Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
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Editorial Außer Rand und Band geraten … … scheint Deutschland und mit ihm ganz anderes von der Globalisierung profitiert, Europa. Der Kontinent ist seit Monaten in ist die Weltoffenheit seiner Menschen einer sich ständig beschleunigenden Auf- eine Grundvoraussetzung, zumindest, regungsspirale. Staaten, Politik, Instituti- wenn es hier in Zukunft so gut weiter- onen und Bürger haben sich angesichts gehen soll. Denn Wohlstand und Teilhabe der sogenannten Flüchtlingskrise in ein für viele sind kein deutsches Naturgesetz. Chaos von Argumenten und Befindlich- Gefragt sind immer wieder neue Ideen keiten gestürzt. Streit, Kleinkrieg und Un- und Kräfte, gerade von Menschen mit un- versöhnlichkeit kennzeichnen die Lage. terschiedlichem Hintergrund. 3. Schaffen Eigentlich ein einziges Trauerspiel, wenn wir es oder schaffen wir es nicht? Kaum es nicht die guten Beispiele bürgerschaft- ein Politikerzitat ist je so zerredet worden. lichen Engagements, gewaltige Anstren- Mir ist das unbegreiflich. Daran, dass wir gungen der Kommunen und mittlerweile das schaffen (können und werden), gibt es auch bemerkenswerte Fortschritte bei Be- doch überhaupt keinen Zweifel. Deutsch- hörden wie BAMF und Bundesagentur für land hat in den vergangenen 70 Jahren Arbeit gäbe. schwierigste Herausforderungen gemeis- tert. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Dennoch: Die Auseinandersetzungen ha- dass es diesmal anders ist: mit Wachstum, ben einen zerstörerischen Charakter für hoher Beschäftigung und stabilen Haus- die Gesellschaft, zumal unterschiedlichste halten. Hierfür benötigt man allerdings Sachverhalte durcheinandergeworfen wer- Konzepte. Und mit deren Erarbeitung und den. Das betrifft besonders die Vermi- Umsetzung sollten wir endlich beginnen, schung von humanitärer Asyl- und qua- statt uns länger so armselig selbst zu dis- lifizierter Einwanderungspolitik. Ersterem kreditieren. müssen wir uns schlicht stellen und beim Zweiten (endlich) den Konsens feststellen, Dieser Trendletter leistet hierzu einen den wir eigentlich längst erzielt haben: aktiven Beitrag – und zwar mit positiven Wir sind ein Einwanderungsland und Beispielen und konstruktiven Vorschlä- das ist auch gut für einen Staat, der seit gen. Denn was wir in Deutschland selbst Jahrzehnten seine demografischen Haus- beeinflussen können, ist eine gelingende aufgaben kaum gemacht hat. Die deutli- Integration. Vom Krisenmodus zur Stra- che Mehrheit weiß das, unterstützt es und tegie! Lassen Sie uns gemeinsam daran sollte nicht müde werden, Kurs zu halten arbeiten. Ich wünsche Ihnen jetzt eine und Zweifler zu überzeugen. spannende Lektüre und freue mich, von Ihnen zu hören. Der Schlüssel ist die Integration der Menschen und hierfür braucht es 1. Werte und Haltung, 2. Offenheit und Veränderungsbereitschaft, 3. Zuversicht Herzlich, Ihr und Selbstvertrauen – und zwar auf beiden Seiten. Das bedeutet konkret: 1. Die Verfassung und Gesetze bilden den verpflichtenden Rahmen und die allgemein gültigen Regeln des Zusam- menlebens geben Orientierung. Dazu ge- hören auch Selbstverständlichkeiten wie Gastfreundschaft und Hilfsbereit- Christian Böllhoff schaft. 2. Für ein Land, das wie kaum ein christian.boellhoff@prognos.com Prognos trendletter April 2016 3
Inhalt Inhalt 07 Integration in Zahlen Fachbeitrag 05 It´s 2016! Rankings 07 Integration in Zahlen 08 Interview „Es mangelt an Konzepten“ 11 Wie Verwaltung und Bürger gemeinsam mehr schaffen Zeitzeugnis 10 Blick ins Archiv: Perspektiven für Migrantinnen Fachbeitrag 11 Wie Verwaltung und Bürger gemeinsam mehr schaffen 12 Szenarien Deutschland – mit und ohne 08 Prognos & SWP im Gespräch: „Es mangelt an Konzepten“ Fachbeitrag 14 Berufsschulen – Starthilfe für die Starthelfer Statements 16 Mein Rat an Deutschland Fachbeitrag 17 Wendepunkt für Wohnungs- und Immobilienmärkte Kurz gefasst 18 Eine gute Idee Standpunkt 20 Ohne Investitionen wird Zuwanderung erst richtig teuer Über uns 21 Blick in unsere Projekte Über uns 12 Zuwanderung: Wie könnte Deutschland im Jahr 2040 aussehen? 23 Rückblick in Bildern 4 Prognos trendletter April 2016
Fachbeitrag It´s 2016! Deutschland fällt es schwer, sich auf die migrationspolitischen Folgen der Globalisierung einzustellen. Warum eigentlich? Kanada lebt Diversity. Ethnische Min- anderen Demografen, Arbeitsmarkt- und für Arbeit gestärkt und das bildungspoli- derheiten und Flüchtlingsbiografien sind Wirtschaftsexperten, betonen seit Langem tische Kooperationsverbot von Bund und in den höchsten Regierungsämtern ver- die Wichtigkeit der Zuwanderung nach Ländern zumindest gelockert werden. treten. Die Gründe erläuterte der neu Deutschland. Unklar bleibt, warum nach gewählte Premierminister Trudeau bei wie vor über ein Einwanderungsgesetz Bildung und Arbeit sind die vordring- der Vereidigung Ende letzten Jahres so gestritten wird, das Aufenthalts- und Ar- lichen politischen Handlungsfelder für einsilbig wie treffend: „Well, it´s 2015!“ beitserlaubnis nicht in unzähligen Ausnah- eine gute Integrationspolitik. Aber auch So sieht die Welt nun einmal aus – in metatbeständen gewährt, sondern Einwan- die Unternehmen müssen mitziehen. Kanada. derung als etwas grundsätzlich Positives Der Bundesverband der Personalma- im Sinne der Migranten und der deutschen nager schätzt, dass rund zwei Drittel 2015 stand in Deutschland für den Beginn Gesellschaft regelt und die Schnittstellen seiner Mitglieder Interesse haben, Ge- des zähen Ringens im Umgang mit den zwischen humanitärer und arbeitsmarkt- flüchtete zu beschäftigen. Doch sehen migrationspolitischen Folgen der Globa- bezogener Einwanderung durchlässiger sich ebenso viele vor bürokratische „ lisierung. Das Ausmaß des gegenwärtigen macht. und praktische Hürden gestellt, sodass Flüchtlingsgeschehens ist eine außeror- es bislang nur wenige Unternehmen dentliche Herausforderung und das Zu- Deutschland ist schon sind, die zeigen, wie die (betriebliche) trauen in die Integrationsmöglichkeiten Einwanderungsland.“ Ausbildung oder Beschäftigung von Deutschlands scheint dahinzuschmelzen. Geflüchteten gelingen kann. Auch hier Was außerdem fehlt, ist ein abgestimmtes Für eine Einwanderungs- und Inte- ist Unterstützung nötig. gesamteuropäisches Vorgehen. Dennoch: grationspolitik aus einem Guss sollten Aufgrund der deutschen Einwanderungs- außerdem die föderalen Institutionen Bei Asylsuchenden führt der Weg in geschichte könnte das Klima auch hierzu- durch Aufgabenbündelung gestärkt wer- Ausbildung und Arbeit über zügige „ lande ein anderes sein. den. Allein auf Bundesebene verwalten Anerkennungsverfahren. Erst wenn der derzeit zwölf Ministerien und nachge- Status geklärt ist, kann ein Fallmanage- Institutionen durch ordnete Behörden migrationspolitische ment greifen. Vor diesem Hintergrund Aufgabenbündelung stärken.“ Verantwortungsbereiche. Ein zuständiges ist der gegenwärtige Verwaltungsstau Bundesministerium wäre sinnvoll, wenn beim zuständigen Bundesamt ein dop- Laut statistischem Bundesamt hatte 2014 es mit entsprechender Gesetzgebungs- peltes Ärgernis: Er prägt die öffentliche bereits ein Fünftel der Bevölkerung, das kompetenz ausgestattet wäre. In jedem Wahrnehmung des Flüchtlingsgesche- sind 16,4 Millionen Menschen, einen Fall sollte die Rolle der Bundesagentur hens als Krise und erzeugt einen zer- Migrationshintergrund (siehe Abb.). Hier- von leben über 80 % länger als sechs Jahre in Deutschland, die Mehrheit sogar BEVÖLKERUNG UND FLÜCHTLINGSGESCHEHEN IN DEUTSCHLAND schon mindestens 20 Jahre. Größenordnungen Lehren aus den bisherigen Integrati- onsprozessen – ungelöste Herausfor- derungen wie auch Erfolge – scheinen jedoch kaum im gesellschaftlichen Be- wusstsein verankert zu sein. Eine ausge- prägte Offenheit gegenüber Migranten, die auf Teilhabe und Inklusion zielt, ist nicht entstanden. Davon kann man sich auf den rechtspopulistischen PEGIDA- Demonstrationen überzeugen. Auch zahl- reiche Bevölkerungsbefragungen geben hierüber Auskunft. Stabil sind die Mehr- heiten, für die Konfliktpotenziale oder Mehrbelastungen des Sozialstaates im Vordergrund stehen. Befragungen von Migranten belegen die Häufigkeit von Diskriminierungserfahrungen. EINWOHNER davon mit REGISTRIERTE davon Asylanträge davon voraussichtlich DEUTSCHLAND 2014 Migrationshintergrund GEFLÜCHTETE 2015 2015: mit positiver Asyl- Die Einsicht, dass Deutschland seit Lan- 81.200.000 2014: (EASY-System): 476.000 entscheidung 2015: gem faktisch ein Einwanderungsland ist, 16.400.000 1.100.000 237.000 setzt sich offenbar nur zögerlich durch. Die Prognos AG, wie auch praktisch alle Quelle: BAMF/Destatis, Darstellung: Prognos Prognos trendletter April 2016 5
Fachbeitrag Zuwachs als Grund zur Freude: Viele Kommunen und Bundesländer, darunter Brandenburg (l.), Hannover (m.) und Thüringen (r.), begrüßen ihre Neubürger auf Einbürgerungsfeiern. mürbenden Wartestand bei den Asyl- In den Kommunen und Wohnquartieren reichen der schulischen und beruflichen suchenden. Je länger Unsicherheit über sind die Auswirkungen der Zuwanderung Bildung und der kommunalen Daseins- die Bleibeperspektive besteht, desto und auch die Angst vor einer Überfor- vorsorge. Die gesellschaftliche Akzeptanz schwieriger wird es, dass Geflüchtete derung am deutlichsten erfahrbar. Hier schafft eine klare integrationspolitische und potenzielle Arbeitgeber zueinan- wird Integration immer häufiger als res- Agenda, die nicht bei der Beseitigung derfinden. Gelingt dies nicht, besteht sortübergreifende Aufgabe verstanden. der gegenwärtigen Verwaltungskrise oder die Gefahr, dass sich neue, prekäre Vielerorts werden partizipatorische An- der Abschiebung von Straftätern stehen „ Lebenssituationen verfestigen. sätze der Einbeziehung von Menschen bleibt, sondern auf die Chancen aus- mit Migrationshintergrund verfolgt. Als gerichtet ist, die Migration mittel- bis Zuwanderung verändert hilfreich erweisen sich außerdem zentrale langfristig bietet – it‘s 2016! _ Deutschland nachhaltig.“ Anlaufstellen und ein integriertes Fall- management, die dabei helfen, Sprach- Da sich die Zuwanderung von Geflüch- kurse, Wohnungen, medizinische Versor- teten und Familiennachzüge nicht nach gung, Kinderbetreuung etc. passgenau zu der Qualifikation steuern lassen, ist es vermitteln. umso wichtiger, dies bei Arbeitsmigran- ten zu tun. Hilfreich für einen im Sin- Viele dieser Aufgabenbereiche werden ne der Wirtschaft und der Migranten derzeit durch ehrenamtliche Helfer un- passgenauen Fachkräftezuzug ist ein terstützt, wenn nicht sogar aufgefangen. flexibles, qualifikations- und nachfra- Das ist kein Dauerzustand. Notwendig gegesteuertes Zuwanderungssystem. sind Investitionen in eine professionelle Hier ist Deutschland mittlerweile gut Infrastruktur für die Flüchtlingshilfe, z. B. aufgestellt: Es ist nach den USA das um Migrantenorganisationen mit sprach- beliebteste Land für dauerhafte Zuwan- lichen Zugängen zu wichtigen Flücht- derung in der Welt. Die Neuregelungen lingsgruppen besser einzubinden oder um für die Einwanderung von Fachkräften die 10.000 zusätzlichen Plätze des Bun- „ und Studierenden aus dem Nicht-EU- desfreiwilligendienstes zu begleiten. Ausland nach Deutschland führen seit 2007 zu steigenden Beschäftigungsquo- Deutschland ist attraktiv ten wie sonst nirgends innerhalb der für Fachkräfte.“ OECD. „Deutschland konnte in den ver- gangenen Jahren viele Lehren aus der Zuwanderung wird Deutschland nach- Arbeitsmarktintegration von Migranten haltig verändern. Es bedarf daher ziel- Andreas Heimer ziehen“, betont OECD-Generalsekretär gerichteter Investitionen und staatlicher Angel Gurría. Unterstützung, insbesondere in den Be- andreas.heimer@prognos.com 6 Prognos trendletter April 2016
Rankings Integration in Zahlen 15 von 34 OECD-Staaten haben einen Migrantenanteil von rund 20 % oder mehr. Bei ausgewählten Gradmessern für Integration schneiden die Länder unterschiedlich gut ab. Arbeitslosenquote von im Ausland Geborenen gegenüber Einheimischen (Differenz in Prozentpunkten, 2014) SCHLECHTESTE: BESTE: BELGIEN SCHWEIZ SCHNITT 15 LÄNDER DEUTSCHLAND ISRAEL 10,4 4,4 3,6 3,3 -1,0 Positive Zahlen bedeuten, die Arbeitslosenquote der im Ausland geborenen Erwerbspersonen ist höher als die der Einheimischen. Lesefertigkeit von 15 Jahre alten Kindern mit Migrationshintergrund gegenüber Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund (Differenz in Pisapunkten, 2012) SCHLECHTESTE: BELGIEN & BESTE: NIEDERLANDE SCHWEIZ DEUTSCHLAND SCHNITT 15 LÄNDER AUSTRALIEN je -51 -41 -25 27 -55 Negative Zahlen bedeuten, Kinder mit Migrationshintergrund lesen schlechter als Kinder ohne Migrationshintergrund (Second Generation). Wie lange dauert es, bis ein Asylantrag bearbeitet ist? (in Monaten, bis zur erstinstanzlichen Entscheidung, 2015) AM LÄNGSTEN: AM KÜRZESTEN: SCHWEIZ DEUTSCHLAND BELGIEN 9,9 5,3 2,5 Länderdurchschnitt nicht möglich, da für einige der 15 Länder keine Informationen verfügbar sind. Wie hoch ist der Anteil ausländischer Studierender an allen Studierenden? (in Prozent, 2013) * NIEDRIGSTER: HÖCHSTER: ESTLAND DEUTSCHLAND SCHNITT 15 LÄNDER SCHWEIZ AUSTRALIEN 3 7 11 17 18 Wie viele Spieler im Kader der Fußball-Nationalmannschaft haben einen Migrationshintergrund? (WM 2014) ** WENIGSTE: MEISTE: ENGLAND DEUTSCHLAND FRANKREICH & SCHWEIZ je 2 6 13 Länderdurchschnitt nicht möglich, da sechs der 15 Länder ohne WM-Teilnahme. Anm. England: ohne 3. Generation Einwanderer. Die 15 Staaten im Einzelnen: Israel (67 % Migranten), Australien (46 %), Neuseeland (45 %), Schweiz (43 %), Kanada (38 %), Quelle (alle): OECD Estland (34 %), Belgien (31 %), Schweden (28 %), Österreich (27 %), Frankreich (26 %), USA (24 %), Norwegen (21 %), Abweichende Quellen: Deutschland (20 %), Niederlande (20 %), Großbritannien (19 %). (2013) * OECD, UNESCO, Eurostat Migranten = selbst im Ausland geboren oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren. ** Medien-Servicestelle Neue Österreicher/innen Prognos trendletter April 2016 7
Interview „Es mangelt an Konzepten“ Dr. Steffen Angenendt und Claudia Münch sprechen mit der Trendletter- Redaktion über Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik jenseits des Krisenmodus. Stellen wir uns vor, wir schreiben das davon 1 Million beruflich gebildete Fach- man abgerückt und für Unternehmen Geschichtsbuch im Jahr 2050 und bli- kräfte und 500.000 Akademiker. Selbst ist es leichter geworden, im Ausland zu cken zurück auf 2015. Ist das Jahr ein frühere Berufseinstiege, längere Lebens- rekrutieren. Offenbar ist Letzteres aber Wendepunkt? arbeitszeiten, mehr Erwerbstätigkeit von noch nicht bekannt genug – weder bei Frauen und ein erhöhter Bildungsstand den ausländischen Fachkräften noch bei Angenendt: Ja, in zweifacher Hinsicht. werden das nicht ausgleichen. Das Pro- den Unternehmen. Zum einen wegen der Hilfsbereitschaft der blem wird zur Wachstumsbremse. Wir Bevölkerung für Flüchtlinge, zum anderen brauchen daher Zuwanderung, um das Angenendt: Das stimmt. Es gibt immer „ wurden 2015 aber auch Defizite in Politik Wohlstandsniveau halten zu können. noch das Image, dass es schwierig ist, in und Verwaltung deutlich. Es gibt zwar in Deutschland Fuß zu fassen. Es fehlt auch vielen Kommunen ein tolles Engagement Vermutlich brauchen wir der Wille der Unternehmer, ausländi- der Bürgermeister und Ämter, auch viele Beschäftigungsprogramme.“ sche Fachkräfte einzustellen. Kleine und gute Ideen für die neuen Aufgaben. Aber – S. Angenendt mittelständische Unternehmen befürch- gerade auf Landes- und Bundesebene feh- ten hohen bürokratischen Aufwand und len mittel- und langfristige Konzepte, wie Angenendt: Brauchen wir nicht auch die Schwierigkeiten bei der kulturellen Ein- mit der Zuwanderung umgegangen wer- Zuwanderung von Geringqualifizierten? bindung. Problematisch sind natürlich den soll. Nach wie vor befindet sich die Dazu wissen wir zu wenig. Viele glauben, auch Sprachbarrieren. Politik im Krisenmodus und ist vor allem dass der Bedarf an Geringqualifizierten auf die Aufnahme und Erstversorgung fi- abnehmen wird. Aber stimmt das so? Oder Es heißt, Studierende seien ideale xiert. Die längerfristigen Aufgaben, vor ist mit hoch qualifizierter Beschäftigung Migranten, weil sie qualifiziert sind und allem die Integration, werden noch nicht nicht auch ein zunehmender Bedarf an bereits ein interkulturelles Training an richtig wahrgenommen. Beides müsste gering qualifizierten Tätigkeiten, etwa bei der Uni hinter sich haben. Wie können aber gleichzeitig geschehen. haushaltsnahen Dienstleistungen, verbun- wir sie im Land halten? den? Dazu brauchen wir belastbare Prog- Zuwanderung – da denken wir heute vor nosen und eine politische Debatte, gerade Münch: Hürden beim Übergang von der allem an Flucht. Doch schon 2014 waren angesichts der aktuellen Flüchtlingszu- Hochschule in den Arbeitsmarkt müssen wir zweitbeliebtestes OECD-Zuwande- wanderung. abgebaut werden. Es braucht intensivere rungsland nach den USA. Brauchen wir Beratung über Karrierewege und eine Öff- noch mehr Zuwanderer? Bleiben wir bei Zuwanderung als Arbeits- nung deutscher Arbeitgeber. Die Investition migration. Ist Deutschland dafür denn in ausländische Studierende lohnt auch aus Münch: Ein deutliches Ja. Dass die deut- attraktiv genug? Sicht des Staats. Für den Deutschen Aka- sche Bevölkerung schrumpft und altert, demischen Austauschdienst haben wir be- ist schon lange bekannt. Die Zahl der Münch: Deutschland hat – zumindest rechnet, dass sich öffentliche Ausgaben wie Erwerbspersonen wird massiv zurückge- rechtlich – sehr aufgeholt. Die Blue Card die Studienfinanzierung nach fünf Jahren hen – mit enormen Auswirkungen auf regelt die Zuwanderung Hochqualifizierter amortisieren, wenn 30 % der ausländischen den Arbeitsmarkt. Wir haben berechnet, – und ist im europäischen Vergleich sehr Studierenden nach ihrem Abschluss im dass bis 2020 eine Arbeitskräftelücke von liberal. Auch vom Grundsatz „Keine Land bleiben. Denn sie sind dann ja auch 1,8 Millionen Personen entstehen wird, Einwanderung ohne Arbeitsvertrag.“ ist Konsumenten und Steuerzahler. Dr. Steffen Angenendt leitet die Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik und berät u. a. die Bundesregierung und UN-Organisationen zu Demografie und Migration. 8 Prognos trendletter April 2016
Interview Claudia Münch ist Projektleiterin bei der Prognos AG und befasst sich mit migrations- und integrationspolitischen Fragestellungen sowie der Analyse des Fachkräftebedarfs. Angenendt: Wichtig sind auch Netzwer- gessen. Übrigens hat die offene Aufnah- en zu erarbeiten. Migration, Flucht und ke: Hier könnten Universitäten, Behör- me der Flüchtlinge auch einen positiven Entwicklung müssen zusammengedacht den, Wirtschaft und zivilgesellschaftliche Effekt auf die Arbeitsmigration: Ein Land, werden. Und wir brauchen eine Verbes- Organisationen noch mehr machen, um das Menschen willkommen heißt, ist auch serung der europäischen Zusammenar- Studierenden Kontakte bereits während attraktiver für die Hochqualifizierten. Die beit. Dabei sollten wir nicht auf Zwang der Ausbildung zu vermitteln. Symbolkraft der Bilder aus 2015 sollte und Top-down-Ansätze setzen wie beim Noch einmal zu den Geflüchteten. Da gibt es doch große Unterschiede im Ver- gleich zu Arbeitsmigranten und Studie- „ man nicht unterschätzen. Nur durch Zuwanderung können wir unser Wohlstands- EU-Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge. Warum nicht das Prinzip umkehren und probehalber Kommunen die Möglichkeit geben, sich für die Erstunterbringung zu renden? niveau halten.“ – C. Münch bewerben? Als Kompensation gäbe es at- traktive Finanzmittel. Angenendt: Mit hoher Wahrscheinlich- Was ist gelungene Integration und wel- keit werden viele Flüchtlinge für lan- che Fehler sollten wir nicht wiederholen? Nehmen wir zum Schluss nochmals das ge Zeit bleiben. Deswegen sollten wir Geschichtsbuch 2050 in die Hand. Wurde sie als Einwanderer betrachten. Es liegt Münch: Es ist nicht planbar, wer hier- die Krise zur Chance? Und wenn ja, wie? in unserem eigenen Interesse, ihnen so bleibt, weiterzieht oder zurückgeht. Des- schnell wie möglich Zugang zu Bildung wegen ist es wichtig, dass alle Zuwande- Münch: Das Erlernen der deutschen und Beschäftigung zu verschaffen. Nach rer an der Gesellschaft teilhaben, auch, Sprache, echte Verbindungen mit der ersten Bestandsaufnahmen ist allerdings damit keine Parallelgesellschaften ent- deutschen Gesellschaft und adäquate Bil- das Qualifikationsniveau in vielen Fällen stehen. Wichtig ist, dass Integration zu- dungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten nicht besonders hoch. gleich eine Forderung ist und ein Recht, für alle Zuwanderungsgruppen waren ohne Diskriminierung zu leben. Und dass wichtige Weichenstellungen von der Kri- Münch: Wichtig ist, dass minderjährige wir sie nicht mit Anpassung gleichsetzen. se zur Chance. Integration gelang durch Asylsuchende von Anfang an zur Schule Zeit und die Offenheit aller Beteiligten. gehen und Erwachsene einen Sprachkurs Angenendt: Richtig, der Begriff „Teilha- besuchen. Insgesamt muss sich unser be“ beschreibt das Ziel von Integration: Angenendt: Es gab einen runden Tisch Bildungssystem stärker auf heteroge- Ein eigenständiges und selbstbestimmtes mit allen relevanten Kräften, der im Kon- ne Zielgruppen einstellen und flexibler Leben führen zu können, selbstverständ- sens strategische und langfristige Lö- werden, zum Beispiel indem man Kom- lich unter Respektierung des hier gelten- sungswege erarbeitete. Und: Es gelang, petenzen nicht ausschließlich anhand den Rechts. sich auf europäischer Ebene – zunächst formaler Kriterien wie etwa Zeugnissen bei einer Gruppe von Kernstaaten – auf feststellt und Deutschkurse in die Aus- Und wie soll das gehen? eine gemeinsame Asylpolitik und Ver- bildung integriert. antwortungsteilung zu einigen. Auch die Angenendt: Die Aufgabe ist so groß und Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Angenendt: Unser Ziel muss sein, die dauerhaft, dass wir endlich auch pas- Transitländern wurde intensiviert. Und Einwanderer möglichst bald von staat- sende Strukturen brauchen, vor allem generell rate ich zu mehr Gelassenheit lichen Transferleistungen unabhängig eine Bündelung der Kompetenzen und und Selbstvertrauen in der Flüchtlings-, zu machen. Vermutlich werden wir Be- Expertisen in einem Bundesministerium Migrations- und Integrationspolitik. _ schäftigungsprogramme brauchen, bis für Migration, Flucht und Integration, sie für den ersten Arbeitsmarkt fit sind. also einem Einwanderungsministerium. Im Idealfall verbinden wir Beschäftigung Das geht, wenn man will! Und es würde mit Qualifizierung. Dabei dürfen wir die dabei helfen, aus dem Krisenmodus her- hiesigen Langzeitarbeitslosen nicht ver- auszukommen und langfristige Strategi- Die Fragen stellte Jens Hobohm. Prognos trendletter April 2016 9
Zeitzeugnis Blick ins Archiv: Perspektiven für Migrantinnen Wenn Frauen mit Migrationshintergrund berufstätig sind, hat dies gesellschaftspolitisch gleich mehrere Vorteile. Eine Erkenntnis, zu der Prognos-Studien seit 1990 wesentlich beigetragen haben. Vor 26 Jahren war die Bezeichnung gebnisse zur Gruppe der Mütter mit ter und die Teilhabechancen ihrer Kinder. „Migrant“ noch nicht obligatorisch, Migrationshintergrund geschaffen – 2,4 Schließlich werden Erwerbspotenziale für ebenso wenig das Attribut „Migrati- Millionen Mütter mit 4,1 Millionen Kin- den Arbeitsmarkt erschlossen, die in ei- onshintergrund“. Auf die besonders dern unter 18 Jahren. Es wurde deut- nigen Berufsfeldern, wie z. B. der Pflege, belastete Erwerbssituation ausländi- lich, wer die Frauen und ihre Familien den Fachkräftemangel abmildern können. scher Frauen war bei einem Hearing der eigentlich sind, ob und wie sie arbeiten damaligen Ausländerbeauftragten der und welchen Bildungsstand sie haben. Es gilt, Verwaltung, Jobcenter und Un- Bundesregierung aufmerksam gemacht In zwei weiteren Projekten analysierte ternehmen für die Potenziale zu sensi- worden. Auch gab es Reportagen über Prognos dann erstmalig systematisch bilisieren und die vorhandenen Ange- Einzelschicksale. Systematische Unter- und umfassend die Herausforderungen bote für die Zielgruppe zu öffnen und suchungen dagegen fehlten – bis 1990 und Erfolgsfaktoren der Erwerbsinte- miteinander zu verzahnen. Da die Pro- Prognos vom zuständigen NRW-Mi- gration von Müttern mit Migrationshin- blematik mehrere Dimensionen betrifft, nisterium mit einer Untersuchung be- tergrund. 2011 wurde die erste Studie ist auch klar, dass ein ressortübergrei- auftragt wurde. Das Ziel: Systemati- zum Thema durchgeführt, 2012/13 dann fender Ansatz notwendig ist. Das kann sche Erkenntnisse zur Lebenssituation die Wirkungsanalyse zum Bundespro- funktionieren. So hat beispielsweise erwerbstätiger Ausländerinnen. Das gramm „Ressourcen stärken – Zukunft das Bundesfamilienministerium mit der Vorgehen bestand darin, in der statis- sichern“. Ausgewählte Ergebnisse er- Bundesagentur für Arbeit einen starken tischen Analyse die Strukturen der Er- schienen in der Broschüre „Integration strategischen Partner für das aktuell werbsbeteiligung und Erwerbstätigkeit mit Zukunft: Erwerbsperspektiven für laufende Programm „Stark im Beruf“ von Ausländerinnen herauszuarbeiten Mütter mit Migrationshintergrund“. gewonnen. _ und mittels biografischer Interviews nachzuzeichnen, wie sich diese Struk- Heute ist nicht zuletzt dank dieser turen in individuellen Lebensläufen Untersuchungen klar, dass der Erwerbs- konkretisieren. Dazu führte Prognos integration von Müttern mit Migrations- 150 Interviews mit erwerbstätigen Aus- hintergrund aus integrations-, familien- länderinnen. „Mithilfe der Lebensläufe und arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunk- wurde die Mehrfachbelastung greifbar“, ten eine zentrale Bedeutung zukommt. erinnert sich die damalige Projektleite- Sie stärkt nicht nur die wirtschaftliche rin Dr. Heidrun Czock (heute: ebb Ent- Situation der Familie, sondern verbessert wicklungsgesellschaft für berufliche die gesellschaftliche Integration der Müt- Bildung). Die Belastungen entstanden durch die Familientrennung zu Beginn der Arbeitsmigration, beengte Wohn- verhältnisse, eine fehlende Entlastung bei der Kinderbetreuung, eine beson- ders belastende Arbeit, die rechtli- che Unsicherheit über den Verbleib in Deutschland und die Sorge um die Zu- kunftschancen der Kinder. „Die Frauen erhofften sich mehr Vorbilder: Auslän- dische Frauen, die es in eine gute Arbeit geschafft haben. Damit ihren Töchtern eine Perspektive aufgezeigt wird“, so Czock. Diese Ergebnisse sind nach wie vor überraschend aktuell. In den Jahren 2010 bis 2014 führte Prognos gemein- sam mit dem Bundesfamilienministeri- um weitere Untersuchungen zum Thema durch. Erstmalig wurden bundesweite, umfassende Daten- und Analyseer- 10 Prognos trendletter April 2016
Fachbeitrag Wie Verwaltung und Bürger gemeinsam mehr schaffen Das Potenzial der Zusammenarbeit zwischen Behörden und Zivilgesell- schaft ist groß. Durch einen Wandel ihres Selbstverständnisses und neue Kompetenzen kann die Verwaltung das Engagement bestmöglich gestalten. 2015 zeigte das vorhandene Potenzial für zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland. Viele Bürger sind bereit, die Neuankömmlinge bei der Bewälti- gung der Herausforderungen zu unter- stützen, und auch viele Unternehmen bieten unentgeltlich Hilfe an. Gemeinsam unterstützen sie auch die Kommunen bei ihren Versorgungsaufgaben und bei der Integrationsarbeit. Dort, wo Verwaltung und Zivilgesellschaft vertrauensvoll und umfassend zusammenarbeiten, ist der Widerstand gegen Flüchtlingsunterkünf- te geringer und es gelingt besser, die ersten Schritte zur Integration zu gehen. Damit wird der schon länger prognos- tizierte Trend zu mehr Kooperation und Koproduktion zwischen Zivilgesellschaft „ Freiwillige Programmierer in Berlin: Hier entstehen Tools für Geflüchtete und Helfer, etwa für die undVerwaltung bestätigt. Koordination der Ehrenamtlichen oder das Wartemanagement beim Amt. Die klassische Handlungslogik Gefordert sind eine neue Rolle und neue Um die Herausforderungen der nächs- von Verwaltung überwinden.“ Kompetenzen in der Verwaltung. Die ten Jahre bewältigen zu können, müssen Verwaltungsmitarbeiter sind nicht mehr Deutschlands Kommunen den zivilge- Die Erfahrungsberichte aus den Kom- alleinige Experten und Lieferanten von sellschaftlichen Gestaltungswillen ernst munen zeigen zugleich, dass die rei- Leistungen, sondern partnerschaftliche nehmen und das Potenzial ihrer Bürger bungslose Einbindung der vielen En- Coaches, Moderatoren und Unterstützer. aufgreifen. Die Personalentwicklung in gagierten eine große Herausforderung den Kommunen sollte daher zum erfor- für die Verwaltung ist. Bürger planen Gefragt sind daher: derlichen Kulturwandel beitragen und die Initiativen, gestalten Umsetzungsoptio- Kompetenzen für eine erfolgreiche Zu- nen mit und möchten bei der Auswahl » Netzwerk- und Beziehungsmanager, sammenarbeit aufbauen. _ von Alternativen mitreden. Sie fordern um den Partizipationswillen anzuregen Transparenz, informieren sich über die und zu erhalten. Umsetzung und hinterfragen Entschei- dungen von Politik und Verwaltung. » Management- und Organisationsfä- Dabei halten sie sich jedoch oft nicht an higkeit, um das veränderte staatliche verwaltungsintern festgelegte Zustän- Steuerungsverständnis umzusetzen. digkeiten und Entscheidungsprozesse. » Kreativität und Veränderungsfähig- Gleichzeitig soll die Verwaltung aber keit, um flexibel auf unterschiedliche Herr des Verfahrens bleiben und Gleich- Anforderungen und Lösungen reagieren behandlung, Mindeststandards im Leis- zu können. tungsumfang und Rechtssicherheit ga- rantieren. Daher muss die klassische » Projektmanagementkompetenz, um Pro- „geschlossene“ Handlungslogik von jekte mit internen und externen Partnern Verwaltung immer häufiger überwun- zu steuern. den werden. Die Organisation muss durchlässiger werden, um Impulse der » Konfliktfähigkeitund Empathie, um Zivilgesellschaft aufgreifen zu können. auch in kritischen Situationen ange- Dies gelingt, wenn neue Kompetenzen messen zu reagieren und zwischen un- einen Kulturwandel in der Verwaltung terschiedlichen Interessen moderieren David Wilkskamp anregen. zu können. david.wilkskamp@prognos.com Prognos trendletter April 2016 11
Szenarien Szenarien ABB. 1: E NTWICKLUNG DER PERSONEN MIT NIEDRIGER QUALIFIKATION ABB. 2: E NTWICKLUNG DER ERWERBSPERSONEN in Mio. Personen DIE VIER SZENARIEN in Mio. Personen TEILHABE 3 2 gering hoch A 0* 2 B A -2 500.000 Personen 1 -4 A B 0* JÄHRLICHE NETTO-ZUWANDERUNG B -6 C D -1 -8 C D -2 10 2013 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2013 2015 2020 2025 2030 2035 2040 * Personen mit niedriger Qualifikation im Alter zw. 15 u. 65 Jahren im Jahr 2013: 7,3 Mio. * Erwerbspersonen im Jahr 2013: 44,5 Mio. 100.000 Personen C D ABB. 3: E NTWICKLUNG DER PERSONEN MIT BERUFSQUALIFIZIERENDEM ABSCHLUSS ABB. 4: E NTWICKLUNG DES BEDARFS AN KINDERBETREUUNGSPLÄTZEN in Mio. Personen in Tsd. 600 4 B 2 400 B A 0* Wir unterscheiden einerseits zwischen 200 » einer schwächeren (Netto-) Zuwanderung von langfristig 100.000 Personen p. a. und 0* -2 A » einer starken (Netto-) Zuwanderung von 500.000 Personen p. a. -4 Andererseits unterscheiden wir hinsichtlich der Teilhabe dieser Zuwanderer am gesellschaftlichen Leben, und zwar zwischen -200 -6 » einer Situation, in der diese Zuwanderer im Durchschnitt der aktuell in Deutschland lebenden D Bevölkerung mit Migrationshintergrund entsprechen (diese Gruppe hat im Vergleich zur Bevölkerung -400 D C ohne Migrationshintergrund statistisch betrachtet seltener einen Schul- oder berufsqualifizierenden -8 C Abschluss, ist im Schnitt weniger gut in den Arbeitsmarkt eingebunden, hat ein höheres Risiko von Erwerbslosigkeit und Armut). Die Situation bildet die Risiken der Integrationspolitik der letzten -600 -10 2013 2015 2020 2025 2030 2035 2040 Jahrzehnte ab; 2013 2015 2020 2025 2030 2035 2040 » einer Situation, in der die Zuwanderer im Durchschnitt der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund entsprechen. Diese Situation steht exemplarisch für eine erfolgreiche Integrationspolitik. * Kinder in Kindertageseinrichtungen im Jahr 2013: 3.213 Tsd. Personen * Personen mit einem berufsqualifizierenden Bildungsabschluss im Alter zw. 15 u. 65 Jahren im Jahr 2013: 39,0 Mio. Deutschland – mit und ohne Die Ergebnisse (Abb. 1-4) Die Ergebnisse zeigen zunächst einige digitalisierten Wirtschaft mit steigen- den Anforderungen an die Mitarbeiter Die Szenarien geben Hinweise auf die langfristigen Potenziale gelungener Migra- Vier Zuwanderungsszenarien geben Hinweise, wie Deutschland Folgen für den Arbeitsmarkt (Abb. 1-3). So zeigt ein Vergleich zwischen den bei- drohen Arbeitslosigkeit und Kosten für den Sozialstaat. tions- und Integrationspolitik. Sie zeigen: Entscheidend ist die Kontinuität der Zu- im Jahr 2040 aussehen könnte. den Szenarien mit schwächerer Zuwan- wanderung und, dass ihr eine Integration derung, dass eine höhere Teilhabe zwar Zuwanderung erfolgt jedoch nie nur in in den Arbeitsmarkt folgt. All das – wie Die Ergebnisse der oben dargestellten Ausnahme. Zudem haben groben Schät- Kaum realistisch ist es, dass wirklich positiv auf das Fachkräfteangebot wirkt, den Arbeitsmarkt. Exemplarisch für an- auch die parallel benötigte qualifizierte Modellrechnungen veranschaulichen die zungen zufolge nur etwa 50 % der aktuel- alle – insbesondere ältere – Zuwanderer der Effekt aber quantitativ begrenzt ist dere Lebensbereiche ist hier die Kinder- Zuwanderung – braucht allerdings schon Chancen einer gelungenen Integrations- len Asylsuchenden eine Bleibeperspektive. in ihrem eigenen Leben noch den glei- (Szenarien C, D in Abb. 2, 3). betreuung dargestellt (Abb. 4). Auch die- heute langfristiges Denken und gute Kon- politik mit qualifizierter Zuwanderung. chen Grad an Teilhabe erreichen werden se hat jedoch letztlich einen Bezug zur zepte. Es liegt in unseren Händen. _ Sie zeigen aber auch die Risiken der bis- Die Zahl von 500.000 Personen (Szena- wie die übrige Bevölkerung. Möglich Deutlich positiver wirkt eine höhe- Jobsituation – liegt doch die Erwerbsbe- herigen Einwanderungspolitik. Der Blick rien A, B) mag hingegen zunächst hoch wäre aber, dass ein Zuwandererkind, das re Teilhabe dagegen in den Szenari- teiligung von Frauen mit Migrationshin- reicht dabei bis ins Jahr 2040. erscheinen. Das hat Deutschland außer heute in Deutschland geboren wird, im en mit mehr Zuwanderung (A, B). Sie tergrund derzeit noch deutlich unterhalb 2014 und 2015 selten erreicht, zuletzt Jahr 2040 einen ähnlich hohen Grad an führt nicht nur dazu, dass Deutschland der anderer Frauen. Zugleich besuchen Die Szenarien in den 1990ern. Doch für andere Einwan- Teilhabe erreicht haben kann wie eine immerhin annähernd sein Arbeitskräf- Kinder mit Migrationshintergrund sel- Eine Nettozuwanderung von 100.000 derungsländer wie z. B. Kanada, Norwe- Person ohne Migrationshintergrund. teangebot halten kann (Abb. 2), sondern tener Kindertageseinrichtungen. Das Personen p. a. bis 2040 (Szenarien C, D) gen und die Schweiz ist eine langfristige Wir unterstellen also ein Angleichen der sogar zu einem Anstieg der Personen legt den Schluss nahe, dass eine auf die mag niedrig erscheinen, ist aber nicht Zuwanderung dieser Größenordnung Teilhabemöglichkeiten. Die beiden Sze- mit berufsqualifizierendem Bildungsab- Erhöhung der Erwerbsbeteiligung weib- unrealistisch: Sie entspricht dem Schnitt (gemessen an der Bevölkerungsgröße) narien mit hoher Teilhabe stehen exem- schluss (Abb. 3). Eine niedrige Teilhabe licher Zuwanderer ausgerichtete Politik Dr. Stefan Moog der 2000er-Jahre, die aktuell hohen Zu- längst Realität. plarisch für einen Zustand, in dem dies hingegen führt zu einer steigenden Zahl auch einen Ausbau der Betreuungsmög- wandererzahlen bilden historisch eine gelingt (Szenarien B, D). Geringqualifizierter (Abb. 1). In einer lichkeiten erfordern wird. stefan.moog@prognos.com 12 Prognos trendletter April 2016 Prognos trendletter April 2016 13
Fachbeitrag Berufsschulen – Starthilfe für die Starthelfer Dank ihrer besonderen Kompetenz können berufliche Schulen eine große Zahl von Geflüchteten für den Arbeitsmarkt fit machen – wenn Politik und Verwaltung die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Nicht erst seit den Vorfällen der Silves- sem Sektor eine bedeutende Rolle (siehe Obwohl Bedarf vorhanden ist, die Inte- ternacht wird in Medien und Öffentlich- Abb.). Auch Kammern, Unternehmens- gration von Geflüchteten in die duale keit thematisiert, dass vor allem junge verbände und Industrie betonen, dass Berufsausbildung ist kein Selbstläufer. Männer als Geflüchtete oder Asylbe- junge Geflüchtete eine Zielgruppe mit Zwar ist die Mehrheit der jungen Män- werber nach Deutschland kommen. Die viel Potenzial für die betriebliche Ausbil- ner und Frauen sehr motiviert, schnell Attribute „jung“ und „männlich“ sind dung sind und weisen auf die wachsende berufstätig zu werden. Doch viele Ge- dabei primär negativ besetzt: Ein demo- Zahl unbesetzter Ausbildungsstellen hin. flüchtete sind mit dem deutschen Sys- grafisches Ungleichgewicht erhöhe den So wurden der Bundesagentur für Arbeit tem nicht vertraut. Die Bedeutung einer Druck auf die Arbeitsmärkte und das im vergangenen Ausbildungsjahr etwa dualen Ausbildung erschließt sich ihnen Risiko für Kriminalität. Hier lohnt eine 40.000 unbesetzte Stellen gemeldet, häufig nicht. Sie ziehen ein Studium vor differenzierte Betrachtung. 20 % mehr als im Vorjahr. Ein Trend, der oder wählen den direkten Einstieg in die sich fortsetzen wird und vor allem Bran- ungelernte Erwerbstätigkeit. Nach einer Knapp 56 % der Personen, die 2015 ei- chen wie das Hotel- und Gaststättenge- Erhebung des zuständigen Bundesamts nen Asylantrag stellten, waren unter 25 werbe sowie das Lebensmittelhandwerk haben nur 10 % der Befragten eine Aus- Jahre alt. Ein Hebel für ihre berufliche trifft. bildung aufgenommen. Hinzu kommt, Integration ist eine anerkannte Berufs- dass selbst die wenigen erfolgreichen Beispiele mit hohen Abbruchquoten zu kämpfen haben: Knapp ein Drittel aller Jugendlichen ohne deutsche Staatsbür- gerschaft löst ihren Ausbildungsvertrag vorzeitig auf. Das sind sieben Prozent- punkte mehr Vertragsauflösungen als bei den deutschen Auszubildenden. Es gibt noch keine aussagekräftigen Zahlen zur Gruppe der Geflüchteten, doch vermut- lich wird der Anteil der Vertragslösun- gen dort nochmals höher liegen. Es besteht also ein verstärkter Hand- lungsbedarf bei der Berufsorientierung und Ausbildungsvorbereitung. Zudem müssen auch potenzielle Ausbildungs- betriebe besser beraten und unterstützt werden. Die beruflichen Schulen spie- len hierbei eine zentrale Rolle. In ihre Zuständigkeit fällt die Ausbildungsvor- bereitung für Jugendliche, welche die allgemeinbildenden Schulen verlassen Kennenlernaktion von Bremer Unternehmen für potenzielle Azubis: An Initiative fehlt es häufig haben. Entsprechend schlagen sich die nicht, doch im Ausbildungsverlauf fehlt die systematische Unterstützung für beide Seiten. gestiegenen Flüchtlingszahlen auch in den Neuzugängen in den ausbildungs- ausbildung in schulischer oder dualer Ein Blick in die Praxis zeigt, dass viele vorbereitenden Klassen nieder. Form. Bedarf ist vorhanden: In vielen Betriebe noch Schwierigkeiten haben, Sektoren verschärft der Fachkräfteman- mit kultureller Vielfalt umzugehen. Da mit einem weiteren Anstieg zu rech- gel sich schon heute. So könnte die er- Nach wie vor sind Jugendliche ohne nen ist, gibt es in einigen Bundeslän- folgreiche Integration von Zuwanderern deutsche Staatsbürgerschaft in der dua- dern bereits spezifische Angebote. In künftig helfen, die gesundheitliche Ver- len Ausbildung unterrepräsentiert: Nur Bayern wurde 2010 ein Pilotprojekt sorgung in Deutschland sicherzustellen, etwa ein Drittel begann 2013 eine Aus- mit Bildungsangeboten für berufsschul- wie eine Prognos-Studie für das Bun- bildung, bei ihren deutschen Alterskol- pflichtige Asylbewerber und Geflüchtete desgesundheitsministerium aus dem Jahr legen waren es hingegen weit über die gestartet. Der Unterricht ist auf fehlende 2015 zeigt. Schon heute spielen Beschäf- Hälfte. Sprachkenntnisse, Heterogenität und tigte mit Migrationshintergrund in die- mögliche Traumatisierungen eingestellt. 14 Prognos trendletter April 2016
Fachbeitrag Derzeit gibt es rund 440 solcher Klassen, NICHTÄRZTLICHE GESUNDHEITSBERUFE Schon heute spielen ausländische deren Anzahl sich bis 2016/17 verdreifa- Fachkräfte im deutschen Gesundheitswesen eine große Rolle chen soll. Hierfür schafft das Land 2.000 Stellen für Lehrkräfte und Psychologen. 700.000 25 % Auch in Hamburg rückten die Berufs- 23 % 600.000 22 % 593.000 schulen wegen der steigenden Flücht- 20 % lingszahlen in den Fokus des politischen 500.000 Interesses. Im Februar 2016 wurde das 17 % Modell der „Dualisierten Ausbildungs- 15 % 15 % 15 % 400.000 vorbereitung für Migrantinnen und 12 % Migranten (AVM-Dual)“ eingeführt. 300.000 10 % 9% 200.000 Vieles spricht dafür, die Rolle der beruf- 127.000 140.000 5% lichen Schulen bei der Integration von 100.000 48.000 55.000 Geflüchteten zu stärken: 26.000 28.000 0 0% » Berufliche Schulen sind es gewohnt, ie k e e e ge l gi llt llt eg na ap fle mit einer heterogenen Schülerschaft go ste ste fl er so np rsp da th e e r Pe ng ng ke pä te io umzugehen, da das Spektrum ihrer an ha ha Al ys tl. l zia rz Ph Kr ac ac So tä Schüler von förderbedürftigen Jugend- F F d ch un he he d un ni sc sc s- lichen bis zu ausgebildeten Gesellen in ni ni . it it nd izi izi be he slä ed ed ar ng weiterbildenden Fachschulen reicht. Au l m M zia su hn Ge So Za » Berufliche Schulen sind meist in en- Ausgewählte Berufsuntergruppen gem Kontakt mit den Betrieben auf- Anzahl (linke Achse) grund ihrer langjährigen Zusam- Anteil (rechte Achse) menarbeit in der dualen Ausbildung. Anteil ausländischer Erwerbstätiger in nichtärztlichen Berufsuntergruppen an allen Erwerbstätigen in nichtärztlichen Dieser Zugang kann auch für die neue Gesundheitsberufen Zielgruppe genutzt werden, um Prak- tika oder berufliche Erprobungen zu Quelle: Prognos/Statist. Bundesamt 2015 (Mikrozensus) organisieren. müssen nicht selbst den Weg zur Berufs- Geflüchteten wird die Entscheidung zwi- » Für die Geflüchteten selbst bringt ein beratung oder zu einer Ausbildungsmesse schen Schulbesuch und Maßnahmen der täglicher Schulbesuch Struktur und der Kammern finden. Dies setzt jedoch Arbeitsagentur häufig eher von Ressour- etwas Normalität in ihren Alltag. ein Schulformat voraus, das außerschu- cenfragen als vom tatsächlichen Unter- lische Inhalte in den Unterrichtsablauf stützungsbedarf der Einzelnen bestimmt. » Darüber hinaus gibt es in einer be- integriert. Die unterschiedliche Zuständigkeit von ruflichen Schule mehr Gelegenheit zu Ländern und Bund bei der beruflichen Kontakt mit anderen Schülern als in Vieles spricht dafür, dass zusätzlich eine Bildung bzw. Arbeitsmarktpolitik schafft spezifischen Einrichtungen oder An- sozialpädagogische Begleitung notwen- ungünstige Ausgangsbedingungen für geboten von Trägern. dig sein wird, um die Geflüchteten ge- ein gemeinsames und einheitliches Vor- zielt beim Einstieg in die Ausbildung gehen. Gerade weil die große Aufgabe Die CDU schlägt nun vor, die Schul- zu begleiten. Diese Fachkräfte können der Integration junger Geflüchteter die pflicht für Geflüchtete ohne Schulab- bei der Suche nach Praktikumsplätzen enge Zusammenarbeit mit verschiede- schluss auf 25 Jahre zu erhöhen. Sinn- helfen, bei Problemen als Mediatoren nen Bundes- und Landesbehörden erfor- voll ist dies nur, wenn auch die Folgen wirken und den Schülern bei Amtsgän- dert, scheint ein föderaler Flickenteppich für die beruflichen Schulen in die Über- gen und ähnlichem zur Seite stehen. In hier nicht sinnvoll. _ legungen einbezogen werden. Sie sollten Baden-Württemberg informieren so- systematisch unterstützt und zu einem genannte Kümmerer junge Geflüchtete zentralen Akteur bei der Integration jun- über Berufe und Chancen einer Ausbil- ger Geflüchteter ausgebaut werden. dung und vermitteln diese passgenau in Praktika und Ausbildung. Sie unter- Schulen benötigen nicht nur mehr Res- stützen die Geflüchteten und die Betrie- sourcen, sondern auch die Möglichkeit, be in der ersten schwierigen Phase der flexibler zu agieren, indem sie beispiels- Ausbildung. Die assistierte Ausbildung weise unterjährig neue Klassen einrichten der Bundesagentur für Arbeit greift die- können. Die Entwicklung hin zu mehr se Idee ebenfalls auf, allerdings noch Selbstverwaltungskompetenzen, die be- nicht spezifisch auf die Zielgruppe zuge- reits in vielen Bundesländern stattfindet, schnitten und in Strukturen, die parallel ist ein Schritt in die richtige Richtung. zu den beruflichen Schulen laufen. Schulen eignen sich auch, um weiter- Dieses Beispiel macht deutlich: Auf den führende Beratungs- und Unterstüt- Prüfstand gehört auch das Zusammen- Kristina Stegner zungsangebote anzudocken. Jugendliche spiel der Bundesagentur für Arbeit und können dort direkt erreicht werden und der berufsbildenden Schulen. Gerade bei kristina.stegner@prognos.com Prognos trendletter April 2016 15
Statements Mein Rat an Deutschland In turbulenten Zeiten kann es sich lohnen, auf kluge Köpfe zu hören – be- sonders, wenn diese durch ihre Lebens- oder Berufserfahrung einen Blick von außen mitbringen. Vier renommierte Stimmen und ihr „Rat an Deutschland“: Nava Hinrichs „Die Kooperation von Privatwirtschaft und Städten ist unerlässlich, um die beträcht- Geschäftsführerin, The Hague Process on lichen Talente und Fertigkeiten, die Migranten oft ins Gastland mitbringen, auszu- Refugees and Migration schöpfen und das gesamte Potenzial der Migration zu nutzen. Erwerbstätigkeit ist eine Schlüsselkomponente der Integration und ein Mittel, um die Migranten sowie die solidarische Gesellschaft zu stärken.“ „Je ungleicher der Lebensstandard, desto mehr Einwanderungsbegehren als Barbara John Flüchtling oder Arbeitssuchender, gerade im global-mobilen 21. Jahrhundert. Vorstandsvorsitzende Parität Berlin und ehem. Ausländerbeauftragte im Berliner Senat Ergo: Nullchancen für Steuerung. Stattdessen: Milliarden an Aufbauhilfen in die Krisenregionen, Asylanträge übers Internet und gezielte Einwanderungspro- gramme.“ Gabriele Krone-Schmalz „Sofort: Schluss mit Polarisierung und Heuchelei. Chancen und Risiken benennen. Fernsehjournalistin und Autorin Ohne Glaubwürdigkeit in Politik und Medien keine Demokratie. Strategisch: Faire Handelspolitik statt Freihandel, der Afrika kaputt macht. Hände weg von Regime- Change-Ideen. National schwierig, klar – aber aus der Atomenergie ist Deutschland ja auch alleine ausgestiegen.“ „2015 war auch eine Chance. Viel getan hat sich etwa bei Sprachkursen und der Dr. Thomas Liebig Analyse von Kompetenzen der Neuankömmlinge. Wenn in diesen Bereichen Leitender Ökonom in der Abteilung für alles flächendeckend so umgesetzt wird, wie es sich jetzt im Aufbau befindet, Internationale Migration der OECD wird Deutschland international eines der führenden Länder im Bereich der Integrationspolitik sein.“ 16 Prognos trendletter April 2016
Fachbeitrag Wendepunkt für Wohnungs- und Immobilienmärkte Ohne ein deutlich erweitertes Wohnungsangebot wird der Druck in den Ballungsräumen weiter steigen. Wer eine Wohnung sucht, spürt das. Gerade junge Familien, Studierende und Zuwanderer sind betroffen. Deutsche Wohnungsmärkte erleben eine bemerkenswerte Renaissance. Grund sind ein niedriges Zinsniveau und die Zuwanderung aus dem Ausland in Ver- bindung mit einer Konzentration der Binnenwanderung auf Metropolen und urbane Räume. Seit 2010 erleben wir ei- nen deutlichen Zuzug aus Süd- und Ost- europa, der nun von steigenden Flücht- lingszahlen überlagert wird. Von 2011 bis 2014 wuchs die Bevölkerung um knapp 900.000 Einwohner. Im Jahr 2014, also vor der Migrationswelle, erreichte der Wanderungssaldo mit 550.000 Per- sonen einen vorläufigen Höhepunkt. Die Zuwanderer verteilen sich regional sehr unterschiedlich. Auf 20 % aller Kreise und kreisfreien Städte entfallen knapp Schlange stehen für eine Wohnungsbesichtigung, hier im Münchener Glockenbachviertel, gehört in 60 % der internationalen Zuwanderung. vielen Ballungszentren inzwischen zum Alltag. Der deutlich wachsenden Wohnungs- Bei einem Anteil der Wohnkosten von teilt, ist nicht zu erwarten. Deutschland nachfrage steht ein ausgesprochen trä- deutlich über 40 % des Haushaltseinkom- braucht Zuwanderung, und qualifizierte ges Wohnungsangebot gegenüber. Durch mens wird die Bezahlbarkeit von Wohn- Fachkräfte – ob zugewandert oder nicht Zuwanderung und Haushaltsbildung raum zu einer Herausforderung. Den – müssen es sich leisten können, dort stieg die Nachfrage von 2011 bis 2014 überhitzten Zentren droht mittelfristig zu leben, wo sie gebraucht werden. An um über 700.000 Haushalte. Gleichzei- ein Nachwuchsproblem, wenn junge und der erheblichen Erweiterung des Woh- tig wuchs das Angebot nur um knapp qualifizierte Menschen sich ein städti- nungsangebots führt kein Weg vorbei 600.000 Wohnungen. sches Leben nicht mehr leisten können – und gerade in Märkten mit hohem oder wollen. Gerade dort, wo neue Fach- Nachfragedruck muss sie zügig erfolgen. Unabhängig von den Geflüchteten, die bis- kräfte gebraucht werden, werden enge Dabei wird die alleinige Bestands- und her noch nicht im vollen Maße die Woh- Wohnungsmärkte zu Standortrisiken für Innenentwicklung nicht ausreichen. nungsnachfrage beeinflussen, wurde in Unternehmen. International boomende Planungs- und Genehmigungsprozesse den letzten Jahren zu wenig neuer Wohn- Immobilienmärkte wie London oder San müssen beschleunigt werden, zusätzli- raum geschaffen. Vor allem in Metropol- Francisco machen Fehlallokationen und che Wohnbauflächen im Außenbereich regionen und urbanen Räumen mangelt es Exzesse des dauerhaften Nachfrageüber- sind nach Bedarf auszuweisen und zu an Wohnungen. In rund 19 % aller Kreise hangs sichtbar. Die Konsequenzen eines erschließen. Die großen Städte werden und kreisfreien Städte wird die Fluktuati- dauerhaften Ungleichgewichts an den diese Herausforderungen nur ansatzwei- onsreserve (der nötige Spielraum für Woh- Wohnungsmärkten sind: se allein lösen können. Im Dialog mit nungswechsel und Modernisierung) bzw. Umlandgemeinden braucht es bedarfso- die marktkonforme Leerstandsquote von » Kaufkraftverluste rientierte Wohnraumkonzepte für funk- 3 % bereits deutlich unterschritten. Neuer tionale Wohnungsmärkte im Stadt-Um- Wohnraum fehlt gerade dort, wo dynami- » Verdrängungseffekte in Randlagen land-Kontext. _ sche Wohnungsmärkte und hohe Zuwan- derung zusammenkommen. » Überbelegung Der Mangel führt zu einem Boom der Dies spüren gerade neue Marktteilneh- Immobilienpreise. Dabei galoppieren die mer und Zuwanderer in die Boomregi- Kaufpreise von Wohnimmobilien den onen. Die urbanen Wohnungsmärkte Mieten und der Einkommensentwick- stehen angesichts des hohen Drucks vor lung davon. Überhitzungstendenzen einem Wendepunkt. Dass sich die Au- Tobias Koch sorgen für sinkende Mietrenditen und ßen- und Binnenmigration dauerhaft wachsende Marktrisiken. abschwächt oder räumlich anders ver- tobias.koch@prognos.com Prognos trendletter November 2015 17
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