Virtuelle Realität in der Lehre im Fach Psychiatrie und Psychotherapie
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Der Nervenarzt Übersichten Nervenarzt https://doi.org/10.1007/s00115-021-01227-5 Angenommen: 5. Oktober 2021 Virtuelle Realität in der Lehre im © Der/die Autor(en) 2021 Fach Psychiatrie und Psychotherapie Paraskevi Mavrogiorgou1 · Pierre Böhme1 · Vitalij Hooge2 · Thies Pfeiffer2 · Georg Juckel1 1 Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin, LWL-Universitätsklinikum, Ruhr Universität Bochum, Bochum, Deutschland 2 Raumtänzer GmbH, Rheda-Wiedenbrück, Deutschland Zusammenfassung Hintergrund: Ausbildung und Lehre müssen sich den Gegebenheiten insbesondere in Corona-Zeiten anpassen, zumal neue digitale Technologien zur Verfügung stehen. Ärztliche Interaktions- und Explorationstechniken sind die wichtigsten Werkzeuge, die Medizinstudierende im Fach Psychiatrie und Psychotherapie zu erwerben haben. Ziel der Arbeit: Avatare in virtueller Realität (VR) können grundsätzlich alle Krankheitsbilder in unterschiedlichen Schweregraden zu jeder Zeit repräsentieren. Material und Methoden: Im Bochumer Avatar-Explorationsprojekt (AVEX) treten Studierende in den Dialog mit „psychisch kranken“ Avataren und versuchen, unter Anleitung und Supervision Diagnose, Differenzialdiagnose und Behandlungsempfeh- lungen zu erarbeiten. Ergebnisse und Diskussion: Dadurch können die Studierenden auch seltene oder schwere psychiatrische Krankheitsbilder durch VR vermittelt kennenlernen. Dieser Übersichtsartikel stellt erste Erfahrungen insbesondere in Aufbau und Entwicklung sowie bez. der technologischen Herausforderungen dar. Schlüsselwörter Virtuelle Realität · Mixed reality · Lehre · Psychiatrie · Avatare Hintergrund anzutreiben. Vor allem im Bereich der Me- dizin, hier speziell der Psychiatrie und Psy- Die seit nunmehr über einem Jahr die chotherapie, spielt die Nutzung von Tech- Menschheit geißelnde Corona-Pandemie nik und Medien, wie z. B. die verschiedenen scheint den digitalen und medientech- videotechnologischen Methoden zur Auf- nischen Fortschritt in Windeseile zu be- nahme und Darstellung psychopathologi- flügeln. Der Einsatz und Gebrauch neuer scher Verhaltensänderungen, aber auch zu Medien vereinfacht unser tägliches Mit- Lehrzwecken, schon lange eine große Rol- einander, zumal das Virus eine unsichtbare le [5]. Daher verwundert es nicht, dass in und nicht minder lebensgefährliche Barrie- diesem Bereich schon seit einer Reihe von re zwischen uns schafft. Vor allem im Kon- Jahren auch neue technische Verfahren, text unserer Arbeit mit Menschen, die Hilfe wie die VR(„virtual reality“)-Technologie, bedürfen, und dem dazu überaus notwen- zur Diagnostik und Therapie psychischer digen kollegialen Austausch von Informa- Störungen genutzt werden [2, 17]. Trotz- tionen stellen die technischen Möglichkei- dem muss man einschränkend festhalten, ten im Sinne einer „positiven Technologie“ dass bis dato die VR-Technologie sowohl gerade in dieser Zeit der sozialen Distanz- klinisch, wissenschaftlich und als auch als haltung einen immensen Benefit dar [18]. Lehr- und Lernmethode für Studierende Dies wiederum motiviert, die bereits vor- der Medizin sowie Facharztkandidaten kei- handenen Technologien noch effektiver zu ne flächendeckende oder gar etablierte QR-Code scannen & Beitrag online lesen nutzen und weiter in der Entwicklung vor- Vorgehensweise darstellt [13, 14]. In der Der Nervenarzt 1
Übersichten der eingesetzten VR-Technologie, die, z. B. je nachdem, welche Darstellungsform (un- Echte Realität Virtuelle Realität terschiedliche Sichtfelder von Monitoren Gemischte Realitäten vs. VR-Brille) oder ob haptische Geräte ver- (Mixed Reality) wendet werden, in die eine oder andere Richtung beeinflusst werden kann. Der zweite Faktor betrifft die Inter- aktion zwischen Mensch und Computer und umfasst die technischen Möglichkei- ten, die es dem Nutzer ermöglichen, ver- Erweiterte Realität Erweiterte Virtualität bal (z. B. Spracherkennung) oder nonver- (Augmented Reality) (Augmented Virtuality) Realität + virtuelle Virtuelle Welt + reale bal (Bewegungserfassung, z. B. der Finger Objekte Objekte mittels Tracking) mit der künstlichen Welt bzw. virtuellen Umgebung zu interagieren [20]. Abb. 1 8 Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum. (Modell nach Milgram und Kishino [15]) Je überzeugender eine virtuelle Welt dem Nutzer durch die Technik vermittelt folgenden Arbeit soll daher die VR-Tech- „augmented virtuality“ (AV; erweiterte Vir- wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass in nologie hinsichtlich ihrer bisherigen und tualität durch Hinzufügen realer Elemente ihm ein sog. Präsenzgefühl entsteht. Hier- zukünftigen Einsatzmöglichkeiten vor al- wie Personen in die virtuelle Welt, wie z. B. bei bezeichnet Präsenz das Gefühl des lem im Fachgebiet von Psychiatrie und Computerspiele, in denen der Nutzer in Nutzers, in die virtuelle Welt eingebun- Psychotherapie am Beispiel des Bochu- Echtzeit agiert) bis hin zur vollständigen den zu sein [21]. Präsenz kann somit als mer Avatar-Explorationsprojektes („AVEX“) virtuellen Realität (VR) möglich, bei der das subjektive Erlebnis des Nutzers, als ei- als eine nützliche Möglichkeit in der Leh- die reale Welt komplett ausgeblendet ne emotional-kognitive psychophysiologi- re von Medizinstudierenden, aber auch in wird und der Nutzer, z. B. mittels einer sche Reaktion, und nach Roy und Schlem- der Fort- und Weiterbildung von Weiter- VR-Brille, ganz in einer virtuellen Realität miger [20] auch als eine „Wahrnehmungsil- bildungskandidaten und sonst in der Psy- „eintaucht“. lusion“ verstanden werden, da man die chiatrie Tätigen näher dargestellt werden. In einer so digital erzeugten „künstli- dahintersteckende VR-Technik („Mediati- chen Welt“, ob sie „imaginär, symbolisch“ sierung“) nicht mehr wahrnimmt. VR-Methodik und Terminologie ist oder „gewisse Aspekte der realen Welt Gerade in Bezug auf das Präsenzge- simuliert“ [20], soll dem Nutzer die Mög- fühl als eine subjektive Kenngröße, die Unter dem allgemeinen Begriff virtuelle lichkeit gegeben werden „eine sensomoto- durch zahlreiche individuelle Eigenschaf- Realität (VR) werden Erfahrungsräume ver- rische und kognitive Aktivität aufzubauen“, ten des Nutzers, wie z. B. die Bereitschaft, standen, in die Menschen eintauchen kön- die der in realen Situationen entspricht. sich auf die virtuelle Realität einzulassen, nen, die jedoch vollständig synthetisch Nach Roy und Schlemminger [20] ist das aber auch seine diesbezüglichen Erwar- sind und meistens durch einen Compu- als das wesentliche Ziel der VR zu sehen tungen, erscheint eine weitere Differen- ter generiert werden, also digitaler Natur und nicht eine „virtuelle Welt zu erschaffen, zierung, wie bei Roy und Schlemmiger sind. die so realitätsgetreu wie möglich ist“. Um [20] vorgenommen, sinnvoll. Hierbei wird Die weiteren Begriffe „mixed reality“ das Ziel bestmöglich im Sinne realer bzw. zwischen der räumlichen (VR-Objekte wer- bzw. „augmented reality“, die in dem nichtkünstlicher Wahrnehmungserlebnis- den als real erlebt), der sozialen (VR-Figu- Kontext teilweise auch synonym erwähnt se des Nutzers zu erreichen, sind neben ren sog. „Avatare“ vermitteln das Gefühl werden, bezeichnen unterschiedliche Aus- den subjektiven Faktoren des Nutzers u. a. realer sozialer Interaktion), der Selbstprä- prägungen entsprechend dem Realitäts- zwei wesentliche technisch determinierte senz (Nutzer hat eine Vorstellung von sich Virtualitäts-Kontinuum-Modell von Mil- Voraussetzungen von Bedeutung: selbst in der virtuellen Realität) und der gram und Kishino ([15]; . Abb. 1). Milgram Zum einen die sog. Immersion [21], die Handlungspräsenz (Handeln des Nutzers und Kishino [15] gehen vom Oberbegriff als ein Maß der Stärke der Eingebunden- hat einen ihm bewussten veränderten Ein- „mixed reality“ (MR; gemischte Realität) heit des Nutzers in die virtuelle Umgebung fluss auf die virtuelle Realität) unterschie- aus und verstehen darunter die Kombi- verstanden wird. Die Immersion, die un- den [20]. Nach Barbe et al. [2] scheint das nation von realen und digital erzeugten abhängig von subjektiven Aspekten und Erzeugen eines Präsenzgefühls und vor al- (virtuellen) Objekten. Je nach Kombina- Erfahrungen der Nutzer ist, ist umso grö- lem sozialer Präsenz wesentlich zu sein, um tion bzw. Durchmischungsgrad ist ein ßer, je mehr und je stärker die verschie- beim Nutzer in einer immersiven virtuellen kontinuierlicher Übergang von echter denen Wahrnehmungssinne der Nutzer al- Realität psychophysiologische Reaktionen Realität über die „augmented reality“ lein durch die technischen Gegebenheiten auszulösen, die denen in realen Situatio- (AR; erweiterte Realität mittels Ergänzung angeregt werden. Nach Barbe et al. [2] nen entsprechen. Darin begründen sich virtueller Elemente wie z. B. 3-D-Animatio- ist daher die Immersion kein psychologi- auch der Nutzen und die Vorteile der VR- nen über Smartphones), des Weiteren der sches Merkmal, sondern eine Kenngröße Technologien, die es ermöglichen, reale 2 Der Nervenarzt
Situationen in einer virtuellen Welt zu im- gitaler Simulation mit den angstbesetz- Kinder von Kindern mit anderen neurolo- plementieren und zu simulieren sowie da- ten Stimuli (Objekte und/oder Situationen) gischen Erkrankungen vorzunehmen [22]. bei beim Nutzer ein ihm vertrautes, sich konfrontiert werden und sie in der jewei- Interessant erscheint auch der von Barbe real anfühlendes Reaktionsmuster auslö- ligen virtuellen Umgebung dann entspre- et al. [2] dargestellte Einsatz der VR-An- sen. Dies wird insbesondere im Einsatz chend psychopathologisch reagieren. We- wendungen in der forensischen Psychiatrie der VR-Anwendungen in den verhaltens- niger gut gesichert, da insgesamt auch we- zur Diagnostik sexueller Deviationen mit- therapeutisch orientierten Expositionsver- niger bis dato untersucht, ist die Wirksam- tels digitaler Präsentation entsprechender fahren deutlich, auf die weiter unten noch keit der VR-Technologie bei der Behand- Stimuli oder computergenerierter Avatare. eingegangen wird. lung schwerer endogener psychischer Stö- Dennochbedarf es hier weiterer Bemühun- rungen wie z. B. den affektiven Störun- gen, die technischen Möglichkeiten von VR Klinisch-therapeutischer Einsatz gen, Erkrankungen aus dem schizophre- weiterhin auch inhaltlich anzupassen und der VR-Technologie nen Formenkreis, der Demenzen oder auch zu optimieren, sodass zunehmend ihr Ein- bei Substanzabhängigkeit. Zurzeit gibt es satz als ergänzendes diagnostisches Instru- Seit den ersten Einsätzen der VR-Anwen- zwei Cochrane-Metaanalysen zu diesem mentarium im Bereich der Psychiatrie und dungen v. a. zur Behandlung von Ängs- Themenbereich, einmal zur Behandlung Psychotherapie ausgebaut werden könn- ten bzw. Phobien im Zusammenhang mit schizophrener Patienten mit akustischen te. Dabei darf, wie Barbe et al. [2] tref- einer zahnärztlichen Behandlung bereits Halluzinationen durch VR-Methoden und fend formulieren, der hierzu notwendige Ende der 1980er-Jahre (z. B. [16]) konn- einmal über weitere schwere psychiatri- technische wie auch konzeptuell-inhaltli- te durch die stetige Weiterentwicklung sche Störungsbilder wie affektive und psy- che Aufwand nicht unterschätzt werden. der technischen Möglichkeiten VR auch in chotische Störungen [1, 7]. Beide kommen verschiedenen medizinisch-klinischen An- angesichts der derzeit noch nicht ausrei- Einsatz als Lern- und Lehrmethode wendungsgebieten [8–10], vorzugsweise chendenden Datenlage zu dem Schluss, hier als Lernmethode, ausgeweitet wer- dass die VR-Technologie ein interessanter Die Corona-Pandemie und die damit ver- den. Aus Kapazitätsgründen müssen hier Behandlungsansatz für psychische Störun- bundenen gesellschaftlichen Folgen ha- die teilweise spannenden und innovativen gen insbesondere in der Verbesserung be- ben vor allem zur Demaskierung des Nicht- Studien und Berichte (eine aktuelle Über- stimmter kognitiver, emotionaler und so- vorhandenseins digital-technischer Lern- sicht dazu in Yeung et al. [23]) unberück- zialer Funktionen darstellen würde, aber und Lehrangebote nicht nur in den Schu- sichtigt bleiben, zumal auch die Literatur noch längst nicht ausreichend validiert sei. len, sondern auch in der medizinischen zum Einsatz der VR-Anwendungen im Be- Hier sehen Cieslik et al. [3] einen weite- Ausbildung der Universitäten beigetragen. reich von Psychiatrie und Psychotherapie ren Forschungsbedarf und die Notwendig- Gleichzeitig führte dies zur Notwendigkeit indenletzten10 bis 15 Jahrenmassiv ange- keit der Durchführung randomisiert-kon- einer raschen, stärkeren Implementierung stiegen ist. Das zeigt sich auch darin, dass trollierter Studien (RCTs). und Anwendung der schon bereits be- mittlerweile mehrere Übersichtsarbeiten stehenden Technologien im Rahmen des und zuletzt auch Metaanalysen veröffent- Einsatz als diagnostisches Medizinstudiums [14]. Bereits vor der Pan- licht wurden (z. B. [3, 12, 19]). So identifi- Instrument demie haben Kuhn et al. [13] im Kontext zierten Cieslik et al. [3] im Rahmen ihrer ihrer Übersichtsarbeit zu digitalen Lehr- Recherchen in PubMed und Web of Science Auch in Bezug auf den Einsatz von VR-An- und Lernangeboten in der medizinischen nahezu 850 Arbeiten zur Übersicht von VR- wendungen zur Diagnosestellung psychi- Ausbildung auf die Bedeutung der Digitali- Technologien und psychischen Störungen, scher Erkrankungen finden sich bereits ei- sierung hingewiesen und die Empfehlung wobei letztlich nur 70 als Übersichtsarti- nige vielversprechende Berichte. So fassen formuliert, diese als kurrikulären Inhalt im kel in die finale Analyse eingeschlossen Clay et al. [4] in ihrer auf insgesamt 9 Studi- Medizinstudium zu verankern. werden konnten. Die zusammenfassenden en basierenden Übersicht zusammen, dass Hinsichtlich der VR-Anwendungen als Ergebnisse hierbei zeigen den effektiven immersive VR-Anwendungen hilfreich bei Lern- und Lehrmethoden in der Medizin Einsatz von VR-Anwendungen bei der Be- der Identifikation und Differenzierung von finden sich in stetig steigender Zahl posi- handlung verschiedenartiger Schmerzsyn- Patienten mit einer Alzheimer-Erkrankung tive Berichte vor allem in Form digitaler Si- drome, in dem Schmerzpatienten mittels und Patienten mit leichter kognitiver Be- mulationen (z. B. anatomische Sektionen) VR-Brillen z. B. in für sie angenehme, ent- einträchtigung sein können. oder der Verwendung virtueller Patienten spannungsfördernde virtuelle Umgebun- Washington et al. [22] sehen in der di- (=Avatare; [6, 11, 13]). Computerbasierte gen eintauchen oder durch immersive Ani- gitalen Transformation und Implementie- Simulationen und VR-Anwendungen mit mationsspiele abgelenkt werden. Ebenso rung der gegenwärtigen diagnostischen Avataren haben nach Piot et al. [17] nach gut ist auch die Wirksamkeit der VR-An- Klassifikationssysteme eine deutlich bes- ihrer ersten Sichtung von 46.571 Studien wendungen bei der Behandlung spezifi- sere Möglichkeit, Erkrankungen aus dem und der finalen Analyse von 163 Studien scher Phobien und Angstzustände belegt, Autismusspektrum frühzeitig zu identifi- (von denen nur 27 RCTs waren) einen posi- wobei hier in Analogie zu den verhaltens- zieren. Diesbezüglichistes bereits möglich, tiven Lerneffekt bei der psychiatrisch-psy- therapeutischen Expositionsverfahren in anhand der bestehenden VR-Technologie chotherapeutischen Ausbildung von Me- vivo die betroffenen Patienten mittels di- eine Differenzierung autistisch erkrankter dizinstudierenden, aber auch psychiatri- Der Nervenarzt 3
Übersichten scher Professioneller. Die Autoren fassen die zur weiteren Optimierung seiner Lern- neben einem Krankheitsprofil jeweils mit jedoch zusammen, dass trotz der Vielzahl und Explorationsstrategien genutzt wer- einer individuellen Biografie, einem eige- der Veröffentlichungen vor allem in den den würden. Darüber hinaus könnten zum nen Aussehen und individueller Motorik letzten 10 Jahren und aufgrund der He- einen Aspekte der ärztlichen Interaktion auszugestalten (. Abb. 2). Des Weiteren terogenität der Studien nicht davon aus- mit psychiatrisch schwierigen Patienten si- erfolgte das Einpflegen von Fragen, die gegangen werden kann, dass der Einsatz muliert und geübt werden und zum an- im Rahmen einer psychiatrisch-psycho- digitaler Technologie in der psychiatrisch- deren alle beliebigen, aber auch selte- therapeutischen Exploration zur Biografie, psychotherapeutischen Ausbildung als flä- ne Patientenfälle, sodass den Medizinstu- Krankheitsanamnese bezüglich psychi- chendeckend etabliert angesehen werden dierenden Kenntnisse und Fähigkeiten in scher, aber auch somatischer Erkrankun- darf, und hier ein weiterer Optimierungs- der Exploration, Erhebung des psychopa- gen, Medikamenten- und Drogenanamne- bedarf besteht [17]. thologischen Befundes und Diagnosestel- se, Familienanamnese sowie zur aktuellen lung (und ggf. Behandlungsvorschläge) al- Symptomatik und Psychopathologie übli- Bochumer AVEX-Projekt mit ler psychiatrischen Erkrankungen (ICD 10: cherweise gestellt werden. Analog dazu „psychisch kranken“ Avataren F0-9) ermöglicht werden würden. Auch wurden entsprechende allgemeine, aber wenn dies nur eine gewisse Annäherung auch je nach Avatar individuell spezifische Lange vor Corona wurde an der Klinik für an die „echte“ klinische Situation und Pa- Antworten eingegeben und mit den ent- Psychiatrie, Psychotherapie und Präventiv- tienten bedeutet, entkoppelt dieser An- sprechenden Fragen mittels Wahrschein- medizindes LWL-Universitätsklinikums der satz den Studentenunterricht ein stück- lichkeitsarithmetik und Schlüsselwörtern Ruhr-Universität Bochum mit Fördermittel weit von den aktuellen Patientenaufnah- gekoppelt. des Landes NRW für die medizinische Leh- men, sodass Krankheitsbilder kennenge- Die Kernidee des Ansatzes ist es da- re begonnen, „psychisch kranke“ Avatare lernt werden können, die sonst selten in bei, dass die Avatare durch ein Krank- zu erarbeiten und digital zu hinterlegen. den Kliniken zu finden sind oder bei denen heitsprofil individuell konfiguriert werden Da neue Medien und Technologien eine die Patienten so schwer krank sind, dass können und sich die Antworten auf viele immer größere Rolle in der heutigen Ge- sie am Unterricht nicht teilnehmen kön- Fragen dann automatisch aus dem Pro- sellschaft, im Berufsleben und speziell in nen oder wollen. Zudem würden anders fil über ein Wahrscheinlichkeitsmodell ab- der Medizin spielen, jedoch digitale Kom- als bisher, neuropsychologische Testver- leiten lassen. So muss der Lehrende nur petenzen im Medizinstudium bislang nur fahren, Persönlichkeitsdiagnostik und ggf. noch das Profil umkonfigurieren, um einen wenig vermittelt werden, bestand das Ziel auch basale psychotherapeutische Stra- neuen, interessanten Avatar-Patienten zu hier darin, für das Fach Psychiatrie und Psy- tegien mit integriert, simulierend gelernt modellieren. chotherapie digitale Anwendungen in der und geübt werden können. Studierende Die momentane Version erlaubt es dem VR und telemedizinische Strukturen, sprich sollen also zusammenfassend bei AVEX Nutzer, in einer immersiven virtuellen Ex- das Diagnostizieren und Behandeln elek- Folgendes lernen: (1) das Explorieren von plorationssituation den Avatar-Patienten tronisch aus der Ferne, als „Medizin der und Üben mit Krankengeschichten, Befun- bez. biografischer und krankheitsbezoge- Zukunft“ in die Lehre zu integrieren und de und Behandlungskonstellationen „tra- ner Aspekte zu befragen und einen nosolo- entsprechende Fertigkeiten zu vermitteln. genden“ Avataren; (2) die Einschätzung giespezifischen psychopathologischen Be- Dabei sollten spezifische Fertigkeiten für ihres eigenen Tuns durch Rückmeldung fund zu erheben, sodass eine diagnosti- dieses Fach durch Simulation in der virtuel- analysierter Daten von ihnen selbst (Sät- sche Einschätzung erfolgen kann. Am En- len Realität mit der grundsätzlichen Mög- ze, Worte usw. sowie Biometrie) und (3) die de der Exploration/Trainingseinheit erfolgt lichkeit der nichtbegrenzten, zeitlich si- Durchführung diagnostischer und psycho- digital der Abgleich mit dem hinterleg- multan vorhandenen psychiatrischen Fälle therapeutischer Gespräche in der VR zum ten Befund und der Diagnose, sodass der und ihrer diagnostischen und/oder thera- Training insbesondere verbaler Behand- Nutzer unmittelbar ein Feedback erhält peutischen Komplexität besser erworben lungsformen mit anschließender Erfolgs- (. Abb. 2). und trainiert werden können. Das Trai- kontrolle. Das FluxTMS ist dabei mehrbenutzerfä- ning explorativer und diagnostischer Fä- Für die konzeptuelle Entwicklung der hig, sodass mehrere Trainingssimulationen higkeiten könnte somit deutlich leichter, psychisch kranken Avatare war es zu- mit verschieden konfigurierbaren Avata- unproblematischer und gesteuert nach In- nächst erforderlich, diese sowohl psy- ren parallel durchgeführt und umfangreich tensität und Komplexität in der virtuel- chopathologisch (gemäß AMDP) als auch protokolliert werden können. So einfach len Realität mittels programmierter Avat- diagnostisch entsprechend den aktuellen wie auch plausibel sich diese Projektbe- are als „Träger“ bestimmter Krankheits- diagnostischen Klassifikationssystemen schreibung liest, so überraschender war konstellationen und bestimmter klinischer (ICD-10, DSM-5 und ICD-11) zu skizzie- die Erkenntnis, dass trotz technischer Er- Situationen erfolgen. Gleichzeitig könnte ren und im weiteren Schritt diese Daten rungenschaften die Realisierung weitaus durch digitale Aufzeichnung dem Üben- in das von den Informatikern eigens aufwendiger sowohl personell, finanziell den ein großes Set von Rückmeldungen entwickelte Flux-Trainings-Management- als auchzeitlichausfiel, als ursprünglichan- (Fragestrategie, Wortwahl, Körperhaltung System (FluxTMX) zu implementieren. genommen. Neben der Spracherkennung usw.) einschließlich Biometrie (z. B. HF, RR, Dieses Programm ermöglicht darüber hi- und Sprachproduktion bestand die haupt- Hautwiderstand usw.) gegeben werden, naus, verschiedene Avatare (= Charaktere) sächliche Problematik darin, ein flexibles, 4 Der Nervenarzt
optimiert und evaluiert werden. Die größ- te Herausforderung ist hierbei, dass ein flüssiger Dialog entsteht. Zum funktionie- renden Dialog braucht es daher eine sehr gut funktionierende und schnelle Sprach- erkennung, damit der Computer im Hinter- grund die Fragen der Untersuchenden ver- stehtund diepassendenAntworten ausge- ben kann. Um die Avatare auch körperlich überzeugend darstellen zu können, sind diese nach der Programmierung des logi- schen Grundgerüsts aufwendig visualisiert worden. Je nachdem, welche psychischen Probleme die Avatare repräsentieren, soll dies auch durch ihre Körpersprache reprä- sentiert werden. Sie können im Gespräch sitzen, stehen, liegen oder herumlaufen. Auch ihre Mimik soll dem geübten Be- obachter Aufschluss über die zugrunde liegende Erkrankung geben können. Den Studierenden soll vor allem nicht lang- weilig werden. Angesicht der Welten, die im Freizeitbereich die Spielindustrie bietet, muss das Angebot für die Studierenden Abb. 2 8 Psychisch kranke Avatare. a Eintritt in den virtuellen Praxisraum, in dem sich die Avatar-Pa- tientin schon befinden. Durch das Tippen des Mikrofon-Buttons können die Fragen gestellt werden. anspruchsvoll sein und die Neugier auf Neben den Antworten ist der Avatar auch hinsichtlich seiner Motorik beurteilbar. b Durch das Tippen die Begegnung mit den virtuellen Patien- auf das Display des Laptops auf dem Tisch öffnet sich ein Menü. Der Nutzer kann mithilfe der Buttons ten wecken. Dafür sind die Avatare mo- unten im Menü auf die verschiedenen Tabs (Patientenakte, Notieren der psychopathologischen Items, dular aufgebaut worden, sodass sich der Diagnose) wechseln. Nach Absenden der Diagnose wird dem Nutzer die „korrekte“ im TMShinterlegte Schwierigkeitsgrad der Exploration variie- Diagnose angezeigt. Zudem erfolgt ein Abgleich seiner notierten Merkmale (im Sinne eines psycho- pathologischen Befundes) mit dem für den entsprechenden Avatar-Patienten zugewiesenen und im ren lässt. Der ausgewählte Avatar stellt eine TMS hinterlegten Befund bestimmte psychiatrische Diagnose oder Behandlungssituation dar. Wie die Studie- renden aber dahin kommen, welche Fra- aber gleichzeitig spezifisches Explorations- fühlen Sie sich von diesen gesteuert?“ be- gen sie genau stellen, ist nicht festgelegt, programm zu entwickeln, einerseits ba- stand nun aufgrund des Wahrscheinlich- das ist das, was sie dann unter Anleitung sierend auf den von den Informatikern keitsalgorithmus anfänglich die Problema- und Supervision zu lernen haben. hinterlegten Wahrscheinlichkeitsalgorith- tik, dass sowohl Lara B. als auch Paul W. men, andererseits die alltägliche psychia- mitjeweils 50 %iger Wahrscheinlichkeit die Schlussfolgerungen und trische Realität bestmöglich abbildend. Die nicht für sie nosologiespezifische falsche Perspektiven Schwierigkeit der Zusammenführung die- Antwort wählten. Die durch die hinter- ser beiden unterschiedlichen, aber jeweils legten auf Wahrscheinlichkeit basierenden Virtuelle Realität hat sich in der Medizin notwendigen Ziele zeigt sich im folgenden Algorithmen bedingte Flexibilität musste durchgesetzt. Sie ist daher für den klini- konkreten Beispiel. Unsere weibliche Avat- für einen Teil der psychopathologischen schen Einsatz im Rahmen von Psychiatrie arin Lara B. (geb. am 04.07.1994) mit der Merkmale, die richtungsweisend für eine und Psychotherapie relevant und auch für Diagnose einer paranoiden Schizophre- psychiatrische Diagnose sind, aufgegeben Fort- und Weiterbildung sowie Lehre inter- nie leidet neben einem systematisierten werden. Flexibilität, aber auch eine „spezi- essant. Das Bochumer AVEX-Projekt zeigt Beziehungs- und Beeinträchtigungswahn fische“ Individualität sowohl auf der Seite erste wichtige Erkenntnisse für Aufbau und unter dialogisierenden und kommentie- des Nutzers als auch auf der der Avata- Nutzung solcher VR-Lernprogramme auf. renden Stimmen. Dieses psychopathologi- re scheinen durch die mögliche Durchmi- Insbesondere die modulare Anlage von sche Merkmal findet sich jedoch nicht bei schung und Kombination eine große Her- AVEX bez. Inhalten und Schwierigkeitsgra- unserem Avatar Paul. W (geb. 17.08.1959), ausforderung zu sein, der man zukünftig den ist didaktisch wertvoll und für den der unter einer rezidivierenden depressi- jedoch zunehmend besser gerecht werden Studenten, wie erste Erfahrungen zeigen, ven Störung, gegenwärtig schwere Episo- muss. Bis jetzt sind Avatare aller psychi- anregend und lehrreich. Ziel wird es sein, de ohne psychotische Symptome, leidet. atrischen Hauptkrankheitsbilder entstan- dass insbesondere im Bereich der auch Auf die Frage „Hören Sie fremde Stim- den, die gegenwärtig bez. ihrer Tauglich- Corona-bedingten digitalen Lehre der Un- men, obwohl keiner in Ihrer Nähe ist, und keit für den Studentenunterricht geprüft, terricht in der virtuellen Realität regelmä- Der Nervenarzt 5
Abstract ßig stattfindet und im VR-Labor, aber auch Virtual reality in teaching of psychiatry and psychotherapy at medical von zuhause den Studierenden erlauben school wird, Patienten mit verschiedenen, aber auch schweren Krankheitsbildern kennen- Background: Since the COVID-19 pandemic medical training and teaching have zulernen und ihre Explorationstechniken to adapt to the new circumstances, especially as new digital technologies become zu üben, die sonst im normalen Unterricht available. Physician’s interaction and exploration techniques are among the most important tools that medical students have to acquire in psychiatry and psychotherapy. nur selten oder auch gar nicht mitwirken. Objective: Virtual reality (VR) avatars can basically represent all syndromes in varying degrees of severity at any time. Fazit für die Praxis Material and methods: In Bochum’s avatar exploration project (AVEX), students enter 4 Der Einsatz von VR und Avataren, die psy- into dialogues with “mentally ill” avatars and, under guidance and supervision, try to chiatrische Krankheiten und Fragestellun- work out the diagnosis, differential diagnoses and treatment recommendations. gen repräsentieren, erweitern und verbes- Results and discussion: This allows students to learn about rare or severe psychiatric sern Lehre. conditions presented in VR. This review article presents first experiences especially in 4 Nicht nur in Pandemiezeiten können hier- durch eher seltene und schwergradige setting up and development as well as regarding the technological challenges. Störungsbilder kennengelernt und ver- tieft werden. Keywords 4 Der Einsatz von VR fördert das Üben von Virtual reality · Mixed reality · Education · Psychiatry · Avatar Explorationstechniken im Rahmen der ärztlichen Interaktion bei allen Medizin- studierenden. chem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die 6. Dedeilia A, Sotiropoulos MG, Hanrahan JG et al 4 Hierdurch wird der zentrale Stellenwert ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsge- (2020) Medical and surgical education challenges des Faches Psychiatrie und Psychothera- mäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz and innovations in the COVID-19 era: a systematic pie in der ärztlichen Ausbildung geför- beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenom- review. In Vivo 34(3 Suppl):1603–1611. https://doi. dert. men wurden. org/10.21873/invivo.11950 7. Dellazizzo L, Potvin S, Luigi M, Dumais A (2020) Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Evidence on virtual reality-based therapies for Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten psychiatric disorders: meta-review of meta- Korrespondenzadresse Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil- analyses. J Med Internet Res 22(8):e20889 dungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be- 8. Georgiev DD, Georgieva I, Gong Z et al (2021) Prof. Dr. Georg Juckel treffende Material nicht unter der genannten Creative Virtualrealityforneurorehabilitationandcognitive Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung enhancement. Brain Sci 11(2):221. https://doi.org/ Präventivmedizin, LWL-Universitätsklinikum, nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für 10.3390/brainsci11020221 Ruhr Universität Bochum die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Ma- 9. Gurgitano M, Angileri SA, Roda GM et al (2021) Alexandrinenstr. 1, 44791 Bochum, terials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers Interventional radiology ex-machina: impact of Deutschland einzuholen. artificial intelligence on practice. Radiol Med 16:1–9. https://doi.org/10.1007/s11547-021- georg.juckel@lwl.org Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der 01351-x Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/ 10. Huang VW, Jones CB, Gomez ED (2020) State of the licenses/by/4.0/deed.de. art of virtual reality simulation in anesthesia. Int Anesthesiol Clin 58(4):31–35. https://doi.org/10. Danksagung. Wir sagen Simon Vanscheidt und 1097/AIA.0000000000000298 Nadine Pfeiffer-Leßmann Danke für ihre Unterstüt- 11. IwanagaJ, KamuraY, NishimuraYetal(2021)Anew zung. Herrn Studiendekan Prof. Thorsten Schäfer der Literatur option for education during surgical procedures Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum and related clinical anatomy in a virtual reality danken wir herzlich für seine stetige Förderung workspace. Clin Anat 34(3):496–503. https://doi. 1. Aali G, KariotisT, ShokranehF(2020)Avatartherapy dieses Projekts. org/10.1002/ca.23724 for people with schizophrenia or related disorders. Cochrane Database Syst Rev 5:CD11898. https:// 12. Kılıç A, Brown A, Aras I et al (2021) Using Förderung. Hochschulpakt III seitens des Landes doi.org/10.1002/14651858.CD011898.pu virtual technology for fear of medical procedures: NRW an die Ruhr-Universität Bochum zur Förderung 2. Barbe H, Siegel B, Müller JL et al (2020) Welches Po- a systematic review of the effectiveness of virtual der medizinischen Lehre. tenzial haben virtuelle Realitäten in der klinischen reality-based interventions. Ann Behav Med. und forensischen Psychiatrie. 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