Der Arzt - ein Auslaufmodell?
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185-190 Luescher 024.qxp:Layout 1 10.6.2010 11:06 Uhr Seite 185 VIE WP OIN T Der Arzt – ein Auslaufmodell? Thomas F. Lüscher Klinik für Kardiologie, Herzkreislaufzentrum, UniversitätsSpital Zürich und Institut für Physiologie, Kardiovaskuläre Forschung, Universität, Zürich «Ärzte […] sind nicht mehr als Hauptakteure staatli- tete sich der Ärztestand im 18. Jahrhundert durch die cher Gesundheitsfürsorge gefragt, sondern werden als Erfolge der naturwissenschaftlichen Medizin die abhängige Mitwirkende im grossen wirtschaftlichen Glaubwürdigkeit, die ihn zu einer Stütze der moder- Verteilspiel eingesetzt.» Paul U. Unschuld 2005 [1] nen Gesellschaft machen sollte. Durch die Erfolge der Chirurgie, aber auch der Hygiene, Impfungen und spä- Ist der Arzt in der Medizin zum Fremdling geworden, ter der medikamentösen Therapie im 19. und 20. Jahr- wie es Paul U. Unschuld, der Direktor des Instituts für hundert, wurden vorab bedeutende Ärzte zu den Hel- Geschichte der Medizin an der Ludwig-Maximilian- den der Zeit, zu den heute geschmähten Göttern Universität in München, vermutet? Die sich auswei- in Weiss. Grosse Ärzte wie Edward Jenner, Rudolf tende Entmündigung des Arztes, Unschuld nennt es De- Virchow, Louis Pasteur, Robert Koch, Hermann von professionalisierung, lässt sich in der Tat nicht verken- Helmholtz und später Willem Einthoven, Alexander nen: Was einst als freie Entscheidung des Arztes vom Fleming, Jonas Salk und Andreas Grüntzig (Abb.1) Patient erwartet und vom Staat einem Freiberufler zu- machten Entdeckungen, die die Medizin zu einer wis- gestanden wurde, wird heute durch Facharzttitel, Fä- senschaftlich begründeten und beeindruckend wirksa- higkeitszeugnisse, Guidelines [2], ethische Richtlinien men Heilkunst werden liessen. Zunehmend konnte entsprechend legitimierter Institute, Krankenkassen- ärztliches Handeln durch unbestreitbare Erfolge über- auflagen [3], gesetzliche Verordnungen und in der Folge zeugen – und das war das Entscheidende. Nicht die einer wuchernden Administration mehr und mehr ein- Falsifikation als solche, wie Sir Karl Popper meinte [4], geengt. Was es zu untersuchen und verordnen gilt, kann macht den Unterschied von Wissen und Glauben aus, der heutige Arzt kaum noch frei entscheiden, will er sich vielmehr ist es die Überzeugungskraft der praktischen nicht mit den zahllosen nichtärztlichen Entscheidungs- Folgen einer Theorie. Wieso glauben wir an Bakterien? trägern, die heute des Gesundheitswesen bestimmen, Weil Antibiotika die Infektionskrankheiten besiegen. anlegen – kurz, er wird vom selbstständigen Gestalter zum gelenkten Vollstrecker einer gesamtgesellschaftlich verordneten Medizin. Korrespondenz: Prof. Thomas F. Lüscher, F.R.C.P. Direktor, Klinik für Kardiologie Das Bild des Arztes UniversitätsSpital Zürich Rämistrasse 100 Ist das das Bild, das wir heute von uns haben müssen CH-8091 Zürich und wenn ja, wie ist es dazu gekommen? Nach be- cardiotfl@gmx.ch schwerlichen Anfängen als Bäder und Scherer erarbei- Abbildung 1 Berühmte Ärzte, die mit ihren Entdeckungen die Medizin bewegten: (A) René Laenec (1781–1826); (B) Robert Koch (1843–1910), der Entdecker der Tuberkulose- und Milzbranderreger; (C) Norman Shumway (1923–2006), der die Herztransplantation entwickelte; (D) Andreas R. Grüntzig (1939–1985), der Erfinder der Ballondilatation von Gefässen; (E) Robin Warren (*1937) und (F) Barry Marschall (*1951),die Entdecker von Helicobacter pylori und Nobelpreisträger 2005. Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190 185
185-190 Luescher 024.qxp:Layout 1 10.6.2010 11:06 Uhr Seite 186 VIE WP OIN T Wieso überzeugt uns die Vorstellung der Ischämie als nössischen Leistungskommission bewilligt und zuletzt Todesursache? Weil die Eröffnung eines Herzkranzge- von den Krankenkassen anerkannt werden, bevor der fässes Leben rettet. praktisch tätige Arzt eine Vergütung erwarten kann – der Preis ärztlichen Handelns wurde bestimmend. Selbsterschaffenes Ob wir mit dem Verfügbaren auch das Richtige tun, bestimmen heute nicht unser Wissen und Gewis- Die Ärzte – und dies ist entscheidend – schufen vor sen, vielmehr Guidelines Committees, Vereine für Out- Zeiten selbst das Wissen, das ihr Handwerk be- comes Research und das Bundesamt für Gesundheit, stimmte. Entsprechend war der Unterschied zwischen das hilflos und ohne Mittel ärztliche Qualität zu be- Ärzten in der Praxis und an Instituten und Kliniken stimmen sucht [9]. Selbst die Politik fühlt sich heute geringer als heute. Als Robert Koch kurz nach seinem berufen, das Richtige in der Medizin zu verkünden: Examen 1872 zum Physikus des Kreises Bromst mit Wenn CVP-Präsident Darbellay vollmundig erklärt, Praxis in Wollstein ernannt wurde, widmete er sich seine Partei stehe nur für sinnvolle Medizin ein [10], neben seiner ärztlichen Tätigkeit seiner Neigung fol- fragt man vergeblich nach seiner Legitimation. Weder gend der Erforschung des Milzbrandes, der das Vieh er noch seine rührigen Mitstreiterinnen, die ihn an der der Bauern der Gegend regelmässig befiel und an wel- Pressemitteilung begleiteten, haben wohl je an einem chem auch seine Patienten erkrankten. Vier Jahre spä- Krankenbett gestanden. Dieser kleine Unterschied ter beschrieb er die Sporen des Milzbranderregers hindert die wackeren um mediale Aufmerksamkeit be- (Abb. 1) [5] – die Forschung speiste sich aus Erfahrun- sorgten Politiker aber keinesfalls daran, entschieden gen der täglichen Arbeit am Patienten. Selbstver- mitzureden. ständlich bestimmten die Schöpfer des Wissens selbst In der Forschung hat die Regulierung nicht weni- die praktische Verwendung des neu Entdeckten. So ger um sich gegriffen. War einst der gesunde Mensch- auch René Laenec (Abb. 1), als er 1816 erstmals aus verstand leitend, gehören heute ganze Antragsordner Ekel vor seinen verschwitzten Tuberkulosepatienten zum Alltag jeden Forschers – Kafka hätte seine helle mit einer Papierrolle die Lungen abzuhören begann Freude gehabt. Was dem erfahrenen Hundehalter und bemerkte, wie ohrnah und deutlich die Lungenge- nicht erspart bleibt, muss heute auch ein bekannter räusche seiner Patienten zu hören waren – das Ste- Forscher über sich ergehen lassen: Kurse und Zertifi- thoskop, das er in der Folge entwickelte, benutzen wir zierung sind derzeit wichtiger als ein Leistungsausweis noch heute [6]. und Talent. Der Zeitverlust ist das eine, die Behinde- Andreas Grüntzig schliesslich war es vielleicht als rung der Innovation das zweite. In der Regel muss man Letztem in Zürich vergönnt, ohne den Ratschluss eines heute Monate rechnen, bis man mit der Arbeit begin- ethischen Komitees und ohne Unterstützung durch nen kann. Kleine Anpassungen des Forschungsplans den Schweizerischen Nationalfond – dessen Rat der brauchen eine weitere Runde, der «quick and dirty Weisen sein Ansinnen zunächst ablehnte –, einen he- look», mit dem jede kreative Arbeit beginnt, ist heute roischen Ersteingriff zu machen, der die Medizin ver- ausgeschlossen. In der Schweiz, einem Land, in wel- ändern sollte [7]. Das mündliche Einverständnis des chem besondere Strenge herrscht, lassen sich gewisse ersten Patienten Adolf Bachmann und seine Zuver- Projekte nicht mehr umsetzen; nicht nur Grüntzig sicht, dass sein Arzt sein Wohl im Auge hatte, waren hätte heute seine Mühe, auch einfache klinische Fra- damals genug [8]. gen lassen sich nicht ohne weiteres untersuchen, aber als Mulitzenter-Studie im New England Journal of Me- Zunehmende Beengung dicine publizieren [11]. Ob all diese Regulierungen ir- gendeinem Patienten etwas nützen oder nicht, viel- Können wir solches für uns heute noch in Anspruch mehr den Juristen, Politikern und Gesetzgebern ein nehmen? Natürlich entscheiden auch heute noch Ärzte Arbeitsfeld verschaffen, sei dahingestellt – die zukünf- über Bedeutendes, doch sind wir zunehmend fremdbe- tige Medizin behindern sie allemal. Zuviel Ethik kann stimmt. Was uns therapeutisch zur Verfügung steht, durchaus auch unethisch sein. haben vorgängig die SwissMedic, die Eidgenössische Leistungskommission oder das entsprechende Bun- Die goldenen Zeiten desamt und zuletzt die Krankenkassen festgelegt. In ihren Entscheidungen haben sie sich in der Regel auf Trotz aller Klagen geniessen auch heute Ärzte noch An- internationale Guidelines bedeutender Gesellschaften, erkennung, zumal von den Patienten, die sie behan- auf Systematic Reviews selbsternannter Experten, deln. Als Stand aber – von Standesberuf wagen wir Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizi- kaum noch zu reden – haben die Mediziner erschre- nischen Wissenschaften, auf das National Institute of ckend an Bedeutung eingebüsst. Clinical Excellence des Vereinigten Königreichs oder Als erstes bekamen die Hausärzte den Geist der ihr Bauchgefühl (gemeinhin common sense genannt) Moderne zu spüren. Zunächst noch war alles anders: gestützt. Was vergütet wird, muss erst von der Eidge- Als der Vater des Schreibenden eine Praxis im Kreis 6 Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190 186
185-190 Luescher 024.qxp:Layout 1 10.6.2010 11:06 Uhr Seite 187 VIE WP OIN T der Stadt Zürich eröffnete, war der Arzt noch jemand, Abbildung 2 Stufen Evidenz-basierter Medizin (aus [2]: Lüscher TF, Abetel G. Guide- den man – wie einst in Yonville Dr Charles Bovary, den lines: Evidenz als Dreh- und Angelpunkt. Schweizerische Ärztezeitung. umtriebigen Apotheker Homais und den Lehrer des 2009;90:1691–95. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung. Dorfes [12] – beachtete. Selbst der Sohn, zu jenem Zeit- punkt ohne jede eigene Leistung, spürte die Anerken- nung, die dem Vertreter der Heilkunst entgegenge- bracht wurde. Und dies mit Recht: Nicht nur war der Hausarzt jederzeit für seine Patienten da, er durfte und konnte auch noch die meisten Probleme selber lösen. Gewiss, die Möglichkeiten waren beschränkter. Doch ein beherzter Hausarzt konnte noch vieles selber richten. Von Laboruntersuchungen über Röntgenbilder bis zum Einstellen und Gipsen von Knochenbrüchen, Schwangerschaftskontrollen und Geburten sowie chi- rurgischen Eingriffen kleinerer Art lag alles in seinen Händen – und dies verschaffte ihm die Anerkennung, von der er lebte. Auch das Einkommen war im Quervergleich durchaus angemessen. Die damals tätigen Ärzte muss- ten nicht den Vergleich mit den astronomischen Ge- blieb ein wichtiger Prüfstein, doch anders als zu Ro- hältern der heutigen Banker und Manager bestehen. bert Kochs Zeiten wurde der praktische Arzt zum Leser Kurz, die Stellung des Hausarztes war gut, ja benei- des Wissens, das andere schufen; ja, die klinische Er- denswert. Was er tat, hielt er für richtig, bei seinen fahrung, obwohl im Alltag unabdingbar, wurde zuneh- Entscheidungen war er seinem Gewissen verpflichtet, mend auf die unterste Stufe der medizinischen Evidenz und das war nicht das Wenigste. Die Patienten jeden- verwiesen (Abb. 2). falls schätzen seine strenge Art, seine Sicherheit im Die das Wissen schufen und weiterhin erschaffen, Handeln und seinen unbeschränkten Einsatz für ihr sind in zunehmendem Masse der Praxis entfremdet: Wohl – und gönnten es ihm durch unbeschränkte An- Trialists, die kaum mehr Patienten sehen, Epidemio- erkennung. logen mit statistischem Sachverstand, aber ohne klini- Den Chefärzten ging es nicht schlechter: Sie stan- schen Bezug, Molekularbiologen und Genetiker, die den an der Spitze der Gesellschaft und erhielten für akribisch Mäuse behandeln, haben heute das Sagen. ihren unermüdlichen Einsatz die Anerkennung, die sie Die Nobelpreisträger der letzten 20 Jahre sind, mit suchten. Gewiss, nicht alle Vertreter dieser Klasse Ausnahme von Ferid Murad und wenigen anderen, waren einfache Gemüter, doch stand man ihnen Kom- Grundlagenforscher und nicht praktisch tätige Ärzte petenz und Können zu. Auch wusste man noch, dass es [16]. Persönlichkeiten und nicht Institutionen sind, die die Gewiss, es gibt Ausnahmen, Ärzte, die durch eine Medizin bewegen. Die Götter in Weiss wurden nicht jahrelange Weiterbildung Forschung und Klinik zu- missgünstig beäugt, sie waren vielmehr Vorbilder für sammenzuhalten verstehen und dies in beachtenswer- den Nachwuchs und die Gesellschaft. ten Fällen auch erfolgreich tun. Doch diese Clinical- Investigators, obgleich eigentlich ein wirklicher Bedarf, Modern times werden zum Nachteil der ärztlichen Kunst immer mehr zu Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Heute scheint vieles anders: Der ärztliche Handlungs- spielraum erhielt beengende Schranken. Zunächst mit Ein Tummelfeld für alle Recht – was sich für eine Wissenschaft hält, kann nur eine Wahrheit zulassen [13]. Die Evidenz-basierte Me- Medizin betreibt heute ein jeder: Gesundheit ist zum dizin, wie sie sich in den 1970er Jahren ausbildete [14], Auftrag aller geworden. Hoteliers sorgen sich um un- wollte sicherstellen, dass Evidenz, somit überprüftes sere Wellness und Entspannung von Stress, Personal Wissen, die Grundlage ärztlichen Handelns bilde und Trainers erhalten die Fitness für unsere alten Tage, nicht Glauben und Meinungen [15]. Mit dem Fort- Masseure und Physiotherapeuten kurieren unseren schritt der Medizin liess sich solches Wissen kaum verspannten Körper, Apotheker messen den Blutdruck mehr in der eigenen Praxis gewinnen, naturwissen- und verschreiben Over-The-Counter, Diätassistentin- schaftliche Erkenntnisse mussten vermehrt in mole- nen sorgen für die rechte Ernährung und Psychologen kularen Labors, dann durch Epidemiologen in grossen behandeln Lebenskrisen und Alltagsprobleme. Selbst Kohorten, durch Trialists in klinischen Versuchen, im eigenen Betreuungsteam meldet sich die Emanzi- schliesslich auch in Metaanalysen und «systematic re- pation: Schwestern, heute politisch korrekt Pflege- views» erhoben werden. Gewiss, die eigene Erfahrung fachkräfte genannt, beginnen, wie in den USA üblich, Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190 187
185-190 Luescher 024.qxp:Layout 1 10.6.2010 11:06 Uhr Seite 188 VIE WP OIN T Hypertoniker, Herzinsuffiziente und Diabetiker zu be- schen Materials und Ethiker sagen, was rechtens ist. handeln; Forschung wird nicht nur von Medizinern, Dabei handelt es sich – so hören wir – durchwegs um sondern auch von Paraprofessionals betrieben. Die erfahrene Experten, Leute also, die ihr Fachwissen Universität Basel weist mit Stolz ein Institut für Pfle- auszuweisen vermögen und sich um die Zukunft von gewissenschaften aus, die European Society of Cardio- uns allen sorgen –, bloss an einem Krankenbett oder logy gibt gar ein European Journal of Cardiovascular in einem Forschungslabor standen die meisten dieser Nursing heraus. Kurz: Der Arzt wird im sich auswei- Experten selten oder nie. tenden Gesundheitsmarkt vom bewunderten Kämpfer Auch die Ausdehnung des Machbaren ist nicht nur zu einem unter vielen. Teil des Erfolgs der modernen Medizin, vielmehr auch ihr Problem: Mit den steigenden Möglichkeiten ent- Erfolg als Falle standen neue Probleme und Risiken und damit der Be- darf nach Regulierung und Kontrolle. Eine Medizin, Der Erfolg der Medizin wurde uns Ärzten zur Falle: die Tote aufzuwecken versteht, schafft mehr Fragen Die steigenden Kosten, die sich mit dem Fortschritt nach ihrem Sinn als Kräuterärzte und Naturheil- und immer beeindruckenderen Geräten und wirksa- kundler. Wer Organe transplantiert, greift tiefer in un- meren Behandlungen ergaben, machten den uneinge- sere Weltsicht ein als Ärzte der Vergangenheit. Wer schränkten Einsatz der Möglichkeiten zum Problem. schliesslich überzählige Embryos schafft, Gene verän- Jeder Fortschritt über das bisher Erreichte hinaus dert und Stammzellen verwendet, muss sich den Fra- wurde über die Massen teuer – und dies rief entgegen gen der Gesellschaft stellen. unseren Wünschen die Ökonomen, Betriebswirtschaft- ler und Verwalter auf den Plan. Kosten-Nutzen- Kafkaeskes Analysen standen plötzlich zwischen Arzt und Patient und erschwerten in unerwartetem Ausmass unser In Franz Kafkas «Schloss», geschrieben 1922, lesen wir Handeln. von den erstaunlichen Erlebnissen des wackeren Land- Früher war dies gewiss anders, man hatte selber vermessers K., der spätabends, und erschöpft von der zu bezahlen; Sozialversicherungen sind eine Erfindung langen Reise, im verschneiten Dorf am Fusse des in der Moderne, ohne Zweifel ein Segen für die Mittello- Nebel gehüllten Schlossbergs eintraf, um seine neue sen. Doch mit dem Sozialstaat kam auch die Kontrolle: Stelle anzutreten. Im Wirtshaus will er eine erste Un- Wenn alle gemeinsam zahlen, wollen alle mitreden – terkunft erlangen [19]. Der späte Gast muss aber bald Solidarität hat ihren Preis. Mitreden will heute ein erkennen, dass er entgegen den Vereinbarungen nicht jeder, nicht nur, wenn es ums Zahlen geht. Die demo- erwartet wird; nach unergiebigen Telefonaten ins kratischen Gesellschaften haben im Zuge von Jürgen Schloss muss er sich fürs Erste auf einem Strohsack Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns [17] zur verdienten Ruhe legen, nur um zu entdecken, dass auch ethische Entscheidungen zur Sache wohlausge- er nicht einmal über eine Erlaubnis zum Übernachten wogener Gremien erhoben. Heute gibt es keine ärztli- verfügt, eine Erlaubnis, die sich auch am nächsten Tag che Ethik mehr, vielmehr sitzen in Ethikkommissionen nicht einfach einholen lässt; ja, die übermächtige und Vertreter aller Gesellschaftsschichten wie Hausfrauen, zugleich unsichtbare Schlossverwaltung lässt ihn ins Patientenvertreter, Juristen, pro- fessionelle Ethiker und – wenn es Abbildung 3 sich nicht vermeiden lässt – auch A Franz Kafka (1883–1924), Schriftsteller und Verwaltungsjurist bei der Prager Arbeiter-Unfall- einige Mediziner. Für die Teil- versicherung und Autor des Romans «Das Schloss». nahme am Diskurs ist nicht das ei- B Das Schloss Neferatu, unweit des Sanatoriums, in welchem sich Kafka 1921 unmittelbar vor gene Wissen und Gewissen bestim- der Niederschrift des Romans erholte. mend, vielmehr die Herkunft aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen: Beamte der Bundesäm- ter, Vertreter der Krankenkassen, Finanzchefs der Spitäler und be- rufsmässige Ethiker sind nun für die Gesundheit gefragt. Als Folge befindet heute die Eidgenössische Leistungskommission darüber, was zu zahlen ist, die Krankenkassen führen Statistik über den Medika- mentenverbrauch [18], die Finanz- chefs der Spitäler beschränken die Grösse des Sortiments medizini- Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190 188
185-190 Luescher 024.qxp:Layout 1 10.6.2010 11:06 Uhr Seite 189 VIE WP OIN T Leere laufen. Entgegen den Zusagen, wurden seine «common sense». Die naturwissenschaftliche Medizin Dienste nicht gebraucht, der Zugang zu seinen Vorge- vermag in Populationen Beeindruckendes zu leisten, setzten erweist sich als unwegsam und schwierig. im Einzelfall bringt sie es nur zur Wahrscheinlichkeit; Sind wir die heutigen Helden dieser Parabel? Ja, entscheiden muss daher weiterhin ein erfahrener Ver- der moderne Arzt wird von einer wuchernden Admi- antwortungsträger. Somit sind überlegte Ärzte weiter- nistration umrankt, dies sich wie ein metastasierendes hin gefragt, bedarf es der Umsicht des Fachmanns, um Geschwür zwischen ihn und den Patienten stellt. Hat zu bestimmen, ob das allgemein Gültige im vorliegen- sich der Arzt alle erforderlichen Qualifikationen er- den Fall auch sinnvoll sei. worben, beginnt der Kampf mit dem Schloss: Wurde Auch die Umsetzung des Grundlagenwissens die Praxisbewilligung erst erkämpft (oder erkauft), braucht weiterhin Ärzte, meist Akademiker an univer- wird die ärztliche Tätigkeit durch Fähigkeitsausweise sitären Institutionen, welche eine Ausbildung in mole- und Tarife bestimmt, die nur beschränkt das Erlernte kularer Medizin mit klinischer Kompetenz zu verbin- abbilden, das medizinisch Richtige wird von Ärzten, den wissen – Molekularbiologen können neue Proteine Ämtern und Kassen nicht immer gleich gesehen, ja fi- entdecken, ihre Entwicklung braucht klinische For- nanzielle Rückforderungen sind die Drohungen der scher. Für diese Clinical Investigators besteht immer neuen Herrscher im System. mehr Bedarf, wollen wir die praktische Medizin nicht Den Spitalärzten geht es nicht besser: Nur noch die von der Forschung entkoppeln. Die universitäre Medi- billigsten Spitäler werden in der Presse lobend er- zin gilt es daher auf höchstem Niveau zu erhalten, will wähnt. Hat man früher Patienten behandelt, so be- die Schweiz sich nicht im Mittelfeld verlieren. treut man heute als Chefarzt Budgets – zumindest wird dies von oben erwartet. Was zu tun wäre Kurz: In der täglich wachsenden Verwaltung fin- den sich Ärzte als Fremdlinge wieder [20]: Diejenigen, Können Ärzte der geballten Macht von Politik, Kran- die heute das Gesundheitswesen bestimmen, haben kenkassen und Administratoren begegnen oder sind eine Hochschule für Wirtschaft besucht, einen Ab- wir hilflos ausgeliefert? Die Ärzte sind vielleicht stär- schluss in Ökonomie oder Management vorzuweisen ker als sie glauben; nicht nur aufgrund ihrer schieren oder eine Buchhalterlehre hinter sich –, an einem Zahl – allein in der Schweiz gibt es über 20 000 Medi- Krankenbett standen sie alle nie. Das wäre an sich ziner –, auch aufgrund ihrer nach wie vor beachtlichen auch kein Problem, die zunehmende Macht der Bilan- Stellung und zuletzt ganz einfach, weil man sie zen aber verändert die Medizin – Rentabilität scheint braucht. «Alle Räder stehen still, wenn Dein starker die Humanität zusehends zu ersetzen. Arm es will», reimte einst der 1843 in die liberale Schweiz geflüchtete Dichter Georg Herwegh [22]. Das Der anhaltende Bedarf gilt auch für den ärztlichen Stand – die Schweizerische Ärztegesellschaft wäre gefordert. Ist dieses Wehklagen berechtigt oder sind diese Ent- Nur ein Beispiel: Wenn die NZZ am Sonntag mel- wicklungen Ausfluss unserer Zeit, bedauernswerte, det «Ärzte sahnen ab!» und sich auf den Verkauf von aber unvermeidliche Entwicklungen, die es stoisch zu Medikamenten in der Praxis bezieht, müsste man ertragen gilt? Gewiss, auch wir Ärzte können uns dem nachfragen, was die Verwaltung, die Krankenkassen kulturellen Wandel nicht entziehen. Mit der Säkulari- kosten [23]. Man will Hausärzte, aber sie sollen nichts sierung wurde das Diesseits und damit Gesundheit kosten. Nach den Labors, den Hausbesuchen will man und Langlebigkeit zum Wert an sich [21]. Der Fort- auch die Medikamente streichen. Ähnliches gilt für schritt liess den Gesundheitsmarkt so weit wachsen, Spitalärzte – man will Spitzenmedizin, aber sie soll dass jeder sich darin tummeln will. Der Erfolg der Me- nichts kosten. Hier und anderswo müsste man sich ge- dizin machte unser Handeln nicht nur teurer, sondern meinsam wehren, denn Medizin kann ohne selbststän- auch bedeutsamer – wo viel zu erreichen ist, will man dig agierende Ärzte nicht leben. das Handeln überwachen. Entsprechend wurden Re- Aus dem Erfolg der Medizin ergab sich eine un- gulierungen zum Geist der Zeit. Unter amerikanischem schöne, ja fatale Entwicklung innerhalb der Ärzte- Einfluss haben wir uns zunehmend alle Lebensberei- schaft: Ihre Spaltung in Schul- und Alternativmedizin, che verregelt, so auch Gesundheit und Medizin. Mit der in Spital- und niedergelassene Ärzte, in Spezialisten Demokratisierung, ja Egalisierung der Gesellschaft und Generalisten, in operativ-interventionell und kon- wurde der herrschaftsfreie Diskurs aller zur Grund- templativ-konservativ Tätige, und nicht zuletzt in lage der Ethik unserer Zeit. Gross- und Kleinverdiener. Die Heterogenität hat Dieser kulturelle Wandel hat entscheidend zur De- einen geschlossenen Auftritt der Ärzte verhindert. Wer professionalisierung der Ärzte beigetragen. Gewiss, hat mit mehreren Stimmen spricht, wird im demokrati- sich die Medizin zu weit entwickelt, als dass jeder Arzt schen Diskurs nicht gehört. Wenn wir uns nicht ge- nach seiner Façon behandeln könnte. Dennoch braucht meinsam wehren, werden wir zum Auslaufmodell – es bei allen Richtlinien und Vorgaben weiterhin den noch wäre es an der Zeit, dies abzuwenden. Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190 189
185-190 Luescher 024.qxp:Layout 1 10.6.2010 11:06 Uhr Seite 190 VIE WP OIN T 12 Flaubert G. Madame Bovary. Leipzig: Reclam; 1972. Literatur 13 Lüscher TF. Ist die Medizin eine exakte Wissenschaft? In: Gedanken- medizin. Heidelberg: Springer-Verlag; 2010. p. 77–86. 1 Unschuld PU. Der Arzt als Fremdling in der Medizin? München, New 14 Lüscher TF, Hrsg. Cardix. Zürich, 2008. York: W. Zuckerschwerdt Verlag; 2005. p. 107. 15 Lüscher TF. Ist die Medizin von Sinnen? Kardiovaskuläre Medi- 2 Lüscher TF, Abetel G. Guidelines: Evidenz als Dreh- und Angelpunkt. zin.2009;12:277–81. SÄZ. 2009;90:1691–95. 16 Lüscher TF. The answer is NO: Von Alfred Nobel zum Nobelpreis für 3 Lüscher TF. Krankenversicherungsgesetz, die Versicherungen und die Medizin. In: Gedankenmedizin. Heidelberg: Springer-Verlag; 2010. p. ärztliche Ethik – jenseits evidenz-basierter Medizin? Kardiovaskuläre 63–8. Medizin. 2008;11:183–6. 17 Habermas J. Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am 4 Popper K. Conjectures and refutations. The growth of scientific Main: Suhrkamp; 1987. knowledge. London: Routledge and Kegan Paul; 1974. 18 Lüscher TF. Krankenversicherungsgesetz, die Versicherungen und die 5 Gradmann C. Krankheit im Labor. Robert Koch und die Medizinische ärztliche Ethik – jenseits evidenz-basierter Medizin? Kardiovaskuläre Bakteriologie. Göttingen: Wallstein; 2005. Medizin. 2008;11:183–6. 6 Laennec R. De l’auscultation mediate ou traité dur diagnostic de ma- 19 Kafka F. Das Schloss. In: Die Romane. Wien: S. Fischer Verlag; 1969. ladies des poumons et du Coeur. Tome II. Brosson JA , Chaude JS. p. 481ff. Paris; 1819. 20 Unschuld PU. Der Arzt als Fremdling in der Medizin? München, New 7 Grüntzig A. Transluminal dilatation of coronary-artery stenosis. Lan- York: W. Zuckerschwerdt Verlag; 2005. p. 15–36. cet. 1978;1:263. 21 Frick K, Hauser M. Statusfaction. Was wir morgen für unser Ansehen 8 Meier B, Bachmann D, Lüscher TF. 25 years of coronary angioplasty: tun. Gottlieb Duttweiler Institut. www.gdi.ch/studien. almost a fairy tale. Lancet. 2003;361:527–8. 22 Muschg A. Von Herwegh bis Kaiseraugst. Zürich: Limmat Verlag, Ge- 9 Lüscher TF. Lies, damn lies and statistics: Bemerkungen zu den Out- nossenschaft Zürich; 1975. p. 49. come-Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit. Kardiovaskuläre Me- 23 Zürich: NZZ am Sonntag; 23. Mai 2010. p. 13. dizin. 2009;12:229–33. 10 Brotschi M. CVP will für Todkranke nur sinnvolle Medizin. Zürich: Tages-Anzeiger; 10. April 2010. 11 Anker S, Colet JC, Filippatos G, Willenheimer R, Dickstein K, Drexler H, et al. Ferric carboxymaltose in patients with heart failure and iron deficiency. New Engl J Med. 2009;361(25):2436–48. Dieses Protokoll wurde 2008 vom Kantonalen Ethischen Komitee in Zürich abgelehnt. Cardiovascular Medicine 2010;13(6):185–190 190
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