelle: religiöse, gesellschaftliche, politische Folgen für Gruppen in konkreten Gregorius Legende (M6) die Familie und Gregorius antizipiert. historischen Situationen auf Die Konsequenzen für das Ablauf: und vergleichen diese. Geschwisterpaar (Q6) in Zu Beginn beschreiben die Schüler_innen den Narrative Kompetenz PA + Sicherungstabelle: bereits bekannten inzestuösen Stammbaum Die Schüler_innen Gregorius Legende (M6) und formulieren auf Basis ihres historischen verknüpfen erzählende und Wissens zum kanonischen Recht Hypothesen Diskussion im UG/Plenum argumentierende Elemente. über mögliche Folgen für die abgebildete HA: Eigenständige Narration Königsfamilie. über das Schicksal des Des Weiteren analysieren die Schüler_innen jungen Gregorius zunächst im Lerntempoduett die Q4 & Q5 und sichern ihre Ergebnisse auf dem M6. Ihre Ergebnisse diskutieren sie vor dem Hintergrund ihrer eingangs formulierten Hypothesen, bestätigen oder verwerfen diese und deuten auf Grundlage von Q 6 in Partner_ innenarbeit einen möglichen Ausweg für das Geschwisterpaar. Abschließend sichern die Schüler_innen ihr erworbenes historisches Wissen, indem sie ein mögliches Schicksal für den in Blutschande geborenen Gregorius narrativieren (möglicher Ausstieg für 1 Std. nach Aufgabe 5).
Baustein 4: Verbotene Liebe im Mittelalter und verbotene Liebe heute – Akzeptiert oder Verurteilt? (45 min) Inhalt / Ablauf / Impulse Ziele / Kompetenzen Material / Methoden Inhalt: Methodenkompetenz Narrationen der Schüler_innen Diese Stunde bildet den Abschluss Die Schüler_innen arbeiten mit im Schüler_innenvortrag der Reihe, in der die Narration Schaubildern und Kommentar zu Meinungslinie (M4) aus 1.Stunde der Schüler_innen mit der BVerfG-Urteil im UG aktuellen Inzestgesetzgebung in Narrative Kompetenz Deutschland verglichen werden, um Auszug aus § 173 (StGB) Beischlaf Die Schüler_innen bewerten in einer Gesamtreflexion mögliche zwischen Verwandten (Q7) ansatzweise die Vielfalt der normstrukturierende Kontinuitäten & BVerfG-Entscheidung zur Möglichkeiten menschlichen und Diskontinuitäten zum Konzept Verfassungsmäßigkeit des § 173 Handelns in der Vergangenheit „Familie“ im Mittelalter und Heute vom 26.02.2008 (Q8) im UG/ und entwickeln daraus aufzuzeigen. Plenum individuelle Schlussfolgerungen Ablauf: für die Gegenwart. - (M9) Feedbackbogen in EA Die Schüler_innen tragen ihre Sie hören den Argumenten quellengestützten Narrationen vor anderer nachvollziehend und und reflektieren im Plenum anhand reflektierend zu, gehen auf diese der Meinungslinie aus der 1. Stunde, ein und diskutieren kontroverse inwiefern das Schicksal des Gregorius Deutungen sachlich und tolerant. mit dem Konzept „Familie“ aus der Dabei sind sie zunehmend Gegenwart übereinstimmt. in der Lage, den eigenen Abschließend diskutieren die Schüler_ Standpunkt und die persönlichen innen anhand der BVerfG- Wertmaßstäbe mit Distanz zu überdenken und zu relativieren Entscheidung über die Verfassungskonformität des StGB § 173 Beischlaf zwischen Verwandten, inwiefern sich die Situation für die Familie von Gregorius und für Gregorius selbst aus heutiger Perspektive geändert hätte. Sie verweisen dabei auf historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten und formulieren mündlich ein historisches Urteil hinsichtlich der Reihenfrage. - Feedback-Bogen
12 Baustein 1: Die Gesellschaft, meine Familie und ich – Was bedeutet eigentlich Familie? Hinsichtlich fehlender historischer Quellen, handelt es bei der ersten Unterrichts- einheit nicht um eine Geschichtsstunde im klassischen Sinne. Der Fokus bezieht sich primär auf das Aufzeigen und das Vermitteln von verschiedenen Familienbildern und dient als thematische Sensibilisierung. Zu diesem Zweck werden die bestehenden Schüler_innenvorstellungen von Familien- konzepten in Gegenwart und Vergangenheit erfragt, sowie auf normsetzende Einflüs- se aus Gesellschaft und Staat hin untersucht. Die Schüler_innen werden durch diese Einstiegphase dazu gebracht ihr persönliches Konzept von Familie zu Reflektieren und sich darüber hinaus bewusst zu werden, wie sie und andere das Konzept „Familie“ rezipieren. Anhand des quellenbasierenden Stammbaums aus Hartmann von Aues „Gregorius. Der gute Sünder“, werden die Schüler_innen mit dem vermeintlichen Sonderfall „Inzest“ aus einer mittelalterlichen Erzählung konfrontiert. Dadurch werden die Schüler_innen in die Lage versetzt, ihre gegenwärtigen Bilder von Familien mit dem an Hand der Blut- schande/des Inzests beleuchteten mittelalterlichen Bildes zu vergleiche.
Einstieg: mögliches Schema eines Stammbaums 13
14 [M 2] Mindmap Familie Familiäre Beziehungen Außerfamiliäre Beziehungen Arten von Familie Kulturelle Bedürfnisse Natürliche Bedürfnisse (Rituale und Symbole) (menschliche Gefühle)
[M 2] Mindmap Familie (optionale Lösung) Familiäre Beziehungen Außerfamiliäre Beziehungen - Großeltern - Berufsleben - Freundeskreis - Eltern - Arbeit - Geschwister - Schule .... Arten von Familie - Patchwork-Familie - Kernfamilie (Eltern + Kinder) - Großfamilie (Großeltern+Onkel...) - Alleinerziehend Kulturelle Bedürfnisse Natürliche Bedürfnisse (Rituale und Symbole) (menschliche Gefühle) - Hochzeit - das „Ja-Wort“ - Vertrauen - Liebe - Ehe - Ausflüge - Fürsorge - Ehering - gemeinsames - Geborgenheit ... Mittagessen 15
16 [M 3] Der Stammbaum des Gregorius nach der Überlieferung von Hartmann von Aue (12.Jh.) Mutter Vater Königin von König von Aquitanien Aquitanien Bruder Schwester Prinz von Prinzessin von Aquitanien Aquitanien Gregorius
[M 4] Meinungslinie Der Stammbaum zeigt Der Stammbaum zeigt eine eine unmögliche Familie mögliche Form der Familie 17
18 Didaktische Anmerkung Die vorliegenden vier Unterrichtseinheiten bilden eine in sich geschlossene Unter- richtsreihe, deren Einstieg mit dem Thema „Die Gesellschaft, meine Familie und ich – Was bedeutet eigentlich Familie?“ beginnt. Angesichts der kompetenzorientierten Unterrichtsplanung, ist eine Durchführung einzelner Unterrichtseinheiten außerhalb der gesamten Reihe möglich. Ein Anspruch auf inhaltliche Vollständigkeit besteht je- doch nicht mehr. Einstieg Zu Beginn der Stunde werden die Schüler_innen aufgefordert, einen Stammbaum ihrer Familie zu erstellen (ggf. müsste das Konzept des Stammbaums kurz erklärt werden, hierfür könnte das beigefügte Schema M1 genutzt werden). Anschließend werden die Stammbäume zu einem Galeriewalk angeordnet, so dass die Schüler_innen die Ergeb- nisse betrachten und sich gegenseitig erläutern (Alternative: es genügt, wenn im Ple- num einige Stammbäume vorgestellt werden). Hierbei ist es wichtig die Schüler_innen darauf aufmerksam zu machen, dass sie mit Respekt und Toleranz anderen Entwürfen begegnen sollen. Arbeitsauftrag: Bitte erstellt einen Stammbaum eurer Familie. Erarbeitung Um das Thema des Bausteins (Was bedeutet eigentlich Familie?) zu erarbeiten bie- tet es sich an eine Mindmap (M 2) zum Konzept Familie anzufertigen. Diese kann als Arbeitsblatt, als Tafelbild oder am Beamer/Smartboard/Overhead den Schüler_innen schematisch vorgegeben werden oder frei angefertigt werden. Eine schematische Vor- gabe bietet sich jedoch an, um eine Vergleichbarkeit der Mindmaps zu gewährleisten. Durch diesen Arbeitsschritt werden die Schüler_innen dazu aufgefordert über das ihnen selbstverständliche Konzept Familie nachzudenken und ihr Bild dieses Konzepts zu reflektieren. Auswertung Die Ergebnisse dieses Arbeitsschritts sollten im Unterrichtsgespräch (UG) zusammen- getragen und diskutiert werden, so dass möglichst viele verschiedene Ergebnisse zur Geltung kommen (Orientierungs- und Methodenkompetenz). Arbeitsauftrag: Bitte schaut euch die Mindmap an und erstellt eure eigene. Stellt euer Ergebnis im Plenum vor. Anschließend werden die Schüler_innen durch einen inzestuösen Stammbaum (M 3) verunsichert. Dieser kann mit Beamer/Smartboard/ Overhead an die Tafel projiziert werden.
19 Sicherung Diskussionsfrage: Bildet dieser Stammbaum eine mögliche Familie ab? Die Schüler_innen werden aufgefordert, ihre intuitiven Vorausurteile in der Meinungs- linie (M 4) zu verorten. Diese Vorausurteile können am Ende der Unterrichtsreihe (siehe Baustein 4) erneut aufgegriffen werden, um die Schüler_innen nach Abschluss der The- matik zum Reflektieren ihres Lernprozesses anzuregen.
20 Baustein II: Thomas von Aquin über die Blutschande – Zum Schutz der Familie oder zum Schutz des Glaubens? Thomas von Aquin ist für seine philosophisch-theologi- schen Schriften bekannt. Zu seinen größten Verdiensten zählt die Vereinigung der antiken Philosophie Aristote- les mit den Inhalten der christlichen Glaubenslehre. Diese Verbindung ist die Voraussetzung zur natürlichen Gotteserkenntnis. Darunter ist zu verstehen, dass sich die von Gott erschaffene Welt, im Leib und in der Seele eines Menschen vereint. Strebt ein Mensch nach Wissen und Erkenntnis, so muss er stets seinen Willen auf das Gute – auf den Glauben an Gott – richten. Demnach ist ein gutes Leben, ein nach Gottes Willen ausgerichtetes Leben. Dieses Prinzip liegt auch seinem wohl wichtigs- Porträt: ten Werk, der Summa Theologica, zugrunde. Verfasst im Thomas von Aquin (1225 - 1274) Stil eines Lehrbuchs, sind in mehreren Artikeln Fragen formuliert, die sich mit besonderen Herausforderungen einer guten Lebensführung auseinandersetzen. Eine Herausforderung betrifft das Thema Blutschande, wel- ches im Artikel 9 beschrieben und diskutiert wird.29 29 Vgl. Schönberger, Rolf: Thomas von Aquin zur Einführung. Hamburg 2012, S. 14-35.
21 [Arbeitsblätter und Quellen] [Q 1]: Blutschande in: Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (1267 – 1273) Artikel 9 Die Blutschande betrifft [...] den „Mißbrauch von 15 ersichtlich, daß vor allem die Blutsverwandten oder Verschwägerten“. Also ist Geschlechtstätigkeiten mit einer der Ehrerbietung Blutschande eine besondere Art von entgegenstehenden gewissen Schmach verbunden Unkeuschheit. [...] Der geschlechtliche Umgang sind; deshalb empfinden die Menschen dabei auch 5 mit Blutsverwandten und Verschwägerten verträgt Scham. Und so ist es ungeziemend, wenn sich sich aber nicht mit den rechten 20 solche Personen geschlechtliche begegnen. Dies Geschlechtsbeziehungen, und zwar aus folgendem scheint auch der Grund für jene Levitikusstelle zu Grund. sein, wo es heißt: „Es ist deine Mutter, blicke ihre Der Mensch muss natürlicherweise seinen Eltern Scham nicht an.“ [...] 10 nahe abstammen. Dies gilt so sehr, daß es bei den Der Geschlechtsverkehr unter Verwandten würde Alten, wie Maximus Valerius berichtet, dem Sohn 25 zu einer vollkommenen Verderbnis der nicht erlaubt war, zugleich mit seinem Vater zu Keuschheit führen [...]. Und deshalb wird im baden, damit sie sich gegenseitig nicht nackt besonderen Sinn der Mißbrauch derartiger sähen. Aus dem vorher Gesagten ist aber klar Personen mit „Inzest“ bezeichnet. [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz (u.a.) 1993, S. 97-101.] Zeile Wort/Wendung Erklärung/Beispielsatz Endung/P lural 1 die Blutschande (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen Verwandten (Inzest) 3 die Blutsverwandten (Substantiv)der oder die Blutsverwandte = nahe Verwandte (Eltern, Geschwister) 3 Verschwägerte (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne die, -en Verwandte (Onkel, Tanten etc.) 5 die rechte Geschlechtsbeziehung = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau 6 natürlicherweise (Adjektiv) hier: von Gott erschaffen 7 Maximus Valerius Name: lateinischer Schriftsteller, lebte im 1. Jh. n. 9 die Geschlechtstätigkeiten Chr. (Substantiv) die Geschlechtstätigkeit; 9 die Ehrerbietung hier: Geschlechtsverkehr die, -en 9 die Schmach (Substantiv) = Verehrung einer Person 10 ungeziemend (Substantiv) eine Schande, eine Demütigung 11 Levitikus (Adjektiv) unpassend, inkorrekt, nicht richtig Name: 3. Buch Mose in der Bibel, auch als 12 die Scham Geschichts- und Gottesdienstbuch bekannt 13 das Verderbnis (Substantiv) hier: das weibliche Geschlechtsteil die, -se (Substantiv) hier: die Sünde
22 [Q 2] Blutschande in: Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (1267 – 1273) Artikel 9 Die Blutschande betrifft den „Mißbrauch von 15 heit die Menschen allzusehr Blutsverwandten oder Verschwägerten“. Also verweichlichen. Aus diesem Grund scheint ist Blutschande eine besondere Art von das Verbot des Alten Testamentes vor Unkeuschheit. [...] Der geschlechtliche allem jenen Personen gegolten zu haben, 5 Umgang mit Blutsverwandten und die notwendigerweise eine Lebens- Verschwägerten verträgt sich aber nicht mit 20 gemeinschaft miteinander bilden mußten. den rechten Geschlechtsbeziehungen, und [...] Eine verschwägerte Person wird mit zwar aus folgendem Grund. [...] jemandem durch einen Blutsverwandten Die Blutsverwandten müssen notwendiger- verbunden. Weil nun eines wegen des 10 weise miteinander zusammenleben. Wenn nun anderen ist, so gilt diesbezüglich der die Leute nicht von geschlechtlichem Umgang 25 Unziemlichkeit das gleiche für abgehalten würden, so wäre ihnen zu viel Blutsverwandtschaft wie für Gelegenheit zum geschlechtlichen Zusammen- Schwägerschaft. finden gegeben, und so würde die Unkeusch- [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz (u.a.) 1993, S. 97-101.] Zeile Wort/Wendung Erklärung/Beispielsatz Endung/ Plural 1 die Blutschande (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen Verwandten (Inzest) 2 die Blutsverwandten (Substantiv) der oder die Blutsverwandte = nahe Verwandte (Eltern, Geschwister) 2 Verschwägerte (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne die, -en Verwandte (Onkel, Tanten etc.) 7 die rechte Geschlechtsbeziehung = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau die, -en 11 geschlechtlicher Umgang der geschlechtliche Umgang = sexuelle Beziehung (altmodisch) 13-14 geschlechtlichen Zusammenfinden = Geschlechtsverkehr (altmodisch) 25 die Unziemlichkeit (Substantiv) = etwas gehört sich nicht 22
23 [Q-3] Blutschande in: Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (1267 – 1273) Artikel 9 Die Blutschande betrifft den „Mißbrauch von Hinblick auf den Nutzen und die Blutsverwandten oder Verschwägerten“. Also Ehrbarkeit der Eintracht durch ist Blutschande eine besondere Art von verschiedene Verwandtschaftsgrade zu Unkeuschheit. [...] Der geschlechtliche 20 verknüpfen. Es sollten sich eben nicht 5 Umgang mit Blutsverwandten und mehrere Verwandtschaftsverhältnisse in Verschwägerten verträgt sich aber nicht mit einem Menschen vereinen, sondern jedes den rechten Geschlechtsbeziehungen, und der Verhältnisse sollte sich auf einzelne zwar aus folgendem Grund. [...] verteilen.“ [...] Wenn nämlich der Mann eine auswärtige Frau 25 Bei der Geschlechtsvermischung 10 nimmt, dann werden mit ihm, wie wenn sie verwandter Personen gibt es etwas, was in seine Blutsverwandten wären, in besonderer sich ungeziemend ist und der natürlichen Freundschaft alle Verwandten der Gattin Vernunft widerspricht, wie etwa die verbunden. [Dadurch wird der Vermehrung Geschlechtsverbindung zwischen Eltern von Freundschaften gewehrt]. Darum sagt 30 und Kindern, die an sich und unmittelbar 15 Augustinus: „Mit vollem Recht wurde auf die miteinander verwandt sind. Denn die Liebe Rücksicht genommen, um Menschen im Kinder [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz (u.a.) 1993, S. 97-101.] Zeile Wort/Wendung Erklärung/Beispielsatz Endung/ Plural 1 die Blutschande (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen Verwandten (Inzest) 3 die Blutsverwandten (Substantiv)der oder die Blutsverwandte = nahe Verwandte (Eltern, Geschwister) 3 Verschwägerte (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne die, -en Verwandte (Onkel, Tanten etc.) 7 die rechte Geschlechtsbeziehung = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau 9 auswärtig (Adjektiv) hier: nicht zur Familie gehörend 12 die Gattin (Substantiv) = die Ehefrau (altmodisch) 15 Augustinus von Hippo Name: wichtiger Begründer der christlichen Kirchenlehre, 4 Jh. n. Chr. 18 die Ehrbarkeit (Substantiv) hier: etwas Heiliges würdigen 18 die Eintracht (Substantiv) = die Harmonie 27 ungeziemend (Adjektiv) = unpassend, inkorrekt, nicht richtig 27-28 der natürlichen Vernunft = von Gott gegebene Einsicht, Zusammenhänge zu erkennen 23
24 [Aquin, Thomas v.: Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Bd. 22) Graz (u.a.) 1993, S. 97-101.] Zeile Wort/Wendung Erklärung/Beispielsatz Endung/ Plural 1 die Blutschande (Substantiv) = Geschlechtsverkehr mit nahen Verwandten (Inzest) (Substantiv)der oder die Blutsverwandte = nahe 3 die Blutsverwandten Verwandte (Eltern, Geschwister) (Substantiv) der oder die Verschwägerte = ferne Verwandte (Onkel, Tanten etc.) 3 Verschwägerte die, -en = Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und Ehefrau 5 die rechte Geschlechtsbeziehung (Adjektiv) hier: nicht zur Familie gehörend 7 auswärtig (Substantiv) = die Ehefrau (altmodisch) 8 die Gattin Name: wichtiger Begründer der christlichen Kirchenlehre, 4 Jh. n. Chr. 8 Augustinus von Hippo (Substantiv) hier: etwas Heiliges würdigen 10 die Ehrbarkeit (Substantiv) = die Harmonie 10 die Eintracht (Adjektiv) = unpassend, inkorrekt, nicht richtig 14 ungeziemend = von Gott gegebene Einsicht, Zusammenhänge zu erkennen 15 der natürlichen Vernunft
25 [M3] Der Stammbaum des Gregorius nach der Überlieferung von Hartmann von Aue (12.Jh.) Mutter Vater Königin von König von Aquitanien Aquitanien Bruder Schwester Prinz von Prinzessin von Aquitanien Aquitanien Gregorius
26 [M 5] Sicherungstabelle: Summa Theologica [3] Definition: Blutschande [4] Beschreibung von Familie [5] Begründung Q1 Q2 Q3
27 Didaktische Anmerkung Der oben bereitgestellte Abstract kann von der Lehrkraft als kurzes Impulsreferat zur thematischen Einführung verwendet werden. Ebenso bietet es sich an, den Abstract als kurzen Infotext den Schüler_innen während der Erarbeitung bereitzustellen. Einstieg Für den Beginn dieser Unterrichtseinheit eignen sich das Mindmap (M 2) aus der ersten Unterrichtseinheit und ein kurzer Lehrer_innenvortrag zu Thomas von Aquin. Den Schüler_innen wird daran aufgezeigt, dass das „Konzept-Familie“ zur Zeit des Mittelal- ters „anders“ definiert wurde (Orientierungskompetenz). Die Lehrkraft verweist darauf, dass dieses „andere“ in einer quellenbezogenen Gruppenarbeit näher betrachtet wird. Erarbeitung Der folgende Arbeitsschritt ist in Gruppenarbeit mit der Methode des Gruppenpuzzles durchzuführen. Im Vorfeld muss von der Lehrkraft die Klasse/der Kurs in drei Stamm- gruppen mit einer möglichst gleichen Anzahl von Schüler_innen aufgeteilt werden. Jede Stammgruppe erhält einen Quellenabschnitte zur Thematik „Blutschande“ aus der Summa Theologica. Masshaltung 2.Teil (Q1; Q2; Q3), die gruppenübergreifenden Arbeits- aufträge und den Sicherungsbogen M 5. Es bietet sich bei der Erarbeitung an, die ein- zelnen Stammgruppen in Kleingruppen einzuteilen, so dass jeder Quellenabschnitt von mindestens zwei Kleingruppen bearbeitet wird. Dies hat den Vorteil, dass sich jede_r Schüler_in aktiv an der Quellenanalyse beteiligen kann. Arbeitsaufträge: 1. Lest den Quellenauszug. Beachtet dabei die Worterklärungen im Glossar! 2. Gliedert den Inhalt der Quelle mit Teilüberschriften. 3. Formuliert eine Definition zum Begriff Blutschande 4. Erläutert gemäß der Definition Aquins Vorstellung von Familie. 5. Wie begründet Aquin diese? Erarbeitet seine Begründung. Die Kleingruppenarbeit gibt allen Schüler_innen einen kurzen Überblick zu dem Begriff „Blutschande“ und seine konstituierende Bedeutung für soziale und sexuelle Rollenbi- ler (sex & gender) im mittelalterlichen Idealzustand des „Konzeptes-Familie“. Sind die Schüler_innnen mit der Erarbeitung in ihren Kleingruppen fertig, tauschen zunächst die Kleingruppen einer Stammgruppe untereinander ihre Ergebnisse aus. Die- ser Austausch ermöglicht allen Kleingruppen auch als „Korrekturgruppe“ zu fungieren, wodurch das Ergebnis der gesamten Stammgruppe qualitativ zunimmt. Ist die Siche- rung in den Stammgruppen abgeschlossen, werden die Kleingruppen aus den Stamm- gruppen gemischt, so dass je drei Kleingruppen eine Expertengruppe bilden, in der die Ergebnisse zu allen Quellenabschnitten (Q 1, Q 2 & Q 3) im Dialog ausgetauscht und auf dem Sicherungsbogen M 5 ergänzt werden. Im Plenum werden die Ergebnisse von allen Schüler_innen präsentiert, gegebenenfalls von der Lehrkraft korrigiert und gesichert.
28 Auswertung Damit die soziale und politische Wirkmächtigkeit der christlichen Religion (religion) dür das mittelalterliche Familienkonzept deutlich wird, diskutiert die Klasse/der Kurs vor dem Hintergrund der erarbeiteten Ergebnisse im Plenum die Leitfrage der Unterrichts- einheit Thomas von Aquin über die Blutschande – Zum Schutz der Familie oder zum Schutz des Glaubens? Diskussionsfrage: Thomas von Aquin über die Blutschande – Zum Schutz der Familie oder zum Schutz des Glaubens? Die Schüler_innen erkennen, dass die scheinbar naturgegebenen Rollenbilder innerhalb einer Familie, wie Eltern und Kinder, durch die normsetzende Wirkung der christlichen Religion (religion) eingefordert werden. Diese äußern sich auf der innerfamiliären Ebene in heteronormativ geprägten Interaktionen und Repräsentationen zwischen den ein- zelnen Familienmitgliedern (gender). Gleichermaßen sind Gefühle, wie Achtung, Scham und elterliche Liebe, nicht genuin natürliche Bedürfnisse einer Familie, sondern ein Ausdruck religiöser Normierung. Durch den Begriff der Blutschande werden diese sozi- alen und politischen Wirkmächtigkeiten erneut re-naturalisiert (sex) und als unnatürli- ches Familienverhältnis unter göttliche Strafe gestellt. Sicherung Damit die Schüler_innen die Wirkmächtigkeit der christlichen Religion bei der Konst- ruktion von Familien im Mittelalter nachvollziehen können, werden sie dazu aufgefor- dert, sich in die Position Aquins hineinzuversetzen und über den inzestuösen Stamm- baum des Gregorius (M 3) ein schriftliches Urteil anzufertigen. Hausaufgabe: Stellt dir vor, du bist Thomas von Aquin und du erhältst die Nachricht von einer Blutschande innerhalb einer Königsfamilie. Wie würdest du über diese Familie urteilen? Verwende dazu deine Aufzeichnungen aus der Unterrichtsstunde.
29 Baustein III: Hartmann von Aue über die Geschwisterliebe – Familienglück oder Familientragödie?30 Über Hartman von Aue ist nur wenig bekannt. Er gehör- te dem gebildeten Stand des „Dienstadels“ an, der an Fürsten- und Königshöfen für die Verwaltung, sowie für das Militär- und Finanzwesen zuständig war. Mit großer Wahrscheinlichkeit diente v. Aue in einer solchen Position an einem französischen Fürstenhof als Schreiber. Neben seinen Aufgaben als Verwalter, dichtete er Geschichten, die sowohl zur Unterhaltung als auch zur Belehrung ei- nes adligen Hörerkreises dienten. Dabei verwendete er oft Bestandteile von antiken Erzählungen (Ödipus-Sage) und mittelalterlichen Biographien von Heiligen („Viten“). Eine dieser Geschichten ist die Legende des Gregorius, der gute Sünder. Sie berichtet vom Leben der fiktive Person Gre- Fiktives Porträt gorius, der als Kind eines königlichen Geschwisterpaars in Hartmann von Aue Blutschande zur Welt kam. (1160-1220) Die bereitgestellten Quellenauszüge geben einen kurzen Einblick in die Zeit vor seiner unmittelbaren Geburt und thematisieren dabei folgende Aspekte: [Q-4] Der Inzestfall zwischen Bruder und Schwester [Q-5] Die Schwangerschaft der Schwester [Q-6] Die Konsequenzen für das Geschwisterpaar Vgl. Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins 30 Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 319-323.
[Arbeitsblätter & Quellen] 30 [M 3] Der Stammbaum des Gregorius nach der Überlieferung von Hartmann von Aue (12.Jh.) Mutter Vater Königin von König von Aquitanien Aquitanien Bruder Schwester Prinz von Prinzessin von Aquitanien Aquitanien Gregorius
31 [Q 4] Der Inzestfall zwischen Bruder und Schwester Als nun besagte adlige Kinder zweifach verwaist 20 Alle beide waren ausgezogen, ohne Kleider, bis waren, nahm sich der junge Herr [ihr Bruder] sofort auf die Bettdecke. [...] Er begann sie nun zu seiner Schwester an und sorgte für sie, so gut er liebkosen [...]. Sie sagte: „Ja wie, Bruder? Was konnte und wie es seinen Pflichten entsprach. [...] Sie hast du vor? Lass dich nicht vom Teufel um 5 lebten in großem Glück. deinen Verstand bringen! [...]“ Sie dachte bei Als dieses Glück und die Zufriedenheit der Feind des 25 sich: >Schweige ich still, so ergeht des Teufels Menschengeschlechts erblickte, [...] verdross ihn das Wille, und ich werde die Geliebte meines anständige Benehmen der beiden. [...] So kam er auf Bruders; schreie ich hingegen, dann werden wir die Idee, sie ihrer Freude und ihres Ansehens zu für immer unser Ansehen verloren haben.< Diese 10 berauben, und überlegte, wie er ihr Glück in Unglück Überlegung beschäftigte sie so sehr, bis ihr verkehren könnte. Zu grenzloser Liebe zur eigenen 30 Bruder sie niederrang – denn er war stark und sie Schwester forderte der Teufel [den Bruder] auf, bis zu schwach –, sodass er gegen den Willen des seine [noch kindliche Unerfahrenheit die] braven Mädchens schließlich den Beischlaf vortreffliche Zuneigung in falsches Verlangen vollzog. 15 verkehrte. Nun war das arglose Mädchen freilich blind für so geartete Liebe und die unschuldige Unerfahrene wusste nichts darüber, wovor sie sich [Zitiert nach Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich hüten sollte, und gewährte ihrem Bruder alles, was er Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 21-29.] wollte. [Bis zu jener Nacht]: Zeile Wort/Wendung Erklärung/Beispiel Endung/Plural 1 zweifach verwaist - zweifach (Adverb) – zweimal, doppelt - verwaist (Verb) – ohne Eltern sein = ohne Vater und Mutter sein 6-7 der Feind des Menschengeschlechts - das Menschengeschlecht (Subst-n-Sing.) die, - er = alle Menschen auf der Welt - der Feind des (Genitiv) die,- e = der Teufel 7 verdross - verdrossen sein (Verb) - der Verdruss (Subst.-m-Sing.) = hier: sich ärgern 9 ihres Ansehens - das Ansehen (Subst.-n-Sing) die ,- en = guter Ruf 13 die kindliche Unerfahrenheit - kindlich (Adj.) – die Unerfahrenheit (Subst.-f-Sing.) die,- en = wenig Erfahrung haben 15 arglos - arglos (Adj.) = wenig Erfahrung haben, wenig wissen 16 geartete -geartet (Adj.) = wie etwas beschaffen ist 18 gewährte - etwas gewähren (Verb) = etwas zulassen, etwas erlauben - liebkosen (Verb) [alt] 22 liebkosen = jemanden küssen, jemanden streicheln - ergehen (unregelmäßiges Verb) 25 ergeht = etwas passiert, etwas geschieht - der Beischlaf (Subst.-m-Sing.) [alt] Kein Plural 32 Beischlaf = der Sex, der Geschlechtsverkehr 31
32 [Q 5] Die Schwangerschaft der Schwester „Liebste Schwester, sag mir – du bist so bedrückt –, Die Schwester sah ihren Bruder an und sagte: was belastet dich? Mir ist an dir aufgefallen, dass du „Benimm dich wie ein Mann, hör auf zu weinen ziemlich traurig aussiehst, das bin ich von dir gar 20 wie eine Frau, denn das kann uns leider auch nicht gewohnt.“ [...] Sie sagte: „Das ist unbestritten: nicht helfen und lass uns lieber eine Lösung 5 mir bleibt die Pein des Trauerns nicht erspart. Bruder, finden, damit [...] wenigstens unser Kindchen ich bin zweifach tot, an der Seele und am Leib. [...] nicht auch noch mit uns gemeinsam verloren sei, Denn wegen dir habe ich Gottes und der Menschen und dass nicht drei Menschen ins Verderben Wohlwollen verloren. Der Frevel, den wir bis jetzt 25 stürzen. Außerdem hat man uns früher oft vor der Welt geheim gehalten haben, der kann nun gesagt, dass ein Kind niemals die Schuld seines 10 nicht länger verborgen bleiben. Ich passe zwar gut Vaters auf sich nehmen müsse. Fürwahr, es möge auf, dass ich ihn nicht verrate, aber das Kind, das ich Gottes Gnade nicht dadurch verloren haben, dass unterm Herzen trage, wird ihn aller Welt kundgeben.“ wir beide für die Hölle bestimmt sind, denn es [... ] Der Bruder begann heftig zu weinen und stützte 30 hat an unserer Verfehlung keinerlei Schuld. den Kopf in seine Hand, so voller Traurigkeit wie 15 jemand, der Sorgen hat. Seine ganze Ehre stand auf [Zitiert nach Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins dem Spiel; dennoch beklagte er mehr die Mühsal Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 31-33] seiner Schwester als sein eigenes Leid. Zeile Wort/Wendung Erklärung/Beispiel Endung/Plural 5 Pein - die Pein (Subst.-f-Sing.) die,- en = der Schmerz 6 zweifach - zweifach (Adverb) = zweimal, doppelt 8 Wohlwollen - das Wohlwollen (Subst.-n-Sing.) kein Plural = die Gnade, das Verständnis 8 Frevel - der Frevel (Subst.-m-Sing) die,- = ein Verstoß gegen Gott, die Blasphemie 12 unterm Herzen tragen - unter dem Herz etwas tragen [alt] = schwanger sein 16 Mühsal - die Mühsal (Subst.-f-Sing.) [alt] die,- e = große Mühe haben, große Anstrengung haben 22 Kindchen - das Kindchen (Subst.-n-Sing.) die,- en = das ungeborene Kind 30 Verfehlung - die Verfehlung (Subst.-f-Sing) die,- en = hier: ein Verstoß gegen Gott, die Blasphemie 32
33 [Q 6] Die Konsequenzen für das Geschwisterpaar Der Bruder wägte in seinem Herzen mancherlei 20 Der [Lehnsmann sagte zum Bruder]: „ Dann rate Überlegungen hin und her. [...] Schließlich sagte er: ich Euch dies: Diejenigen, die in Eurem Land „Schwester, fasse wieder Mut! Ich habe eine Lösung herrschen, die Jungen wie die Alten, sollt Ihr an für uns gefunden, die uns in die Lage versetzt, unsere Euren Hof bestellen [...]. Ihr sollt ihnen eröffnen, 5 Schande zu verbergen: Ich habe hier im Land einen dass Ihr umgehend im Dienste Gottes zum sehr erfahrenen Lehnsmann, der uns bestimmt helfen 25 Heiligen Grab ziehen wollt. [Dort büßt Eure kann, einen, den mir überdiese mein Vater nannte und Sünde.] Bringt uns dann durch Eure Bitte dazu, mich an seine Beratung verwies [...]. Den wollen wir dass wir unserer jungen Herrin den Lehnseid zu unserer Hilfe nehmen [...] und seinem Rat folgen, leisten [...]. Bleibt Eure Schwester nämlich im 10 dann bleibt unser Ansehen erhalten.“ [...] Lande als Herrin, kann sie ihre Sünde und Da wurde der Lehnsmann rasch herbeigeholt, der 30 Schande umso besser büßen. [...] Übergebt sie Bote brachte ihn sogleich. Der junge Mann [der dann in meine Obhut vor allen anwesenden Bruder] sagte: „[...] Da Gott dich so ausgezeichnet Herren. Das wird ihnen recht sein, denn ich bin hat – er verlieh dir Aufrichtigkeit und ein hohes Maß der Älteste von ihnen und auch der 15 an ratgeberischer Fähigkeit –, lass uns daraus Nutzen Höchstgestellte. ziehen. Wir wollen dir ein Geheimnis eröffnen, bei dem unerfreulicherweise unser gesamtes Ansehen auf [Zitiert nach Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Friedrich Neumann, übers. aus dem Mittelhochdeutschen ins dem Spiel steht [...].“ Daraufhin setzen sie ihn von Neuhochdeutsche von Waltraud Fritsch-Rößler, S. 35-41.] ihrer Lage in Kenntnis. [...] Zeile Wort/Wendung Erklärung/Beispiel Endung/Plural 1 wägte - etwas wägen (starkes und schwaches Verb) = etwas überlegen 3 Lehnsmann - der Lehnsmann (Subst.-m-Sing.) die,- männer = eine Person, die dient 10 Ansehen - das Ansehen (Subst.-n-Sing.) kein Plural = der gute Ruf 15 ratgeberischer - ratgeberisch (Adj.) = jemanden beraten, jemanden einen Tipp geben 17 unerfreulicherweise - unerfreulich (Adverb) = etwas ist schlecht 18-19 in Kenntnis setzen = jemanden informieren, eine Info geben 24-25 im Dienst Gottes zum Heiligen Grab - das Heilige Grab (Eigenname) ziehen = Jerusalem - zum Heiligen Grab ziehen die,- züge = der Kreuzzug, für den Glauben kämpfen die,- e 27 Lehnseid - der Lehnseid (Subst.-m-Sing.) = jemanden Treue schwören kein Plural 31 Obhut - die Obhut (Subst-f-Sing.) [alt] = der Schutz, die Betreuung die,- en 34 Höchstgestellte - der Höchstgestellte (Subst.-m-Sing.) = der Chef, der Anführer 33
34 [M 6] Sicherungstabelle: Gregorius Legende [3] Ursachen für Blutschande [4] Verhalten des Bruders [5] Bedenken der Schwester Q4 Q5 Ausweg? Q 6: 34
[M 6] Sicherungstabelle: Gregorius Legende (Erwartungshorizont) [3] Ursachen für Blutschande [4] Verhalten des Bruders [5] Bedenken der Schwester Q4 - Teufel missgönnt den Geschwistern ihr - brüderliches Pflichtbewusstsein gegenüber - reflektiert die Ursache der Blutschande Glück und verleitet den Bruder zur seiner Schwester, übernimmt elterliche - sieht sich in Zwangslage übermäßigen Liebe (Blutschande) Rolle, jedoch noch kindlich unerfahren - wägt zwischen geheimer sexueller - kindliche Unerfahrenheit lässt den - Pflichtbewusstsein verkehrt in übermäßige Hingabe zum Bruder und negativer Bruder sein falsches Begehren verkennen sexuelle Anziehung gegenüber Schwester, Reputation von Öffentlichkeit ab à unchristliches Verhalten Gewaltanwendung à sexuelle Hingabe ist kleineres Übel als à sexuelle Hingabe ist wichtiger als öffentliches Ansehen zu verlieren öffentliches Ansehen Q5 - ein Frevel - ist um Schwester besorgt - reflektiert ihr Verhalten als Vergehen an - beiderlei Verfehlung sich sexuelle - ist um eigenes Ehrgefühl besorgt christlichen Glauben und am Geschwister- hingegeben zu haben - empfindet Reue verhältnis (Inzesttabu) àsexuell unangebrachtes Verhalten - erkennt Fehlverhalten - weißt Bruder zurecht à unchristliches Verhalten à öffentliches Ansehen droht durch sexuelle à fordert gegenseitige Übernahme von Hingabe beschädigt zu werden Verantwortung für das Verhalten und für zukünftiges Kind Ausweg? Q 6: Bruder und Schwester holen sich Rat bei erfahrenem Lehnsmann. Bruder soll auf den Kreuzzug gehen, um seine Sünde zu büßen. Schwester soll sich zur Königin ausrufen lassen, um ihre Sünden zu büßen. Beide werden getrennt, familiäre Beziehung wird aufgelöst, um öffentlicher Ächtung und Demütigung zu entgehen. 35 35
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