Vernachlässigung und emotionale Miss-handlung von Kindern und Jugendlichen
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KINDER- UND JUGENDARZT FORTBILDUNGSSCHWERPUNKT: GEWALT GEGEN KINDER Vernachlässigung und emotionale Miss- handlung von Kindern und Jugendlichen Bernd Herrmann Bis auf immer wieder kehrende spektakuläre Einzelfälle qualvoll verhungerter und vernachläs- sigter Kinder ist Vernachlässigung von Kindern in der Regel als Thema wenig spektakulär. Sie er- hält daher sowohl in den Medien, der öffentlichen, leider aber auch in der professionellen Wahr- nehmung eine deutlich geringere Aufmerksamkeit und Stellenwert als körperliche Misshand- lung und sexueller Missbrauch. Die vorliegenden Studien und Daten deuten jedoch auf eine er- heblich größere quantitative und vermutlich auch qualitative Bedeutung als die „klassischen“, aktiven Gewaltformen. Die vielfach sehr ausgeprägten Folgen werden auch von Fachleuten häu- FORTBILDUNG fig noch unterschätzt, so dass der Begriff der „Vernachlässigung der Vernachlässigung“ geprägt wurde. US-Amerikanische Statistiken bele- besonderen Risikofaktor für einen Definition und Erscheinungs- gen, dass dort mehr Kinder an Ver- sexuellen Missbrauch an. Dennoch formen nachlässigung sterben als an körper- kann sowohl Vernachlässigung als licher Kindesmisshandlung. Es gibt auch emotionale Misshandlung un- Vernachlässigung wird als überwie- oft fließende Übergänge und koexis- abhängig als eigene Misshandlungs- gend passive Misshandlungsform tierende Formen zwischen den ver- form existieren und muss auch des- beschrieben, als „act of omission“, schiedenen (aktiven) Formen der halb als eigener Sachverhalt be- der Unterlassung, im Gegensatz zu Misshandlung und Vernachlässi- trachtet und in Interventionsstrate- den „acts of comission“, des aktiven, gung. Zudem tragen vernachlässigte gien integriert werden. Die Gefahr schädigenden Tuns und Übergriffs. Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko besteht, dass ansonsten wichtige Die verantwortlichen Bezugsperso- Opfer anderer Formen von Miss- Aspekte der Genese, Auswirkung nen lassen aus Unaufmerksamkeit, handlung zu werden. Bei Mischfor- und Bedürfnisse der Opfer für die Vorsatz, mangelnden eigenen Fähig- men von Misshandlungen geht weitere Betreuung tatsächlich „ver- keiten, mangelnder Einsichtsfähig- womöglich ein wesentlich größerer nachlässigt“ werden (Glaser 2002, keit und unzureichendem Wissen Anteil der langfristigen Folgen auf Cantwell 2002, Deegener 2005). über Notwendigkeiten und Gefah- „das Konto“ der Vernachlässigung Vernachlässigung ist ein heteroge- rensituationen zu, dass elementare oder der emotionalen Misshandlung nes Phänomen mit sehr variabler Grundbedürfnisse von Kindern und als auf das der aktiven Misshand- Art, Ausprägung, Schwere und Mu- Jugendlichen nicht erfüllt werden. lungsformen. So erfüllen verbale Be- ster. Es werden sowohl tatsächliche Allgemein wird zwischen körperli- schimpfungen und Herabwürdigun- Schädigungen als auch das Potenzial cher und emotionaler Vernachlässi- gen, vor, während oder nach körper- zu schwerer Schädigung durch man- gung unterschieden, Vernachlässi- lichen Misshandlungen gleichzeitig gelnde Aufsicht beschrieben. Sowohl gung umfasst daneben jedoch auch die Kriterien einer emotionalen bzw. individuelle elterliche, kindliche als pädagogische, soziale und ökonomi- seelischen Misshandlung. Auch der auch gesellschaftliche Faktoren tra- sche Aspekte. Neben die üblicher- „Gebrauch“ eines Kindes zur Befrie- gen zum Gesamtphänomen bei, bei weise passiven Formen aus o.g. digung von sexuellen und Machtbe- letzterer insbesondere Armut und Gründen, treten Formen mit mehr dürfnissen eines Erwachsenen im soziale Isolierung. Während es bei oder weniger aktiven Aspekten, wie Rahmen eines sexuellen Mis- körperlicher und sexueller Kindes- die wissentliche Verweigerung z.B. sbrauchs, stellt durch seine eklatan- misshandlung eher Ereignisse zur von Nahrung, Ausbildung oder te Missachtung der Bedürfnisse und Aufmerksamkeit von Fachleuten Schutz. Körperliche Vernachlässi- Rechte des Kindes gleichzeitig eine oder Laien führen, beschreiben Ver- gung beschreibt eine nicht hinrei- Form der emotionalen Misshand- nachlässigung und insbesondere chende Versorgung mit Kleidung lung dar. Viele körperlich oder sexu- emotionale Misshandlung gestörte und Nahrung und einen Mangel an ell misshandelte Kinder und Jugend- Interaktionen und Beziehungen. Gesundheitsfürsorge, mangelnde liche weisen gleichzeitig Kennzei- Diese sind für die Gesamtbeziehung Beaufsichtigung und Schutz vor Ge- chen von Vernachlässigung ihrer kennzeichnend und typisch (Straß- fahren, die zu massiven Gedeih- und Grundbedürfnisse auf, manche Au- burg 2002, Fegert 1999, Dubowitz Entwicklungsstörungen, Verletzun- toren sehen Vernachlässigung als 2001). gen oder Krankheiten führen kön- KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. (2005) Nr. 6 Nr. 3376 1
nen. Emotionale Vernachlässigung lang nicht vor. Engfer gibt ohne Quel- sichtlich, wobei die Frage der Über- (Deprivation) beschreibt ein ungenü- lenangabe an, dass Vernachlässi- tragbarkeit unklar ist (USA: etwa gendes oder ständig wechselndes gung etwa drei Viertel aller Miss- dreifache Bevölkerungszahl wie und dadurch nicht ausreichendes handlungsfälle in deutschen Jugend- Deutschland). emotionales Beziehungsangebot, ämtern ausmache (Engfer 1997). Die umfangreiche 3. Nationale Inzi- unzureichende Zuwendung, Liebe, Eine 3 Monate laufende Erhebung an denzstudie NIS-3 1993 ergab einen Pflege, Förderung, Anregung (Dee- 2 Universitätskliniken ergab eine Anteil von 60% Vernachlässigung gener 2005, Cantwell 2002, Frank Häufigkeit von 1–2% Vernachlässi- von 1,5 Mio berichteten Fällen, zu- 2002). gung und Misshandlung an allen sta- sätzlich 12% emotionale Misshand- tionär aufgenommenen Kindern. lungen; Der aus den Meldungen des 3–6 % der untersuchten Stichprobe amerikanischen Pflichtmeldesys- Epidemiologie waren vernachlässigt im Gegensatz tems vom US Department of Health & Hinreichende empirisch erhobene zu 0.7% Misshandlungen (Frank Human Services jährlich erhobene Daten zur Häufigkeit von Vernach- 1995). National Child Abuse and Neglect lässigung und emotionaler Miss- Die Größenordnung des Phänomens Data Survey (NCANDS) beschreibt handlung liegen für Deutschland bis- wird aus amerikanischen Daten er- für das Jahr 2003 bei 906000 be- stätigten von knapp 3 Millionen jähr- lichen Gesamt-Meldungen einen An- Tab. 1a: Körperliche Vernachlässigung teil von 61% Vernachlässigungen, (Mangel an physischer bzw. gesundheitlicher Fürsorge und Schutz vor Ge- 2,3% medizinischer Vernachlässi- fahren) gung, 4,9% emotionale Misshand- • Keine Adäquate qualitative und quantitative Ernährung lung, körperliche Misshandlung ➢ Klassisch „zu wenig“, Dystrophie, Gedeihstörung; „Non organic failure to 18,9%, sexueller Missbrauch 9,9%. thrive“ Die Zahlen lagen für den Zeitraum 1994–2003 relativ konstant im Be- ➢ Aber auch „zuviel“, extreme Adipositas FORTBILDUNG reich von 55-65% für Vernachlässi- ➢ Psychosozialer Minderwuchs („Psychosocial dwarfism“) gung und 4-6% für emotionale Miss- • Keine medizinische bzw. gesundheitliche Vorsorge (-untersuchungen), kei- handlung. Für den gleichen Zeit- ne Zahnvorsorgeuntersuchungen, keine oder unzureichende Impfungen, je- raum werden Inzidenzen zwischen weils aus 6,5 und 7,7 pro 1000 Kinder für ➢ Misstrauen gegenüber Medizinsystem Vernachlässigung angegeben, ➢ Religiöser oder kultureller Einstellung 0,4–0,6/1000 medizinische Ver- nachlässigung, 0,7–0,9/1000 emo- • Prä- und perinatale Vernachlässigung: Drogen, Alkohol, Nikotin in der tionale Misshandlung im Vergleich Schwangerschaft, fehlende medizinische Vorsorge bzw. Betreuung, Leug- zu 2,3–3,6/1000 körperliche Miss- nen der Schwangerschaft handlung und 1,2–1,9/1000 sexuel- • Verweigerung oder Verzögerung medizinischer Behandlung bei Erkrankun- ler Missbrauch. 42% von 1271 gesi- gen cherten Todesfällen gingen 1994 al- • Keine adäquate Unterkunft lein auf Vernachlässigung zurück, • Keine angemessene Bekleidung, Hygiene und Körperpflege, Zahnpflege weitere 4% auf eine Kombination aus körperlicher Misshandlung und Ver- • Keine Sicherheit vor alltäglichen Gefahren, mangelnde Supervision und Auf- nachlässigung (Child Maltreatment sicht (führt u.a. zu Ertrinkungsunfällen, Wohnungsbränden, Vergiftungen u.a. 1994-2003, Cantwell 2002, Dubo- Unfällen) witz 2001, Asser 1998). Eine kanadi- sche Studie ergab unter den be- Tab. 1b: Emotionale Misshandlung stätigten Vernachlässigungsfällen ei- (Inadäquate oder fehlende emotionale Fürsorge und Zuwendung, nicht hinrei- nen Anteil von 19% körperlicher chendes oder ständig wechselndes und dadurch insuffizientes emotionales Vernachlässigungen, 12% „im Stich Beziehungsangebot) lassen“, 11% schulische Vernachläs- sigung und 48% physische Schäden • Keine Zuwendung, Liebe, Respekt, Geborgenheit durch mangelnde Aufsicht (Troemé • Mangelnde Anregung und Förderung („stimulative Vernachlässigung“) 2001). • Mangelndes Wahrnehmen und Unterstützung des Schulunterrichtes • Permissive Eltern bei Schulschwänzen Ätiologie • Keine Förderung der Ausbildung und Erwerb sozialer Kompetenz Wie bei vielen komplexen Erschei- • Keine Hilfe zur „Lebenstüchtigkeit“, Selbstständigkeit und zur Bewältigung nungen in der Medizin (und im Le- von Alltagsanforderungen ben überhaupt!) gibt es keine mono- • Kein angemessenes Grenzen setzen, keine Belehrung über Gefahren kausalen Erklärungen. Multiple und interagierende Faktoren auf indivi- • Zeuge chronischer Partnergewalt der Eltern dueller und familiärer Ebene, das • Permissive Eltern bei Substanzabusus des Kindes Lebensumfeld als auch gesellschaft- • Permissive Eltern bei Delinquenz liche Faktoren spielen unterschied- lich bedeutsame Rollen in der Ent- • Verweigerung oder Verzögerung psychologischer oder psychiatrischer Hilfe stehung von Vernachlässigung und (Cantwell 2002, Dubowitz 2001, Straßburg 2002). emotionaler Misshandlung. Auf der individuellen elterlichen Tab. 1: Formen und Symptomatik von Vernachlässigung Seite werden v.a. Probleme der müt- 2 Nr. 3376 KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. (2005) Nr. 6
terlichen emotionalen Gesundheit, ter“ gemacht werden und als Kom- wie ungünstige soziale Faktoren wie ihrer intellektuellen Fähigkeiten und pensation für fehlende eigene per- Armut, Alkoholismus, berufliche Drogen- bzw. Alkoholmissbrauch sönliche und berufliche Perspektiven und persönliche Hoffnungslosigkeit beschrieben. missbraucht werden. Auch der inni- und soziale Isolation vor. Unter Um- ge Wunsch der häufig selbst als Kin- ständen spielen biologisch-archai- Bei vernachlässigenden Müttern fin- der chronisch vernachlässigten oder sche und genetische Faktoren eben- den sich gehäuft Depressionen und misshandelten jungen Eltern endlich falls eine Rolle. ein von Polansky so genanntes „Apa- geliebt und respektiert zu werden, thy-Futility-“Syndrom („Apathie- schafft unerfüllbare und völlig un- Vergeblichkeit“). Dieses ist gekenn- realistische Erwartungen im Sinne Symptomatik und Folgen zeichnet durch emotionale Stumpf- einer Rollenumkehr, die ein kleiner heit, Gefühlsarmut, Einsamkeit, Eine schwerwiegende medizinische, brüllender Zwerg keineswegs zu er- Klammern in Beziehungen, Unfähig- bzw. körperliche Vernachlässigung füllen vermag. Hierdurch kommt es keit Gefühle zu artikulieren oder aus- lässt sich anhand des beeindrucken- zu massiven narzisstischen Krän- zudrücken, passive Aggressivität, den klinischen Bildes einer ausge- kungen und empfindlichen, zuwei- Feindseligkeit, mangelnde Problem- prägten (nichtorganischen) Gedeih- len irreparablen Störungen der sich lösefähigkeit, mangelnde Bezie- störung am ehesten prima vista er- erst entwickelnden Eltern-Kind-Bin- hungsfähigkeit, Gefühle, dass alles fassen (Abb. 1). Eine gründliche dif- dung und Beziehung. zwecklos ist, Langeweile, Unruhe, ferenzialdiagnostische Aufarbeitung generelle Unzufriedenheit und die Soziale Isolation und fehlende Res- ist erforderlich um andere Ursachen Tendenz andere für das eigene sourcen sowie sozialer Stress durch der Gedeihstörungen auszuschlie- Schicksal verantwortlich zu machen. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und ßen (Frank 2001, Nützenadel 2002). Bei den weniger beachteten Vätern vor allem durch Armut sind gesell- Weniger ausgeprägte und oft unspe- (weil oft passager oder dauerhaft ab- schaftliche Faktoren, die zu Ver- zifische Störungen und Mängel im wesend oder emotional nicht verfüg- nachlässigung beitragen. Letztere somatischen Bereich sind meist bar) werden gehäuft Aggressionen wurde auch direkt mit Vernachlässi- schwerer einer Vernachlässigung als FORTBILDUNG und dissoziale Persönlichkeiten so- gung assoziiert, führt sie doch neben Auslöser zuordnen. Hier ist das in wie Kriminalität beschrieben. Neben materiellen Mängeln auch zu negati- Betrachtziehen und Verknüpfen mit intellektuellen Defiziten und gerin- ven Nachbarschaften mit geringen anderen Aspekten erforderlich (Vor- ger Schulbildung werden häufig Kontakten, sozialen Ressourcen, Bil- sorgen, Entwicklung, Interaktion, auch Drogen- und Alkoholmiss- dungs-, Kultur- und Kinder-Jugend- Verhaltensauffälligkeiten). Am of- brauch beschrieben, die neben di- angeboten. fensichtlichsten ist noch ein schlech- rekten Schädigungen auch die elter- ter Pflegezustand, beispielsweise bei Inwiefern biologische evolutionäre liche Kompetenz und Fürsorgefähig- Aufnahme in der Klinik. Daneben ist und genetische Faktoren eine Rolle keit oft stark beeinträchtigen. Auch auch bei ausgeprägter Adipositas ei- spielen, ist unklar. Die Beobachtung eine eigene Vorgeschichte von kör- ne Vernachlässigung als Folge man- gravierender Vernachlässigungen, perlicher oder sexueller Gewalt, Ver- gelnder Anregung, quantitativ und emotionaler und körperlicher Miss- nachlässigung oder seelischer Miss- qualitativer Fehlernährung sowie handlungen bis hin zu Tötungen handlung liegt oft vor (Engfer 1997, mangelnder Supervision bezüglich durch Stiefväter oder neue Lebens- Cantwell 2002). Bewegung, TV und PC Konsum in gefährten alleinerziehender Mütter, Betracht zu ziehen (Abb. 2). Auf- die dann den Schutz der Kinder der Obgleich Eigenschaften der Kinder grund der dramatischen Folgeschä- neuen Beziehung opfern, werden nicht als Ursache für Vernachlässi- den (kardiovaskuläre Probleme, Hy- entsprechende Beobachtungen bei gung zu sehen sind, spielen sie eine pertension, Diabetes, psychosoziale Primaten gegenübergestellt: dort wichtige Rolle als Auslöser, Stres- Probleme wie Auslachen, Ausgren- wird das fremde, übernommene „ge- sverstärker oder Mitverursachend zung, niedriges Selbstwertgefühl netische Material“ als Konkurrenz für die Dekompensation schon ein- und früherer Mortalität, stellt auch für die eigenen Nachkommen „aus- geschränkter elterlicher Kompeten- dies eine schwerwiegende Bürde für gemerzt“ (Rückert 2005). Der be- zen. So sind chronisch kranke, be- die Gesundheit von Kindern und Ju- kannte amerikanische Kinderarzt hinderte und frühgeborenene Kin- gendlichen dar. Neben den anson- und Kinderschutzmediziner Krug- der vermehrt gefährdet. Auch bei sten in Tabelle 1 geschilderten Merk- mann spekuliert in einem Editorial Säuglingen mit exzessivem Schreien, malen und Konstellationen mit be- von „Child Abuse and Neglect“ über Schlaf- und Fütterstörungen als Re- einträchtigter körperlicher Befind- mögliche genetische Defekte als Ur- gulationsstörungen der frühen Kind- lichkeit ist in den meisten Fällen eine sache schwerer Vernachlässigung: heit, ist das Risiko einer sich chroni- deutlich gestörte Entwicklung in al- das Fehlen oder Ausschalten des fizierenden und zu Vernachlässi- len Bereichen zu beobachten, insbe- fosB Gens bei Mäusen führte in Ver- gung oder Misshandlung führenden sondere eine beeinträchtigte motori- suchen zu massiv vernachlässigen- Beziehungsstörung stark erhöht (Pa- sche und kognitive Entwicklung und dem und verletzendem Verhalten poušek 1999). Für die oft jungen El- hervorstechend oft eine Sprachent- der eigenen Nachkommen bei Mäu- tern ist der Säugling insbesondere wicklungsstörung. Bei kleinen Kin- sen (Krugmann 1997). bei ungeplanten Schwangerschaften dern imponieren fehlendes reaktives bisweilen ein „ungeplanter Störfak- Letztlich liegen bei Vernachlässigun- Lächeln, wenig Blickkontakt, ausge- tor“, für den (noch) kein Platz da ist gen und emotionalen Misshandlun- prägte Ruhe oder Apathie. Die Beob- und der für die empfundene Ver- gen unterschiedlich ausgeprägte achtung der Interaktion zeigt wenig schlechterung und Einschränkung Konstellationen persönlicher biogra- freundlichen Umgang mit dem Kind, verantwortlich gemacht wird. Zum fischer Defizite der Eltern aufgrund geringe Zärtlichkeit und häufige ver- anderen kann das Kind zu einem un- eigener Deprivation oder Gewalter- bale Zurechtweisungen, jedoch ohne bewusst herbeigesehnten aber völlig fahrung, familiäre, sozial vererbte Konsequenz oder klare Linie. Bei äl- unangemessen erhöhten „Sinnstif- oder zerstörte Bindungsfähigkeit so- teren Kindern kann sich das gesam- KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. 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Abb. 1: Schwere Gedeihstörung durch körperliche Ver- Abb. 2: Massive Adipositas – auch eine Form der Ver- nachlässigung nachlässigung? te Spektrum an nichtspezifischen gen Anteil in Kindergärten, Schulen haupt in Betracht zu ziehen, die emotionalen, psychischen und sozia- und anderen gemeindenahen oder Kenntnis der entsprechenden Hin- FORTBILDUNG len Verhaltensauffälligkeiten finden. häuslichen Bereichen, so dass die weise und des erforderlichen Vorge- Die sozialen Fähigkeiten sind zu- Kommunikation mit Fachleuten aus hens, insbesondere die Bereitschaft meist beeinträchtigt, vernachlässig- diesem Bereich sehr wichtig sein zur Kooperation mit Jugendamt, te Kinder haben wenig Freunde und kann. Niedergelassene Kinder- und Kinderpsychologen, Kinder- und Ju- tun sich schwer, selbst Beziehungen Hausärzte haben durch die langfris- gendpsychiatern, Beratungsstellen, anzuknüpfen. Eine schwerwiegende tige Kenntnis der Kinder und Famili- gelegentlich auch der Polizei und an- Ausprägung der Beziehungsstörung en einen wesentlichen Stellenwert deren Fachleuten. Die Kenntnis der ist die „reaktive Bindungsstörung für die Diagnose. Ihre Beobachtun- entsprechenden Infrastruktur im je- des Kindesalters“, die durch anhal- gen, inwieweit das gesundheitliche weiligen regionalen Umkreis schon tende Auffälligkeiten im Muster der Vorsorgesystem wahrgenommen im Vorfeld und nicht erst bei Eintre- sozialen Beziehungen des Kindes wird, die Verlaufsbeobachtung der ten eines Verdachtsfalles ist essenti- charakterisiert ist. Neben Furcht- körperlichen und übrigen Entwick- ell für niedergelassene Kinderärzte. samkeit und Übervorsichtigkeit, zei- lung, des Gesundheitszustandes und Sie ermöglichen auch die Konsultati- gen jüngere Kinder stark wider- die Beurteilung der Interaktionen on und Diskussion über das jeweils sprüchliche oder ambivalente sozia- zwischen Eltern und Kindern in der sinnvolle Procedere in Verdachtsfäl- le Reaktionen, die bei Verabschie- Praxis, können entscheidende Hin- len. dungen oder Wiederbegegnungen weise auf eine Vernachlässigung am besten sichtbar werden. Kinder oder emotionale Misshandlung sein. reagieren mit einer Mischung aus Dies sollte schon möglichst früh auf- Annäherung, Vermeidung und Wi- merksam registriert werden, um • Wenig freundlicher Umgang mit derspruch auf Zuspruch von Betreu- grundlegende Störungen im ersten dem Kind ungspersonen. Die emotionale Stö- Lebensjahr, die oft nicht mehr rever- ➢ Mutter lächelt selten rung kann sich in Unglücklichsein, sibel, sind zu vermeiden. Auffällige ➢ Wirkt überwiegend ärgerlich einem Mangel an emotionaler An- Beziehungsmuster lassen sich schon ➢ Angespannt sprechbarkeit, Rückzugsreaktionen bei sehr jungen Säuglingen diagno- oder aggressiven Reaktionen stizieren, meist durch die Beobach- • Geringe Zärtlichkeit äußern. Die reaktive Bindungs- tung von gemiedenem Körperkon- ➢ Kaum zärtliche Berührungen störung ist eine schwerwiegende takt und das Übergehen von deutli- ➢ Kind wird mit spitzen Fingern Störung (Frank 2002). chen Signalen des Kindes. Väter angefasst müssen in der Regel ausdrücklich Vernachlässigung kann schwerwie- ➢ Kind wird meist weit weg vom einbestellt werden, damit man einen gende und langfristige kognitive und eigenen Körper gehalten Eindruck von der Interaktion zwi- akademische Defizite, soziale • Häufige verbale Restriktionen schen ihnen und ihren Kindern be- Störungen in Form von Rückzug und kommt. Bei den Hinweisen zur ➢ Negative Feststellungen über Kontaktstörungen und internalisie- Durchführung der Vorsorgeuntersu- das Kind rende psychische und emotionale chungen werden Beispiele für offene ➢ Vorwürfe in sehr ärgerlichem Störungen (Hildyard 2002). oder versteckte Ablehnung eines Ton, so als könnte der Säugling Kindes für die U4 angeführt (Tabelle entsprechend reagieren, wenn Diagnostik 2, nach Frank 2002). er nur wollte Die Beobachtungen vernachlässi- Der Verdacht einer Vernachlässi- gender oder emotional misshandeln- gung erfordert wie bei allen Miss- Tab. 2: Verhaltens- und Interakti- der Eltern-Kind-Beziehungen bzw. handlungen in hohem Maße die in- onsbeobachtung am Beispiel der ihrer Folgen erfolgt zu einem wichti- nere Bereitschaft die Diagnose über- U4 (nach Frank 2002) 4 Nr. 3376 KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. (2005) Nr. 6
• Dokumentation und Verlauf der Emotionale Misshandlung 4. Mangelndes Erkennen der Per- somatischen Entwicklung, Kör- sönlichkeit, Individualität und Synonym werden auch die Begriffe permaße, Pflegezustand, Zahn- Grenzen, Missbrauch des Kindes seelische oder psychische Misshand- status für eigene Bedürfnisse lung verwendet. Obgleich sie auch zu • Gegebenenfalls Ausschluss orga- den aktiven Misshandlungsformen 5. Mangelnde Förderung der sozia- nischer Ursachen einer Gedeih- gezählt wird, ist sie inhaltlich und len Integration und Adaptation, störungen (vgl. Tabelle 4) von der Schwere der Folgen eher mangelnde kognitive Stimulation, • Dokumentation des (Nicht-) dem Bereich der Vernachlässigung Wahrnehmens der Vorsorgeunter- zuzuordnen und vergleichbar. Emo- tionale Misshandlung und emotiona- (Weichen in Form und Schwere suchungen, Impfungen, Zahn- le Vernachlässigung werden oft als deutlich von der Norm ab, länger- vorsorge, Karies-Rachitis- ähnlich in Auswirkung und Schädi- dauernd, allgemeines Kennzeichen Prophylaxe gungspotenzial betrachtet (Glaser der Eltern-Kind-Beziehung) • Beurteilung der psychischen, 2002). • Schmähungen, herabsetzen, deg- emotionalen, kognitiven Entwick- lung Emotionale Misshandlung kenn- radieren, beschämen, öffentlich zeichnet ein wiederkehrendes Mus- lächerlich machen, massiv kriti- • Dokumentation der Interaktion in sieren oder strafen der Praxis, bzw. bei Kenntnis aus ter feindseliger, ablehnender, ein- anderen Bereichen schüchternder und verbal herab- • Verbale Gewalt: terrorisieren, ein- würdigender, schädigender „Erzie- schüchtern, bedrohen, Unsicher- • Beschreibung von Verhaltensauf- heit und Ängste fördern hungs-“ Interaktionen, die eher eine fälligkeiten der Kinder oder Ju- negative Grundeinstellung gegen- • Mangel an Wärme und emotiona- gendlichen über dem Kind widerspiegeln als ei- ler Reaktionen und Verfügbarkeit, • Dokumentation der Familien- und ne Kette von negativen Ereignissen ignorieren, fehlende Wertschät- der Sozialanamnese, belastende zu sein. Gelegentlich werden diese zung, Gleichgültigkeit Lebensumstände, Vorgeschichte, FORTBILDUNG Interaktionen nur in alkoholisierten Eigenanamnese der Eltern (Ge- • Fehlendes Ausdrücken von Zu- oder Überforderungssituationen walterfahrung, Trennung, Schei- neigung, Sorge und Liebe sichtbar. Den Kindern und Jugendli- dung, Depressionen, Suchtpro- chen wird durch Schmähungen, Her- • Aktives Ausdrücken von Gering- bleme u.a.) absetzungen, Lächerlich machen, schätzung, Abneigung, Minder- einschüchtern oder Ignorieren ver- wertigkeit Tab. 3: Diagnostik bei Verdacht auf mittelt, dass sie wertlos, fehlerhaft, • Allgemeine Tendenz dem Kind Vernachlässigung ungeliebt oder ungewollt sind. Wenn negative Merkmale zuzuschreiben diese Verhaltensmuster regelmäßig • Verstoßen, vermeiden, weg • Chronische Hepatopathie und als Grundhaltung auftreten, stoßen • Gastroösophagealer Reflux (pH- kennzeichnen sie die emotionale Metrie, Röntgen-Ösophagus- Misshandlung also in erster Linie als • Isolieren, einsperren, unangemes- breischluck) eine massiv gestörte Beziehung und sene Beschränkungen des (je- Interaktionsstörung, die sich psy- weils altersentsprechenden) Be- • Zöliakie (Gliadin-Antikörper, wegungsrahmens und sozialer Transglutaminase-Antikörper, chisch schädigend auf das Kind aus- wirkt (Glaser 2002). Die Symptome Kontakte Dünndarmmorphologie) sind der Tabelle 5 zu entnehmen, • Unzuverlässiges oder unbere- • Intestinale Kuhmilchproteinaller- chenbares Erziehungsverhalten darin sind die Practice Guidelines gie (Elimination und Provokation (widersprüchliche und ambivalen- der APSAC (American Professional mittels Kuhmilch) te, uneindeutige Anforderungen) Society on the Abuse of Children) • Chronisch entzündliche Darmer- und der AAP (American Academy of • Gewalt gegen Spielzeug, Ku- krankungen (Blut im Stuhl, Ent- Pediatrics) eingearbeitet (APSAC scheltiere oder Haustiere der Kin- zündungsparameter, Sonogra- 1995, AAP 2002). der phie, Gastroduodenoskopie, Ko- loskopie, Röntgen-Sellink, biopti- Glaser (Glaser 2002) entwickelte ei- • Eine unbegründete Neigung, das sche Beurteilung der Mukosa) ne Betrachtung der emotionalen Kind automatisch für Probleme, Misshandlung und Vernachlässi- Schwierigkeiten oder Pannen zu • Mukoviszidose (Pankreaselastase gung in gemeinsamen Kategorien, Hause verantwortlich zu machen im Stuhl, Schweißtest, Röntgen- die sich an den Grundbedürfnissen („Sündenbockfunktion“) Thorax) von Kindern orientieren: • Aktives, bewusstes oder gezieltes • Kohlenhydrat-Malabsorption (Eli- mination, H,-Atemtest, enzymati- 1. Emotionale Nichtverfügbarkeit, Vorenthalten gesundheitlicher, sche Untersuchung der Mukosa) Nichtansprechbarkeit, Unsensibi- medizinischer, psychologischer lität und pädagogischer Bedürfnisse • Va. parasitäre Infektion mit protra- hierter Diarrhö (Stuhlanalyse) 2. Negative Attributionen und • Fördern negativer Verhaltenswei- falsche Zuschreibungen, Feindse- sen – antisoziales, kriminelles, • Embryofetales Alkoholsyndrom, selbstbeschädigendes Verhalten Nikotinabusus der Mutter, intra- ligkeit uterine Wachstumsretardierung, 3. Dem Entwicklungsstand unange- • Aussetzen und Zeuge werden der perinatale Asphyxie (Schwanger- messene Interaktionen oder An- Kinder und Jugendlichen von kör- schafts- und Geburtsanamnese) forderungen, Überforderung, Un- perlicher oder seelischer häusli- terforderung, Überbehütung, Ex- cher Gewalt zwischen den Eltern Tab. 4: Diagnostik bzw. Differenzi- position zu traumatischen Ereig- aldiagnose bei Gedeihstörung nissen (auch Fernsehen, Inter- Tab. 5: Emotionale Misshandlung (Nützenadel 2002) net?) kennzeichnende Verhaltensweisen KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. (2005) Nr. 6 Nr. 3376 5
Lernmöglichkeiten, negative, disso- ziale Sozialisation Gesundheitswesen Jugendhilfe Emotional misshandelnde Eltern Ambulant Ergotherapie, Logopädie Erziehungsberatung zeigen überwiegend insuffiziente El- Sozialpädiatrisches Familientherapie ternkompetenz, autoritären Erzie- Zentrum hungsstil, Depressionen, Drogen Psychotherapie und Alkoholabusus, psychische Er- Teilstationär Tagesklinik Sozialpädagogische krankungen, Suizidversuche, niedri- Kinder- und Jugend- Einzelfallhilfe ges Selbstwertgefühl, mangelnde psychiatrie Heilpädagogische Empathiefähigkeit, häusliche Gewalt Tagesstätte und familiäre Dysfunktion. Isolierte emotionale Misshandlung hat in den Stationär Kinderklinik Wohngruppe USA die niedrigste Rate bestätigter (medizinisch-somatische Pflegestelle Fälle („substantiated cases“) von al- Diagnostik, Ernährungs- Heilpädagogisch- len Verdachtsfällen, was die Schwie- therapie) therapeutisches Heim rigkeit der Diagnose reflektiert. Von Kinder- und Jugend- den bestätigten Fällen hat sie einen psychiatrie Anteil von 6–12 % in den USA im be- Rechtliche Schritte Einschränkung des Aufenthaltbestimmungsrechts reits beschriebenen NCANDS Melde- (Familiengericht!) Zuführung zu medizinischer Behandlung system, in Großbritannien waren Inobhutnahme (Kinder- und Jugendhilfegesetz § 42) 1996 15% der registrierten Fälle die- ser Misshandlungsform zuzuschrei- Rechtliche Schritte Ausnahmefälle, Überlegen ob im Sinne des ben (Glaser 1998, 2002, AAP 2002). (Strafrecht) Kinderschutzes Die langfristigen psychischen Folgen sind wiederum gravierender als bei Tab. 7: Interventions- und Behandlungsmodalitäten (modifiziert nach FORTBILDUNG alleiniger körperlicher Misshand- Frank 2002) lung, insbesondere bezüglich psychi- scher Messgrößen wie Depression und Selbstwertgefühl, Aggression, Delinquenz und Beziehungsstörun- gen. Die Exposition bzw. das Miterleben Intervention Zusammenfassung häuslicher Gewalt alleine kann zu Vernachlässigung von Kindern stellt ähnlichen Störungen führen (Glaser Nicht nur das Erkennen und die Dia- gnose einer Vernachlässigung oder vermutlich die häufigste aller Miss- 2002, AAP 2002). handlungsformen dar. Daten aus emotionalen Misshandlung sind bis- weilen schwieriger und weniger dem US-amerikanischen Pflichtmel- Bei den Opfern emotionaler Miss- geradlinig als bei den aktiven For- desystem („mandatory reporting“) handlung werden gehäuft gefun- men der Kindesmisshandlung. Auch spiegeln eine Größenordnung von den: die Intervention ist aufwendig und etwa 60% wieder (körperliche Miss- • Niedriges Selbstwertgefühl, nega- teils mühsam. Ärzte und andere handlung 20%, sexueller Miss- tive Emotionalität und Lebensein- Helfer benötigen klare Konzepte brauch 10%, emotionale Misshand- stellung, Angststörungen, über Ätiologie, Entstehung und Maß- lung 5%). Gleichzeitig ist die strikte Depression, Suizidversuche oder nahmen, Kompetenz in Gesprächs- Unterscheidung der verschiedenen -gedanken. führung, ausreichend Unterstützung Misshandlungsformen zwar aus di- und ein Netz von Kooperations- daktischen und methodischen • Störungen der emotionalen Ge- partnern aus dem kinder- und Gründen zum Verständnis der je- sundheit: Störungen der Impuls- jugendpsychiatrischen und psycho- weiligen Genese und Manifestati- kontrolle, Borderline Persönlich- sozialen Bereich. Das Prozedere ist onsformen erforderlich, entspricht keiten, Reizbarkeit, emotionale abhängig von der Einsichtsfähigkeit jedoch in vielen Fällen nicht der Starre, physisch selbstverletzen- der Eltern in die Gefährdung des Realität. Häufig bestehen verschie- des Verhalten. Kindes oder Jugendlichen. In dene Formen nebeneinander oder • Soziale Störungen: antisoziales, es finden sich Überschneidungen. schwerwiegenden Fällen emotiona- delinquentes, kriminelles Verhal- Körperliche Vernachlässigung be- ler Misshandlung ist es schwierig das ten, Bindungsprobleme, Selbst- schreibt eine nicht hinreichende pathologische Beziehungsmuster zu Isolation, sexuelle Funktions- Versorgung mit Kleidung und Nah- beeinflussen. störungen und Übergrifflichkeit, rung und einen Mangel an Gesund- Abhängigkeit, niedrige soziale Intervention und Therapie erfordert heitsfürsorge, die zu Krankheiten Kompetenzen, niedrige Sympa- vielschichtige Maßnahmen der Ju- sowie massiven Gedeih- und Ent- thie und Empathie für Andere. gendhilfe, klinischen Medizin, Psy- wicklungsstörungen führen kön- • Niedrige akademische „Perfor- chologische Therapie, Kinder- und nen. Emotionale Vernachlässigung mance“, Lernstörungen, verzerrte Jugendpsychiatrie, Erziehungs- (Deprivation) beschreibt ein un- Moralvorstellungen beratung, Entwicklungsförderung genügendes oder ständig wechseln- • Somatische Störungen, Gedeih- teilweise aber auch rechtliche des und dadurch nicht ausreichen- störungen, psychosomatische Schritte. Dies ist jeweils in multipro- des emotionales Beziehungsange- Störungen, erhöhte Mortalität. fessionell orientierten Fallbespre- bot. Den Bereichen der körperli- chungen zu klären und abzustim- chen und emotionalen Vernachläs- Tab. 6 men (Tabelle 7). sigung ist gemeinsam, dass sie ele- 6 Nr. 3376 KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. (2005) Nr. 6
mentare Grundbedürfnisse von Kin- Asser, S.M., Swan, R. (1998) Child fatali- anwendbar? Kindesmisshandlung und dern und Jugendlichen ignorieren ties from religion-motivated medical -vernachlässigung 1: 32- oder nicht ausreichend berücksich- neglect. Pediatrics 101:625-29. Glaser, D. (2002) Emotional abuse and tigen. Bei emotionaler Misshand- Cantwell, H.B. (2002) Kindesvernachläs- neglect (psychological maltreatment): A lung ist eine aktiv feindselige, ent- sigung - ein vernachlässigtes Thema. In: conceptual framework. Child Abuse würdigende, einschüchternde und Helfer ME, Kempe, RS, Krugman, RD Negl 26:697-714. verbal schädigende Interaktion ein (Hrg, 1997) Das mißhandelte Kind. 5. Hildyard, K.L., Wolfe, D.A. (2002) Child Aufl. Suhrkamp, S.515-555 neglect: developmental issues and out- durchgehendes Muster der Eltern- Kind Beziehung. Wie bei Vernach- Child Maltreatment (1995-) 2003. US De- comes. 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