Der Arzt - ein Auslaufmodell?

 
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Der Arzt - ein Auslaufmodell?
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           Der Arzt – ein Auslaufmodell?
           Thomas F. Lüscher
           Klinik für Kardiologie, Herzkreislaufzentrum, UniversitätsSpital Zürich und Institut für Physiologie, Kardiovaskuläre Forschung,
           Universität, Zürich

           «Ärzte […] sind nicht mehr als Hauptakteure staatli-                     tete sich der Ärztestand im 18. Jahrhundert durch die
           cher Gesundheitsfürsorge gefragt, sondern werden als                     Erfolge der naturwissenschaftlichen Medizin die
           abhängige Mitwirkende im grossen wirtschaftlichen                        Glaubwürdigkeit, die ihn zu einer Stütze der moder-
           Verteilspiel eingesetzt.» Paul U. Unschuld 2005 [1]                      nen Gesellschaft machen sollte. Durch die Erfolge der
                                                                                    Chirurgie, aber auch der Hygiene, Impfungen und spä-
           Ist der Arzt in der Medizin zum Fremdling geworden,                      ter der medikamentösen Therapie im 19. und 20. Jahr-
           wie es Paul U. Unschuld, der Direktor des Instituts für                  hundert, wurden vorab bedeutende Ärzte zu den Hel-
           Geschichte der Medizin an der Ludwig-Maximilian-                         den der Zeit, zu den heute geschmähten Göttern
           Universität in München, vermutet? Die sich auswei-                       in Weiss. Grosse Ärzte wie Edward Jenner, Rudolf
           tende Entmündigung des Arztes, Unschuld nennt es De-                     Virchow, Louis Pasteur, Robert Koch, Hermann von
           professionalisierung, lässt sich in der Tat nicht verken-                Helmholtz und später Willem Einthoven, Alexander
           nen: Was einst als freie Entscheidung des Arztes vom                     Fleming, Jonas Salk und Andreas Grüntzig (Abb.1)
           Patient erwartet und vom Staat einem Freiberufler zu-                    machten Entdeckungen, die die Medizin zu einer wis-
           gestanden wurde, wird heute durch Facharzttitel, Fä-                     senschaftlich begründeten und beeindruckend wirksa-
           higkeitszeugnisse, Guidelines [2], ethische Richtlinien                  men Heilkunst werden liessen. Zunehmend konnte
           entsprechend legitimierter Institute, Krankenkassen-                     ärztliches Handeln durch unbestreitbare Erfolge über-
           auflagen [3], gesetzliche Verordnungen und in der Folge                  zeugen – und das war das Entscheidende. Nicht die
           einer wuchernden Administration mehr und mehr ein-                       Falsifikation als solche, wie Sir Karl Popper meinte [4],
           geengt. Was es zu untersuchen und verordnen gilt, kann                   macht den Unterschied von Wissen und Glauben aus,
           der heutige Arzt kaum noch frei entscheiden, will er sich                vielmehr ist es die Überzeugungskraft der praktischen
           nicht mit den zahllosen nichtärztlichen Entscheidungs-                   Folgen einer Theorie. Wieso glauben wir an Bakterien?
           trägern, die heute des Gesundheitswesen bestimmen,                       Weil Antibiotika die Infektionskrankheiten besiegen.
           anlegen – kurz, er wird vom selbstständigen Gestalter
           zum gelenkten Vollstrecker einer gesamtgesellschaftlich
           verordneten Medizin.                                                      Korrespondenz:
                                                                                     Prof. Thomas F. Lüscher, F.R.C.P.
                                                                                     Direktor, Klinik für Kardiologie
           Das Bild des Arztes
                                                                                     UniversitätsSpital Zürich
                                                                                     Rämistrasse 100
           Ist das das Bild, das wir heute von uns haben müssen                      CH-8091 Zürich
           und wenn ja, wie ist es dazu gekommen? Nach be-                           cardiotfl@gmx.ch
           schwerlichen Anfängen als Bäder und Scherer erarbei-

           Abbildung 1
           Berühmte Ärzte, die mit ihren Entdeckungen die Medizin bewegten: (A) René Laenec (1781–1826); (B) Robert Koch (1843–1910), der Entdecker
           der Tuberkulose- und Milzbranderreger; (C) Norman Shumway (1923–2006), der die Herztransplantation entwickelte; (D) Andreas R. Grüntzig
           (1939–1985), der Erfinder der Ballondilatation von Gefässen; (E) Robin Warren (*1937) und (F) Barry Marschall (*1951),die Entdecker von
           Helicobacter pylori und Nobelpreisträger 2005.

                                                                                                    Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190    185
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           Wieso überzeugt uns die Vorstellung der Ischämie als      nössischen Leistungskommission bewilligt und zuletzt
           Todesursache? Weil die Eröffnung eines Herzkranzge-       von den Krankenkassen anerkannt werden, bevor der
           fässes Leben rettet.                                      praktisch tätige Arzt eine Vergütung erwarten kann –
                                                                     der Preis ärztlichen Handelns wurde bestimmend.
           Selbsterschaffenes                                            Ob wir mit dem Verfügbaren auch das Richtige
                                                                     tun, bestimmen heute nicht unser Wissen und Gewis-
           Die Ärzte – und dies ist entscheidend – schufen vor       sen, vielmehr Guidelines Committees, Vereine für Out-
           Zeiten selbst das Wissen, das ihr Handwerk be-            comes Research und das Bundesamt für Gesundheit,
           stimmte. Entsprechend war der Unterschied zwischen        das hilflos und ohne Mittel ärztliche Qualität zu be-
           Ärzten in der Praxis und an Instituten und Kliniken       stimmen sucht [9]. Selbst die Politik fühlt sich heute
           geringer als heute. Als Robert Koch kurz nach seinem      berufen, das Richtige in der Medizin zu verkünden:
           Examen 1872 zum Physikus des Kreises Bromst mit           Wenn CVP-Präsident Darbellay vollmundig erklärt,
           Praxis in Wollstein ernannt wurde, widmete er sich        seine Partei stehe nur für sinnvolle Medizin ein [10],
           neben seiner ärztlichen Tätigkeit seiner Neigung fol-     fragt man vergeblich nach seiner Legitimation. Weder
           gend der Erforschung des Milzbrandes, der das Vieh        er noch seine rührigen Mitstreiterinnen, die ihn an der
           der Bauern der Gegend regelmässig befiel und an wel-      Pressemitteilung begleiteten, haben wohl je an einem
           chem auch seine Patienten erkrankten. Vier Jahre spä-     Krankenbett gestanden. Dieser kleine Unterschied
           ter beschrieb er die Sporen des Milzbranderregers         hindert die wackeren um mediale Aufmerksamkeit be-
           (Abb. 1) [5] – die Forschung speiste sich aus Erfahrun-   sorgten Politiker aber keinesfalls daran, entschieden
           gen der täglichen Arbeit am Patienten. Selbstver-         mitzureden.
           ständlich bestimmten die Schöpfer des Wissens selbst          In der Forschung hat die Regulierung nicht weni-
           die praktische Verwendung des neu Entdeckten. So          ger um sich gegriffen. War einst der gesunde Mensch-
           auch René Laenec (Abb. 1), als er 1816 erstmals aus       verstand leitend, gehören heute ganze Antragsordner
           Ekel vor seinen verschwitzten Tuberkulosepatienten        zum Alltag jeden Forschers – Kafka hätte seine helle
           mit einer Papierrolle die Lungen abzuhören begann         Freude gehabt. Was dem erfahrenen Hundehalter
           und bemerkte, wie ohrnah und deutlich die Lungenge-       nicht erspart bleibt, muss heute auch ein bekannter
           räusche seiner Patienten zu hören waren – das Ste-        Forscher über sich ergehen lassen: Kurse und Zertifi-
           thoskop, das er in der Folge entwickelte, benutzen wir    zierung sind derzeit wichtiger als ein Leistungsausweis
           noch heute [6].                                           und Talent. Der Zeitverlust ist das eine, die Behinde-
               Andreas Grüntzig schliesslich war es vielleicht als   rung der Innovation das zweite. In der Regel muss man
           Letztem in Zürich vergönnt, ohne den Ratschluss eines     heute Monate rechnen, bis man mit der Arbeit begin-
           ethischen Komitees und ohne Unterstützung durch           nen kann. Kleine Anpassungen des Forschungsplans
           den Schweizerischen Nationalfond – dessen Rat der         brauchen eine weitere Runde, der «quick and dirty
           Weisen sein Ansinnen zunächst ablehnte –, einen he-       look», mit dem jede kreative Arbeit beginnt, ist heute
           roischen Ersteingriff zu machen, der die Medizin ver-     ausgeschlossen. In der Schweiz, einem Land, in wel-
           ändern sollte [7]. Das mündliche Einverständnis des       chem besondere Strenge herrscht, lassen sich gewisse
           ersten Patienten Adolf Bachmann und seine Zuver-          Projekte nicht mehr umsetzen; nicht nur Grüntzig
           sicht, dass sein Arzt sein Wohl im Auge hatte, waren      hätte heute seine Mühe, auch einfache klinische Fra-
           damals genug [8].                                         gen lassen sich nicht ohne weiteres untersuchen, aber
                                                                     als Mulitzenter-Studie im New England Journal of Me-
           Zunehmende Beengung                                       dicine publizieren [11]. Ob all diese Regulierungen ir-
                                                                     gendeinem Patienten etwas nützen oder nicht, viel-
           Können wir solches für uns heute noch in Anspruch         mehr den Juristen, Politikern und Gesetzgebern ein
           nehmen? Natürlich entscheiden auch heute noch Ärzte       Arbeitsfeld verschaffen, sei dahingestellt – die zukünf-
           über Bedeutendes, doch sind wir zunehmend fremdbe-        tige Medizin behindern sie allemal. Zuviel Ethik kann
           stimmt. Was uns therapeutisch zur Verfügung steht,        durchaus auch unethisch sein.
           haben vorgängig die SwissMedic, die Eidgenössische
           Leistungskommission oder das entsprechende Bun-           Die goldenen Zeiten
           desamt und zuletzt die Krankenkassen festgelegt. In
           ihren Entscheidungen haben sie sich in der Regel auf      Trotz aller Klagen geniessen auch heute Ärzte noch An-
           internationale Guidelines bedeutender Gesellschaften,     erkennung, zumal von den Patienten, die sie behan-
           auf Systematic Reviews selbsternannter Experten,          deln. Als Stand aber – von Standesberuf wagen wir
           Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizi-      kaum noch zu reden – haben die Mediziner erschre-
           nischen Wissenschaften, auf das National Institute of     ckend an Bedeutung eingebüsst.
           Clinical Excellence des Vereinigten Königreichs oder          Als erstes bekamen die Hausärzte den Geist der
           ihr Bauchgefühl (gemeinhin common sense genannt)          Moderne zu spüren. Zunächst noch war alles anders:
           gestützt. Was vergütet wird, muss erst von der Eidge-     Als der Vater des Schreibenden eine Praxis im Kreis 6

                                                                                  Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190   186
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           der Stadt Zürich eröffnete, war der Arzt noch jemand,       Abbildung 2
                                                                       Stufen Evidenz-basierter Medizin (aus [2]: Lüscher TF, Abetel G. Guide-
           den man – wie einst in Yonville Dr Charles Bovary, den
                                                                       lines: Evidenz als Dreh- und Angelpunkt. Schweizerische Ärztezeitung.
           umtriebigen Apotheker Homais und den Lehrer des             2009;90:1691–95. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
           Dorfes [12] – beachtete. Selbst der Sohn, zu jenem Zeit-
           punkt ohne jede eigene Leistung, spürte die Anerken-
           nung, die dem Vertreter der Heilkunst entgegenge-
           bracht wurde. Und dies mit Recht: Nicht nur war der
           Hausarzt jederzeit für seine Patienten da, er durfte
           und konnte auch noch die meisten Probleme selber
           lösen. Gewiss, die Möglichkeiten waren beschränkter.
           Doch ein beherzter Hausarzt konnte noch vieles selber
           richten. Von Laboruntersuchungen über Röntgenbilder
           bis zum Einstellen und Gipsen von Knochenbrüchen,
           Schwangerschaftskontrollen und Geburten sowie chi-
           rurgischen Eingriffen kleinerer Art lag alles in seinen
           Händen – und dies verschaffte ihm die Anerkennung,
           von der er lebte.
                Auch das Einkommen war im Quervergleich
           durchaus angemessen. Die damals tätigen Ärzte muss-
           ten nicht den Vergleich mit den astronomischen Ge-          blieb ein wichtiger Prüfstein, doch anders als zu Ro-
           hältern der heutigen Banker und Manager bestehen.           bert Kochs Zeiten wurde der praktische Arzt zum Leser
           Kurz, die Stellung des Hausarztes war gut, ja benei-        des Wissens, das andere schufen; ja, die klinische Er-
           denswert. Was er tat, hielt er für richtig, bei seinen      fahrung, obwohl im Alltag unabdingbar, wurde zuneh-
           Entscheidungen war er seinem Gewissen verpflichtet,         mend auf die unterste Stufe der medizinischen Evidenz
           und das war nicht das Wenigste. Die Patienten jeden-        verwiesen (Abb. 2).
           falls schätzen seine strenge Art, seine Sicherheit im           Die das Wissen schufen und weiterhin erschaffen,
           Handeln und seinen unbeschränkten Einsatz für ihr           sind in zunehmendem Masse der Praxis entfremdet:
           Wohl – und gönnten es ihm durch unbeschränkte An-           Trialists, die kaum mehr Patienten sehen, Epidemio-
           erkennung.                                                  logen mit statistischem Sachverstand, aber ohne klini-
                Den Chefärzten ging es nicht schlechter: Sie stan-     schen Bezug, Molekularbiologen und Genetiker, die
           den an der Spitze der Gesellschaft und erhielten für        akribisch Mäuse behandeln, haben heute das Sagen.
           ihren unermüdlichen Einsatz die Anerkennung, die sie        Die Nobelpreisträger der letzten 20 Jahre sind, mit
           suchten. Gewiss, nicht alle Vertreter dieser Klasse         Ausnahme von Ferid Murad und wenigen anderen,
           waren einfache Gemüter, doch stand man ihnen Kom-           Grundlagenforscher und nicht praktisch tätige Ärzte
           petenz und Können zu. Auch wusste man noch, dass es         [16].
           Persönlichkeiten und nicht Institutionen sind, die die          Gewiss, es gibt Ausnahmen, Ärzte, die durch eine
           Medizin bewegen. Die Götter in Weiss wurden nicht           jahrelange Weiterbildung Forschung und Klinik zu-
           missgünstig beäugt, sie waren vielmehr Vorbilder für        sammenzuhalten verstehen und dies in beachtenswer-
           den Nachwuchs und die Gesellschaft.                         ten Fällen auch erfolgreich tun. Doch diese Clinical-
                                                                       Investigators, obgleich eigentlich ein wirklicher Bedarf,
           Modern times                                                werden zum Nachteil der ärztlichen Kunst immer
                                                                       mehr zu Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
           Heute scheint vieles anders: Der ärztliche Handlungs-
           spielraum erhielt beengende Schranken. Zunächst mit         Ein Tummelfeld für alle
           Recht – was sich für eine Wissenschaft hält, kann nur
           eine Wahrheit zulassen [13]. Die Evidenz-basierte Me-       Medizin betreibt heute ein jeder: Gesundheit ist zum
           dizin, wie sie sich in den 1970er Jahren ausbildete [14],   Auftrag aller geworden. Hoteliers sorgen sich um un-
           wollte sicherstellen, dass Evidenz, somit überprüftes       sere Wellness und Entspannung von Stress, Personal
           Wissen, die Grundlage ärztlichen Handelns bilde und         Trainers erhalten die Fitness für unsere alten Tage,
           nicht Glauben und Meinungen [15]. Mit dem Fort-             Masseure und Physiotherapeuten kurieren unseren
           schritt der Medizin liess sich solches Wissen kaum          verspannten Körper, Apotheker messen den Blutdruck
           mehr in der eigenen Praxis gewinnen, naturwissen-           und verschreiben Over-The-Counter, Diätassistentin-
           schaftliche Erkenntnisse mussten vermehrt in mole-          nen sorgen für die rechte Ernährung und Psychologen
           kularen Labors, dann durch Epidemiologen in grossen         behandeln Lebenskrisen und Alltagsprobleme. Selbst
           Kohorten, durch Trialists in klinischen Versuchen,          im eigenen Betreuungsteam meldet sich die Emanzi-
           schliesslich auch in Metaanalysen und «systematic re-       pation: Schwestern, heute politisch korrekt Pflege-
           views» erhoben werden. Gewiss, die eigene Erfahrung         fachkräfte genannt, beginnen, wie in den USA üblich,

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           Hypertoniker, Herzinsuffiziente und Diabetiker zu be-                schen Materials und Ethiker sagen, was rechtens ist.
           handeln; Forschung wird nicht nur von Medizinern,                    Dabei handelt es sich – so hören wir – durchwegs um
           sondern auch von Paraprofessionals betrieben. Die                    erfahrene Experten, Leute also, die ihr Fachwissen
           Universität Basel weist mit Stolz ein Institut für Pfle-             auszuweisen vermögen und sich um die Zukunft von
           gewissenschaften aus, die European Society of Cardio-                uns allen sorgen –, bloss an einem Krankenbett oder
           logy gibt gar ein European Journal of Cardiovascular                 in einem Forschungslabor standen die meisten dieser
           Nursing heraus. Kurz: Der Arzt wird im sich auswei-                  Experten selten oder nie.
           tenden Gesundheitsmarkt vom bewunderten Kämpfer                          Auch die Ausdehnung des Machbaren ist nicht nur
           zu einem unter vielen.                                               Teil des Erfolgs der modernen Medizin, vielmehr auch
                                                                                ihr Problem: Mit den steigenden Möglichkeiten ent-
           Erfolg als Falle                                                     standen neue Probleme und Risiken und damit der Be-
                                                                                darf nach Regulierung und Kontrolle. Eine Medizin,
           Der Erfolg der Medizin wurde uns Ärzten zur Falle:                   die Tote aufzuwecken versteht, schafft mehr Fragen
           Die steigenden Kosten, die sich mit dem Fortschritt                  nach ihrem Sinn als Kräuterärzte und Naturheil-
           und immer beeindruckenderen Geräten und wirksa-                      kundler. Wer Organe transplantiert, greift tiefer in un-
           meren Behandlungen ergaben, machten den uneinge-                     sere Weltsicht ein als Ärzte der Vergangenheit. Wer
           schränkten Einsatz der Möglichkeiten zum Problem.                    schliesslich überzählige Embryos schafft, Gene verän-
           Jeder Fortschritt über das bisher Erreichte hinaus                   dert und Stammzellen verwendet, muss sich den Fra-
           wurde über die Massen teuer – und dies rief entgegen                 gen der Gesellschaft stellen.
           unseren Wünschen die Ökonomen, Betriebswirtschaft-
           ler und Verwalter auf den Plan. Kosten-Nutzen-                   Kafkaeskes
           Analysen standen plötzlich zwischen Arzt und Patient
           und erschwerten in unerwartetem Ausmass unser                    In Franz Kafkas «Schloss», geschrieben 1922, lesen wir
           Handeln.                                                         von den erstaunlichen Erlebnissen des wackeren Land-
                Früher war dies gewiss anders, man hatte selber             vermessers K., der spätabends, und erschöpft von der
           zu bezahlen; Sozialversicherungen sind eine Erfindung            langen Reise, im verschneiten Dorf am Fusse des in
           der Moderne, ohne Zweifel ein Segen für die Mittello-            Nebel gehüllten Schlossbergs eintraf, um seine neue
           sen. Doch mit dem Sozialstaat kam auch die Kontrolle:            Stelle anzutreten. Im Wirtshaus will er eine erste Un-
           Wenn alle gemeinsam zahlen, wollen alle mitreden –               terkunft erlangen [19]. Der späte Gast muss aber bald
           Solidarität hat ihren Preis. Mitreden will heute ein             erkennen, dass er entgegen den Vereinbarungen nicht
           jeder, nicht nur, wenn es ums Zahlen geht. Die demo-             erwartet wird; nach unergiebigen Telefonaten ins
           kratischen Gesellschaften haben im Zuge von Jürgen               Schloss muss er sich fürs Erste auf einem Strohsack
           Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns [17]               zur verdienten Ruhe legen, nur um zu entdecken, dass
           auch ethische Entscheidungen zur Sache wohlausge-                er nicht einmal über eine Erlaubnis zum Übernachten
           wogener Gremien erhoben. Heute gibt es keine ärztli-             verfügt, eine Erlaubnis, die sich auch am nächsten Tag
           che Ethik mehr, vielmehr sitzen in Ethikkommissionen             nicht einfach einholen lässt; ja, die übermächtige und
           Vertreter aller Gesellschaftsschichten wie Hausfrauen,           zugleich unsichtbare Schlossverwaltung lässt ihn ins
           Patientenvertreter, Juristen, pro-
           fessionelle Ethiker und – wenn es       Abbildung 3
           sich nicht vermeiden lässt – auch       A Franz Kafka (1883–1924), Schriftsteller und Verwaltungsjurist bei der Prager Arbeiter-Unfall-
           einige Mediziner. Für die Teil-         versicherung und Autor des Romans «Das Schloss».
           nahme am Diskurs ist nicht das ei-      B Das Schloss Neferatu, unweit des Sanatoriums, in welchem sich Kafka 1921 unmittelbar vor
           gene Wissen und Gewissen bestim-        der Niederschrift des Romans erholte.

           mend, vielmehr die Herkunft aus
           verschiedenen gesellschaftlichen
           Bereichen: Beamte der Bundesäm-
           ter, Vertreter der Krankenkassen,
           Finanzchefs der Spitäler und be-
           rufsmässige Ethiker sind nun für
           die Gesundheit gefragt. Als Folge
           befindet heute die Eidgenössische
           Leistungskommission darüber, was
           zu zahlen ist, die Krankenkassen
           führen Statistik über den Medika-
           mentenverbrauch [18], die Finanz-
           chefs der Spitäler beschränken die
           Grösse des Sortiments medizini-

                                                                                                Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190   188
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           Leere laufen. Entgegen den Zusagen, wurden seine           «common sense». Die naturwissenschaftliche Medizin
           Dienste nicht gebraucht, der Zugang zu seinen Vorge-       vermag in Populationen Beeindruckendes zu leisten,
           setzten erweist sich als unwegsam und schwierig.           im Einzelfall bringt sie es nur zur Wahrscheinlichkeit;
                Sind wir die heutigen Helden dieser Parabel? Ja,      entscheiden muss daher weiterhin ein erfahrener Ver-
           der moderne Arzt wird von einer wuchernden Admi-           antwortungsträger. Somit sind überlegte Ärzte weiter-
           nistration umrankt, dies sich wie ein metastasierendes     hin gefragt, bedarf es der Umsicht des Fachmanns, um
           Geschwür zwischen ihn und den Patienten stellt. Hat        zu bestimmen, ob das allgemein Gültige im vorliegen-
           sich der Arzt alle erforderlichen Qualifikationen er-      den Fall auch sinnvoll sei.
           worben, beginnt der Kampf mit dem Schloss: Wurde               Auch die Umsetzung des Grundlagenwissens
           die Praxisbewilligung erst erkämpft (oder erkauft),        braucht weiterhin Ärzte, meist Akademiker an univer-
           wird die ärztliche Tätigkeit durch Fähigkeitsausweise      sitären Institutionen, welche eine Ausbildung in mole-
           und Tarife bestimmt, die nur beschränkt das Erlernte       kularer Medizin mit klinischer Kompetenz zu verbin-
           abbilden, das medizinisch Richtige wird von Ärzten,        den wissen – Molekularbiologen können neue Proteine
           Ämtern und Kassen nicht immer gleich gesehen, ja fi-       entdecken, ihre Entwicklung braucht klinische For-
           nanzielle Rückforderungen sind die Drohungen der           scher. Für diese Clinical Investigators besteht immer
           neuen Herrscher im System.                                 mehr Bedarf, wollen wir die praktische Medizin nicht
                Den Spitalärzten geht es nicht besser: Nur noch die   von der Forschung entkoppeln. Die universitäre Medi-
           billigsten Spitäler werden in der Presse lobend er-        zin gilt es daher auf höchstem Niveau zu erhalten, will
           wähnt. Hat man früher Patienten behandelt, so be-          die Schweiz sich nicht im Mittelfeld verlieren.
           treut man heute als Chefarzt Budgets – zumindest
           wird dies von oben erwartet.                               Was zu tun wäre
                Kurz: In der täglich wachsenden Verwaltung fin-
           den sich Ärzte als Fremdlinge wieder [20]: Diejenigen,     Können Ärzte der geballten Macht von Politik, Kran-
           die heute das Gesundheitswesen bestimmen, haben            kenkassen und Administratoren begegnen oder sind
           eine Hochschule für Wirtschaft besucht, einen Ab-          wir hilflos ausgeliefert? Die Ärzte sind vielleicht stär-
           schluss in Ökonomie oder Management vorzuweisen            ker als sie glauben; nicht nur aufgrund ihrer schieren
           oder eine Buchhalterlehre hinter sich –, an einem          Zahl – allein in der Schweiz gibt es über 20 000 Medi-
           Krankenbett standen sie alle nie. Das wäre an sich         ziner –, auch aufgrund ihrer nach wie vor beachtlichen
           auch kein Problem, die zunehmende Macht der Bilan-         Stellung und zuletzt ganz einfach, weil man sie
           zen aber verändert die Medizin – Rentabilität scheint      braucht. «Alle Räder stehen still, wenn Dein starker
           die Humanität zusehends zu ersetzen.                       Arm es will», reimte einst der 1843 in die liberale
                                                                      Schweiz geflüchtete Dichter Georg Herwegh [22]. Das
           Der anhaltende Bedarf                                      gilt auch für den ärztlichen Stand – die Schweizerische
                                                                      Ärztegesellschaft wäre gefordert.
           Ist dieses Wehklagen berechtigt oder sind diese Ent-            Nur ein Beispiel: Wenn die NZZ am Sonntag mel-
           wicklungen Ausfluss unserer Zeit, bedauernswerte,          det «Ärzte sahnen ab!» und sich auf den Verkauf von
           aber unvermeidliche Entwicklungen, die es stoisch zu       Medikamenten in der Praxis bezieht, müsste man
           ertragen gilt? Gewiss, auch wir Ärzte können uns dem       nachfragen, was die Verwaltung, die Krankenkassen
           kulturellen Wandel nicht entziehen. Mit der Säkulari-      kosten [23]. Man will Hausärzte, aber sie sollen nichts
           sierung wurde das Diesseits und damit Gesundheit           kosten. Nach den Labors, den Hausbesuchen will man
           und Langlebigkeit zum Wert an sich [21]. Der Fort-         auch die Medikamente streichen. Ähnliches gilt für
           schritt liess den Gesundheitsmarkt so weit wachsen,        Spitalärzte – man will Spitzenmedizin, aber sie soll
           dass jeder sich darin tummeln will. Der Erfolg der Me-     nichts kosten. Hier und anderswo müsste man sich ge-
           dizin machte unser Handeln nicht nur teurer, sondern       meinsam wehren, denn Medizin kann ohne selbststän-
           auch bedeutsamer – wo viel zu erreichen ist, will man      dig agierende Ärzte nicht leben.
           das Handeln überwachen. Entsprechend wurden Re-                 Aus dem Erfolg der Medizin ergab sich eine un-
           gulierungen zum Geist der Zeit. Unter amerikanischem       schöne, ja fatale Entwicklung innerhalb der Ärzte-
           Einfluss haben wir uns zunehmend alle Lebensberei-         schaft: Ihre Spaltung in Schul- und Alternativmedizin,
           che verregelt, so auch Gesundheit und Medizin. Mit der     in Spital- und niedergelassene Ärzte, in Spezialisten
           Demokratisierung, ja Egalisierung der Gesellschaft         und Generalisten, in operativ-interventionell und kon-
           wurde der herrschaftsfreie Diskurs aller zur Grund-        templativ-konservativ Tätige, und nicht zuletzt in
           lage der Ethik unserer Zeit.                               Gross- und Kleinverdiener. Die Heterogenität hat
               Dieser kulturelle Wandel hat entscheidend zur De-      einen geschlossenen Auftritt der Ärzte verhindert. Wer
           professionalisierung der Ärzte beigetragen. Gewiss, hat    mit mehreren Stimmen spricht, wird im demokrati-
           sich die Medizin zu weit entwickelt, als dass jeder Arzt   schen Diskurs nicht gehört. Wenn wir uns nicht ge-
           nach seiner Façon behandeln könnte. Dennoch braucht        meinsam wehren, werden wir zum Auslaufmodell –
           es bei allen Richtlinien und Vorgaben weiterhin den        noch wäre es an der Zeit, dies abzuwenden.

                                                                                   Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190   189
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                                                                                        12 Flaubert G. Madame Bovary. Leipzig: Reclam; 1972.
           Literatur
                                                                                        13 Lüscher TF. Ist die Medizin eine exakte Wissenschaft? In: Gedanken-
                                                                                           medizin. Heidelberg: Springer-Verlag; 2010. p. 77–86.
            1 Unschuld PU. Der Arzt als Fremdling in der Medizin? München, New          14 Lüscher TF, Hrsg. Cardix. Zürich, 2008.
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            2 Lüscher TF, Abetel G. Guidelines: Evidenz als Dreh- und Angelpunkt.          zin.2009;12:277–81.
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            3 Lüscher TF. Krankenversicherungsgesetz, die Versicherungen und die           Medizin. In: Gedankenmedizin. Heidelberg: Springer-Verlag; 2010. p.
              ärztliche Ethik – jenseits evidenz-basierter Medizin? Kardiovaskuläre        63–8.
              Medizin. 2008;11:183–6.                                                   17 Habermas J. Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am
            4 Popper K. Conjectures and refutations. The growth of scientific              Main: Suhrkamp; 1987.
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            5 Gradmann C. Krankheit im Labor. Robert Koch und die Medizinische             ärztliche Ethik – jenseits evidenz-basierter Medizin? Kardiovaskuläre
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              Paris; 1819.                                                              20 Unschuld PU. Der Arzt als Fremdling in der Medizin? München, New
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              deficiency. New Engl J Med. 2009;361(25):2436–48. Dieses Protokoll
              wurde 2008 vom Kantonalen Ethischen Komitee in Zürich abgelehnt.

                                                                                                        Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190        190
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