Vielfalt der Familienformen: Multilokales Wohnen

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Vielfalt der Familienformen:
Multilokales Wohnen

Nicola Hilti
ETH Wohnforum – Centre for Research on Architecture, Society & the Built
Environment, ETH Zürich

Tagung „Familien und Wohnen“ der Pro Familia Schweiz

24. Juni 2015, Landhaus Solothurn

„Gesucht: Zimmer für 2-3 Tage die Woche“
„Suche Mansardenzimmer für das Wochenende“

„Gelegenheitsmitbewohner/in gesucht“
HafenCity Hamburg: Multilokale erwünscht

„Partner working away – I‘m bored already“
Oberland Nachrichten Nr. 11/21 (13. März 2008)

„Erziehung per
Webcam“

                                           Der Spiegel 13/2006
Inhalt

  Begriffe und gesellschaftlicher Kontext
  Doing multi-local family
  Multilokales (Familien-)Wohnen in der Schweiz
  Fazit und Ausblick

Begriffe und
gesellschaftlicher Kontext

                              Ein dritter Ort
                              Arzt (35)
                                WG-Zimmer in Bern
                                Wohnung in Freiburg
                                Wohnung in Basel
Multilokales Wohnen ist ...

  ... die Praxis der alltäglichen Lebensführung
  ... an mehr als einem Wohnort und
  ... zwischen den Wohnorten.

Wohnen und Aktionsräume in der Agrar- und
frühen Industriegesellschaft (Weichhart 2009)

  Gemarkung                               Wohnen

                                          Arbeiten

                                          Freizeit
                                          Sich Versorgen,
                                          Infrastruktur
                                          Sozialkontakte

                                          etc.
Wohnen und Aktionsräume heute (Weichhart
2009)

           Die Wohnung als „Zentrum“
                der Lebenswelt

                     Gemeinde

         Wohnen                   Freizeit                                               Sozialkontakte
                                 Sich Versorgen,
         Arbeiten                                                                        etc.
                                 Infrastruktur

Multilokales Wohnen (Weichhart 2009)

   Die „Lokalitäten“ (Orte) lassen sich
   aus der Sicht der Akteure als spezi-
   fische Konfigurationen von Nutzungs-
   und Aneignungspotenzialen be-
   schreiben (Standortofferten).

                                                                                            tze n
                                                                                     on snu
                                                                                 it i
   „Bindungswirkung“ des                                                , Tr
                                                                             ans
                                                                    n
                                                                s te
    Ausgangsstandortes                                      s ko
                                                     it i on                            „kritische Standortofferten“
                                                 a ns
                                            , Tr
                                      aum
                                 ns r
                          nsi tio
                      Tra
                                             „Verknüpfung“ der Standortofferten
                                             zweier oder mehrerer Lokalitäten.

                              Der subjektive (haushaltsspezifische) Mehrwert dieser
                              Verknüpfung muss die subjektiv (vom Haushalt) wahr-
    „kritische
                              genommenen Gesamtkosten zumindest marginal
 Standortofferten“
                              übersteigen.
Wohnen im Wandel

 Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Wohn- und
 Haushaltsformen
 Neue Anforderungen aufgrund demografischer Alterung
 Wachsende Kluft in Bezug auf die soziale und ökonomische
 Lage und damit die Leistbarkeit von Wohnraum
 Zunehmende Akzeptanz von Technisierung und
 Digitalisierung im Wohnbereich
 Veränderungen im psycho-sozialen Bereich (sinkende
 „Peinlichkeitsschwellen“)
 Gestiegene Komfort- und Sicherheitsansprüche
 Gestiegener Wohnflächenverbrauch
 Neue Wohnkulturen durch Zuwanderung

Familie im Wandel

 Individualisierung, Pluralisierung und Ausdifferenzierung
 von Familien- und Haushaltsformen
 Wandel der Arbeitswelt
 Emanzipation und Erwerbsbeteiligung von Frauen
 Wandel der Geschlechterverhältnisse
 Steigende Trennungs- und Scheidungsraten
 Stärkung des Wechselmodells (alternierende Obhut)
 Wachsende Mobilitätsanforderungen und -bedürfnisse:
 Tagespendeln, Umzugsmobilität, multilokales Wohnen etc.
 Raschere Veränderung der Haushaltszusammensetzung im
 Lebensverlauf und zyklisch („atmende Familie“)

 Entgrenzung von Arbeit und Familie: doppelte Entgrenzung
Doing multi-local family

                               Fernab der Familie
                               Forstwart (40)
                                 EFH in FL
                                 WG-Zimmer in Zürich

Familie als soziales Netzwerk

Familie ist ein „kulturabhängiges, in Interaktionen und
durch alltägliche Praktiken hergestelltes – oftmals
haushaltsübergreifendes – soziales Netzwerk persönlicher
Beziehungen zwischen den Generationen“ (Schier & Jurczyk
2007).
Doing family:
Familie als „Herstellungsleistung“

  Wie interpretieren und bewältigen Familien heute den
  vielschichtigen sozialen Wandel?
  Wie stellen sie Alltag her?
  Wie gestalten sie persönliche Beziehungen und erbringen
  Fürsorgeleistungen?
  ...

Multilokalität von Familie ist ...

... die verteilte Organisation familialer Wohn- und
Alltagspraktiken auf mehrere Wohnhaushalte und Orte
(Schier 2014).

 1) Gemeinsames multilokales Familienwohnen: Eltern und
    Kinder nutzen gemeinsam abwechselnd verschiedene
    Wohnmöglichkeiten.
 2) Getrenntes multilokales Familienwohnen: Eltern und
    Kinder leben periodisch räumlich getrennt und verteilt
    auf mehreren Wohnsitze und -orte.
Doing Presence/Absence: ShareTable

                                             www.sharetable.com

http://www.youtube.com/watch?v=8fupEOc4pYY

Intra-/Interkommunal multilokale Familie

                                                  Quelle: Schier 2014
Transregional multilokale Familie

                                    Quelle: Schier 2014

Transnational multilokale Familie

                                    Quelle: Schier 2014
Multilokales (Familien-
)Wohnen
in der Schweiz

                                    Sommer auf dem
                                    Campingplatz
                                    Sekretärin (55)
                                      Wohnung bei Basel
                                      Wohnwagen bei Basel

„Multilokales Wohnen in der Schweiz“

 Projekt: „Multilokales Wohnen in der Schweiz – bewegte
 Praxis im Wechselspiel physisch-materieller, sozialer und
 biografischer Bedingungen“ (2012–2014)
 Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds (SNF,
 Grundlagenforschung)
 Partner: Margrit Hugentobler und Nicola Hilti (ETH Zürich),
 Cédric Duchêne-Lacroix (Universität Basel), Helmut Schad
 (Hochschule Luzern)
 Methode (u. a.) Online-Befragung (2013):
    Befragung (dreisprachig) von 3‘246 Personen aus der Schweizer
    Wohnbevölkerung im Alter von 15 bis 74 Jahren
    Nach „Screening“ vertieft befragt: 961 multilokal Wohnende (905
    Personen nach Gewichtung)
    Auswahlgesamtheit: LINK-Internet-Panel (127‘000 Teilnehmende)
    auch Personen, die nicht per Festnetz oder nur mobil erreichbar sind
Erfahrungen mit multilokalem Wohnen

                        28%

                                    Heute multilokal

                                    Früher mehrmals multilokal

52%                                 Früher ein Mal multilokal

                              7%    Nicht multilokal

                      13%

n = 3246

Anzahl Wohnsitze

            6%   3%

                                      Zwei Wohnsitze
      23%
                                      Drei Wohnsitze

                                      Vier Wohnsitze

                                      Fünf und mehr
                                      Wohnsitze
                              68%

n = 905
Art der Wohnsitze
        80%

        70%

        60%
                                                            Wichtigster
        50%
                                                            Wohnsitz
        40%
                                                            Zweitwichtigster
        30%
                                                            Wohnsitz
        20%
                                                            Drittwichtigster
        10%
                                                            Wohnsitz
        0%

% je Wohnsitz, pro Wohnsitz mehr als eine Nennung möglich
n=889 (1), 897 (2), 279 (3)

Profil: Soziodemografie

Merkmal            Anteil multilokal Wohnende
                   Unterdurch-         Durchschnitt-   Überdurch-
                   schnittlich         lich            schnittlich
Zivilstand         Verheiratet         -               Ledig
                                                       Geschieden
                                                       Verwitwet
Alter              30-39 J.            (70-74 J.)      16-19 J.
                   40-49 J.                            20-29 J.
                   50-59 J.                            60-69 J.
Erwerbstätig-      Un-/Angelernte      Leitende u.     Firmeninhaber/i
keit               Hausfrau/-mann      übrige          n,
                                       Angestellte     Student/in,
                                                       Schüler/in,
                                                       Pensionierte
Kinder bis 9 Jahre im Haushalt

   90%
                                                         79%
   80%
                           70%
   70%

   60%

   50%
                                                                       Multilokal
   40%                                                                 Nicht-Multilokal
                  30%
   30%
                                                21%
   20%

   10%

    0%
          Keine Kinder bis 9 Jahre im HH   Kinder bis 9 Jahre im HH

n = 3237 (gewichtet)

Zeitliche Begrenzung des Arrangements

                                                 29%

                                                                      Ja      Nein

          71%

n = 873
Gewünschte zukünftige Wohnsituation

          7%
                                        Ich will nur noch an einem Ort
                                        wohnen.

                             24%

                                        Ich will die aktuelle Wohnsituation
                                        aufgeben, aber künftig wieder
                                        einmal mehrere Wohnsitze nutzen.

                                        Ich will die aktuelle Wohnsituation
                                   7%   beibehalten.

    62%                                 Ich will weiterhin an mehreren
                                        Orten wohnen, aber die Anzahl der
                                        Wohnsitze reduzieren.

n = 912

Nutzungsrhythmen zweiter Wohnsitz

  29% übernachten mindestens ein Mal pro Woche an ihrem
  zweiten Wohnsitz. Dies sind typischerweise Personen mit
  berufs- und mit ausbildungsbezogenen Nutzungszwecken
  sowie Personen in einer LAT-Partnerschaft.
  Gut die Hälfte der multilokal Wohnenden ist mindestens ein
  Mal im Monat am anderen Wohnsitz.
Nutzungshäufigkeit des zweiten Wohnsitzes

     Am zweiten Wohnsitz wird im Mittel 61 Nächte pro Jahr
     übernachtet (alle Nutzungszwecke). Der Median liegt bei
     35 Nächten, d. h. die Hälfte der multilokal Wohnenden
     übernachtet mehr als 35 Mal pro Jahr dort.
     Immerhin 20% der multilokal Wohnenden kommen auf
     mehr als 100 Nächte pro Jahr am zweiten Wohnsitz.

Gewünschter Bestattungsort

 Schon Gedanken                                           Falls ja: gewünschter
 darüber gemacht?                                         Bestattungsort?

                                                              Am Wohnort 1     Am Wohnort 2
Ja   Nein, bislang nicht   Nein, werde ich auch nicht         Am Wohnort 3     Anderer Ort
                                                              Ortsungebunden

           10%
                                                        10%

                                                                                              42%

                                              51%
                                                        35%
     39%

                                                                    2%         11%

n = 944
Fazit und Ausblick

                              „Double Nesters“
                              Angestellte (37),
                              Lehrer (48), Kind (2)
                                Wohnung in Luzern
                                Wohnung in Chur

Multilokales Wohnen als „Massenphänomen“

 Multilokales Wohnen ist in der Schweiz weit verbreitet
 (28%), vornehmlich in Verbindung mit Freizeitnutzungen
 (68%), gefolgt vom Wohnen mit Partner/-in (32%) resp. in
 LAT-Beziehung (21%) oder bei den Eltern (22%).
 Berufs- und ausbildungsbezogene Nutzungszwecke sind
 seltener (15% resp. 9%).
 Soziale Beziehungen haben im Rahmen des multilokalen
 Wohnens generell grosse Bedeutung: Mitwohnen mit
 Anderen, bei Bedarf Unterstützung an allen Wohnsitzen.
 Die multilokalen Arrangements sind mehrheitlich dauerhaft
 angelegt.
 Haushalte mit Kindern bis 9 Jahren sind seltener multilokal.
 Wenn in multilokalen Haushalten Kinder bis 14 Jahre leben,
 ist die Wohnform eher langfristig angelegt.
Raumwirksamkeit multilokalen Wohnens

Gebäude und Flächen für das Wohnen
  Flächeninanspruchnahme, Erschliessung
  Städtebauliche Wirkung, Art der Flächennutzung

Mobilität zwischen den Orten
  Infrastrukturbedarf, Verkehrsangebote, Flächenbedarf
  Verkehrsaufwand, Energiebedarf, Emissionen etc.

Soziale, ökonomische, politische Effekte
  Soziale Vernetzung am anderen Wohnort
  Regionalökonomische Auswirkungen
  Politische Partizipation/fehlende Mitwirkung

Multilokale (Familien) am Wohnungsmarkt

  Multilokal Wohnende zeichnen sich durch heterogene
  Wohnweisen und -bedürfnisse aus.
  Als Zielgruppe am Wohnungsmarkt fordern sie diesen
  heraus.
  Die Lebensführungen sind wesentlich dynamischer als die
  Veränderungen des Wohnungsbestandes.
  Multilokal Wohnende tangieren den Wohnungsmarkt im
  weiteren Sinne auf drei Ebenen:
     Haus/Wohnung (z. B. „atmende Familie“)
     Siedlung/Quartier (z. B. soziale Integration der
     Nachbarschaft, „software“)
     Stadt (z. B. Standortentscheide, Mobilitäts- und
     Dienstleistungsinfrastruktur).
Zum Schluss drei Thesen ...

 Multilokales (Familien-)Wohnen ist Ausdruck der
 Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Lebensformen,
 und wird weiter zunehmen. Es ist im Kontext des
 gesellschaftlichen Wandels im Allgemeinen zu
 betrachten.
 Multilokale Familienformen gründen zum einen in einem
 mobilen Lebensstil rund um mehrere Wohnsitze, zum
 anderen in Trennung/Scheidung oder Berufsmobilität der
 Eltern.
 Die gesellschaftlichen und politischen Strukturen hinken
 den dynamischen Lebensrealitäten hintennach. Gefragt
 sind Strukturen, „die das Nicht-Übliche, das Nicht-
 Vorgesehene und Nicht-Vorauszusehende zulassen“ (Gysi
 2009: 23).
Quellen

Gysi, Susanne (2009): Zwischen Lifestyle und Wohnbedarf. In: Glaser,
Marie Antoinette/Eberle, Dietmar (Hg.): Wohnen – im Wechselspiel zwischen
privat und öffentlich, Sulgen: Niggli Verlag, S. 10–23.
Jurcyk, Karin/Lange, Andreas/Thiessen, Barbara (2014) (Hg.): Doing
Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist.
Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Schier, Michaela/Jurczyk, Karin (2007): „Familie als Herstellungsleistung“
in Zeiten der Entgrenzung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur
Wochenzeitung Das Parlament, 34/2007, S. 10–17.
Schier, Michaela (2014): Multilokalität von Familie in Deutschland. In:
Geographische Rundschau 11/2014, S. 11–17.
Weichhart, Peter (2009): Multilokalität – Konzepte, Theoriebezüge und
Forschungsfragen In: Informationen zur Raumentwicklung (BBR),1/2,
Multilokales Wohnen (hg. von Gabriele Sturm und Christine Weiske), S. 1–14.

Dr. Nicola Hilti
hilti@arch.ethz.ch
ETH Zürich
ETH Wohnforum - ETH CASE
www.wohnforum.arch.ethz.ch
Profil: Vermögen

Merkmal       Anteil multilokal Wohnende
              Unterdurch-     Durchschnitt-   Überdurch-
              schnittlich     lich            schnittlich
Finanz-       Unter           25‘000 bis      Über
vermögen      25‘000 CHF      100‘000 CHF     100‘000 CHF
(ohne
Immobilien)

Profil: Mobilitätswerkzeuge

Merkmal       Anteil multilokal Wohnende
              Unterdurch-     Durchschnitt-    Überdurch-
              schnittlich     lich             schnittlich
Pkw im        1 Pkw           3 Pkw            Kein Pkw
Haushalt      2 Pkw                            4 oder mehr
                                               Pkw
Verbund-Abo   Ohne Verbund-   -                Mit Verbund-
für ÖPNV      Abo                              Abo
Generalabo    Ohne GA         -                Mit GA
(GA) für ÖV
Profil: Mobilität und Internetnutzung

Merkmal         Anteil multilokal Wohnende
                Unterdurch-       Durchschnitt-    Überdurch-
                schnittlich       lich             schnittlich
Geschäfts-      Keine             -                Eine und v. a.
reisen letzte   Geschäftsreise                     mehrere
12 Monate                                          Geschäftsreisen
Flugreisen in   Keine Flugreise   Eine Flugreise   Zwei und mehr
Europa letzte                                      Flugreisen
12 Monate
Internet-       Nicht mehrmals                     Mehrmals
Nutzung pro     täglich                            täglich
Tag
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