Vernunft und Glaube in Christentum und Islam - Problemskizze und Begriffsvorschlag

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                                                                THEMA Christlich-muslimische Begegnung
                                                                                   Vernunft und Glaube

          Vernunft und Glaube in Christentum
          und Islam
          Problemskizze und Begriffsvorschlag

          Zunächst sind zwei Begriffsbestimmungen anzubieten. Verhandelt man christliche und islamische
          Rationalität, so versteht man unter „Vernunft” die Erkenntnis der allgemein-menschlich einsehbaren
          Wirklichkeitsordnungen; und unter „Glaube” die durch eine religiöse Tradition vermittelte Wirklich-
          keitserkenntnis. Betrachten wir, was als typisch islamisches Zuordnungsmuster von Vernunft und
          Glaube gelten kann. Felix Körner SJ

         Z     wischen den Jahren 610 und 632 n. Chr.
               tritt auf der arabischen Halbinsel ein Mann
         auf, der mit dem Ehrentitel „der Gepriesene“ be-
                                                                 Judentum und Christentum – wird bestätigt. Was
                                                                 davon abweicht – etwa das Bekenntnis der Got-
                                                                 tessohnschaft Jesu – ist nach koranischem An-
         nannt wird: Muhammad. Er beansprucht, Zugriff           spruch verkehrt. Wir haben jetzt das eine Buch,
         auf das himmlische kitāb (Buch) zu haben, aus          den einen Glauben, die eine Gesellschaft und die
         dem er im Auftrag Gottes vortragen soll. Gott           Einstimmigkeit aller Wahrheit. Und die Einstim-
         habe dort deponiert, was er den Menschen mit-           migkeit geht über prophetische Offenbarungs-
         teilen will: seine Worte, seinen Willen. Da es sich     auskunft hinaus – auch die menschliche Ver-
         bei diesem himmlischen kitāb um dieselbe Schrift       nunft sage genau dies: dass Gott einer ist und
         handele, auf die auch Mose, David und Jesus Zu-         wir ihm in Gerechtigkeit dienen sollen.
         griff erhalten hatten, ja die Verkünder aller wah-
         ren Religionen, gebe es zwischen den Prophe-
         tenbotschaften keine inhaltlichen Unterschiede.         HOMOPROPHETIE
         Islamische Zentralaussage ist das „Eins-sein-Las-
         sen“ (tawhı̄d), d.h. die politisch-gesellschaftliche    Es lässt sich folglich ein Dreierschema entwer-
         wie theologisch-spirituelle Ausrichtung am ei-          fen. Die Berechtigung des Propheten ist durch
         nen, einzigen Gott (Gimaret 2000, 389). Durch           tanzı̄l erwiesen – „Herabsendung“ des himmli-
         den unmittelbaren Zugriff auf die Offenbarung
         Gottes, die ein Text ist und die bei der Verkün-
         digung durch Muhammad als „Koran“ auch                                                        Felix Körner SJ
         unmittelbar verschriftlicht wird, geschieht eine            geb. 1963, Dr. phil. in Islamwissenschaft (Bam-
         Vereinheitlichung, aber zugleich auch eine Kor-             berg), Dr. theol. in Dogmatik (Freiburg i.Ü.),
         rektur. Was gleichlautend mit dem hier Erge-                Professor für Dogmatik an der Päpstlichen Uni-
         henden ist – etwa das Ein-Gott-Bekenntnis in                versität Gregoriana, Rom.

                                                                    Lebendige Seelsorge 64. Jahrgang 4/2013 (S. 227–236)   227
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            THEMA Christlich-muslimische Begegnung
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            schen Buches, auf das er lesenden und verkün-                     stellungen; und (c) präzisiert, nämlich durch ein-
            denden Zugriff hat. Der Zentralinhalt der Offen-                  deutige Anweisungen, etwa für die Rhythmen
            barung ist tawhı̄d – „Eins-sein-Lassen“ als sozio-                des Ritualgebets.
            spirituelles Gesamtprojekt. Die hiermit gegebene
            Verhältnisbestimmung zwischen koranischer Of-
            fenbarung und anderen Wahrheitsansprüchen ist                     VERNUNFT UND GLAUBE
            tasdı̄q – „Richtig-Stellung“ im Sinne von Bestä-
            tigung und, wo nötig, Korrektur. Da der Koran                     Häufig fordert der Koran tafakkur: Nachdenken
            eine grundsätzliche Inhaltsgleichheit aller Pro-                  (2:219.266 etc.). Allerdings wäre es übertrieben,
            phetien annimmt, ist die Summe der Heilsge-                       hieraus eine koranische Rationalitätsfreudigkeit
            schichtliche eine „Homoprophetie“; unter sie fällt                abzuleiten. Sie ließe sich nämlich als Bejahung
            nicht nur das per besonderer Zugangseröffnung                     selbständig-freien Vernunftgebrauchs erklären,
            („Herabsendung“) ermöglichte Offenbarungs-                        was immer dabei herauskommt. Koranischerseits
            wissen aus dem himmlischen Buch; der erste                        aber steht das Ergebnis der geforderten Überle-
            Prophet ist vielmehr Adam, der erste Mensch.                      gung bereits fest: herauskommen muss, dass Gott
            Damit ist klar: jeder hat Zugriff auf die göttliche               letzter Richter ist (13:2). Das Verlangte ist also
            Wahrheit. Unter die Homoprophetie, das Gleich-                    keine unabhängige Rationalität mit dem Risiko,
            lauten aller offenbarten Wahrheit, fällt auch die                 in echtes gedankliches Neuland vorzustoßen;
            menschliche Vernunft. Die Wahrheit ist nicht nur                  vielmehr fordern die tafakkur-Verse zur Bekeh-
            geschichtlich offenbart, sie ist auch natürlich of-               rung durch innerlichen Nachvollzug auf und be-
            fenbar. Dementsprechend können Muslime tra-                       anspruchen damit faktisch, dass Unglauben ir-
            ditionell die Gleichung aufstellen: Prophet ist die               rational ist. In diesem Sinne kann man sagen,
            äußere Vernunft; Vernunft ist der innere Pro-                     dass der Islam die vernünftige Religion ist. Schon
            phet. Der Islam versteht sich als der Geburtsaus-                 der erste Islamwissenschaftler im okzidental-
            stattung (fitra) des Menschen ganz entsprechend.                  akademischen Sinne, der ungarische Jude Ignaz
            Daher kann man sogar ohne den Koran alles                         Goldziher (gest. 1921), vertraut seinem Tagebuch
            richtig machen und richtig erkennen: „Jeder                       im Rückblick auf eine Syrienreise die Empfin-
            Mensch wird als Muslim geboren; seine Eltern                      dung an, dass der Islam „die einzige Religion sei,
            sind es, die ihn zum Christen, Juden oder Zoro-                   welche selbst in ihrer doktrinär-offiziellen Ge-
            astrier machen“ (Hadı̄th-Sammlung des Buhārı̄,                   staltung und Formulierung philosophische Köp-
            Buch Ganā’iz, 79, 80, 93; Hadı̄th-Sammlung des                   fe befriedigen könne“ (Goldziher, 59). Das muss
            Muslim, Buch Qadr, 22-25). Wozu braucht man                       auch die christliche Theologie nicht bestreiten;
            dann überhaupt noch Offenbarung? Wenn in                          sie wird ihren eigenen Vernunftbezug vielmehr
            diesem Kreislauf das Glaubenswissen, wie es all-                  gerade im Unterschied hierzu darstellen können.
            seits zugänglich ist, durch die im Koran nieder-                  Wenn man nach den mitgebrachten Logikprin-
            gelegten Formulierungen fließt, wird es nicht nur                 zipien vorgeht, kommt man tatsächlich leicht auf
            wiederholt, sondern verstärkt: es wird (a) moti-                  so etwas wie den Islam.
            viert, nämlich durch Verheißung und Drohung;                      Und Glaube? Imān, der Glaube, hat seine hebrä-
            (b) gereinigt, nämlich von menschlichen Ent-                      ische Bedeutung „festmachen, sich verlassen“

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         (’āman, daher auch deutsch „Amen“) im Koran            weil Gott erhaben ist, hat er auch keinen Sohn
         abgelegt. Für die mekkanische Zeit heißt imān          (4:171).
         vor allem: praktizierendes Fürwahrhalten des            Damit legt der Koran selbst eine besondere
         Monotheismus. Später, ab 622, bekommt Mu-               Zuordnungsweise nahe. Die Seinsformen von
         hammad qua Prophet auch eine politische Füh-            Schöpfer und Geschöpf (vgl. z.B. 17:111), Hand-
         rungsrolle; er wandert aus seiner Heimatstadt           lungsanweisungen (vgl. z.B. 16:90) und Sinn-
         Mekka, wo er wenig Widerhall findet, in die so-         deutungen (vgl. z.B. 8:7): alles lässt sich begriff-
         zial uneinheitlichere und daher eine charismati-        lich festlegen; es ist zugänglich, ableit- und
         sche Einigungsfigur suchende Stadt Medina aus.          beurteilbar durch die dem Menschen zur Verfü-
         Seine Autorität wird jetzt in den Glaubensbegriff       gung stehenden Kategorien; und diese sind so-
         eingezogen, so dass imān in Medina bedeutet:           gar mit der Sprache eindeutig benennbar. Das
         praktizierendes Fürwahrhalten des Monotheis-            geschichtlich Einzelne untersteht damit dem be-
         mus und des Prophetenamts Muhammads.                    grifflich Allgemeinen; und das Überraschende,
                                                                 das unsere Denkweise verwirren und erneuern
                                                                 könnte, unterliegt dem Richtspruch der allseits
         EINTEILUNGSKATEGORIEN                                   bekannten Ordnungsprinzipien. Daher verwun-
                                                                 dert es kaum, wenn die Theologie, die auf dem
         Da der Koran sich fast durchgängig in Ausein-           Boden des Koran wächst, zuerst äußerst ratio-
         andersetzung mit seiner Ansicht nach irre-              freudig ausfällt. Das gilt besonders für die bis ins
         gehenden Andersgläubigen sieht, ist er auch             9. Jahrhundert vorrangige Mu‘tazila. Der kora-
         nahezu ständig in argumentativer Debatte. Des-          nischen Grenzbetonung entsprechend ist im
         wegen führt er scharfe begriffliche Unterschei-         mu‘tazilitischen Ansatz die Autorität der Offen-
         dungen ein. Allem voran steht die nicht zu über-        barung denn auch der Vernunft untergeordnet.
         windende Unterschiedenheit von Schöpfer und
         Schöpfung (112:3; 2:116); dann gibt es die Ge-
         genüberstellung von Glaube, der Wissen ist              UNTERWERFUNG
         (22:54, 29:49, 34:6), und Unglaube, der nichts
         anderes sei, als sich der Wirklichkeit verschlie-       Angesichts eines derartigen Denkens und seiner
         ßen (vgl. 3:101); was Sieg und was Niederlage           Verselbständigungsneigung war die Sorge isla-
         ist, steht ebenso erwartbar fest (vgl. 8:65), denn      mischer Gelehrter verständlich. Sie machen im
         gedacht wird in Kampfeskategorien; entspre-             Gegenzug eine antirationalistische Tendenz
         chend auch die Unterteilung in Feinde und               stark. Sie kann sich ebenfalls auf den Koran be-
         Freunde als die einen, gegen die man kämpft             rufen. Denn er betont häufig Gottes Freiheit in
         (3:152; 60:1; 4:89), und die andern, mit denen          einem besonderen Sinne: Gott tut, was er will;
         man solidarisch ist (8:72); der Hasser wird ver-        auch in Bezug auf Vergebung und Strafe, Recht-
         flucht (108:3) und der Rechtschaffene wird ge-          leitung und Irreführung (2:284; 6:39). Aus-
         liebt (2:195), nicht aber die Ungläubigen (3:32).       drücklich aufs Schlussfolgern verzichten will
         Einteilungskategorien werden für so klar gehal-         etwa der Gründer der vierten großen sunniti-
         ten, dass man aus ihnen schlussfolgern kann:            schen Rechtsschule, Ahmad ibn Hanbal (gest.

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            855). Saudi Arabien ist heute das einzige dieser                  tifiziert. Was so vernunftfreudig klingt, ist in
            Schule verpflichtete Land. Was sich mehrheitlich                  Wirklichkeit allerdings problematisch.
            durchgesetzt hat, ist weder ein strenger Ratio-                   Wird eine Übereinstimmung von Vernunft und
            nalismus noch ein reiner Antirationalismus. Sun-                  Glaube behauptet, haben beide Erkenntnisquel-
            nitisch prägend wird vielmehr die Sicht des                       len ihre Dynamik verloren. Die Vernunft weiß
            Aš‘arı̄ (gest. 935): „Das Gute ist gut, weil Gott es              schon, was der Glaube eigentlich ist und sagt,
            befiehlt“ (Gimaret 1990, 444). Ein einsehender                    und scheint auch sich selbst schon durch und
            Nachvollzug scheint hier unerheblich. Gottes                      durch zu kennen. Man will sich offenbar gegen
            Setzungen ergehen frei, und das heißt willkür-                    Überraschungen absichern. Dasselbe gilt umge-
            lich. Doch al-Aš‘arı̄s Ansatz war in seiner Zeit                  kehrt vom Glauben: er scheint das Denken nicht
            möglicherweise die einzige Rettung denkender                      für einen kreativen Vorgang zu halten, sondern
            Theologie. Denn als sich die Gelehrtenmehrheit                    lediglich für einen vorgezeichneten Nachvollzug.
            gegen das mu‘tazilitisch-rationalistische Extrem                  Eine solche Inhaltsgleichsetzung beruht offen-
            wandte, schuf er eine Theologie, die auch Ratio-                  kundig auf einer Sorge. Der Glaube sieht sich von
            kritikern annehmbar war. So durfte man jedoch                     einer eigenständigen Ratio existenzgefährdet;
            innerhalb des islamischen Lehrbetriebs immer-                     und die Vernunft sieht sich von einer Weltsicht,
            hin weiter methodisch argumentieren. Nur nahm                     die nicht auf primär-logischen Schlüssen und
            man nun eine Unterordnung vor, die faktisch                       universal-kosmischen Beobachtungen beruht, le-
            „Unterwerfung“ der Vernunft unter das Offen-                      bensbedroht. Wie der Koran die Andersheit der
            barte ist. „Unterwerfung“ aber ist die Frömmig-                   Stimme von Juden und Christen zum Schweigen
            keitsform, die der Koran verkünden will: islām.                  bringt, indem er behauptet, ihr Glaube sei ei-
                                                                              gentlich Islam (3:64-67), so schaltet die Ratio-
                                                                              nalitätsbehauptung des Glaubens das lebendige
            VERNUNFT = GLAUBE                                                 Gespräch aus; und dies gilt von beiden Seiten.
                                                                              Das geschichtlich Unerhörte kann der Ratio, und
            Es mag verwundern, dass prägende Stimmen der                      das denkende Klären kann der Glaubensformu-
            islamischen Theologiegeschichte von einer Ra-                     lierung dann keine neuen Fragen mehr stellen.
            dikalposition in eine andere fielen. Dieses Hin-                  Die behauptete Inhaltsgleichheit erweist sich so
            und Herschlagen von Vernünftigkeit und Offen-                     als Versuch gegenseitiger Übernahme. Um die
            barungsbindung lässt sich wohl als koranisch                      Behauptung der Aussage-Identität aufrechter-
            angelegt klären. Der Appell, der behauptet, man                   halten zu können, müssen Glaube und Vernunft
            müsse doch aufgrund von Denken und aufgrund                       ihre andere Seite beherrschen. Die Kongruenzer-
            von Offenbarungs-Akzeptanz zum selben Er-                         klärung nimmt ja dem Gegenüber ihre produk-
            gebnis kommen, enthält das spezifisch islami-                     tive Eigenständigkeit. Wo der Glaube nicht ra-
            sche Zuordnungsverhältnis. Glauben kommt                          tional ist, wird er von der Ratio umgemodelt; wo
            dann nicht in seinem Geschichtsbezug und nicht                    die Ratio nicht offenbarungskongruent ist, wird
            als Vertrauensbeziehung zur Geltung. Glaube                       der Glaube sie zurechtweisen. Dabei aber hätten
            und Vernunft sagen dann vielmehr dasselbe. Of-                    sie einander lahmgelegt.
            fenbarungs- und Rationalitätsgehalt sind iden-

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         GLAUBE ALS BEKENNTNIS                                      sprüngliche?“ Die zugrundeliegende Vorstel-
                                                                    lung ist dann, dass das Offenbarungsbuch in
         Das bis hierher Entwickelte ist zugleich Vorlage           der Gemeinde die Aufzeichnung der prophe-
         für eine Darstellung des christlichen Zuord-               tischen Rezitation aus der Himmelsschrift sein
         nungsverhältnisses. Bietet eine auf dem Evan-              muss. Das kirchliche Zeugnis dagegen über-
         gelium gegründete Wirklichkeitssicht bessere Lö-           mittelt Jesusworte als Erinnerung an das, was
         sungen? Jedenfalls scheint die Bibel weniger               durch ihn und mit ihm geschehen ist. Ent-
         Präzisionsfreude mitzubringen. Die Begriffe wol-           scheidend, zeitenwendend ist die Jesusge-
         len hier offenbar nicht definieren. Das ge-                schichte – sein Leben, sein Sterben und seine
         schlachtete Lamm weidet die Herde (Offb 7,17).             Auferstehung. Das will die Kirche bezeugen;
         Der „Herr“ ist der Gott Israels, und ist Christus          und bezeugen kann man von verschiedenen
         (Mk 12,29; 11,3). Das Reich Gottes ist schon und           Gesichtspunkten aus, in verschiedenen Spra-
         noch nicht (Lk 17,21; 11,2), die Feinde sind zu            chen und Ausdrucksweisen.
         lieben (Mt 5,44). Wer sein Leben verliert, wird es
         gewinnen (Lk 17,33). Christus ist in seinem             ‘ Person. Es ist also nicht eine bestimmte For-
         himmlischen Vater, und der Vater ist in Chris-            mulierung, an der sich Wahrheitserkenntnis
         tus; und wir sollen in ihnen sein (Joh 17,21). Wie        entscheidet. Es gibt viele Sichtweisen auf die
         kann ein Bekenntnis sich derart der sprachlichen          Wirklichkeit Jesu. Entscheidend ist vielmehr,
         Festlegung entziehen wollen? Dies könnte mit              und dies schon zur Zeit seines irdischen Auf-
         der besonderen christlichen Verhältnisbestim-             tretens, ob sich der Angesprochene auf die Le-
         mung von Vernunft und Glaube zu tun haben.                bensgemeinschaft mit Jesus einlässt. Das Heil
         Dies lässt sich erst verstehen, wenn geklärt ist,         hängt nicht an einem Sprach-Satz, sondern
         worin das formal Besondere des christlichen               an der Zugehörigkeit zu Jesus (vgl. z.B. Lk
         Glaubens liegt. Es lässt sich mit drei Begriffen          12,8f.).
         skizzieren: Geschichte, Person und Vertrauen.
                                                                 ‘ Vertrauen. Wenn einmal erkannt ist, dass
         ‘ Geschichte. Wir finden uns in einer Erzäh-              nicht etwa Jesu Offenbarungsworte Haupt-
           lung vor – der Bibel –, die erst einmal gar             grund christlichen Glaubenslebens sind, kann
           nicht die unsere ist, sondern in die wir hin-           dennoch erneut nach Jesu sprachlicher Ei-
           eingenommen werden und die uns schon des-               genform gefragt werden. Hier zeigen sich vor
           halb auch fremd sein darf. Aber das entspricht          allem die Gleichnisse als charakteristisch. Je-
           nur dem großen Rahmen: wir finden uns ja                sus aber verwendet gleichnishafte Sprache
           in einer Welt vor, deren Ereignisstränge schon          nicht in erster Linie als pädagogische Ver-
           immer überrascht haben; sie lassen sich noch            deutlichung komplizierter Inhalte. Vielmehr
           nicht auf endgültige Musterformeln bringen.             sind die Gleichnisse in seinem Auftreten eine
           Und im Gespräch mit Muslimen kommt häu-                 Weise, den Anbruch des Gottesreiches er-
           fig eine Anfrage zur Sprache, die uns auf ei-           fahrbar zu machen. Er erzählt so, dass der Hö-
           ner dritten Ebene in die Geschichte verweist:           rer mitdenken, Stellung beziehen und sich auf
           „Welches der vier Evangelien ist denn das ur-           das Gebotene einlassen muss. Besonders deut-

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            THEMA Christlich-muslimische Begegnung
                               Vernunft und Glaube

              lich ist dies beim Gleichnis vom vielfachen                     serer Fassung des Glaubensbegriffs die Gegen-
              Acker (Mk 4,3–9). Der Hörende kann verste-                      wartsform „erweist“ gewählt, um eine dreifache
              hen, dass hier nicht nur eine Geschichte von                    Erweisung anzudeuten: er hat sich in der Ge-
              der Aussaat erzählt wird, und auch nicht nur                    schichte als heilswirkend erwiesen. Das Handeln
              eine Geschichte von der unterschiedlichen                       Gottes ist jedoch nicht zu einem bestimmten
              Aufnahme von Jesusworten, sondern dass die                      Zeitpunkt beendet gewesen. Auch das jetzige
              angesprochene Person selbst sich nun als gu-                    Weltgeschehen lässt sich als Gotteshandeln ver-
              ter Boden für die Reich-Gottes-Saat erweisen                    stehen. Die Erlösungsvollendung ist aber noch
              kann. Die Gleichnisse sind gerade in ihrer Of-                  nicht da; täglich gibt es vielmehr Ereignisse, die
              fenheit auf die verstehende Mitarbeit des Ein-                  ein Heilswirken Gottes in Frage stellen müssen.
              zelnen ein typischer Gestus Jesu: es ist eine                   Daher gehört zum Glauben an den erlösenden
              Einwilligung verlangt, eine Zusammenarbeit                      Gott auch die Hoffnung, dass sich Gott einst als
              angeboten. Daher lässt sich sagen, dass Jesu                    ganz mächtig und gut erwiesen haben wird. So
              Gleichnisse nach dem Prinzip des „sich ver-                     ist das Vertrauen zwar auf das Gotteshandeln ge-
              lassens auf“ wirken. Der Sprechende braucht                     gründet; aber Gottes Erweis in der Geschichte
              die Mitarbeit des Hörers, dem keine fertige                     bleibt vielfach bestreitbar. Glauben ist eine Deu-
              Anweisung geliefert wird; und der Hörer muss                    tung der Geschichte, die andere Deutungen zu-
              sich, um verstehen zu können, auf die anbre-                    lässt.
              chende Wirklichkeit des Gottesreiches einlas-
              sen. Darin liegt ein beiderseitiges Risiko.
                                                                              GLAUBE ALS VERTRAUEN

            VERTRAUEN UND HOFFNUNG                                            Schließlich wird hier Gott bewusst nicht nur als
                                                                              heilswirkend vorgestellt, sondern er ist selbst das
            Wir können jetzt einen ausdrücklich christlichen                  Heil; damit ist das Ziel geschöpflichen Lebens
            Begriff von Glaube und Vernunft entwerfen.                        nicht nur ein bestimmter Zustand, den Gott gün-
            „Glaube“ lässt sich christlicherseits fassen als                  stig herstellt, sondern die Gemeinschaft mit ihm
            „sich Gott anvertrauen“, weil er sich als das Heil                selbst. Heil wird hier nämlich nicht getrennt von
            der Welt erweist. Damit ist Glaube zuerst als et-                 ihm gedacht. Dennoch haben wir dieses erhoff-
            was Personales im Blick. Es wird nicht nur et-                    te Ziel nicht nur als „Heil“, sondern als „Heil der
            was zur Kenntnis genommen, sondern es ge-                         Welt“ zum Ausdruck gebracht. Wie Christus als
            schieht eine Lebensübergabe. Eine so persönliche                  Auferstandener in voller Gemeinschaft mit dem
            Fassung des Glaubens als Beziehung in Vertrau-                    himmlischen Vater doch er selbst ist, seine ge-
            en könnte den Glauben nun aber als etwas Blin-                    schichtliche Geprägtheit nicht ablegt, sondern in
            des darstellen. Das ist biblisch aber genau nicht                 die Vollendung einbringt, kann man von jedem
            der Vertrauensbegriff. Vielmehr verlässt sich der                 Geschöpf sagen: es findet sein Heil nicht in sei-
            Gläubige „sich festmachend“ (’āman) auf den,                     ner Ersetzung, sondern als seine Erfüllung. Gott
            der mächtig handelt; der Glaube Israels bezieht                   und Welt sind dann nicht mehr als Gegensätze
            sich auf den wirkenden Gott. Wir haben in un-                     gedacht.

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         Ein Glaubensbegriff, wie er hier vorgetragen            den Ordnungsmustern und Anfragen verschlie-
         wird, hat nun eine durchaus andere Haltung als          ßen würde, die das menschliche Denken ihm ent-
         eine Vernunft, die sich nur auf das beziehen will,      gegenhält. Entsprechend sei vorgeschlagen, Ra-
         was sich als allgemeines Denkprinzip oder kos-          tio so zu fassen: Vernunft ist Treue zur Welt.
         mischer Rhythmus überall findet. Hoffnung, die
         ein hinausziehendes „sich verlassen auf“ Gott ist,      Mit dem Wort „Treue“ ist eine bereits alttesta-
         aufgrund von Geschichte, und zwar von beson-            mentliche Dynamik benannt. Vom selben Wort
         deren Ereignissen, ist Grundstimmung des christ-        wie „glauben“ und „Amen“ gebildet, ist Treue
         lichen Glaubens. Damit zeigt sich der christliche       (’ämæt) dort die angesichts neuer Ereignisse er-
         Glaube als Erkenntnis, die nicht auch aus der           neuerte zuverlässige Beziehung, die die gegebe-
         Menschenratio allein ableitbar wäre. Es lassen          ne Zusage verwirklicht. Treue lässt sich zuerst
         sich sehr gute Gründe für den christlichen Glau-        von Gott aussagen. Er ist in seinem Handeln sei-
         ben anführen; sie werden bei den biblisch be-           nem Wort treu. Man kann ihn auch in der Schöp-
         zeugten Ereignissen ansetzen und Nachvollzug            fung beim Wort nehmen und darauf vertrauen,
         des daraus Gefolgerten sein. Das Weltgeschehen          dass er die hier entstandene Eigenwirklichkeit in
         lässt aber auch andere Deutungen zu. Der Glau-          ihrer Selbständigkeit anerkennt. Die Schöpfung
         be ist damit als Vertrauen im Blick und hat da-         hat dann eine eigene Zuverlässigkeit; viele ihrer
         her aus seiner Grundgeste heraus bereits ein Ver-       Ordnungen lassen sich benennen. So erkannte
         ständnis für Andersgläubige.                            Muster begegnen natürlich auch den Christen
                                                                 und befragen damit Kirche und Evangelium. Hier
                                                                 bieten sich Möglichkeiten zur beiderseitigen
         VERNUNFT IST TREUE ZUR WELT                             Neu-Erkenntnis. So hat beispielsweise die Be-
                                                                 gegnung mit der antiken Philosophie dem christ-
         Ein besonders treffendes biblisches Wort für den        lichen Zeugnis neue Sprach- und Verstehenstie-
         Erkenntnisstatus des Glaubens ist „Bekenntnis“.         fen erschlossen (Pannenberg, 296-360). Ebenso
         Das Bekenntnis – lateinisch confessio, griechisch       kann die jeweils mitgebrachte Vernunft in der
         homologia – bezeugt geschichtliche Ereignisse,          Begegnung mit der Christusgeschichte eine Neu-
         beinhaltet qua Tauf-Entschluss ein persönliches         fassung ihrer Begriffe erfahren. Ein solches Um-
         Engagement zu dieser Weltdeutung, und erkennt           denken ereignete sich etwa bereits, als Israel neu
         auch die menschliche Schwäche – qua Schuld-             verstehen lernen musste, was seine Erwählung
         bekenntnis – an. Wie aber kann man nun als              bedeutet, oder als Petrus erkennen musste, dass
         Christ der Vernunft einen sinnvollen Platz zu-          er einen Messiasbegriff hatte, der menschlich
         weisen? Hat der christliche Glaube doch Grund-          einleuchtend sein mochte, aber der Jesus nicht
         lagen, die der schließenden Ratio fremd sein            entsprach: in ihm erfüllt sich die Messiashoff-
         müssen: überraschende, ja umstrittene Einzel-           nung (Mt 16,22).
         ereignisse wie die Auferstehung Jesu, Vertrau-
         ensleistungen, Persönlichkeit, und auch eine
         Formulierungsneigung, die provoziert. Es wäre
         allerdings fatal, wenn der christliche Glaube sich

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            THEMA Christlich-muslimische Begegnung
                               Vernunft und Glaube

            LERNBEREITSCHAFT                                                  gier. Die Haltung der gegenseitigen Lernbereit-
                                                                              schaft hat etwas Sakramentales und ließe sich
            Der in der katholischen Tradition bewährte Zu-                    mit Paulus bezeichnen als „dienen in der Neu-
            ordnungsbegriff von Geist und Welt, Evange-                       heit des Geistes“ (Röm 7,6).
            lium und Kultur, Glaube und Denken ist „Ana-
            logie“. Damit ist ein Entsprechungsverhältnis
            benannt, eine Ähnlichkeit. Es wird allerdings                     WEITERFÜHRUNG
            gleich im Begriff selbst eingeräumt, dass die be-
            stehende Ähnlichkeit geringer ist als die Unähn-                  Der islamischen Zuordnung von Vernunft und
            lichkeit. Die Rede von der Analogie ist zweifel-                  Glaube als Übereinstimmung und Übernahme ist
            los fruchtbar, weil sie vage und daher flexibel                   die christliche Verhältnisbestimmung als stets
            ist. „Das ist analog“ heißt faktisch „das entspricht              weiterführender Dialog gegenübergestellt wor-
            einander irgendwie“. So ist von dem gegenseiti-                   den. Bliebe man hier stehen, wäre das gerade
            gen Verhältnis aber keine eigene Dynamik aus-                     kein weiterführender Dialog. Weiterführend ist
            gesagt. Lässt sich die Entsprechung von Glaube                    vielmehr aufzuzeigen: die Gegenüberstellung hat
            und Vernunft genauer bestimmen? Wenn eine                         im Islam eine Gefahr benennen können. Die lau-
            christliche Sicht von Vernunft mit dem Begriff                    ert jedoch auch anderswo; und sie ist eben nur
            der Treue zur Welt benannt ist, lässt sich auch                   Gefahr. Die Gleichsetzungsgefahr lässt sich jetzt
            die Haltung bezeichnen und begründen, mit der                     umso deutlicher auch in der Christentumsge-
            Christen auf jene Lebenswelten und -äußerun-                      schichte ausfindig machen; und der Islam muss
            gen eingehen können, die ihre Gestaltungsform                     andererseits nicht auf die soeben sichtbar ge-
            und -kraft nicht aus dem Evangelium haben.                        wordene Neigung festgelegt werden. In der klas-
            Hier ist an die Kulturen mit ihren Lebensord-                     sischen islamischen Jurisprudenz findet sich
            nungen und -gefühlen zu denken, an das Kunst-                     etwa eine bemerkenswerte Offenheit für den
            schaffen, an Politik und den Wissenschafts-                       „örtlichen Rechtsbrauch“ (‘urf): das vorislamisch
            betrieb. Angesichts des in diesen Bereichen                       Vorgegebene darf weiterbestehen; hier wird die
            Erkannten lässt sich das wahrhaft christliche                     Eigenständigkeit einer nicht-islamischen Ord-
            Verhalten ihnen gegenüber bezeichnen als Lern-                    nung anerkannt. Auch wenn man bedenkt, dass
            bereitschaft, als weiterführender Dialog. Weder                   der Koran emotiv und argumentativ überzeugen
            sind die genannten Bereiche mit dem Zeugnis                       will, lässt sich darin erkennen, dass menschli-
            des Evangeliums identisch, noch sind Glaube                       ches Denken nicht aus- oder gleichgeschaltet
            und Vernunft füreinander unbedeutend, noch                        werden soll: Gott hat sich offenkundig auf einen
            gefährden sie sich prinzipiell, noch auch stehen                  Dialog mit den Menschen eingelassen. Dass
            die Inhalte, die die Gesprächspartner in ein sol-                 schließlich nach allem Begründen, Ableiten und
            ches Gespräch einbringen, bereits fest. Für die                   Verbegrifflichen Gott der Unergründliche bleibt,
            Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und                        den man nicht zu kennen, sondern anzuer-
            Glaube ergibt dies ein freudig angenommenes                       kennen hat, ist gut koranisch (vgl. Cragg, 199),
            Angewiesensein aufeinander, eine nicht zer-                       kommt aber besonders treffend in den Ge-
            streuende, sondern wach erwartungsvolle Neu-                      schichten islamischer Mystiker zur Sprache. So

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          erzählt etwa Ǧalāluddı̄n Rūmı̄ (st. 1273), dass ein     LITERATUR
          großer Grammatiker seinen Bootsmann fragt, ob
                                                                     Cragg, Kenneth, Art. „Shahādah”, in: The Encyclopedia of Religion,
          er Grammatik gelernt habe. Der Seemann ver-                Band 13, New York 1987, 198-199 (Darstellung des muslimischen Glau-
          neint und muss sich die Antwort des Wissen-                bens: „Faith is not so much an exploration of mystery as an acknow-
                                                                     ledgement of that which warrants submission.”).
          schaftlers anhören: dann hast du die Hälfte dei-
                                                                     Gimaret, Daniel, La doctrine d’al-Ash‛arı̄, Paris 1990.
          nes Lebens vertan. Als das Boot jedoch in Seenot           Gimaret, Daniel, Art. „TAWHıĪ D“, in: Encyclopaedia of Islam, Band 10,
          gerät und der Schiffer den Gelehrten fragt, ob er          Leiden ²2000, 389: Eins-Setzung Gottes in politischer Herrschaft, the-
                                                                     ologischer Rede und kultischer Praxis: rubbubı̄ya – asmā’ wa-s.ifāt –
          schwimmen gelernt hat, muss nun dieser ver-                ‛ibāda.
          neinen. Prompt lautet die Antwort des See-                 Goldziher, Ignác, Tagebuch, hg. von Alexander Scheiber, Budapest
          manns: Dann hast du dein ganzes Leben vertan.              1977.
                                                                     Pannenberg, Wolfhart, Die Aufnahme des philosophischen Gottes-
          Und Rūmı̄ kommentiert: Nicht nahw müsse man               begriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, in:
          beherrschen – Grammatik –, sondern mahw:                   ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze
          Selbstzurücknahme; denn „wer die hat, kann ge-             [Band 1], Göttingen 1967.
                                                                     Van Ess, Josef, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert
          fahrlos ins Wasser springen“ (Masnawı̄ 1,2841).            Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Band
          Das Wasser steht natürlich für Gott.                n      1-6, Berlin 1991-1997.
                                                                     Wielandt, Rotraud, Islam – die vernünftigere Religion? Vorstellun-
                                                                     gen heutiger Muslime zum Verhältnis ihres Glaubens zur Rationalität,
                                                                     in: Theologie und Philosophie 86 (2011) 73-94 (Gegenwärtige ara-
                                                                     bischsprachige Stimmen der Sunna (al-Qarad.āwı̄, H.anafı̄, Arkoun, al-
                                                                     Ǧābirı̄, al-‛Ašmāwı̄) kritisch dargestellt).

                                                       Lebendige Seelsorge 4/2013 Vernunft und Glaube in Christentum und Islam        235
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            THEMA Christlich-muslimische Begegnung
                               Vernunft und Glaube

              Die ersten drei Verse von Sure 13 (deutsche                     ist seine Macht durch die Ablehnung der Bot-
              Übersetzung nach Rudi Paret, Der Koran,                         schaft nicht bestritten, sondern bestätigt. An-
              Stuttgart ¹¹2010):                                              dererseits heißt Annahme des Inhaltes auch,
              Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbar-                        dass man sein Leben ändern muss; und dafür
              mers.                                                           sind viele offenkundig zu träge.
              Diese Formel erscheint vor fast allen Suren.                    Gott ist es, der die Himmel, ohne dass ihr Stüt-
              Gemeint ist wohl, dass man sich unter die Hil-                  zen sehen würdet, emporgehoben und sich dar-
              fe, in den Schutz und vor die Richtermacht                      aufhin auf dem Thron zurechtgesetzt hat. Und
              Gottes stellt. – Jetzt folgen vier arabische                    er hat die Sonne und den Mond in den Dienst
              Buchstaben.                                                     gestellt – jedes läuft auf eine bestimmte Frist.
              alif-lām-mı̄m-rā                                              Er dirigiert den Befehl.
              Was sie bedeuten, ist umstritten. Sie werden                    Zeichen sind nicht nur die Verse aus dem
              aber getreu mitüberliefert, auch wenn man                       himmlischen Buch. Wer die Augen aufmacht,
              sich nicht sicher sein kann, was sie sagen. So                  kann auch überall in der Natur Zeichen fin-
              bestätigt man die Treue der Textweitergabe,                     den. Für was? Für Gottes Schöpfermacht.
              bekommt aber zugleich viel Material zum Rät-                    Er setzt die Zeichen auseinander.
              selraten oder Staunen.                                          Das heißt wohl, durch die Wortzeichen wer-
              Dies sind die Zeichen der Schrift.                              den die Naturzeichen vereindeutigt.
              Das himmlische kitāb bietet den Menschen                       Vielleicht würdet ihr euch davon überzeugen
              Zeichen (āyāt). Dasselbe Wort bedeutet auch                   lassen, dass ihr eurem Herrn begegnen wer-
              „Verse“. So bestätigt der Koran erst einmal                     det.
              sich selbst als „Lesung“ (qur‘ān) aus dem Of-                  Hier hören wir nun das Ziel von Naturbe-
              fenbarungstext. Weiterhin aber ist gesagt, dass                 trachtung, von Offenbarungshören und Nach-
              hier Zeichen, also Hinweise gegeben werden.                     denken zugleich: Gott als Endzeitrichter jetzt
              Worauf, werden wir gleich sehen.                                schon anerkennen. Denn wenn er so mächtig
              Und was von deinem Herrn zu dir herabge-                        ist, all das, was man im Kosmos sieht, zu
              sandt ist, ist die Wahrheit. Aber die meisten                   schaffen, dann kann er uns auch von den To-
              Menschen glauben nicht.                                         ten auferstehen lassen: zum Gericht. Der Ko-
              Was hier ergeht, ist überzeugend, da ein-                       ran ist damit ein Ruf in die Verantwortung.
              leuchtend, weil vernünftig. Dennoch muss                        Und [Gott] ist es, der die Erde ausgebreitet und
              auch Muhammad erleben, dass viele Men-                          auf ihr feststehende Berge und Flüsse gemacht
              schen seiner Botschaft kein Gehör schenken.                     hat. Und von allen Früchten hat er auf ihr ein
              Nicht glauben heißt, Inhalt und Offenba-                        Paar gemacht. Und er lässt die Nacht über den
              rungscharakter des hier Verkündeten ableh-                      Tag kommen. Darin liegen Zeichen für Leute,
              nen. Warum lehnen sie es ab? Tröstend kann                      die nachdenken.
              man sagen: Gott will es so (z.B. 14:4). Dann

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