VIKTOR, MÄCHTIGE DER - torial

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INT ERNAT IONAL

 VIKTOR,
   DER
MÄCHTIGE
  In Ungarn wurde schon lange vor
 Corona die Demokratie ausgehöhlt.
Wie Viktor Orbán sein Land verwandelt
     hat – und dabei sich selbst.
           text: franziska tschinderle
          illustration: andreas leitner

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I N T E RN ATIO NA L

                                                              von der Karl-Franzens-Universität Graz, › sondern Kon-
                                                              tinuität. ‹ Hat Europa die autoritäre Wende in Ungarn
                                                              verschlafen?
                                                                  Seit seinem fulminanten Wahlsieg im Jahr 2010 hat
                                                              Orbán, Langzeit-Parteichef der rechtskonservativen Fi-
                                                              desz, den ungarischen Staat nach seinen Vorstellun-
                                                              gen umgebaut. Er hat eine neue Verfassung verab-
                                                              schiedet, Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand
                                                              geschickt und die Medien auf Linie gebracht.
                                                                  › Es ist nicht einfach, Journalistin in Ungarn zu sein‹,
                                                              sagt etwa Viktória Serdült, 39, die für das Online-Portal
                                                              eines liberalen Wochenmagazins namens Heti Világga-

I
                                                              zdaság (hvg) arbeitet. Es gibt einen Witz, den Kollegen
      ch brauche 133 mutige Menschen ‹, sagt Viktor           über Serdült erzählen. ›Jedes Medium, bei dem ich neu
      Orbán, › die 133 mutigsten Menschen im ganzen           anfange, wird irgendwann von der Regierung über-
      Land. ‹ Der 56-Jährige steht im prächtigen Plenar-      nommen‹ , lacht sie.
      saal des ungarischen Parlaments in Budapest –               So erging es Origo, einst Ungarns führendes News-
goldverzierte Wände, waldgrüner Teppichboden, drau-           portal. Als Serdült 2014 dort anfing, war die Zeitung
ßen fließt die Donau vorbei. Es könnte eine ganz nor-         noch unabhängig, erzählt sie. Journalisten berichteten,
male Parlamentssitzung sein, wären da nicht die Mas-          wie Minister Staatsgelder auf Auslandsreisen verun-
ken im Gesicht vereinzelter Abgeordneter. Orbán, seit         treuten. Dann wurde Origo Teil einer Orbán-nahen Stif-
zehn Jahren Ministerpräsident seines Landes, wollte           tung. › Der Chefredakteur wurde ausgewechselt, und
schon viele Feinde bekämpfen – Flüchtlinge an der             an einem Montagmorgen standen plötzlich neue Mit-
Grenze, Bürokraten in Brüssel, einen aus Ungarn stam-         arbeiter im Büro ‹, erinnert sich Serdült, die das Me-
menden Multimilliardär namens George Soros. Co-               dium daraufhin freiwillig verließ. Heute, so die Jour-
rona, der neue Feind, ist unsichtbar. Auch der Zaun,          nalistin, mache Origo das, was die Regierung hören
den Orbán an der Grenze errichtet hat, kann ihn nicht         wolle. Sie attackieren die Opposition, die Europäische
aufhalten.                                                    Union und ausländische Geldgeber, die das Land an-
    Orbán weiß, dass er die Opposition, die auf den           geblich mit liberalen Ideen unterwandern.
Holzbänken vor ihm sitzt, nicht braucht, um das Ge-               Serdült findet es überzogen, Ungarn als Diktatur zu
setz durchzuboxen. Fidesz, seine Partei, stellt 116 Ab-       bezeichnen. Lieber beschreibt sie das System, in dem
geordnete im Parlament, gemeinsam mit den verbün-             sie lebt, mit einem Bild: › Ungarn ist wie ein Frosch, den
deten Christdemokraten sogar 133, also die Zwei-              man in einen Kochtopf steckt und langsam erwärmt ‹,
Drittel-Mehrheit.                                             sagt sie. Hätte Orbán die Temperatur abrupt hochge-
    Am 30. März 2020 hat das ungarische Parlament             dreht, wäre der Frosch laut quakend herausgehüpft.
ein umstrittenes Gesetz beschlossen. Es sichert Orbán         So köchelt er gemächlich vor sich hin. Ob er noch lebt
weitreichende Machtbefugnisse. Künftig kann er auf            oder bereits tot ist, kann niemand so genau sagen. Lei-
unbegrenzte Zeit per Dekret regieren, und das ohne            tet das Corona-Gesetz jetzt die heiße Phase ein?
parlamentarische Kontrolle. Neu ist auch ein Paragraf,            Ein Anruf beim Juristen Herbert Küpper vom Insti-
der Falschnachrichten mit bis zu fünf Jahren Haft be-         tut für Ostrecht in München. Küpper spricht Ungarisch
straft. Der Gesetzestext ist schwammig. Strafbar macht        und hat das Gesetz vom 30. März genau unter die Lupe
sich, wer › unwahre Tatsachen ‹ verbreitet, die › die Effi-   genommen. Mit vollem Namen heißt es: Gesetz Nr. XII
zienz der Bekämpfung (Anm. des Virus) behindern ‹.            › zur Eindämmung des Coronavirus ‹ oder kurz: Er-
    Nach dem 30. März geht ein Aufschrei durch Eu-            mächtigungsgesetz. Küpper sagt: › Dieses Gesetz ist ju-
ropa. › Ungarn gehört in politische Quarantäne ‹, sagt        ristisch sauber. ‹ Ob es die Regierung für ihre Zwecke
etwa der luxemburgische Außenminister Jean Assel-             missbraucht, lasse sich erst dann beurteilen, wenn Co-
born, › wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass in-         rona vorbei ist. Drei Fragen werden dann laut Küpper
nerhalb der eu eine diktatorische Regierung existiert.‹       relevant sein. Erstens: Bleibt das Ermächtigungsgesetz
Das us-amerikanische Magazin The Atlantic titelt: ›The        auch dann in Kraft, wenn die Pandemie vorbei ist?
eu watches, as Hungary Kills Democracy.‹                      Zweitens: Werden auf Basis des Fake-News-Gesetzes
    Fast wirkt es so, als hätte Orbán über Nacht die De-      Journalisten verurteilt? Und drittens: Was genau wird
mokratie entführt. Doch das, was in Budapest passiert         Orbán per Dekret umsetzen? Streng genommen darf
ist, war kein Staatsstreich. Gerichte, auf die seitens der    er das Parlament nur dann umgehen, wenn es um die
Regierung kein Druck ausgeübt wird, ein lebhaftes             Bekämpfung von Corona geht.
Parlament, freie Medien – all das hat es in diesem Land           Das neue Gesetz ziele nicht auf kritische Reporter
auch vorher nicht gegeben. › Der 30. März ist keine           ab, betont ein Sprecher der ungarischen Regierung ge-
Zäsur ‹, sagt der Politikwissenschaftler Florian Bieber       genüber datum, sondern auf Panikmacher, die be-

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wusst Falschinformationen verbreiten. › Man kann buben, verächtlich die Krawatte zurechtgerückt haben
nicht laut »Feuer« in ein überfülltes Theater schreien, sollen, als er 1990 ins Parlament einzog. › Orbán liebt die
obwohl es kein Feuer gibt, weil das höchst gefährlich Konfrontation, das ist sein Lebenselixier ‹, erzählt ein
ist ‹, so der Sprecher. Die neuen Maßnahmen hätten eu-Abgeordneter, der ihn aus gemeinsamen Sitzungen
nur ein Ziel, sagt er – Menschenleben retten.            kennt. Diese zweite Geschichte erzählt von Viktor Orbán,
    Beobachter schlagen dennoch Alarm. › Dieses Ge- dem Provokateur.
setz wirft eine Menge Fragen auf ‹, sagt der ungarische     Eine dritte Geschichte hat mit dem Spaghetti-Western
Politikwissenschaftler Péter Krekó, Direktor eines › Once Upon a Time in the West‹ zu tun, ein Film, über den
Thinktanks in Budapest. Krekó sieht ein, dass außeror- Orbán sagt, dass er ihn 15 Mal gesehen hat. In einem In-
dentliche Umstände wie eine Pandemie nach außeror- terview erklärte er, warum. Um erfolgreich zu sein, so Or-
dentlichen Gesetzen rufen. Immerhin werden auch im bán, reiche es nicht, wenn der Held nur schießt und seine
Rest Europas Freiheiten beschnitten. Doch eine Frage Fäuste ballt. Er müsse auch sein Hirn einsetzen, um den
bleibt in Ungarn ungeklärt: › Wann wird der Notstand Gegner gekonnt zu attackieren. Orbán mag radikale Ent-
enden? ‹ Die Opposition forderte Orbán dazu auf, eine scheidungen treffen, aber er findet stets juristische Klau-
sogenannte › sunset clausel ‹, also eine zeitliche Frist seln, die sie legitimieren. Sein Team ist medienwirksam
von 90 Tagen in das Gesetz einzubauen. Ohne Erfolg. gut vorbereitet und spricht fließend Englisch. Wer das
Florian Bieber von der Karl-Franzens-Universität Graz Gesetz vom 30. März lesen will, bekommt es innerhalb
warnt: › Es wird bei dieser Pandemie kein klares Endda- weniger Tage in mehreren Sprachen zugeschickt. Ein wei-
tum geben, und das öffnet Orbán Tür und Tor, die teres Beispiel ist die Justizministerin Judit Varga. Eine
Maßnahmen zu verschleppen. ‹                             eu-Abgeordnete beschreibt sie als › smarte, rhetorisch be-
                                                         gabte Politikerin ‹, die Orbáns Kurs in Zeitungsanalysen

U      m zu verstehen, wie sich Ungarn unter Viktor Or- verteidigt und sich dem Diskurs stellt.
       bán gewandelt hat, muss man zuerst die Wand-         Geschichte Nummer drei erzählt von Viktor Orbán,
lung von Orbán selbst verstehen. Vom weltoffenen Li- dem Strategen. 2015 wandelt er sich zum offenen Gegen-
beralen zum Konservativen am rechten Rand. Vom spieler der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und ihrer
Jurastudenten zu einem Mann, der einer weltweit an- › Wir-schaffen-das ‹-Politik. Er warnt vor Millionen Frem-
gesehenen Universität, der Central European Univer- den aus dem Nahen Osten und Afrika, die das kleine Un-
sity (ceu) den Kampf angesagt hat. Einer, der mit an- garn überschwemmen werden. Orbán, einst ein liberaler
tisemitischen Plakaten gegen seinen ehemaligen Mä- Atheist, inszeniert sich plötzlich als Retter des christli-
zen, George Soros, Stimmung macht und ihm einen chen Abendlandes. › Orbán war einer der ersten, der er-
teuflischen Plan unterstellt. Seinen Wählern erzählt kannt hat, wie gut sich das Thema Migration instrumen-
Orbán, dass Soros Europa mit Millionen muslimischer talisieren lässt und wie man Flüchtlinge als Druckmittel
Flüchtlinge destabilisieren wollte. Er folgt dabei einem für die eigenen, politischen Ziele einsetzen kann ‹, sagt
Drehbuch, das die Europäische Stabilitätsinitiative der spö-Europaabgeordnete Andreas Schieder. Ska Keller,
(esi), die Denkfabrik des Migrationsexperten Gerald Fraktionsvorsitzende der Grünen/efa-Fraktion im euro-
Knaus, mit der Star-Wars-Saga vergleicht. Das böse Im- päischen Parlament, meint: › Egal welche Krise – ob Mi-
perium, die eu, will Ungarn, dem Nationalstaat, seine gration oder Corona – Orbán schlägt politisches Kapital
Rechte stehlen.                                          daraus. ‹ Heute wettert Orbán längst nicht nur gegen
    Es gibt viele Geschichten, die man über Viktor Or- Flüchtlinge, sondern auch gegen kritische Stimmen aus
bán erzählen kann. Da ist jene über den Landbuben, der Zivilbevölkerung. Nach seiner Wiederwahl 2018 ver-
der in ärmlichen Verhältnissen aufwächst und mit 15 öffentlichte das regierungsnahe Wochenblatt Figyelö eine
Jahren zum ersten Mal ein modernes Badezimmer mit Liste der › Feinde Ungarns ‹. Darauf standen mehrere Aka-
Warmwasser benutzt. Sein Vater ist Ingenieur und demiker, die an der von George Soros gegründeten ceu
kommunistisches Parteimitglied, die Mutter Lehrerin.
Der junge Viktor ist ein leidenschaftlicher Fußballspie-
ler und trainiert vier Mal pro Woche. Profikicker wird
er nie, dafür der jüngste Premierminister in der Ge-
schichte seines Landes. Diese erste Geschichte ist die         Hätte Orbán die Temperatur
Geschichte eines sozialen Aufstiegs.
    Dann wieder gibt es die Geschichte von Orbáns Po-          abrupt hochgedreht, wäre
litisierung. Sie beginnt während seiner Zeit beim Mili-
tär und führt in ein Studentenheim in Budapest – der           der Frosch herausgehüpft.
Ort, an dem der Jus-Student Orbán, gemeinsam mit
anderen Kommilitonen, seine Partei gründet. Es ist             So köchelt er gemächlich
keine Ideologie, die ihn leitet, sondern der Wunsch zu
regieren. Nur eines begleitet ihn all die Jahre – sein         vor sich hin.
Hass auf die liberalen Akademiker, die ihm, dem Land-

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lehren, die gesamte Redaktion eines investigativen               Orbán legt altbekannte Schwächen der eu offen. Die
Portals und die Belegschaft des ungarischen Amnes- Ratlosigkeit, wie mit Populisten in den Mitgliedsländern
ty-International-Büros. Im selben Jahr ließ Orbán den umzugehen ist etwa, oder die Macht des Europäischen
Gender-Studies-Masterstudiengang verbieten. Die Be- Rates, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, das
gründung? Solche Absolventen werden in Ungarn oh- bei Entscheidungen oft auf der Bremse steht. Im Septem-
nehin nicht gebraucht.                                        ber 2018 forderte das Parlament den Rat dazu auf, ein ›Ar-
   Das wird selbst der konservativen Parteienfamilie tikel-7-Verfahren ‹, also ein Vertragsverletzungsverfahren
zu viel. › Orbán ist ein wütender, alter, weißer Mann ‹, gegen Ungarn einzuleiten. Bedenken der Abgeordneten
sagt ein Abgeordneter, der für die övp in Brüssel sitzt. waren unter anderem die Unabhängigkeit der Justiz, Mei-
Zu Ostern stand die Europäische Volkspartei (evp) vor nungsfreiheit und die Situation von Migranten und
einem alten Dilemma. Wie umgehen mit dem Toten- Flüchtlingen. Bis heute hängt das Verfahren in der Warte-
gräber der Demokratie? Seit März 2019 ist die Mit- schleife, und selbst Abgeordnete aus den Reihen der evp
gliedschaft der Fidesz in der evp auf unbestimmte sagen: › Ich habe nicht dafür gestimmt, dass dieses Verfah-
Zeit suspendiert. Eine Art Bewährungsstrafe. Gibt der ren im Sand verläuft. ‹
30. März Anlass zum endgültigen Rauswurf?
   Orbán hat Europas Christdemokraten tief gespal-
ten. › In der Partei brodelt es seit einiger Zeit gewaltig ‹,D     ie Denkfabrik esi rechnet in einem Mitte April veröf-
                                                                   fentlichten Bericht vor, dass Ungarn in den letzten
sagt Ska Keller von den Grünen. Schieder von der spö sechs Jahren 25 Milliarden Euro von der eu zugesprochen
spricht von drei Flügeln. Da ist das ›Genug! ‹-Lager, das bekommen hat. Am 30. März kamen laut esi 5,6 Milliar-
den sofortigen Ausschluss der Fidesz fordert und dem den aus dem eu-Corona-Hilfspaket hinzu. Zum Vergleich:
zum Beispiel niederländische Abgeordnete angehören. Italien, ein Land mit sechsmal so vielen Einwohnern, hat
Da ist das Dialog-Lager, das Orbán domestizieren nur die Hälfte bekommen. Orbán schöpft überproporti-
möchte und warnt, ein Rauswurf könnte, ähnlich wie onal viel Gelder aus Brüssel ab und ist gleichzeitig einer
bei den britischen Torys 2009, zu einem ungarischen der lautesten eu-Kritiker. Laut Claudia Gamon ist das ge-
Brexit führen.                                                nauso widersprüchlich wie die von ihm ausgerufene › illi-
   Das dritte Lager, so Schieder, nehme Orbán blind in berale Demokratie ‹. › Das ist nichts weiter als ein Propag-
Schutz: › Dazu zählen etwa Politiker wie Wolfgang andabegriff ‹, ärgert sich Gamon, › denn illiberale Politik
Schüssel oder Sebastian Kurz. ‹                               kann es in einer Demokratie gar nicht geben. ‹ Es gibt sie
   Erhard Busek, Ex-Vizekanzler der övp, gehört zu aber doch. Nicht nur in Ungarn. Orbán ist das beste Bei-
Lager Nummer Zwei. Er suchte stets den Dialog mit spiel dafür, dass Francis Fukuyama mit seiner These vom
Orbán, und das hat auch persönliche Gründe. › Ich › Ende der Geschichte ‹ falsch gelegen ist. Der Politikwis-
habe ihm früher geholfen, seine Partei zu gründen ‹, senschaftler prognostizierte, dass sich nach dem Zerfall
erzählt Busek am Telefon. Als sich Orbán 1990 seiner der Sowjetunion die liberale Demokratie als herrschen-
ersten Wahl stellte, schickte die Wiener Volkspartei des Ordnungsmodell durchsetzen wird. Doch Geschichte
Plakatständer nach Budapest. Damals, so Busek, sei ist keine Autobahn, auf der es immer zügig vorangeht.
Orbán ein › sympathischer und offener Gesprächspart- Orbán zeigt, dass es auch wieder rückwärts gehen kann.
ner ‹ gewesen. Heute gibt Busek zu, dass Ungarn › ein            Es gibt eine letzte, eine vierte Geschichte, die man über
halberter Familienbetrieb ‹ geworden ist und die Pres- ihn erzählen kann. Die des Idealisten und Hoffnungsträ-
sefreiheit unter Druck steht. Den Fehler sucht Busek gers. Sie beginnt am 16. Juni 1989. An jenem Tag wird in
auch bei seiner eigenen Partei. › Wir hätten mehr hin- Ungarn der Kommunismus zu Grabe getragen – und mit
fahren sollen ‹, sagt er.                                     ihm Imre Nagy, die Gallionsfigur des anti-sowjetischen
   Bittet man Beobachter, den Kurs der evp gegenüber Volksaufstandes von 1956. Über 30 Jahre war die Leiche
Ungarn zu beschreiben, hört man Sätze wie › Die eiern des von Moskau verunglimpften ›Konterrevolutionärs ‹ in
herum ‹, › Das ist ein absolutes Trauerspiel‹ oder › Nichts einem Massengrab gelegen. Jetzt, im Jahr der Wende, soll
als Augenauswischerei ‹. Und immer wieder fällt der Nagy feierlich umgebettet werden. Es ist der Anfang vom
Name von Ursula von der Leyen. Es heißt, dass sie Or- Ende der kommunistischen Diktatur, der Kádár-Ära.
bán etwas schuldig ist, weil sie mit den Stimmen der            250.000 Ungarn drängen sich auf dem Heldenplatz
Fidesz zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde. von Budapest, der Rest schaut über den Fernsehbild-
Einen Tag nach dem Votum in Budapest mahnte von schirm zu, darunter auch viele, die 1956 mit ihren Fami-
der Leyen in einer Aussendung, dass die Demokratie in lien in den Westen geflohen sind. Einer davon ist Paul
Zeiten von Corona nicht mit Füßen getreten werden Lendvai, der das Begräbnis live für den orf kommentiert.
darf. Was sie dabei mit keinem Wort erwähnt – Ungarn In seiner Biografie über Orbán schreibt Lendvai, wie ihm
selbst. Diese Zurückhaltung kommentiert Claudia Ga- selbst an jenem 16. Juni Tränen über die Wange rollten. Er
mon von Neos so: › Wäre Orban kein Europäer, dann ist tief gerührt von der Szenerie, weil er Nagy die Amnes-
würden wir ihn viel offener kritisieren, ähnlich wie Er- tie aus einem Internierungslager verdankt.
dogan in der Türkei oder Putin in Russland. Wir Euro-           An jenem Tag sieht Lendvai auch, wie ein junger Mann,
päer wollen uns selbst ja nichts Böses unterstellen.‹         gerade einmal 26 Jahre alt, ans Mikrofon tritt. Er trägt sein

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weißes Hemd offen, einen Bart und die Haare zerzaust.         nationalen Versprechen ein. Er sichert den ethnischen
In seiner Rede ruft Viktor Orbán zu freien Wahlen und         Ungarn im Ausland das Recht auf einen Pass plus Wahl-
zum Rückzug der sowjetischen Truppen auf. Seine               recht, ein taktisch kluger Zug, denn sie stimmen mehr-
Worte machen ihn über Nacht im ganzen Land be-                heitlich pro Fidesz.
kannt. Ein rückblickend paradoxer Moment. Der                     Parallel dazu baut Orbán den Staat um. 2011 verab-
Mann, der mehr Demokratie fordert, wird sie später            schiedet er eine neue Verfassung. Der Opposition wird
wieder abschaffen.                                            die Möglichkeit entzogen, Kandidaten für den Verfas-
    Lendvai ist heute 90 Jahre alt. Am Abend des 13. Ap-      sungsgerichtshof vorzuschlagen. Dafür ist jetzt das Parla-
ril hebt er sein Telefon ab, um davon zu erzählen, wie        ment zuständig, wo die Fidesz eine Zwei-Drittel-Mehrheit
sich Ungarn seit jener Rede verändert hat. › Als ich vor      hat. Der unabhängige Präsident des Obersten Gerichts-
Jahren meine ersten Bücher über Ungarn schrieb ‹, be-         hofs, András Baka, wird von einem Fidesz-nahen Richter
ginnt er, › hätte ich mir nicht vorstellen können, was        ersetzt; András Simor, der Vorstand der Nationalbank
dort noch alles möglich ist.‹ Lendvai nennt das System,       von einem ehemaligen Fidesz-Finanzminister. Orbán si-
das Orbán errichtet hat, eine Scheindemokratie, in der        chert alten Freunden strategisch wichtige Jobs. János
Parlament und Gerichte vorhanden sind, aber nur als           Áder, Fidesz-Gründer, ist seit 2012 Präsident des Landes.
Kulisse. Gleichzeitig muss er zugeben, dass es ein Sys-       József Szájer, Orbans langjähriger Wegbegleiter, Abge-
tem mit gewissen Freiheiten ist. Noch wurde kein aus-         ordneter in Brüssel. Szájer soll die neue Verfassung auf
ländischer Korrespondent ausgewiesen. Lendvai, einer          seinem iPad geschrieben haben, auf einer Zugfahrt von
der größten Kritiker Orbáns, kann unbesorgt nach Bu-          Straßburg nach Budapest. Dabei hat er eine neue Zentral-
dapest reisen. Um den Schein einer Demokratie zu              behörde namens › nationales Büro für die Justiz‹ erfunden.
wahren, lässt Orbán weiterhin kritische Journalisten          Es darf unter anderem Richter ernennen. Als eine Präsi-
zu. Er stellt sich Wahlen und fährt dabei auch Verluste       dentin für das neue Amt gesucht wird, fällt die Wahl auf
ein. Seit 2019 werden Budapest und sieben weitere             Tünde Handó, Szájers Frau. Die fragwürdige Personalwahl
Städte, darunter Szeged und Pécs, von der Opposition          ist nur eines von vielen Beispielen, mit dem sich Orbán
regiert. Diese kleinen Erfolge der Kritiker kann Orbán        die Justiz untertan gemacht hat. Seit über fünf Jahren, so
nützen, wenn ihm wieder mal der Vorwurf gemacht               der Jurist Herbert Küpper, hat das Verfassungsgericht in
wird, den Diktator an der Donau zu spielen. › Orbán ist       keiner realpolitisch oder symbolisch wichtigen Frage
einer der gerissensten Politiker der modernen Ge-             mehr gegen die Regierung entschieden.
schichte ‹, sagt Lendvai. Er gibt zu, dass er › diese ganze       Corona ist für Viktor Orbán weniger ein Sprungbrett
Truppe ‹ unterschätzt habe.                                   als eine neue Bühne, um seine Macht zu zelebrieren. › Po-
    Mit › dieser Truppe ‹ meint Lendvai Fidesz, eine 1988     litik ist für Orbán wie Fußball ‹, hat der Journalist Paul
im Studentenheim Bibó István in Budapest gegrün-              Lendvai einmal geschrieben. Der Ministerpräsident hat es
dete Partei. Orbán und seine Kommilitonen sind jung           geschafft, alles gleichzeitig zu sein – Torwart, Stürmer,
und liberal, Westeuropa ihr Vorbild. Der Mäzen Ge-            Schiedsrichter. Der Boulevard belohnt ihn mit gleißen-
orge Soros schenkt den Jungpolitikern einen Drucker           dem Scheinwerferlicht, die Opposition sitzt längst auf der
und jährlich eine halbe Million Euro Startkapital.            Zuschauertribüne. Wenn Orbán sagt, dass er › 133 mutige
Nachdem 1994 die Sozialisten siegen, unterzieht Or-           Menschen ‹ braucht, dann klingt das, als würde er mehr
bán seine Partei einer radikalen Kursänderung. › Seine        zu sich selbst sprechen als mit ihnen. Er alleine entschei-
Strategie war – rechts von mir darf es niemanden mehr         det, wie dieses Spiel weitergeht.
geben ‹, erinnert sich Erhard Busek von der övp. Davor            Bleiben in Ungarn also nur noch die Medien übrig?
hatten Fidesz-Abgeordnete die Christdemokraten im             Viktória Serdült vom Wochenmagazin hvg hat das Fake-
Parlament abfällig › Kuttenträger ‹ genannt und ihre          News-Gesetz ganz genau gelesen. Sie sagt, dass sie ihre
antisemitischen Untertöne kritisiert. Jetzt plötzlichen       Artikel jetzt noch genauer prüft und sich bei jeder Formu-
spricht die Partei von Heimatliebe und setzt auf natio-       lierung fragt: Könnte mich das ins Gefängnis bringen?
nale Emotionen. Die Verwandlung funktioniert: 1998            Orbán muss die Temperatur im Kochtopf nicht sofort
wird Orbán, damals 35, vier Jahre lang Ungarns jüngs-         hochdrehen. Es genügt, wenn sie weiterhin langsam und
ter Ministerpräsident. Der große Durchbruch folgt             unmerklich steigt. •
aber bei der Parlamentswahl 2010. Orbán wahlkämpft
unter anderem mit dem › Trauma von Trianon ‹. 1920,
nach dem Untergang des Habsburger Reiches, verlor
Ungarn drei Viertel seines Territoriums an die Nach-
barstaaten. Insbesondere die katholische Mittelklasse
aus den ländlichen Gebieten Ungarns trauert um die                             Die Autorin empfiehlt,
verlorenen Landsleute. Orbán will diese Wähler nicht                    die Orbán-Biografie von Paul Lendvai,
der rechtsextremen Jobbik-Bewegung überlassen.                           erschienen 2016. Darin zeichnet der
    Nach dem fulminanten Wahlsieg der Fidesz – sie                    ungarischstämmige Journalist den langen
bekommt 53 Prozent der Stimmen – löst Orbán die                          Weg des Ministerpräsidenten nach.

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