Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG

Die Seite wird erstellt Simone Sturm
 
WEITER LESEN
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Vom Krisenmodus zur Strategie
Zuwanderung und Teilhabe

                                April 2016
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Orientierung in
                                  140 Zeichen
                                     Besuchen Sie uns auf Twitter.

Auch ohne Twitter-Account können Sie unsere Mitteilungen lesen unter:
www.twitter.com/Prognos_AG                                              @Prognos_AG

                                                                         Prognos trendletter April 2016
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Editorial

Außer Rand und
Band geraten …

… scheint Deutschland und mit ihm ganz         anderes von der Globalisierung profitiert,
Europa. Der Kontinent ist seit Monaten in      ist die Weltoffenheit seiner Menschen
einer sich ständig beschleunigenden Auf-       eine Grundvoraussetzung, zumindest,
regungsspirale. Staaten, Politik, Instituti-   wenn es hier in Zukunft so gut weiter-
onen und Bürger haben sich angesichts          gehen soll. Denn Wohlstand und Teilhabe
der sogenannten Flüchtlingskrise in ein        für viele sind kein deutsches Naturgesetz.
Chaos von Argumenten und Befindlich-           Gefragt sind immer wieder neue Ideen
keiten gestürzt. Streit, Kleinkrieg und Un-    und Kräfte, gerade von Menschen mit un-
versöhnlichkeit kennzeichnen die Lage.         terschiedlichem Hintergrund. 3. Schaffen
Eigentlich ein einziges Trauerspiel, wenn      wir es oder schaffen wir es nicht? Kaum
es nicht die guten Beispiele bürgerschaft-     ein Politikerzitat ist je so zerredet worden.
lichen Engagements, gewaltige Anstren-         Mir ist das unbegreiflich. Daran, dass wir
gungen der Kommunen und mittlerweile           das schaffen (können und werden), gibt es
auch bemerkenswerte Fortschritte bei Be-       doch überhaupt keinen Zweifel. Deutsch-
hörden wie BAMF und Bundesagentur für          land hat in den vergangenen 70 Jahren
Arbeit gäbe.                                   schwierigste Herausforderungen gemeis-
                                               tert. Es gibt keinen vernünftigen Grund,
Dennoch: Die Auseinandersetzungen ha-          dass es diesmal anders ist: mit Wachstum,
ben einen zerstörerischen Charakter für        hoher Beschäftigung und stabilen Haus-
die Gesellschaft, zumal unterschiedlichste     halten. Hierfür benötigt man allerdings
Sachverhalte durcheinandergeworfen wer-        Konzepte. Und mit deren Erarbeitung und
den. Das betrifft besonders die Vermi-         Umsetzung sollten wir endlich beginnen,
schung von humanitärer Asyl- und qua-          statt uns länger so armselig selbst zu dis-
lifizierter Einwanderungspolitik. Ersterem     kreditieren.
müssen wir uns schlicht stellen und beim
Zweiten (endlich) den Konsens feststellen,     Dieser Trendletter leistet hierzu einen
den wir eigentlich längst erzielt haben:       aktiven Beitrag – und zwar mit positiven
Wir sind ein Einwanderungsland und             Beispielen und konstruktiven Vorschlä-
das ist auch gut für einen Staat, der seit     gen. Denn was wir in Deutschland selbst
Jahrzehnten seine demografischen Haus-         beeinflussen können, ist eine gelingende
aufgaben kaum gemacht hat. Die deutli-         Integration. Vom Krisenmodus zur Stra-
che Mehrheit weiß das, unterstützt es und      tegie! Lassen Sie uns gemeinsam daran
sollte nicht müde werden, Kurs zu halten       arbeiten. Ich wünsche Ihnen jetzt eine
und Zweifler zu überzeugen.                    spannende Lektüre und freue mich, von
                                               Ihnen zu hören.
Der Schlüssel ist die Integration der
Menschen und hierfür braucht es
1. Werte und Haltung, 2. Offenheit und
Veränderungsbereitschaft, 3. Zuversicht        Herzlich, Ihr
und Selbstvertrauen – und zwar auf
beiden Seiten. Das bedeutet konkret:
1. Die Verfassung und Gesetze bilden
den verpflichtenden Rahmen und die
allgemein gültigen Regeln des Zusam-
menlebens geben Orientierung. Dazu ge-
hören auch Selbstverständlichkeiten
wie Gastfreundschaft und Hilfsbereit-          Christian Böllhoff
schaft. 2. Für ein Land, das wie kaum ein      christian.boellhoff@prognos.com

Prognos trendletter April 2016                                                                 3
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Inhalt

Inhalt

                                                    07
                                                            
                                                            Integration
                                                            in Zahlen

      Fachbeitrag
05    It´s 2016!

      Rankings
07    Integration in Zahlen

08
      Interview
      „Es mangelt an Konzepten“         11
                                                
                                                Wie Verwaltung und
                                                Bürger gemeinsam mehr schaffen

      Zeitzeugnis
10	
   Blick ins Archiv:
      Perspektiven für Migrantinnen

      Fachbeitrag
11	
   Wie Verwaltung und Bürger
      gemeinsam mehr schaffen

12
      Szenarien
      Deutschland – mit und ohne                     08
                                                             
                                                             Prognos & SWP im Gespräch:
                                                             „Es mangelt an Konzepten“

      Fachbeitrag
14	Berufsschulen –
      Starthilfe für die Starthelfer

      Statements
16    Mein Rat an Deutschland

      Fachbeitrag
17	Wendepunkt für Wohnungs-
      und Immobilienmärkte

      Kurz gefasst
18    Eine gute Idee

      Standpunkt
20	Ohne Investitionen wird
      Zuwanderung erst richtig teuer

      Über uns
21    Blick in unsere Projekte

      Über uns                         12
                                            
                                            Zuwanderung: Wie könnte Deutschland
                                            im Jahr 2040 aussehen?
23    Rückblick in Bildern

4                                                                         Prognos trendletter April 2016
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Fachbeitrag

It´s 2016!
Deutschland fällt es schwer, sich auf die migrationspolitischen Folgen der
Globalisierung einzustellen. Warum eigentlich?
Kanada lebt Diversity. Ethnische Min-        anderen Demografen, Arbeitsmarkt- und                für Arbeit gestärkt und das bildungspoli-
derheiten und Flüchtlingsbiografien sind     Wirtschaftsexperten, betonen seit Langem             tische Kooperationsverbot von Bund und
in den höchsten Regierungsämtern ver-        die Wichtigkeit der Zuwanderung nach                 Ländern zumindest gelockert werden.
treten. Die Gründe erläuterte der neu        Deutschland. Unklar bleibt, warum nach
gewählte Premierminister Trudeau bei         wie vor über ein Einwanderungsgesetz                 Bildung und Arbeit sind die vordring-
der Vereidigung Ende letzten Jahres so       gestritten wird, das Aufenthalts- und Ar-            lichen politischen Handlungsfelder für
einsilbig wie treffend: „Well, it´s 2015!“   beitserlaubnis nicht in unzähligen Ausnah-           eine gute Integrationspolitik. Aber auch
So sieht die Welt nun einmal aus – in        metatbeständen gewährt, sondern Einwan-              die Unternehmen müssen mitziehen.
Kanada.                                      derung als etwas grundsätzlich Positives             Der Bundesverband der Personalma-
                                             im Sinne der Migranten und der deutschen             nager schätzt, dass rund zwei Drittel
2015 stand in Deutschland für den Beginn     Gesellschaft regelt und die Schnittstellen           seiner Mitglieder Interesse haben, Ge-
des zähen Ringens im Umgang mit den          zwischen humanitärer und arbeitsmarkt-               flüchtete zu beschäftigen. Doch sehen
migrationspolitischen Folgen der Globa-      bezogener Einwanderung durchlässiger                 sich ebenso viele vor bürokratische

                                             „
lisierung. Das Ausmaß des gegenwärtigen          
                                             macht.                                               und praktische Hürden gestellt, sodass
Flüchtlingsgeschehens ist eine außeror-                                                           es bislang nur wenige Unternehmen
dentliche Herausforderung und das Zu-            Deutschland ist schon                            sind, die zeigen, wie die (betriebliche)
trauen in die Integrationsmöglichkeiten          Einwanderungsland.“                              Ausbildung oder Beschäftigung von
Deutschlands scheint dahinzuschmelzen.                                                            Geflüchteten gelingen kann. Auch hier
Was außerdem fehlt, ist ein abgestimmtes     Für eine Einwanderungs- und Inte-                    ist Unterstützung nötig.
gesamteuropäisches Vorgehen. Dennoch:        grationspolitik aus einem Guss sollten
Aufgrund der deutschen Einwanderungs-        außerdem die föderalen Institutionen                 Bei Asylsuchenden führt der Weg in
geschichte könnte das Klima auch hierzu-     durch Aufgabenbündelung gestärkt wer-                Ausbildung und Arbeit über zügige

„
lande ein anderes sein.                     den. Allein auf Bundesebene verwalten                Anerkennungsverfahren. Erst wenn der
                                             derzeit zwölf Ministerien und nachge-                Status geklärt ist, kann ein Fallmanage-
     Institutionen durch                     ordnete Behörden migrationspolitische                ment greifen. Vor diesem Hintergrund
     Aufgabenbündelung stärken.“             Verantwortungsbereiche. Ein zuständiges              ist der gegenwärtige Verwaltungsstau
                                             Bundesministerium wäre sinnvoll, wenn                beim zuständigen Bundesamt ein dop-
Laut statistischem Bundesamt hatte 2014      es mit entsprechender Gesetzgebungs-                 peltes Ärgernis: Er prägt die öffentliche
bereits ein Fünftel der Bevölkerung, das     kompetenz ausgestattet wäre. In jedem                Wahrnehmung des Flüchtlingsgesche-
sind 16,4 Millionen Menschen, einen          Fall sollte die Rolle der Bundesagentur              hens als Krise und erzeugt einen zer-
Migrationshintergrund (siehe Abb.). Hier-
von leben über 80 % länger als sechs
Jahre in Deutschland, die Mehrheit sogar       BEVÖLKERUNG UND FLÜCHTLINGSGESCHEHEN IN DEUTSCHLAND
schon mindestens 20 Jahre.                     Größenordnungen

Lehren aus den bisherigen Integrati-
onsprozessen – ungelöste Herausfor-
derungen wie auch Erfolge – scheinen
jedoch kaum im gesellschaftlichen Be-
wusstsein verankert zu sein. Eine ausge-
prägte Offenheit gegenüber Migranten,
die auf Teilhabe und Inklusion zielt, ist
nicht entstanden. Davon kann man sich
auf den rechtspopulistischen PEGIDA-
Demonstrationen überzeugen. Auch zahl-
reiche Bevölkerungsbefragungen geben
hierüber Auskunft. Stabil sind die Mehr-
heiten, für die Konfliktpotenziale oder
Mehrbelastungen des Sozialstaates im
Vordergrund stehen. Befragungen von
Migranten belegen die Häufigkeit von
Diskriminierungserfahrungen.
                                                EINWOHNER            davon mit            REGISTRIERTE     davon Asylanträge      davon voraussichtlich
                                             DEUTSCHLAND 2014   Migrationshintergrund   GEFLÜCHTETE 2015         2015:              mit positiver Asyl-
Die Einsicht, dass Deutschland seit Lan-         81.200.000             2014:            (EASY-System):         476.000            entscheidung 2015:
gem faktisch ein Einwanderungsland ist,                              16.400.000             1.100.000                                    237.000
setzt sich offenbar nur zögerlich durch.
Die Prognos AG, wie auch praktisch alle                                                                      Quelle: BAMF/Destatis, Darstellung: Prognos

Prognos trendletter April 2016                                                                                                                        5
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Fachbeitrag

Zuwachs als Grund zur Freude: Viele Kommunen und Bundesländer, darunter Brandenburg (l.), Hannover (m.) und Thüringen (r.), begrüßen ihre
Neubürger auf Einbürgerungsfeiern.

mürbenden Wartestand bei den Asyl-             In den Kommunen und Wohnquartieren              reichen der schulischen und beruflichen
suchenden. Je länger Unsicherheit über         sind die Auswirkungen der Zuwanderung           Bildung und der kommunalen Daseins-
die Bleibeperspektive besteht, desto           und auch die Angst vor einer Überfor-           vorsorge. Die gesellschaftliche Akzeptanz
schwieriger wird es, dass Geflüchtete          derung am deutlichsten erfahrbar. Hier          schafft eine klare integrationspolitische
und potenzielle Arbeitgeber zueinan-           wird Integration immer häufiger als res-        Agenda, die nicht bei der Beseitigung
derfinden. Gelingt dies nicht, besteht         sortübergreifende Aufgabe verstanden.           der gegenwärtigen Verwaltungskrise oder
die Gefahr, dass sich neue, prekäre            Vielerorts werden partizipatorische An-         der Abschiebung von Straftätern stehen

„
    
Lebenssituationen verfestigen.                 sätze der Einbeziehung von Menschen             bleibt, sondern auf die Chancen aus-
                                               mit Migrationshintergrund verfolgt. Als         gerichtet ist, die Migration mittel- bis
    Zuwanderung verändert                      hilfreich erweisen sich außerdem zentrale       langfristig bietet – it‘s 2016! _
    Deutschland nachhaltig.“                   Anlaufstellen und ein integriertes Fall-
                                               management, die dabei helfen, Sprach-
Da sich die Zuwanderung von Geflüch-           kurse, Wohnungen, medizinische Versor-
teten und Familiennachzüge nicht nach          gung, Kinderbetreuung etc. passgenau zu
der Qualifikation steuern lassen, ist es       vermitteln.
umso wichtiger, dies bei Arbeitsmigran-
ten zu tun. Hilfreich für einen im Sin-        Viele dieser Aufgabenbereiche werden
ne der Wirtschaft und der Migranten            derzeit durch ehrenamtliche Helfer un-
passgenauen Fachkräftezuzug ist ein            terstützt, wenn nicht sogar aufgefangen.
flexibles, qualifikations- und nachfra-        Das ist kein Dauerzustand. Notwendig
gegesteuertes      Zuwanderungssystem.         sind Investitionen in eine professionelle
Hier ist Deutschland mittlerweile gut          Infrastruktur für die Flüchtlingshilfe, z. B.
aufgestellt: Es ist nach den USA das           um Migrantenorganisationen mit sprach-
beliebteste Land für dauerhafte Zuwan-         lichen Zugängen zu wichtigen Flücht-
derung in der Welt. Die Neuregelungen          lingsgruppen besser einzubinden oder um
für die Einwanderung von Fachkräften           die 10.000 zusätzlichen Plätze des Bun-

                                              „
und Studierenden aus dem Nicht-EU-                 
                                               desfreiwilligendienstes  zu begleiten.
Ausland nach Deutschland führen seit
2007 zu steigenden Beschäftigungsquo-              Deutschland ist attraktiv
ten wie sonst nirgends innerhalb der               für Fachkräfte.“
OECD. „Deutschland konnte in den ver-
gangenen Jahren viele Lehren aus der           Zuwanderung wird Deutschland nach-
Arbeitsmarktintegration von Migranten          haltig verändern. Es bedarf daher ziel-
                                                                                                 Andreas Heimer
ziehen“, betont OECD-Generalsekretär           gerichteter Investitionen und staatlicher
Angel Gurría.                                  Unterstützung, insbesondere in den Be-            andreas.heimer@prognos.com

6                                                                                                                   Prognos trendletter April 2016
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Rankings

Integration in Zahlen
15 von 34 OECD-Staaten haben einen Migrantenanteil von rund 20 %
oder mehr. Bei ausgewählten Gradmessern für Integration schneiden die
Länder unterschiedlich gut ab.

Arbeitslosenquote von im Ausland Geborenen gegenüber Einheimischen (Differenz in Prozentpunkten, 2014)

   SCHLECHTESTE:                                                                                                                                                            BESTE:
   BELGIEN                                                                             SCHWEIZ         SCHNITT 15 LÄNDER        DEUTSCHLAND                                 ISRAEL

 10,4                                                                                         4,4                       3,6   3,3                                               -1,0

Positive Zahlen bedeuten, die Arbeitslosenquote der im Ausland geborenen Erwerbspersonen ist höher als die der Einheimischen.

Lesefertigkeit von 15 Jahre alten Kindern mit Migrationshintergrund gegenüber Gleichaltrigen
ohne Migrationshintergrund (Differenz in Pisapunkten, 2012)
 SCHLECHTESTE:
 BELGIEN &                                                                                                                                                                 BESTE:
 NIEDERLANDE SCHWEIZ                   DEUTSCHLAND                         SCHNITT 15 LÄNDER                                                                           AUSTRALIEN

  je          -51                    -41                                -25                                                                                                     27
 -55

Negative Zahlen bedeuten, Kinder mit Migrationshintergrund lesen schlechter als Kinder ohne Migrationshintergrund (Second Generation).

Wie lange dauert es, bis ein Asylantrag bearbeitet ist? (in Monaten, bis zur erstinstanzlichen Entscheidung, 2015)

    AM LÄNGSTEN:                                                                                                                                                   AM KÜRZESTEN:
    SCHWEIZ                                                                                                       DEUTSCHLAND                                      BELGIEN

  9,9                                                                                                            5,3                                                            2,5

Länderdurchschnitt nicht möglich, da für einige der 15 Länder keine Informationen verfügbar sind.

Wie hoch ist der Anteil ausländischer Studierender an allen Studierenden? (in Prozent, 2013) *

     NIEDRIGSTER:                                                                                                                                                                HÖCHSTER:
     ESTLAND                                        DEUTSCHLAND                                     SCHNITT 15 LÄNDER                                        SCHWEIZ             AUSTRALIEN

    3                                              7                                             11                                                                  17        18

Wie viele Spieler im Kader der Fußball-Nationalmannschaft haben einen Migrationshintergrund? (WM 2014) **

        WENIGSTE:                                                                                                                                                        MEISTE:
        ENGLAND                                                    DEUTSCHLAND                                                                             FRANKREICH & SCHWEIZ

                                                                                                                                                                                 je
    2                                                              6                                                                                                            13

Länderdurchschnitt nicht möglich, da sechs der 15 Länder ohne WM-Teilnahme. Anm. England: ohne 3. Generation Einwanderer.

Die 15 Staaten im Einzelnen: Israel (67 % Migranten), Australien (46 %), Neuseeland (45 %), Schweiz (43 %), Kanada (38 %),          Quelle (alle): OECD
Estland (34 %), Belgien (31 %), Schweden (28 %), Österreich (27 %), Frankreich (26 %), USA (24 %), Norwegen (21 %),                 Abweichende Quellen:
Deutschland (20 %), Niederlande (20 %), Großbritannien (19 %). (2013)                                                               * OECD, UNESCO, Eurostat
Migranten = selbst im Ausland geboren oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren.                                            ** Medien-Servicestelle Neue Österreicher/innen

Prognos trendletter April 2016                                                                                                                                                                7
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Interview

„Es mangelt an Konzepten“
Dr. Steffen Angenendt und Claudia Münch sprechen mit der Trendletter-
Redaktion über Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik jenseits des Krisenmodus.
Stellen wir uns vor, wir schreiben das       davon 1 Million beruflich gebildete Fach-     man abgerückt und für Unternehmen
Geschichtsbuch im Jahr 2050 und bli-         kräfte und 500.000 Akademiker. Selbst         ist es leichter geworden, im Ausland zu
cken zurück auf 2015. Ist das Jahr ein       frühere Berufseinstiege, längere Lebens-      rekrutieren. Offenbar ist Letzteres aber
Wendepunkt?                                  arbeitszeiten, mehr Erwerbstätigkeit von      noch nicht bekannt genug – weder bei
                                             Frauen und ein erhöhter Bildungsstand         den ausländischen Fachkräften noch bei
Angenendt: Ja, in zweifacher Hinsicht.       werden das nicht ausgleichen. Das Pro-        den Unternehmen.
Zum einen wegen der Hilfsbereitschaft der    blem wird zur Wachstumsbremse. Wir
Bevölkerung für Flüchtlinge, zum anderen     brauchen daher Zuwanderung, um das            Angenendt: Das stimmt. Es gibt immer

                                             „
wurden 2015 aber auch Defizite in Politik        
                                             Wohlstandsniveau   halten zu können.          noch das Image, dass es schwierig ist, in
und Verwaltung deutlich. Es gibt zwar in                                                   Deutschland Fuß zu fassen. Es fehlt auch
vielen Kommunen ein tolles Engagement            Vermutlich brauchen wir                   der Wille der Unternehmer, ausländi-
der Bürgermeister und Ämter, auch viele          Beschäftigungsprogramme.“                 sche Fachkräfte einzustellen. Kleine und
gute Ideen für die neuen Aufgaben. Aber          – S. Angenendt                            mittelständische Unternehmen befürch-
gerade auf Landes- und Bundesebene feh-                                                    ten hohen bürokratischen Aufwand und
len mittel- und langfristige Konzepte, wie   Angenendt: Brauchen wir nicht auch die        Schwierigkeiten bei der kulturellen Ein-
mit der Zuwanderung umgegangen wer-          Zuwanderung von Geringqualifizierten?         bindung. Problematisch sind natürlich
den soll. Nach wie vor befindet sich die     Dazu wissen wir zu wenig. Viele glauben,      auch Sprachbarrieren.
Politik im Krisenmodus und ist vor allem     dass der Bedarf an Geringqualifizierten
auf die Aufnahme und Erstversorgung fi-      abnehmen wird. Aber stimmt das so? Oder       Es heißt, Studierende seien ideale
xiert. Die längerfristigen Aufgaben, vor     ist mit hoch qualifizierter Beschäftigung     Migranten, weil sie qualifiziert sind und
allem die Integration, werden noch nicht     nicht auch ein zunehmender Bedarf an          bereits ein interkulturelles Training an
richtig wahrgenommen. Beides müsste          gering qualifizierten Tätigkeiten, etwa bei   der Uni hinter sich haben. Wie können
aber gleichzeitig geschehen.                 haushaltsnahen Dienstleistungen, verbun-      wir sie im Land halten?
                                             den? Dazu brauchen wir belastbare Prog-
Zuwanderung – da denken wir heute vor        nosen und eine politische Debatte, gerade     Münch: Hürden beim Übergang von der
allem an Flucht. Doch schon 2014 waren       angesichts der aktuellen Flüchtlingszu-       Hochschule in den Arbeitsmarkt müssen
wir zweitbeliebtestes OECD-Zuwande-          wanderung.                                    abgebaut werden. Es braucht intensivere
rungsland nach den USA. Brauchen wir                                                       Beratung über Karrierewege und eine Öff-
noch mehr Zuwanderer?                        Bleiben wir bei Zuwanderung als Arbeits-      nung deutscher Arbeitgeber. Die Investition
                                             migration. Ist Deutschland dafür denn         in ausländische Studierende lohnt auch aus
Münch: Ein deutliches Ja. Dass die deut-     attraktiv genug?                              Sicht des Staats. Für den Deutschen Aka-
sche Bevölkerung schrumpft und altert,                                                     demischen Austauschdienst haben wir be-
ist schon lange bekannt. Die Zahl der        Münch: Deutschland hat – zumindest            rechnet, dass sich öffentliche Ausgaben wie
Erwerbspersonen wird massiv zurückge-        rechtlich – sehr aufgeholt. Die Blue Card     die Studienfinanzierung nach fünf Jahren
hen – mit enormen Auswirkungen auf           regelt die Zuwanderung Hochqualifizierter     amortisieren, wenn 30 % der ausländischen
den Arbeitsmarkt. Wir haben berechnet,       – und ist im europäischen Vergleich sehr      Studierenden nach ihrem Abschluss im
dass bis 2020 eine Arbeitskräftelücke von    liberal. Auch vom Grundsatz „Keine            Land bleiben. Denn sie sind dann ja auch
1,8 Millionen Personen entstehen wird,       Einwanderung ohne Arbeitsvertrag.“ ist        Konsumenten und Steuerzahler.

            Dr. Steffen Angenendt leitet
  die Forschungsgruppe Globale Fragen
  der Stiftung Wissenschaft und Politik
und berät u. a. die Bundesregierung und
      UN-Organisationen zu Demografie
                         und Migration.

8                                                                                                               Prognos trendletter April 2016
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Interview

   Claudia Münch ist Projektleiterin bei
   der Prognos AG und befasst sich mit
migrations- und integrationspolitischen
 Fragestellungen sowie der Analyse des
                     Fachkräftebedarfs.

Angenendt: Wichtig sind auch Netzwer-        gessen. Übrigens hat die offene Aufnah-       en zu erarbeiten. Migration, Flucht und
ke: Hier könnten Universitäten, Behör-       me der Flüchtlinge auch einen positiven       Entwicklung müssen zusammengedacht
den, Wirtschaft und zivilgesellschaftliche   Effekt auf die Arbeitsmigration: Ein Land,    werden. Und wir brauchen eine Verbes-
Organisationen noch mehr machen, um          das Menschen willkommen heißt, ist auch       serung der europäischen Zusammenar-
Studierenden Kontakte bereits während        attraktiver für die Hochqualifizierten. Die   beit. Dabei sollten wir nicht auf Zwang
der Ausbildung zu vermitteln.                Symbolkraft der Bilder aus 2015 sollte        und Top-down-Ansätze setzen wie beim

Noch einmal zu den Geflüchteten. Da
gibt es doch große Unterschiede im Ver-
gleich zu Arbeitsmigranten und Studie-
                                             „
                                             man nicht unterschätzen.

                                                 Nur durch Zuwanderung
                                                 können wir unser Wohlstands-
                                                                                           EU-Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge.
                                                                                           Warum nicht das Prinzip umkehren und
                                                                                           probehalber Kommunen die Möglichkeit
                                                                                           geben, sich für die Erstunterbringung zu
renden?                                          niveau halten.“ – C. Münch                bewerben? Als Kompensation gäbe es at-
                                                                                           traktive Finanzmittel.
Angenendt: Mit hoher Wahrscheinlich-         Was ist gelungene Integration und wel-
keit werden viele Flüchtlinge für lan-       che Fehler sollten wir nicht wiederholen?     Nehmen wir zum Schluss nochmals das
ge Zeit bleiben. Deswegen sollten wir                                                      Geschichtsbuch 2050 in die Hand. Wurde
sie als Einwanderer betrachten. Es liegt     Münch: Es ist nicht planbar, wer hier-        die Krise zur Chance? Und wenn ja, wie?
in unserem eigenen Interesse, ihnen so       bleibt, weiterzieht oder zurückgeht. Des-
schnell wie möglich Zugang zu Bildung        wegen ist es wichtig, dass alle Zuwande-      Münch: Das Erlernen der deutschen
und Beschäftigung zu verschaffen. Nach       rer an der Gesellschaft teilhaben, auch,      Sprache, echte Verbindungen mit der
ersten Bestandsaufnahmen ist allerdings      damit keine Parallelgesellschaften ent-       deutschen Gesellschaft und adäquate Bil-
das Qualifikationsniveau in vielen Fällen    stehen. Wichtig ist, dass Integration zu-     dungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten
nicht besonders hoch.                        gleich eine Forderung ist und ein Recht,      für alle Zuwanderungsgruppen waren
                                             ohne Diskriminierung zu leben. Und dass       wichtige Weichenstellungen von der Kri-
Münch: Wichtig ist, dass minderjährige       wir sie nicht mit Anpassung gleichsetzen.     se zur Chance. Integration gelang durch
Asylsuchende von Anfang an zur Schule                                                      Zeit und die Offenheit aller Beteiligten.
gehen und Erwachsene einen Sprachkurs        Angenendt: Richtig, der Begriff „Teilha-
besuchen. Insgesamt muss sich unser          be“ beschreibt das Ziel von Integration:      Angenendt: Es gab einen runden Tisch
Bildungssystem stärker auf heteroge-         Ein eigenständiges und selbstbestimmtes       mit allen relevanten Kräften, der im Kon-
ne Zielgruppen einstellen und flexibler      Leben führen zu können, selbstverständ-       sens strategische und langfristige Lö-
werden, zum Beispiel indem man Kom-          lich unter Respektierung des hier gelten-     sungswege erarbeitete. Und: Es gelang,
petenzen nicht ausschließlich anhand         den Rechts.                                   sich auf europäischer Ebene – zunächst
formaler Kriterien wie etwa Zeugnissen                                                     bei einer Gruppe von Kernstaaten – auf
feststellt und Deutschkurse in die Aus-      Und wie soll das gehen?                       eine gemeinsame Asylpolitik und Ver-
bildung integriert.                                                                        antwortungsteilung zu einigen. Auch die
                                             Angenendt: Die Aufgabe ist so groß und        Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und
Angenendt: Unser Ziel muss sein, die         dauerhaft, dass wir endlich auch pas-         Transitländern wurde intensiviert. Und
Einwanderer möglichst bald von staat-        sende Strukturen brauchen, vor allem          generell rate ich zu mehr Gelassenheit
lichen Transferleistungen unabhängig         eine Bündelung der Kompetenzen und            und Selbstvertrauen in der Flüchtlings-,
zu machen. Vermutlich werden wir Be-         Expertisen in einem Bundesministerium         Migrations- und Integrationspolitik. _
schäftigungsprogramme brauchen, bis          für Migration, Flucht und Integration,
sie für den ersten Arbeitsmarkt fit sind.    also einem Einwanderungsministerium.
Im Idealfall verbinden wir Beschäftigung     Das geht, wenn man will! Und es würde
mit Qualifizierung. Dabei dürfen wir die     dabei helfen, aus dem Krisenmodus her-
hiesigen Langzeitarbeitslosen nicht ver-     auszukommen und langfristige Strategi-        Die Fragen stellte Jens Hobohm.

Prognos trendletter April 2016                                                                                                     9
Vom Krisenmodus zur Strategie - Zuwanderung und Teilhabe - Prognos AG
Zeitzeugnis

Blick ins Archiv:
Perspektiven für Migrantinnen
Wenn Frauen mit Migrationshintergrund berufstätig sind, hat dies
gesellschaftspolitisch gleich mehrere Vorteile. Eine Erkenntnis, zu
der Prognos-Studien seit 1990 wesentlich beigetragen haben.
Vor 26 Jahren war die Bezeichnung           gebnisse zur Gruppe der Mütter mit           ter und die Teilhabechancen ihrer Kinder.
„Migrant“ noch nicht obligatorisch,         Migrationshintergrund geschaffen – 2,4       Schließlich werden Erwerbspotenziale für
ebenso wenig das Attribut „Migrati-         Millionen Mütter mit 4,1 Millionen Kin-      den Arbeitsmarkt erschlossen, die in ei-
onshintergrund“. Auf die besonders          dern unter 18 Jahren. Es wurde deut-         nigen Berufsfeldern, wie z. B. der Pflege,
belastete Erwerbssituation ausländi-        lich, wer die Frauen und ihre Familien       den Fachkräftemangel abmildern können.
scher Frauen war bei einem Hearing der      eigentlich sind, ob und wie sie arbeiten
damaligen Ausländerbeauftragten der         und welchen Bildungsstand sie haben.         Es gilt, Verwaltung, Jobcenter und Un-
Bundesregierung aufmerksam gemacht          In zwei weiteren Projekten analysierte       ternehmen für die Potenziale zu sensi-
worden. Auch gab es Reportagen über         Prognos dann erstmalig systematisch          bilisieren und die vorhandenen Ange-
Einzelschicksale. Systematische Unter-      und umfassend die Herausforderungen          bote für die Zielgruppe zu öffnen und
suchungen dagegen fehlten – bis 1990        und Erfolgsfaktoren der Erwerbsinte-         miteinander zu verzahnen. Da die Pro-
Prognos vom zuständigen NRW-Mi-             gration von Müttern mit Migrationshin-       blematik mehrere Dimensionen betrifft,
nisterium mit einer Untersuchung be-        tergrund. 2011 wurde die erste Studie        ist auch klar, dass ein ressortübergrei-
auftragt wurde. Das Ziel: Systemati-        zum Thema durchgeführt, 2012/13 dann         fender Ansatz notwendig ist. Das kann
sche Erkenntnisse zur Lebenssituation       die Wirkungsanalyse zum Bundespro-           funktionieren. So hat beispielsweise
erwerbstätiger Ausländerinnen. Das          gramm „Ressourcen stärken – Zukunft          das Bundesfamilienministerium mit der
Vorgehen bestand darin, in der statis-      sichern“. Ausgewählte Ergebnisse er-         Bundesagentur für Arbeit einen starken
tischen Analyse die Strukturen der Er-      schienen in der Broschüre „Integration       strategischen Partner für das aktuell
werbsbeteiligung und Erwerbstätigkeit       mit Zukunft: Erwerbsperspektiven für         laufende Programm „Stark im Beruf“
von Ausländerinnen herauszuarbeiten         Mütter mit Migrationshintergrund“.           gewonnen. _
und mittels biografischer Interviews
nachzuzeichnen, wie sich diese Struk-       Heute ist nicht zuletzt dank dieser
turen in individuellen Lebensläufen         Untersuchungen klar, dass der Erwerbs-
konkretisieren. Dazu führte Prognos         integration von Müttern mit Migrations-
150 Interviews mit erwerbstätigen Aus-      hintergrund aus integrations-, familien-
länderinnen. „Mithilfe der Lebensläufe      und arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunk-
wurde die Mehrfachbelastung greifbar“,      ten eine zentrale Bedeutung zukommt.
erinnert sich die damalige Projektleite-    Sie stärkt nicht nur die wirtschaftliche
rin Dr. Heidrun Czock (heute: ebb Ent-      Situation der Familie, sondern verbessert
wicklungsgesellschaft für berufliche        die gesellschaftliche Integration der Müt-
Bildung). Die Belastungen entstanden
durch die Familientrennung zu Beginn
der Arbeitsmigration, beengte Wohn-
verhältnisse, eine fehlende Entlastung
bei der Kinderbetreuung, eine beson-
ders belastende Arbeit, die rechtli-
che Unsicherheit über den Verbleib in
Deutschland und die Sorge um die Zu-
kunftschancen der Kinder. „Die Frauen
erhofften sich mehr Vorbilder: Auslän-
dische Frauen, die es in eine gute Arbeit
geschafft haben. Damit ihren Töchtern
eine Perspektive aufgezeigt wird“, so
Czock.

Diese Ergebnisse sind nach wie vor
überraschend aktuell. In den Jahren
2010 bis 2014 führte Prognos gemein-
sam mit dem Bundesfamilienministeri-
um weitere Untersuchungen zum Thema
durch. Erstmalig wurden bundesweite,
umfassende Daten- und Analyseer-

10                                                                                                            Prognos trendletter April 2016
Fachbeitrag

Wie Verwaltung und Bürger
gemeinsam mehr schaffen
Das Potenzial der Zusammenarbeit zwischen Behörden und Zivilgesell-
schaft ist groß. Durch einen Wandel ihres Selbstverständnisses und neue
Kompetenzen kann die Verwaltung das Engagement bestmöglich gestalten.
2015 zeigte das vorhandene Potenzial
für zivilgesellschaftliches Engagement
in Deutschland. Viele Bürger sind bereit,
die Neuankömmlinge bei der Bewälti-
gung der Herausforderungen zu unter-
stützen, und auch viele Unternehmen
bieten unentgeltlich Hilfe an. Gemeinsam
unterstützen sie auch die Kommunen bei
ihren Versorgungsaufgaben und bei der
Integrationsarbeit. Dort, wo Verwaltung
und Zivilgesellschaft vertrauensvoll und
umfassend zusammenarbeiten, ist der
Widerstand gegen Flüchtlingsunterkünf-
te geringer und es gelingt besser, die
ersten Schritte zur Integration zu gehen.
Damit wird der schon länger prognos-
tizierte Trend zu mehr Kooperation und
Koproduktion zwischen Zivilgesellschaft

„
                                            Freiwillige Programmierer in Berlin: Hier entstehen Tools für Geflüchtete und Helfer, etwa für die
undVerwaltung bestätigt.                   Koordination der Ehrenamtlichen oder das Wartemanagement beim Amt.

     Die klassische Handlungslogik          Gefordert sind eine neue Rolle und neue              Um die Herausforderungen der nächs-
     von Verwaltung überwinden.“            Kompetenzen in der Verwaltung. Die                   ten Jahre bewältigen zu können, müssen
                                            Verwaltungsmitarbeiter sind nicht mehr               Deutschlands Kommunen den zivilge-
Die Erfahrungsberichte aus den Kom-         alleinige Experten und Lieferanten von               sellschaftlichen Gestaltungswillen ernst
munen zeigen zugleich, dass die rei-        Leistungen, sondern partnerschaftliche               nehmen und das Potenzial ihrer Bürger
bungslose Einbindung der vielen En-         Coaches, Moderatoren und Unterstützer.               aufgreifen. Die Personalentwicklung in
gagierten eine große Herausforderung                                                             den Kommunen sollte daher zum erfor-
für die Verwaltung ist. Bürger planen       Gefragt sind daher:                                  derlichen Kulturwandel beitragen und die
Initiativen, gestalten Umsetzungsoptio-                                                          Kompetenzen für eine erfolgreiche Zu-
nen mit und möchten bei der Auswahl         »	Netzwerk- und Beziehungsmanager,                  sammenarbeit aufbauen. _
von Alternativen mitreden. Sie fordern        um den Partizipationswillen anzuregen
Transparenz, informieren sich über die        und zu erhalten.
Umsetzung und hinterfragen Entschei-
dungen von Politik und Verwaltung.          »	Management-   und Organisationsfä-
Dabei halten sie sich jedoch oft nicht an     higkeit, um das veränderte staatliche
verwaltungsintern festgelegte Zustän-         Steuerungsverständnis umzusetzen.
digkeiten und Entscheidungsprozesse.
                                            »	Kreativität und Veränderungsfähig-
Gleichzeitig soll die Verwaltung aber         keit, um flexibel auf unterschiedliche
Herr des Verfahrens bleiben und Gleich-       Anforderungen und Lösungen reagieren
behandlung, Mindeststandards im Leis-         zu können.
tungsumfang und Rechtssicherheit ga-
rantieren. Daher muss die klassische        »	Projektmanagementkompetenz, um Pro-
„geschlossene“ Handlungslogik von             jekte mit internen und externen Partnern
Verwaltung immer häufiger überwun-            zu steuern.
den werden. Die Organisation muss
durchlässiger werden, um Impulse der        »	Konfliktfähigkeitund Empathie, um
Zivilgesellschaft aufgreifen zu können.       auch in kritischen Situationen ange-
Dies gelingt, wenn neue Kompetenzen           messen zu reagieren und zwischen un-
einen Kulturwandel in der Verwaltung          terschiedlichen Interessen moderieren                 David Wilkskamp
anregen.                                      zu können.
                                                                                                    david.wilkskamp@prognos.com

Prognos trendletter April 2016                                                                                                                   11
Szenarien                   Szenarien

     ABB. 1: E
              NTWICKLUNG DER PERSONEN MIT NIEDRIGER QUALIFIKATION                                                                                                                                                                                                       ABB. 2: E
                                                                                                                                                                                                                                                                                  NTWICKLUNG DER ERWERBSPERSONEN
             in Mio. Personen                                                                                                            DIE VIER SZENARIEN                                                                                                                      in Mio. Personen
                                                                                                                                                                                                                 TEILHABE
     3                                                                                                                                                                                                                                                                   2
                                                                                                                                                                                               gering                               hoch
                                                                                                               A
                                                                                                                                                                                                                                                                         0*
     2                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              B
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    A
                                                                                                                                                                                                                                                                        -2

                                                                                                                                                             500.000 Personen
     1
                                                                                                                                                                                                                                                                        -4
                                                                                                                                                                                                    A                              B
     0*

                                                                                                                               JÄHRLICHE NETTO-ZUWANDERUNG
                                                                                                               B                                                                                                                                                        -6

                                                                                                               C                                                                                                                                                                                                                                                    D
 -1                                                                                                                                                                                                                                                                     -8
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    C
                                                                                                               D

 -2                                                                                                                                                                                                                                                                     10
          2013 2015              2020              2025             2030              2035              2040                                                                                                                                                                      2013 2015            2020            2025            2030        2035          2040

* Personen mit niedriger Qualifikation im Alter zw. 15 u. 65 Jahren im Jahr 2013: 7,3 Mio.                                                                                                                                                                             * Erwerbspersonen im Jahr 2013: 44,5 Mio.

                                                                                                                                                             100.000 Personen
                                                                                                                                                                                                    C                              D
     ABB. 3: E
              NTWICKLUNG DER PERSONEN MIT BERUFSQUALIFIZIERENDEM ABSCHLUSS                                                                                                                                                                                              ABB. 4: E
                                                                                                                                                                                                                                                                                  NTWICKLUNG DES BEDARFS AN KINDERBETREUUNGSPLÄTZEN
             in Mio. Personen                                                                                                                                                                                                                                                    in Tsd.

                                                                                                                                                                                                                                                                        600
     4
                                                                                                               B
     2                                                                                                                                                                                                                                                                  400
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        B
                                                                                                               A
     0*                                                                                                                              Wir unterscheiden einerseits zwischen                                                                                              200
                                                                                                                                     »	einer schwächeren (Netto-) Zuwanderung von langfristig 100.000 Personen p. a. und
                                                                                                                                                                                                                                                                             0*
 -2                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     A
                                                                                                                                     »	einer starken (Netto-) Zuwanderung von 500.000 Personen p. a.

 -4                                                                                                                                  Andererseits unterscheiden wir hinsichtlich der Teilhabe dieser Zuwanderer am
                                                                                                                                     gesellschaftlichen Leben, und zwar zwischen                                                                                       -200
 -6                                                                                                                                  »	einer Situation, in der diese Zuwanderer im Durchschnitt der aktuell in Deutschland lebenden
                                                                                                               D
                                                                                                                                        Bevölkerung mit Migrationshintergrund entsprechen (diese Gruppe hat im Vergleich zur Bevölkerung                               -400                                                                                             D
                                                                                                               C                        ohne Migrationshintergrund statistisch betrachtet seltener einen Schul- oder berufsqualifizierenden
 -8                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     C
                                                                                                                                        Abschluss, ist im Schnitt weniger gut in den Arbeitsmarkt eingebunden, hat ein höheres Risiko von
                                                                                                                                        Erwerbslosigkeit und Armut). Die Situation bildet die Risiken der Integrationspolitik der letzten                              -600
-10
          2013 2015              2020              2025             2030              2035              2040                            Jahrzehnte ab;                                                                                                                            2013 2015            2020            2025            2030        2035          2040
                                                                                                                                     »	einer Situation, in der die Zuwanderer im Durchschnitt der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund
                                                                                                                                        entsprechen. Diese Situation steht exemplarisch für eine erfolgreiche Integrationspolitik.                                     * Kinder in Kindertageseinrichtungen im Jahr 2013: 3.213 Tsd. Personen
* Personen mit einem berufsqualifizierenden Bildungsabschluss im Alter zw. 15 u. 65 Jahren im Jahr 2013: 39,0 Mio.

Deutschland – mit und ohne                                                                                                                                                                                                  Die Ergebnisse (Abb. 1-4)
                                                                                                                                                                                                                            Die Ergebnisse zeigen zunächst einige
                                                                                                                                                                                                                                                                       digitalisierten Wirtschaft mit steigen-
                                                                                                                                                                                                                                                                       den Anforderungen an die Mitarbeiter
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Die Szenarien geben Hinweise auf die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              langfristigen Potenziale gelungener Migra-
Vier Zuwanderungsszenarien geben Hinweise, wie Deutschland                                                                                                                                                                  Folgen für den Arbeitsmarkt (Abb. 1-3).
                                                                                                                                                                                                                            So zeigt ein Vergleich zwischen den bei-
                                                                                                                                                                                                                                                                       drohen Arbeitslosigkeit und Kosten für
                                                                                                                                                                                                                                                                       den Sozialstaat.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              tions- und Integrationspolitik. Sie zeigen:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Entscheidend ist die Kontinuität der Zu-
im Jahr 2040 aussehen könnte.                                                                                                                                                                                               den Szenarien mit schwächerer Zuwan-                                                              wanderung und, dass ihr eine Integration
                                                                                                                                                                                                                            derung, dass eine höhere Teilhabe zwar     Zuwanderung erfolgt jedoch nie nur in                  in den Arbeitsmarkt folgt. All das – wie
Die Ergebnisse der oben dargestellten                      Ausnahme. Zudem haben groben Schät-                       Kaum realistisch ist es, dass wirklich                                                                 positiv auf das Fachkräfteangebot wirkt,   den Arbeitsmarkt. Exemplarisch für an-                 auch die parallel benötigte qualifizierte
Modellrechnungen veranschaulichen die                      zungen zufolge nur etwa 50 % der aktuel-                  alle – insbesondere ältere – Zuwanderer                                                                der Effekt aber quantitativ begrenzt ist   dere Lebensbereiche ist hier die Kinder-               Zuwanderung – braucht allerdings schon
Chancen einer gelungenen Integrations-                     len Asylsuchenden eine Bleibeperspektive.                 in ihrem eigenen Leben noch den glei-                                                                  (Szenarien C, D in Abb. 2, 3).             betreuung dargestellt (Abb. 4). Auch die-              heute langfristiges Denken und gute Kon-
politik mit qualifizierter Zuwanderung.                                                                              chen Grad an Teilhabe erreichen werden                                                                                                            se hat jedoch letztlich einen Bezug zur                zepte. Es liegt in unseren Händen. _
Sie zeigen aber auch die Risiken der bis-                  Die Zahl von 500.000 Personen (Szena-                     wie die übrige Bevölkerung. Möglich                                                                    Deutlich positiver wirkt eine höhe-        Jobsituation – liegt doch die Erwerbsbe-
herigen Einwanderungspolitik. Der Blick                    rien A, B) mag hingegen zunächst hoch                     wäre aber, dass ein Zuwandererkind, das                                                                re Teilhabe dagegen in den Szenari-        teiligung von Frauen mit Migrationshin-
reicht dabei bis ins Jahr 2040.                            erscheinen. Das hat Deutschland außer                     heute in Deutschland geboren wird, im                                                                  en mit mehr Zuwanderung (A, B). Sie        tergrund derzeit noch deutlich unterhalb
                                                           2014 und 2015 selten erreicht, zuletzt                    Jahr 2040 einen ähnlich hohen Grad an                                                                  führt nicht nur dazu, dass Deutschland     der anderer Frauen. Zugleich besuchen
Die Szenarien                                              in den 1990ern. Doch für andere Einwan-                   Teilhabe erreicht haben kann wie eine                                                                  immerhin annähernd sein Arbeitskräf-       Kinder mit Migrationshintergrund sel-
Eine Nettozuwanderung von 100.000                          derungsländer wie z. B. Kanada, Norwe-                    Person ohne Migrationshintergrund.                                                                     teangebot halten kann (Abb. 2), sondern    tener Kindertageseinrichtungen. Das
Personen p. a. bis 2040 (Szenarien C, D)                   gen und die Schweiz ist eine langfristige                 Wir unterstellen also ein Angleichen der                                                               sogar zu einem Anstieg der Personen        legt den Schluss nahe, dass eine auf die
mag niedrig erscheinen, ist aber nicht                     Zuwanderung dieser Größenordnung                          Teilhabemöglichkeiten. Die beiden Sze-                                                                 mit berufsqualifizierendem Bildungsab-     Erhöhung der Erwerbsbeteiligung weib-
unrealistisch: Sie entspricht dem Schnitt                  (gemessen an der Bevölkerungsgröße)                       narien mit hoher Teilhabe stehen exem-                                                                 schluss (Abb. 3). Eine niedrige Teilhabe   licher Zuwanderer ausgerichtete Politik                   Dr. Stefan Moog
der 2000er-Jahre, die aktuell hohen Zu-                    längst Realität.                                          plarisch für einen Zustand, in dem dies                                                                hingegen führt zu einer steigenden Zahl    auch einen Ausbau der Betreuungsmög-
wandererzahlen bilden historisch eine                                                                                gelingt (Szenarien B, D).                                                                              Geringqualifizierter (Abb. 1). In einer    lichkeiten erfordern wird.                                stefan.moog@prognos.com

12                                                                                                                                                                              Prognos trendletter April 2016              Prognos trendletter April 2016                                                                                                                  13
Fachbeitrag

Berufsschulen –
Starthilfe für die Starthelfer
Dank ihrer besonderen Kompetenz können berufliche Schulen eine
große Zahl von Geflüchteten für den Arbeitsmarkt fit machen – wenn
Politik und Verwaltung die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen.
Nicht erst seit den Vorfällen der Silves-          sem Sektor eine bedeutende Rolle (siehe       Obwohl Bedarf vorhanden ist, die Inte-
ternacht wird in Medien und Öffentlich-            Abb.). Auch Kammern, Unternehmens-            gration von Geflüchteten in die duale
keit thematisiert, dass vor allem junge            verbände und Industrie betonen, dass          Berufsausbildung ist kein Selbstläufer.
Männer als Geflüchtete oder Asylbe-                junge Geflüchtete eine Zielgruppe mit         Zwar ist die Mehrheit der jungen Män-
werber nach Deutschland kommen. Die                viel Potenzial für die betriebliche Ausbil-   ner und Frauen sehr motiviert, schnell
Attribute „jung“ und „männlich“ sind               dung sind und weisen auf die wachsende        berufstätig zu werden. Doch viele Ge-
dabei primär negativ besetzt: Ein demo-            Zahl unbesetzter Ausbildungsstellen hin.      flüchtete sind mit dem deutschen Sys-
grafisches Ungleichgewicht erhöhe den              So wurden der Bundesagentur für Arbeit        tem nicht vertraut. Die Bedeutung einer
Druck auf die Arbeitsmärkte und das                im vergangenen Ausbildungsjahr etwa           dualen Ausbildung erschließt sich ihnen
Risiko für Kriminalität. Hier lohnt eine           40.000 unbesetzte Stellen gemeldet,           häufig nicht. Sie ziehen ein Studium vor
differenzierte Betrachtung.                        20 % mehr als im Vorjahr. Ein Trend, der      oder wählen den direkten Einstieg in die
                                                   sich fortsetzen wird und vor allem Bran-      ungelernte Erwerbstätigkeit. Nach einer
Knapp 56 % der Personen, die 2015 ei-              chen wie das Hotel- und Gaststättenge-        Erhebung des zuständigen Bundesamts
nen Asylantrag stellten, waren unter 25            werbe sowie das Lebensmittelhandwerk          haben nur 10 % der Befragten eine Aus-
Jahre alt. Ein Hebel für ihre berufliche           trifft.                                       bildung aufgenommen. Hinzu kommt,
Integration ist eine anerkannte Berufs-                                                          dass selbst die wenigen erfolgreichen
                                                                                                 Beispiele mit hohen Abbruchquoten zu
                                                                                                 kämpfen haben: Knapp ein Drittel aller
                                                                                                 Jugendlichen ohne deutsche Staatsbür-
                                                                                                 gerschaft löst ihren Ausbildungsvertrag
                                                                                                 vorzeitig auf. Das sind sieben Prozent-
                                                                                                 punkte mehr Vertragsauflösungen als bei
                                                                                                 den deutschen Auszubildenden. Es gibt
                                                                                                 noch keine aussagekräftigen Zahlen zur
                                                                                                 Gruppe der Geflüchteten, doch vermut-
                                                                                                 lich wird der Anteil der Vertragslösun-
                                                                                                 gen dort nochmals höher liegen.

                                                                                                 Es besteht also ein verstärkter Hand-
                                                                                                 lungsbedarf bei der Berufsorientierung
                                                                                                 und Ausbildungsvorbereitung. Zudem
                                                                                                 müssen auch potenzielle Ausbildungs-
                                                                                                 betriebe besser beraten und unterstützt
                                                                                                 werden. Die beruflichen Schulen spie-
                                                                                                 len hierbei eine zentrale Rolle. In ihre
                                                                                                 Zuständigkeit fällt die Ausbildungsvor-
                                                                                                 bereitung für Jugendliche, welche die
                                                                                                 allgemeinbildenden Schulen verlassen
Kennenlernaktion von Bremer Unternehmen für potenzielle Azubis: An Initiative fehlt es häufig    haben. Entsprechend schlagen sich die
nicht, doch im Ausbildungsverlauf fehlt die systematische Unterstützung für beide Seiten.        gestiegenen Flüchtlingszahlen auch in
                                                                                                 den Neuzugängen in den ausbildungs-
ausbildung in schulischer oder dualer              Ein Blick in die Praxis zeigt, dass viele     vorbereitenden Klassen nieder.
Form. Bedarf ist vorhanden: In vielen              Betriebe noch Schwierigkeiten haben,
Sektoren verschärft der Fachkräfteman-             mit kultureller Vielfalt umzugehen.           Da mit einem weiteren Anstieg zu rech-
gel sich schon heute. So könnte die er-            Nach wie vor sind Jugendliche ohne            nen ist, gibt es in einigen Bundeslän-
folgreiche Integration von Zuwanderern             deutsche Staatsbürgerschaft in der dua-       dern bereits spezifische Angebote. In
künftig helfen, die gesundheitliche Ver-           len Ausbildung unterrepräsentiert: Nur        Bayern wurde 2010 ein Pilotprojekt
sorgung in Deutschland sicherzustellen,            etwa ein Drittel begann 2013 eine Aus-        mit Bildungsangeboten für berufsschul-
wie eine Prognos-Studie für das Bun-               bildung, bei ihren deutschen Alterskol-       pflichtige Asylbewerber und Geflüchtete
desgesundheitsministerium aus dem Jahr             legen waren es hingegen weit über die         gestartet. Der Unterricht ist auf fehlende
2015 zeigt. Schon heute spielen Beschäf-           Hälfte.                                       Sprachkenntnisse, Heterogenität und
tigte mit Migrationshintergrund in die-                                                          mögliche Traumatisierungen eingestellt.

14                                                                                                                    Prognos trendletter April 2016
Fachbeitrag

Derzeit gibt es rund 440 solcher Klassen,       NICHTÄRZTLICHE GESUNDHEITSBERUFE Schon heute spielen ausländische
deren Anzahl sich bis 2016/17 verdreifa-        Fachkräfte im deutschen Gesundheitswesen eine große Rolle
chen soll. Hierfür schafft das Land 2.000
Stellen für Lehrkräfte und Psychologen.      700.000                                                                                                                                 25 %
Auch in Hamburg rückten die Berufs-                                                                                                         23 %
                                             600.000                                            22 %                                                                 593.000
schulen wegen der steigenden Flücht-
                                                                                                                                                                                     20 %
lingszahlen in den Fokus des politischen
                                             500.000
Interesses. Im Februar 2016 wurde das                                                                                        17 %
Modell der „Dualisierten Ausbildungs-                                                                          15 %                                             15 %                 15 %
                                             400.000
vorbereitung für Migrantinnen und                               12 %
Migranten (AVM-Dual)“ eingeführt.            300.000
                                                                                                                                                                                     10 %
                                                                                 9%
                                             200.000
Vieles spricht dafür, die Rolle der beruf-                                                                            127.000        140.000
                                                                                                                                                                                     5%
lichen Schulen bei der Integration von       100.000
                                                                                       48.000          55.000
Geflüchteten zu stärken:                                 26.000         28.000
                                                     0                                                                                                                               0%
»	Berufliche  Schulen sind es gewohnt,
                                                          ie

                                                                         k

                                                                                           e

                                                                                                           e

                                                                                                                        e

                                                                                                                                      ge

                                                                                                                                                                          l
                                                                        gi

                                                                                          llt

                                                                                                       llt

                                                                                                                       eg

                                                                                                                                                                       na
                                                         ap

                                                                                                                                    fle
   mit einer heterogenen Schülerschaft
                                                                       go

                                                                                      ste

                                                                                                     ste

                                                                                                                       fl
                                                     er

                                                                                                                                                                    so
                                                                                                                    np

                                                                                                                                rsp
                                                                   da
                                                   th

                                                                                       e

                                                                                                      e

                                                                                                                                                                   r
                                                                                                                                                                Pe
                                                                                    ng

                                                                                                   ng

                                                                                                                  ke
                                                                   pä

                                                                                                                                te
                                                  io

   umzugehen, da das Spektrum ihrer

                                                                                                                an
                                                                                 ha

                                                                                                ha

                                                                                                                              Al
                                                ys

                                                                                                                                                              tl.
                                                                   l
                                                               zia

                                                                                                                                                            rz
                                              Ph

                                                                                                               Kr
                                                                                ac

                                                                                                ac
                                                              So

                                                                                                                                                           tä
   Schüler von förderbedürftigen Jugend-                                        F

                                                                                               F

                                                                                                               d

                                                                                                                                                         ch
                                                                                                             un
                                                                             he

                                                                                            he
                                                           d
                                                         un

                                                                                                                                                      ni
                                                                           sc

                                                                                          sc

                                                                                                          s-
   lichen bis zu ausgebildeten Gesellen in
                                                                        ni

                                                                                       ni

                                                                                                                                                        .
                                                         it

                                                                                                         it

                                                                                                                                                     nd
                                                                       izi

                                                                                      izi
                                                    be

                                                                                                      he

                                                                                                                                                 slä
                                                                   ed

                                                                                     ed
                                                   ar

                                                                                                   ng
   weiterbildenden Fachschulen reicht.

                                                                                                                                               Au
                                                    l

                                                                 m

                                                                                    M
                                                zia

                                                                                                 su
                                                               hn

                                                                                                Ge
                                              So

                                                              Za

»	Berufliche Schulen sind meist in en-                                         Ausgewählte Berufsuntergruppen
   gem Kontakt mit den Betrieben auf-
                                                                                                                                     Anzahl (linke Achse)
   grund ihrer langjährigen Zusam-                                                                                                                                     Anteil (rechte Achse)

   menarbeit in der dualen Ausbildung.
                                             Anteil ausländischer Erwerbstätiger in nichtärztlichen Berufsuntergruppen an allen Erwerbstätigen in nichtärztlichen
   Dieser Zugang kann auch für die neue      Gesundheitsberufen
   Zielgruppe genutzt werden, um Prak-
   tika oder berufliche Erprobungen zu                                                                                       Quelle: Prognos/Statist. Bundesamt 2015 (Mikrozensus)
   organisieren.
                                             müssen nicht selbst den Weg zur Berufs-                                   Geflüchteten wird die Entscheidung zwi-
»	Für die Geflüchteten selbst bringt ein    beratung oder zu einer Ausbildungsmesse                                   schen Schulbesuch und Maßnahmen der
   täglicher Schulbesuch Struktur und        der Kammern finden. Dies setzt jedoch                                     Arbeitsagentur häufig eher von Ressour-
   etwas Normalität in ihren Alltag.         ein Schulformat voraus, das außerschu-                                    cenfragen als vom tatsächlichen Unter-
                                             lische Inhalte in den Unterrichtsablauf                                   stützungsbedarf der Einzelnen bestimmt.
»	Darüber   hinaus gibt es in einer be-     integriert.                                                               Die unterschiedliche Zuständigkeit von
   ruflichen Schule mehr Gelegenheit zu                                                                                Ländern und Bund bei der beruflichen
   Kontakt mit anderen Schülern als in       Vieles spricht dafür, dass zusätzlich eine                                Bildung bzw. Arbeitsmarktpolitik schafft
   spezifischen Einrichtungen oder An-       sozialpädagogische Begleitung notwen-                                     ungünstige Ausgangsbedingungen für
   geboten von Trägern.                      dig sein wird, um die Geflüchteten ge-                                    ein gemeinsames und einheitliches Vor-
                                             zielt beim Einstieg in die Ausbildung                                     gehen. Gerade weil die große Aufgabe
Die CDU schlägt nun vor, die Schul-          zu begleiten. Diese Fachkräfte können                                     der Integration junger Geflüchteter die
pflicht für Geflüchtete ohne Schulab-        bei der Suche nach Praktikumsplätzen                                      enge Zusammenarbeit mit verschiede-
schluss auf 25 Jahre zu erhöhen. Sinn-       helfen, bei Problemen als Mediatoren                                      nen Bundes- und Landesbehörden erfor-
voll ist dies nur, wenn auch die Folgen      wirken und den Schülern bei Amtsgän-                                      dert, scheint ein föderaler Flickenteppich
für die beruflichen Schulen in die Über-     gen und ähnlichem zur Seite stehen. In                                    hier nicht sinnvoll. _
legungen einbezogen werden. Sie sollten      Baden-Württemberg informieren so-
systematisch unterstützt und zu einem        genannte Kümmerer junge Geflüchtete
zentralen Akteur bei der Integration jun-    über Berufe und Chancen einer Ausbil-
ger Geflüchteter ausgebaut werden.           dung und vermitteln diese passgenau
                                             in Praktika und Ausbildung. Sie unter-
Schulen benötigen nicht nur mehr Res-        stützen die Geflüchteten und die Betrie-
sourcen, sondern auch die Möglichkeit,       be in der ersten schwierigen Phase der
flexibler zu agieren, indem sie beispiels-   Ausbildung. Die assistierte Ausbildung
weise unterjährig neue Klassen einrichten    der Bundesagentur für Arbeit greift die-
können. Die Entwicklung hin zu mehr          se Idee ebenfalls auf, allerdings noch
Selbstverwaltungskompetenzen, die be-        nicht spezifisch auf die Zielgruppe zuge-
reits in vielen Bundesländern stattfindet,   schnitten und in Strukturen, die parallel
ist ein Schritt in die richtige Richtung.    zu den beruflichen Schulen laufen.

Schulen eignen sich auch, um weiter-         Dieses Beispiel macht deutlich: Auf den
führende Beratungs- und Unterstüt-           Prüfstand gehört auch das Zusammen-                                            Kristina Stegner
zungsangebote anzudocken. Jugendliche        spiel der Bundesagentur für Arbeit und
können dort direkt erreicht werden und       der berufsbildenden Schulen. Gerade bei                                        kristina.stegner@prognos.com

Prognos trendletter April 2016                                                                                                                                                           15
Statements

Mein Rat an Deutschland
In turbulenten Zeiten kann es sich lohnen, auf kluge Köpfe zu hören – be-
sonders, wenn diese durch ihre Lebens- oder Berufserfahrung einen Blick von
außen mitbringen. Vier renommierte Stimmen und ihr „Rat an Deutschland“:

Nava Hinrichs                             „Die Kooperation von Privatwirtschaft und Städten ist unerlässlich, um die beträcht-
Geschäftsführerin, The Hague Process on    lichen Talente und Fertigkeiten, die Migranten oft ins Gastland mitbringen, auszu-
Refugees and Migration                     schöpfen und das gesamte Potenzial der Migration zu nutzen. Erwerbstätigkeit ist
                                           eine Schlüsselkomponente der Integration und ein Mittel, um die Migranten sowie
                                           die solidarische Gesellschaft zu stärken.“

„Je ungleicher der Lebensstandard, desto mehr Einwanderungsbegehren als                Barbara John
 Flüchtling oder Arbeitssuchender, gerade im global-mobilen 21. Jahrhundert.           Vorstandsvorsitzende Parität Berlin
                                                                                       und ehem. Ausländerbeauftragte im Berliner Senat
 Ergo: Nullchancen für Steuerung. Stattdessen: Milliarden an Aufbauhilfen in
 die Krisenregionen, Asylanträge übers Internet und gezielte Einwanderungspro-
 gramme.“

Gabriele Krone-Schmalz                    „Sofort: Schluss mit Polarisierung und Heuchelei. Chancen und Risiken benennen.
Fernsehjournalistin und Autorin            Ohne Glaubwürdigkeit in Politik und Medien keine Demokratie. Strategisch: Faire
                                           Handelspolitik statt Freihandel, der Afrika kaputt macht. Hände weg von Regime-
                                           Change-Ideen. National schwierig, klar – aber aus der Atomenergie ist Deutschland
                                           ja auch alleine ausgestiegen.“

„2015 war auch eine Chance. Viel getan hat sich etwa bei Sprachkursen und der          Dr. Thomas Liebig
 Analyse von Kompetenzen der Neuankömmlinge. Wenn in diesen Bereichen                  Leitender Ökonom in der Abteilung für
 alles flächendeckend so umgesetzt wird, wie es sich jetzt im Aufbau befindet,         Internationale Migration der OECD
 wird Deutschland international eines der führenden
 Länder im Bereich der Integrationspolitik sein.“

16                                                                                                              Prognos trendletter April 2016
Fachbeitrag

Wendepunkt für Wohnungs-
und Immobilienmärkte
Ohne ein deutlich erweitertes Wohnungsangebot wird der Druck in
den Ballungsräumen weiter steigen. Wer eine Wohnung sucht, spürt das.
Gerade junge Familien, Studierende und Zuwanderer sind betroffen.
Deutsche Wohnungsmärkte erleben eine
bemerkenswerte Renaissance. Grund
sind ein niedriges Zinsniveau und die
Zuwanderung aus dem Ausland in Ver-
bindung mit einer Konzentration der
Binnenwanderung auf Metropolen und
urbane Räume. Seit 2010 erleben wir ei-
nen deutlichen Zuzug aus Süd- und Ost-
europa, der nun von steigenden Flücht-
lingszahlen überlagert wird. Von 2011
bis 2014 wuchs die Bevölkerung um
knapp 900.000 Einwohner. Im Jahr 2014,
also vor der Migrationswelle, erreichte
der Wanderungssaldo mit 550.000 Per-
sonen einen vorläufigen Höhepunkt. Die
Zuwanderer verteilen sich regional sehr
unterschiedlich. Auf 20 % aller Kreise
und kreisfreien Städte entfallen knapp       Schlange stehen für eine Wohnungsbesichtigung, hier im Münchener Glockenbachviertel, gehört in
60 % der internationalen Zuwanderung.        vielen Ballungszentren inzwischen zum Alltag.

Der deutlich wachsenden Wohnungs-            Bei einem Anteil der Wohnkosten von               teilt, ist nicht zu erwarten. Deutschland
nachfrage steht ein ausgesprochen trä-       deutlich über 40 % des Haushaltseinkom-           braucht Zuwanderung, und qualifizierte
ges Wohnungsangebot gegenüber. Durch         mens wird die Bezahlbarkeit von Wohn-             Fachkräfte – ob zugewandert oder nicht
Zuwanderung und Haushaltsbildung             raum zu einer Herausforderung. Den                – müssen es sich leisten können, dort
stieg die Nachfrage von 2011 bis 2014        überhitzten Zentren droht mittelfristig           zu leben, wo sie gebraucht werden. An
um über 700.000 Haushalte. Gleichzei-        ein Nachwuchsproblem, wenn junge und              der erheblichen Erweiterung des Woh-
tig wuchs das Angebot nur um knapp           qualifizierte Menschen sich ein städti-           nungsangebots führt kein Weg vorbei
600.000 Wohnungen.                           sches Leben nicht mehr leisten können             – und gerade in Märkten mit hohem
                                             oder wollen. Gerade dort, wo neue Fach-           Nachfragedruck muss sie zügig erfolgen.
Unabhängig von den Geflüchteten, die bis-    kräfte gebraucht werden, werden enge              Dabei wird die alleinige Bestands- und
her noch nicht im vollen Maße die Woh-       Wohnungsmärkte zu Standortrisiken für             Innenentwicklung nicht ausreichen.
nungsnachfrage beeinflussen, wurde in        Unternehmen. International boomende               Planungs- und Genehmigungsprozesse
den letzten Jahren zu wenig neuer Wohn-      Immobilienmärkte wie London oder San              müssen beschleunigt werden, zusätzli-
raum geschaffen. Vor allem in Metropol-      Francisco machen Fehlallokationen und             che Wohnbauflächen im Außenbereich
regionen und urbanen Räumen mangelt es       Exzesse des dauerhaften Nachfrageüber-            sind nach Bedarf auszuweisen und zu
an Wohnungen. In rund 19 % aller Kreise      hangs sichtbar. Die Konsequenzen eines            erschließen. Die großen Städte werden
und kreisfreien Städte wird die Fluktuati-   dauerhaften Ungleichgewichts an den               diese Herausforderungen nur ansatzwei-
onsreserve (der nötige Spielraum für Woh-    Wohnungsmärkten sind:                             se allein lösen können. Im Dialog mit
nungswechsel und Modernisierung) bzw.                                                          Umlandgemeinden braucht es bedarfso-
die marktkonforme Leerstandsquote von        » Kaufkraftverluste                               rientierte Wohnraumkonzepte für funk-
3 % bereits deutlich unterschritten. Neuer                                                     tionale Wohnungsmärkte im Stadt-Um-
Wohnraum fehlt gerade dort, wo dynami-       » Verdrängungseffekte in Randlagen                land-Kontext. _
sche Wohnungsmärkte und hohe Zuwan-
derung zusammenkommen.                       » Überbelegung
Der Mangel führt zu einem Boom der           Dies spüren gerade neue Marktteilneh-
Immobilienpreise. Dabei galoppieren die      mer und Zuwanderer in die Boomregi-
Kaufpreise von Wohnimmobilien den            onen. Die urbanen Wohnungsmärkte
Mieten und der Einkommensentwick-            stehen angesichts des hohen Drucks vor
lung davon. Überhitzungstendenzen            einem Wendepunkt. Dass sich die Au-                  Tobias Koch
sorgen für sinkende Mietrenditen und         ßen- und Binnenmigration dauerhaft
wachsende Marktrisiken.                      abschwächt oder räumlich anders ver-                 tobias.koch@prognos.com

Prognos trendletter November 2015                                                                                                             17
Sie können auch lesen