Von Achilles bis Zidane - Zur Genealogie des Zorns

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Von Achilles bis Zidane - Zur Genealogie des Zorns
Von Achilles bis Zidane
                                Zur Genealogie des Zorns

                    Eine internationale Tagung des Einstein Forums, Potsdam
                                   11. bis 13. Dezember 2008

                                 Bis vor kurzem erschien uns das Wort »Zorn« fast ein bisschen
                                 antiquiert. Und so ging es uns auch mit dem Phänomen. »Zorn«
                                 erweckte in uns Assoziationen wie den »Zorn Gottes« oder den
                                 Affektausbruch mythologischer Heroen, allenfalls haben wir das
                                 Wort noch im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer
                                 Unbeherrschtheit, die wir vor allem kleinen Kindern zurechnen.
                                 An die Stelle des Zorns waren Begriffe wie das eher klinische
                                 »Aggression« einerseits oder die »Empörung« andererseits
                                 getreten. Mit »Aggression« hat man einen nahezu technischen
                                 Ausdruck in Umlauf gebracht, der den Affektausbruch auf ein
                                 letztlich    zu    therapierendes    oder    sozialpädagogisch
beherrschbares Phänomen reduziert hat. Spricht man hingegen von der Empörung, dann steht
das Urteil über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit einer Handlung oder einer Situation im Mit-
telpunkt, weniger die emotionale Schubkraft, mit der sie sich äußert. Wenn uns etwas empört,
dann ist ein Unrecht geschehen, das sich rational aufzeigen lässt. Empörung scheint damit im-
mer auch ein Eintreten für die richtige Seite zu meinen.
Doch nun erscheint der Zorn, sowohl als Begriff wie auch als Phänomen, wieder in der öffentli-
chen Diskussion, etwa in Peter Sloterdijks Zorn und Zeit oder bei André Glucksmann, der in
seinem Buch Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt vom »monolithischen Zorn«
spricht1. Die Renaissance des Begriffs »Zorn« geschieht dabei unter gegenwartsdiagnostischen
Vorzeichen. Die weltgeschichtlichen Verwerfungen seit dem 11. September werden allerdings
weniger soziologisch oder politisch, dafür wieder häufiger Ausbruch einer allgemein menschli-
che Emotion interpretiert – mit allen Vorteilen und mit allen Problemen, die solch eine Redukti-
on mit sich bringt.
Es darf aber nicht darum gehen, eine Ebene gegen eine andere auszuspielen, die anthropologi-
sche gegen die soziale oder die psychologische gegen die politische. Vielmehr sollte man das
neue Nachdenken über den Zorn als Chance begreifen, um die Wut in den Blick zu nehmen, die
nicht mehr so ohne weiteres in die gewohnten Erklä-
rungsmuster passt. Zorn ist nicht einfach eine therapierbare
Verhaltensstörung oder der Ausdruck einer schlechten Er-
ziehung, sondern erfordert auch die Neuinterpretation
kultureller Verhaltensmuster und politischer Expressionen.
Zorn hat moralische Konnotationen, er ist ein Gefühl, das
aus Ehrverletzung entsteht, aber er ist eine Empörung, die
wir nicht unbedingt teilen. Die emotionale Struktur unserer
Zeit lässt sich nur vor dem Hintergrund ihrer historischen
Entwicklung und in ihrer jeweiligen kulturellen Einbettung
bestimmen.

1
    André Glucksmann, Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt, München, Wien 2005, S. 52
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Phänomenologie und Genese des Gefühls
Der Gebrauch des Wortes »Zorn« bleibt häufig unscharf. Die Arbeit am Begriff hilft hier, die
Sache selbst etwas schärfer zu fassen. »Zorn« ist zunächst ein Stellvertreter für ein weites Feld
von Emotionen. Wie kann man aber dieses Feld einteilen? Wie verhalten sich zum Beispiel
Wut, Hass und Zorn zueinander? Sind es Synonyme oder bezeichnen sie klar definierbare Un-
terschiede im Gefühl? Und gibt es eine Differenz zwischen Zorn und Jähzorn? Stehen Ärger,
Empörung, Zorn und Wut vielleicht in einem Steigerungsverhältnis zueinander? Und wie stehen
Hass und Raserei dazu?
Betrachtet man das Gefühlsfeld auf seine Intensität hin, so reicht es von mildem Ärger über
stark lodernde Wut bis hin zu einem Hass, der fest in die Individuen eingefressen ist. Fragt man
nach seiner Zeitstruktur, kann Zorn ein punktueller Ausbruch unterdrückter Gefühle bleiben
oder sich verstetigen und zur Charaktereigenschaft werden (»ein aggressiver Mensch«). Wie
aber entsteht der Zorn? Baut er sich langsam auf oder schlägt er ein wie ein Blitz aus heiterem
Himmel? Wenn er sich langsam aufbaut, wie kann diesen Prozess beschreiben? Geht dem ei-
gentlichen Zorn zum Beispiel eine milde Form der Verärgerung voraus? Ist er aber eine Frage
von Sekundenbruchteilen, was veranlasst ihn dann? In wie weit hängt er von den Selbstwert-
oder den Ehrgefühlen einer Person ab?
Und wie löst sich der Zorn wieder auf? Was bleibt bei dem, der außer sich war? Braucht es ei-
nen Dritten, der beschwichtigend eingreift, hat der Dritte überhaupt eine Chance? Verraucht der
Zorn oder verpufft er, muss er langsam besänftigt werden oder entlädt er sich und ist dann ver-
schwunden? Lässt er Groll zurück, versteinert zum Ressentiment, ist er einfach vergessen,
schlägt er um in Scham? Gibt es Strategien der Versöhnung, nach Perioden hasserfüllter Ausei-
nandersetzungen?
Schließlich: Wechseln die Namen für das Gefühl, je nachdem, wie wir sie bewerten? Ist Hass
Kennzeichen des lang anhaltenden Zorns, wie Thomas von Aquin behauptete? Oder würden wir
heute nicht eher sagen, dass Zorn der Affekt und Wut die Leidenschaft sei, also das eine der
plötzliche Ausbruch, das andere das langsam Anschwellende, das sich festsetzt? Und wäre dann
nicht Hass im Gefolge des Ressentiments das moralisch Negative, während der Zorn mit der
Empörung verschwistert ist und damit ein moralisch positives Gefühl? Manchem scheint – hier
zumindest in unserem Kulturkreis – eine klare Zuordnung möglich: Hass gilt »fast immer als
schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ›gerecht‹ sein«.2

Elementare Gewalt oder kulturell geformtes Gefühl? Der historisch-kulturelle Kontext
Die Bewertung des Zorns hat historisch und kulturell stets variiert. Um nur zwei Eckpunkte zu
nennen: Während er für den griechischen Heros Achill noch durchaus akzeptabel erschien, be-
endete er die Karriere des französischen Fußballspielers Zinedine Zidane mit einer roten Karte.
Der allgemeine Tenor der Kommentatoren war: Hier hat ein großer Sportler das Bild seiner Er-
folge im letzten Moment beschädigt.
In der griechischen Mythologie war der zornige Held eine ehrenwerte Figur. Schon öfter ist dar-
auf hingewiesen worden, dass das erste große Epos der europäischen Kulturgeschichte mit dem
Wort menis – Zorn beginnt. »Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohnes Achilles...« heißt die
erste Zeile der Ilias. Doch schon für die griechische Stadtbürgergesellschaft hat sich hier die
Wertigkeit verschoben. Bei Aristoteles findet sich zum Beispiel eine durchaus ambivalente Be-
urteilung des Zorns. Zwar soll der Mensch immer auf einen ausgeglichen Gemütszustand hinar-

2
    Hilge Landweer, Christoph Demmerling: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart
    2007, S. 289
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beiten, dennoch sei der Zorn im Krieg eine unabdingbare Emotion und habe damit auch produk-
tive Aspekte.
Für andere war er die schlimmste aller Leidenschaften. Wie keine scheint er sich der Beherr-
schung zu widersetzen. Für die römischen Stoiker ist Zorn nur noch gesellschaftszersetzend: Er
bedingt Kontrollverlust, erzeugt Mord und Totschlag. Bis hinein in die frühe Neuzeit sehen
Stoiker im Zorn eine Naturgewalt, eine böse Leidenschaft: etwas Elementares. Er wird als Ursa-
che für Aufruhr und Bürgerkrieg betrachtet. Selbstbeherrschung ist dann die Voraussetzung
auch für den äußeren Frieden.
Damit scheint philosophisch eine Position formuliert zu sein, die die Zivilisationstheorie später
verallgemeinert und verzeitlicht hat. In einer kriegerischen Gesellschaft waren Wut, Hass und
Aggression noch ein notwendiger Bestandteil der psychischen Konstitution. Insoweit hätte Aris-
toteles also recht: Gesellschaften, die von Gewalt regiert wurden, brauchten Individuen, die ag-
gressive psychische Energien im Kampf mobilisieren konnten, notfalls auch spontan. Die Seele
des Ritters, so hat zum Beispiel Norbert Elias es gesehen, ist leicht erregbar und muss es sein.
Wie Emotionen insgesamt, so ist auch der Zorn in solch einer Gesellschaft ungebundener, un-
vermittelter, unverhüllter.3 Mit dem Fortschreiten der Zivilisation muss aber auch die Angriffs-
lust oder die ihr zu Grunde liegende Bereitschaft zum Zorn gezügelt werden, ein Prozess, der die
letzten vierhundert Jahre in Anspruch genommen und als Resultat den modernen Menschen her-
vorgebracht hat, gekennzeichnet durch verstetigte und stärker kontrollierte Gefühlsäußerungen.
Aber ist dieser Prozess der Zivilisation nicht ein Missverständnis, weil wir die Zeichen der (ver-
gangenen) Zeit nicht lesen können? Waren die Zornausbrüche, die uns aus den kriegerischen
Gesellschaften überliefert sind, vielleicht weniger wirkliche Affektäußerungen als vielmehr
kommunikative Rituale? »Many of the mannerisms of medieval communication, which may
appear to us as overemotionalized, were bound up with this function—especially the demonstra-
tion of anger.«4
Ob es diesen »Prozess der Zivilisation« so gegeben hat oder ob er nicht vielmehr ein Mythos
einiger westlicher Theoretiker ist, bleibt umstritten. Klar ist aber, dass diese Theorie die Vielfalt
kultureller Entwicklungen ignoriert. Manche Gesellschaften scheinen den Zorn weniger zu
brauchen, manche kultivieren ihn mehr. Den berühmtesten Fall der Zornesverachtung beschrieb
die Ethnologin Jean Briggs, die in den frühen sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fast
anderthalb Jahre als adoptiertes Familienmitglied in einer Eskimofamilie lebte und ihre Studien
unter dem Titel Never in Anger zusammenfasste. Für die Utku, den Stamm, bei dem Briggs leb-
te, ist jeder Zornausbruch ein Anlass zur Scham, denn Zorn ist kindisch, wer zornig wird ist kein
richtiger Erwachsener.5 Andere Gesellschaften hingegen werden von einem ganz anderen Ehr-
begriff bestimmt. Bei ihnen können Ehrverletzungen nur durch den rächenden Zorn geheilt wer-
den.

Selbstbeherrschung oder Management des Zorns: die psychologische Ebene
Heute scheinen die Bewohner der westlichen Welt alle zum Stamm der Utku zu gehören. Als in
den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den USA eine umfangreiche Untersuchung
durchgeführt wurde, wie die Amerikaner ihre eigenen Stärken und Schwächen einschätzen, ran-
gierte die Kontrolle des Zorns unter den ersten fünf Tugenden. Sie war auch diejenige, der am

3
    Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, Frankfurt am Main 1997, S. 369 ff.
4
    Gerd Althoff: »Ira Regis: Prolegomena to a History of Royal Anger«, in: Barbara H. Rosenwein
    (Hg.): Anger's Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca 1998, S. 74
5
    Jean L. Briggs, Never in Anger. Portrait of an Eskimo Family, Cambridge, Mass. u. London 1970
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meisten Aufmerksamkeit gewidmet wurde. In vielen Ländern Europas käme man wohl kaum
zu anderen Ergebnissen.
Das hat auch unsere pädagogischen Konzepte in den letzten Jahrzehnten tief geprägt. Es ist noch
nicht so lange her, da durfte und musste die väterliche Autoritätsperson als strafende Instanz in
der Familie auch zornig sein. Damit war sie das irdische Gegenbild des himmlischen Vaters, der
seinen Geschöpfen durchaus zürnen konnte, ohne dass ihm das etwas von seiner Göttlichkeit
nahm. Dem korrespondierte auf der Seite des Kindes bzw. des Gläubigen die Furcht, die eine
Ehrfurcht war. Die Psychologie spricht hier von einer »transgenerationellen Weitergabe« des
Zorns, einer Kette, die es zu unterbrechen gelte.
In der Tat sind Ausbrüche von Jähzorn weiter verbreitet, als man denkt. Statistische Erhebungen
haben gezeigt, dass rund ein Viertel der Bevölkerung darunter leidet.7 Wie soll man damit nun
umgehen? Muss er rigoros unterdrückt werden – oder ist das gerade die Quelle des Übels?
In der Tat warnen Psychologen auch davor, dass unterdrückte Wut in Angst und Depression
umschlagen kann. Inzwischen hat dann auch die neuere Selbsthilfeliteratur das Thema bearbeitet
und dabei ein »Universum des Zornkönigs« proklamiert. In diesem Universum gelte es, den
positiven und produktiven Umgang mit Ärger, Zorn, Wut und Empörung zu lernen.8
Dementsprechend hat nicht nur die Psychotherapie, sondern auch die Organisationssoziologie
das Thema aufgenommen und untersucht, wie Zorn bewusst in Situationen eingesetzt wird. Wie
reagieren zum Beispiel die einzelnen Akteure in der Arbeitswelt darauf? Wann führt die Darstel-
lung von Zorn zum Erfolg und wann nicht?9
Und auch im Rechtssystem spielt der Zorn noch eine bedeutende Rolle. Gilt die Einhegung der
individuellen Rache und ihre Ersetzung durch Recht und Gesetz, exekutiert von unabhängigen
Instanzen, als historische Errungenschaft, so hat der Affekt doch sein Recht in der Abwägung
von Schuld und der Zumessung von Strafmaßen.

Stolz und Zornkulturen: die politische Ebene
Am weitesten in der Rehabilitierung des Zorns ging in letzter Zeit vielleicht Peter Sloterdijk, der
den politischen Wissenschaften vorwirft, sie litten substantiell unter der Verleugnung des Zorns.
Sloterdijk identifiziert im Menschen neben der Libido eine weitere, bislang völlig verdrängte
Art von Energien, die er mit Anleihe beim Griechischen die thymotischen nennt. Thymos war in
der Antike ein Sammelbegriff aus Zorn, Stolz, Scham, Ehrgeiz, Geltungswillen und Rechtsemp-
finden. Dementsprechend fordert Sloterdijk auch eine neue Theorie des Stolz-Ensembles.10 Da-
mit hat er aber gerade die genuin politische und soziale Dimension des Themas zugunsten einer
tiefenpsychologischen geopfert.
In der Tat ist die »Wut in den Städten« zu einer der beherrschenden Phänomene der Gegenwart
geworden. Ob auf amerikanischen Straßen, im Pariser Clichy-sous-Bois oder am 1. Mai in Ber-
lin-Kreuzberg, die Autos, die in Flammen aufgehen, sind das Zeichen einer neuen Art von
Volkszorn, die mancher schon auf die frei flottierenden Energien gewaltbereiter junger Männer
zurückführen wollte. Ein kleiner nebensächlicher Auslöser kann mit einem Mal unvorhergese-

6
     Carol Zisowitz Stearns, Peter N. Stearns, Anger. The Struggle for Emotional Control in Amerca's
     History, Chicago, London 1986, S. 211
7
     Theodor Itten: Jähzorn, Wien, New York 2007
8
     Christoph Burger, Der Zornkönig. Wie Sie Ihren Ärger positiv nutzen, München 2007
9
     Gerben van Kleef, I. van Beest, E. van Dijk, »Get angry, get out. The interpersonal effects of anger
     communication in multiparty negotiation«, in: Journal of Experimental Social Psychology, 44 (2008),
     993-1002
10
     Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main 2006, S. 36 ff.
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hene Folgen haben. In wie weit sind diese Ausschreitungen die Folge nicht nur sozialer Deklas-
sierung, sondern auch kulturell differierender Ehrbegriffe?
Anders gesagt: Warum führen Ausgrenzungen und Missachtungen in dem einen Fall zur De-
pression, im anderen aber zum Aufbegehren? In welchen Zusammenhang steht es zum Gerech-
tigkeitsgefühl und sind diese Empfindungen diskursiv verhandelbar? Gibt es bestimmte Kultu-
ren des Zorns, die dem Aufbegehren vorbereitete Bahnen weisen? Gibt es zentrale Figuren, die
den Zorn kanalisieren, die als Projektionsflächen dienen. Wann erscheint jemand als Bandit,
wann als Rebell? Kann sich der eine vielleicht sogar in den anderen verwandeln, wie im Fall
von Phoolan Devi, der zur Legende gewordenen indischen Banditin, die nach Verbüssung ihrer
Haftstrafe zur Menschenrechtlerin wurde und ins indische Parlament gewählt wurde?11

Zur Pathologie des Zorns: Amok
Nicht in der Masse, sondern durch einen Einzeltäter äußert sich eine andere Art affektiver Exp-
losion: im Amoklauf. Ursprünglich erschien er als etwas Exotisches, deswegen trägt das Phä-
nomen einen fremden Namen. »Amok? ... Ich glaube mich zu erinnern ...« heißt es noch in Ste-
fan Zweigs Novelle Der Amokläufer, »eine Art Trunkenheit bei den Malaien ...«12 Inzwischen
ist es etwas fast Alltägliches geworden, zuerst nur in den USA, dem Land des freien Waffenbe-
sitzes, inzwischen aber weltweit, auch in Europa, auch in Deutschland. »Amok ist eine aktuelle
Chiffre der Angst«, schreibt der Potsdamer Medienwissenschaftler Heiko Christians, »Amok
geht uns unterdessen alle an«13, gerade weil er auch medial aufgenommen und verstärkt wird.
Der Ausbruch kalter Wut steckt an und braucht dazu nicht unbedingt den unmittelbaren Kon-
takt.
Einmal in Rage agiert der Amokläufer nahezu blind. Die Inkarnation antiker Wut und Rach-
sucht, Medea, die, um sich an ihrem untreuen Mann zu rächen, ihre eigenen Kinder umbringt,
handelt bei aller Maßlosigkeit zielgericht. Der Amokläufer hingegen schießt wahllos um sich,
kennt keine Rücksicht, nicht Freund noch Feind. Der 19jährige Erfurter Robert Steinhäuser un-
terscheidet nicht zwischen Lehrern, Mitschülern, Sekretärinnen, Polizisten, er läuft von Klassen-
raum zu Klassenraum und bringt sie alle um – keiner liebt ihn, die ganze Welt ist gegen ihn. Am
Ende richtet sich seine Wut gegen sich selbst.

Für einen produktiven Begriff des Zorns
Die Tagung Von Achilles bis Zidane. Zur Genealogie des Zorns will die unterschiedlichen Sei-
ten des Zorns beleuchten und zueinander in Beziehung setzen. Dabei geht es vor allem darum,
die produktiven Seiten eines modernen Begriffs von Zorn ausloten. Gerade die einseitigen Ver-
engungen des Phänomens gilt es in diesem Zusammenhang zu vermeiden. Wir gehen davon aus,
dass Wut, Zorn, Rachsucht oder Empörung historisch und kulturell unterschiedliche Gestalten
annehmen. Das Politische und das Soziale kann und darf man nicht auf eine tiefenpsychologi-
sche Grundkraft reduzieren, andererseits stehen beide Ebenen doch in einem Wechselverhältnis,
das klarer herauszuarbeiten wäre. Psychologische, politische, sozialwissenschaftliche, kulturelle
und moralische Aspekte des Phänomenfelds »Zorn« sollen miteinander in Beziehung gesetzt
werden, um – wie die Vorgängertagungen der Reihe Passion(s) in Culture(s) – die »emotionale
Signatur unserer Zeit« zu analysieren.

11
     Veena Kade-Luthra: Phoolan Devi. Die Legende einer indischen Banditin, Frankfurt am Main 1983
12
     Stefan Zweig, »Der Amokläufer«, in: ders., Meisternovellen, Frankfurt am Main 2001, S. 117
13
     Heiko Christians: Amok. Geschichte einer Ausbreitung, Bielefeld 2008, S. 13, 15
Einstein Forum: Von Achilles bis Zidane – Zur Genealogie des Zorns       -6-

Referenten
Gerd Althoff, Münster, Mediävistik
Elke Buhr, Berlin, Musik
Heiko Christians, Potsdam, Medienwissenschaften
Ute Frevert, Berlin, Neuere Geschichte
William Harris, New York, Alte Geschichte
Theodor Itten, St. Gallen, Psychologie
Veena Kade-Luthra, Frankfurt am Main, Kulturwissenschaften
Hermann Kappelhoff, Berlin, Filmwissenschaften
Glenn Most, Pisa, Altphilologie, Vergleichende Literaturwissenschaften
Hermann Schmitz, Kiel, Philosophie
Jonathan Shay, Boston, Klinische Psychiatrie
Gerben van Kleef, Amsterdam, Sozial- und Organisationspsychologie
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